– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Klosterruine Dshwari“ aus Sarah Kirsch: Zaubersprüche. –
SARAH KIRSCH
Klosterruine Dshwari
Die braunen Mönche gehn im Gänsemarsch
Sie sind sehr alt, nur ihre Stimmen
Sind kunstvoll auf ein Band gebracht
Sie psalmodiern, ein Knopfdruck macht sie stille.
Da harren sie, die Füße starr erhoben
Bis ihren Mund der Bauer wieder singen läßt
Die Hände in die Ärmel eingeschoben
Gehn sie der Schwalbe durch das achte Nest.
Bis Abend kommt, die Zeit des Weins
Sie schlafen in der vollen Spule
Der Abt auf seinem hohen Stuhle
Zählt die Kopeken in die Höhlung eines Steins.
Wer sich nicht täuschen läßt beim Lesen und sie nicht ziehen sieht, die Reihe kahler Köpfe über braunen Kutten, und hört, wie unter ihrer Litanei Sandalen ab und an den Boden schleifen, den lassen die zwölf Verse nicht ein in ihre kleine Geschichte. Wer wiederum nicht stutzt und nachliest, was es mit „Band“ und „Knopfdruck“ auf sich hat, wenn alte Mönche ihren Gebetsgang tun, der hat kaum die Chance, noch zu erfahren, was hier vor sich geht.
Die alten Mönche singen längst nicht mehr, und leicht wäre es, lakonisch zu berichten, daß nun ein Tonband seine Dienste tut, wenn ein Besucher sie zitieren will. So hat die Technik einmal mehr dem Umgang von Menschen miteinander seine Unmittelbarkeit genommen und am Ende einen Flecken Erde entseelt, an dem bis dahin sogar Gott, auch in der Sowjetunion, noch seine Stundengebete hatte und dazwischen seine Ruhe.
Die DDR-Autorin Sarah Kirsch, Jahrgang 1935, schrieb ein Gegenwartsgedicht, das mit der List der Poesie erzählt, wie wenig diese alte Rechnung stimmt. Die List besteht, nicht anders übrigens als die List der Vernunft im besten Falle, darin, daß die Poesie in der Geschichte vom Kloster Dshwari selber ruht und ihr nicht erst aufgesetzt ist.
Der erste Vers macht einen Zug von Mönchen gegenwärtig, doch schon der zweite springt, als wäre nichts natürlicher, um zu der Nachricht, es gebe nur noch ihre präparierten Stimmen; zwischenhinein psalmodieren sie. Vorstellungen und die Vorrichtungen, sie zu erzeugen, werden in diesen vier Versen gleich indikativisch vorgeführt: die Illusion wird so erzeugt, wie sie jedem Besucher angeboten wird, um ihn anderes und mehr von diesem Ort wissen zu lassen, als das stumme Gemäuer ihm noch sagen kann.
Was anders machen eigentlich – heute wie je – Gedichte, wenn sie etwas taugen? Sie sind eine der menschlichen Vorkehrungen, um Vorstellungen so deutlich gegenwärtig zu machen wie Gegebenheiten, mithin einer unserer Kunstgriffe, mehr Leben einzufangen als das bloß vorfindliche.
Doch Vorsicht, wenn die Vorstellungen ihr Eigenleben beginnen! Da stehen die konservierten Mönche nun auf Abruf und sehr unbequem, bis einer da ist, der sie singen macht. Sarah Kirsch erlaubt ihren Versen den Übergang zum vollen Reimklang in dem Augenblick, in dem die künstliche Vorkehrung ganz durchschaubar wird. Wer es nun genauer weiß, der kann nicht nur die Mönche nach ihrer Regel weiterziehen sehen, sondern auch belächeln, wie ein Lautsprecher im Gebälk ihnen alle Erdenschwere nimmt und sie durch Schwalbenlöcher schlüpfen läßt.
Die letzte Strophe läßt das Spiel mit den frommen Stimmen gewesen sein; doch ist von seinem Nutzen nun die Rede, und da umarmen die Reime sich am innigsten. Der Abt, der die Spenden eines Tages bedächtig einstreicht, mag mit den Seinen der Verdiener sein – doch ist womöglich auch er selbst „auf seinem hohen Stuhle“ nur ein heraufbeschworenes Bild, und andere verdienen nun an der Macht, die auch vergangene Frömmigkeit noch über die Gemüter hat.
Von Mallarmé stammt die Einsicht, daß zwischen den alten Praktiken und der in der Poesie wirksamen Zauberei eine geheime Verwandtschaft bestehe. Der „Zauberspruch“ von Sarah Kirsch praktiziert sie unbefangen. Er gibt Rätsel auf, löst sie und läßt doch das meiste offen. Doch zeigt er auch, wovon die Künste leben: Ein bißchen Zauberwerk, um anderen den Sinn zu trüben oder auch zu weiten, ist heute so begehrt wie in den Zeiten, als die Technik erst die Bambusflöte hervorgebracht hatte.
In diesem kleinen Gedicht, das nicht von Weltbegebenheiten handelt und nicht vom Labyrinth der eigenen Brust, läßt sich lesen, daß Poesie nicht nur in Büchern, sondern auch im Leben ziemlich unverwüstlich ihren Sitz hat, jedenfalls in Dshwari.
Eberhard Lämmert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977
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