Eberhard Löh (d. i. Thomas Kling): Zu Allen Ginsbergs Gedicht „Tod an allen Fronten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Allen Ginsbergs Gedicht „Tod an allen Fronten“. –

 

 

 

 

ALLEN GINSBERG

Tod an allen Fronten

„Der Planet ist erledigt“

Ein neuer Mond sieht herab auf unseren lieben kranken Planeten.
Orion ist dem Bewegungslosen Bären um den halben Himmel nach-
gejagt, von Winter zu Winter. Ich liege wach, früher als sonst zu
Bett, Fliegenleichen auf dem Bettlaken im Schein der Gaslaterne,
mein Schädel brummt, Hirnfasern unter der linken Schläfe schmer-
zen zur Strafe für den Tod den ich verbreitet habe an allen Fronten.
Vergiftete Ratten im Hühnerstall und Myriaden von Läusen
Besprüht mit weißem Arsen das hinunter sickert zum Bach, Kakerlaken aus der City
zerstampft auf Küchendielen auf dem Land, keine Babies für mich.
Schneide die irdischen Horden von Jungen & Mädchen der Länge
nach durch & du hast wieder Luft
sagen Revolutionäre Experten-Computer:
Die halbe Bakterienbevölkerung des blauen Erdballs ist mehr als
genug, und erspart der überschatteten Lunge eine beschissene Lungenentzündung.
Ich ließ einen Kammerjäger kommen der Wand und Boden
mit Wanzen-Todesöl tränkte. Wer wird mein Hirn mit Todesöl tränken?
Ich wache vor Tagesanbruch auf, erschreckt von meiner hölzernen
Habe, meinen gnostischen Büchern, meinem lauten Mundwerk,
alte Geliebte verstummt, Talismane zu Image-Geld geworden, mein
Körper geschlechtslos vor Fett, Vater sterbenskrank,
Städte der Erde vergiftet im Krieg, meine Kunst aussichtslos – Den-
ken zerfahren – und immer noch abstrakt – in meiner schmerzenden
linken Schläfe lebt der Tod –

„Tod an allen Fronten“, entstanden am 26. September 1969, entstammt der Sammlung Der Untergang Amerikas – Gedichte 1965 bis 1971, die im Anschluß an Ginsbergs Planet News, handschriftlich fixiert oder aber auf Tonband festgehalten, die amerikanische Realität der Bespitzelung durch den CIA, des technokratischen Irrwitzes, der systematischen Umweltzerstörung und nicht zuletzt die Vernichtung des Menschen durch den Menschen in montagehaften Impressionen dokumentiert.

Das Gedicht wurde nicht nur wegen seiner Kürze ausgewählt – andere Stücke füllen leicht ein Dutzend Taschenbuchseiten –: es enthält eine prägnante Zusammenfassung von Ginsbergs Haltung.

In „Tod an allen Fronten“ beschreibt er seine Wahrnehmung und assoziativ sich aneinanderreihenden Gedanken vor dem Einschlafen und nach dem Erwachen. Dies geschieht in drei Phasen:
In der ersten Phase (bis: „… Tod, den ich verbreitet habe an allen Fronten.“) nimmt der Autor zunächst eine Zeitbestimmung vor. Der „neue Mond“ – im Juli ’69 hatten die ersten Menschen den Erdtrabanten betreten – bildet den Gegensatz zu „unserem lieben kranken Planeten“; ein Gegensatz zwischen dem noch Unentdeckten und dem schon Zerstörten. Kopfschmerzen lassen den Sprecher nicht zur Ruhe kommen, er bemerkt auf seiner Bettdecke „Fliegenleichen“, Auslöser für Gedanken über den „Tod an allen Fronten“, an dem er sich mitschuldig fühlt: Ginsberg verwendet die Ich-Form.

Wie sieht dieser Tod aus, von dem ab der zweiten Phase (bis: „… mit Todesöl tränken“) in einer unentwegten Reihung, die sich im Schlußteil zum Telegrammstil steigert, die Rede ist? – Da wird vom Kampf gegen die vielfältige, sowohl in der „City“ als auch „auf dem Land“ auftretende Ungezieferplage gesprochen – „Ratten“, „Läuse“, „Kakerlaken“ und „Wanzen“ werden „vergiftet“, „zerstampft“ und mit „Todesöl“ getränkt. Unvermittelt taucht das Überbevölkerungsproblem auf. („Bakterienbevölkerung des blauen Erdballs“). Die kaltherzige Rechnung der „Experten-Computer“ – die Hälfte der „irdischen Horden“ würde genügen, also … – stellt eine zynische Gleichsetzung, Mensch = zu vernichtender Schädling, her. Sicherlich erinnert Allen Ginsberg hier auch an die fragwürdige Situation gesellschaftlicher Randgruppen, die er selbst, als Jude und Homosexueller, nur zu genau kennen dürfte. („Wer wird mein Hirn mit Todesöl tränken?“)

Quälende Gedanken, die er vor dem Schlaf hatte, beschäftigen ihn auch nach dem Aufwachen „vor Tagesanbruch“: in sieben Zeilen bringt der 1926 in Paterson/New Jersey geborene Dichter ein knappes Dutzend persönlicher und die Menschen betreffender Schreckensmeldungen unter, die durch ihren Stakkatostil schnell heruntergelesen werden können. Schließlich sind wir geübte Schlagzeilenkonsumenten. Möglicherweise setzt Ginsberg sich mit seiner „aussichtslosen Kunst“ in Beziehung zur erfolglos-sinnlosen Hatz des Jägers Orion (siehe Anfangsphase).

Eberhard Löh (das ist Thomas Kling), in Zwiebelzwerg. Zeitung für Kunst u. Soziales Nr. 6, März 1979

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00