– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Nänie“ aus Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke in vier Bänden. Band I: Die Gedichte. –
JOHANNES BOBROWSKI
Nänie
Stimmen, der Wind
über die Bucht
kommt, Rohrwerke, Helsingör
hat so getönt: über dem Sund
die Küste, gestreckt
gegen den Himmel, dort
auf dem Absturz steht,
der mich gerufen hat,
Helios, breiten Mundes
unter dem Augenbogen
dunkel – die Feuer um ihn
um Schulter und Haar, die rasselnden
Züge, erbrausend: Planeten,
der mörderische
concentus der Welt.
Über der Bucht,
weit,
über dem Regen
farbenstrahlend aus Nebeln
der Bogen – Frieden
ist uns versprochen.
Eine Totenklage („Nänie“) sagt wohl weniger etwas über den Toten aus als darüber, was er dem Verfasser bedeutet. Und ganz natürlich schließt die Klage immer auch das Rühmen ein, das Rühmen in der Form andeutender Nachzeichnung. Die Musik hat das schon früher verstanden als die Poesie. Im siebzehnten Jahrhundert, als die literarische Totenklage oft genug identisch war mit Wortbombast, entwickelten die Komponisten den in Frankreich „tombeau“ genannten musikalischen Nekrolog, worin dem Verstorbenen ein subtiles Klangmonument errichtet wurde.
Bobrowskis 1962 veröffentlichtes Gedicht „ist gerichtet an Dietrich Buxtehude“, heißt es in der Anmerkung, gilt also dem 1637 vielleicht in Helsingör geborenen großen Orgelmeister des norddeutschen Barocks. Die Musik jener Epoche verstand sich noch als kosmisches Abbild. Die Harmonia Mundi, von der Johannes Kepler spricht, war Buxtehude so vertraut wie später noch Goethe („Die Sonne tönt nach alter Weise…“). Bobrowski spricht vom „concentus der Welt“, und concentus bedeutet Harmonie, Einklang, Gesang, der hier „mörderisch“ genannte Generalbaß jener Zeit unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg.
Aber so wie der Regenbogen nach der Sintflut gesetzt wurde als Zeichen des Friedens, so kündet auch der Gang der Planeten von ewiger Ordnung über vergänglicher Welt, steht der Kontrapunkt aus Sonnenfeuer und Regen, der den farbigen Bogen schafft, kommt der Wind in das Rohrwerk der Bucht und tönt wie in den gleichfalls „Rohrwerk“ genannten Orgelpfeifen von jenem sonoren Klang, mit dem ein Organist gern den cantus firmus einfärbt.
„Feuer um ihn“, da ist das Geschehen von Pfingsten im Bild mitgedacht, die feurigen Zungen auf jenen, die dann „in Zungen reden“, vom göttlichen Feuer inspiriert. Und ähnlich spricht es aus den Zungen der Orgel in Buxtehudes Musik. Sooft ich dieses Gedicht lese, denke ich an seine Ciacona e-Moll, in der eine nur viertaktige Grundfigur die Welt ausschreitet und die Oberstimmen sie immer dichter umspinnen in einunddreißig Variationen. Und mag der „concentus der Welt“ noch so mörderisch sein, auch er ist letztlich Teil jener unbeirrbaren Grundfigur.
Die Sprache kann den musikalischen Vorgang nicht beschreibend nachzeichnen. Rilke beruft sich in seinen Gedichten, die von Musik sprechen, auf andere Kunstwerke („Atem der Statuen“, „Stille der Bilder“). Bobrowski entwirft ein Seestück wie eine lavierte Federzeichung, worin weder der Name Buxtehude noch seine Musik benannt werden, wo einzig das Wort tönt (wobei „tönen“ sowohl ein musikalischer als auch ein malerischer Begriff ist). Landschaft zwischen Wasser und Himmel, das Gewölk gerändert von der Sonne, ein Bild der Verheißung, des Friedens, gespiegelt im unendlichen Klang. Keine geschenkte Harmonie, sondern eine vom Menschen täglich zu gewinnende, Abbild der immer wieder neu geschaffenen Musik.
Eckart Kleßmann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989
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