– Zu Karl Krolows Gedicht „Stele für Catull“ aus Karl Krolow: Unsichtbare Hände. –
KARL KROLOW
Stele für Catull
Tot in toter Sprache: –
unbeweglich
im schwarzen Zimmer Roms
perdita juventus.
Doch der Vogelflug der Worte
fällt immer wieder
aus vollem Himmel.
Ihre hellen Körper
bewegen sich in unserer Luft.
Wir legen sie ins Grab dir,
in dem du ganz allein bist
mit dem toten Sperling –
Catull, von leichten Buchstaben
der Liebe geschützt,
vom Alter jener Augen,
die sich nicht mehr schließen.
Passer mortuus est
meae puellae.
Ein Flüstern noch
in Pappeln.
Was wird einmal unsere kleine physische Existenz überdauern? Nur selten das, von dem wir es wünschen. Selbst das Werk so manches großen Poeten blieb nur sehr zufällig überliefert. Von Sappho ein paar Fragmente, kein geschlossenes Buch; von Gaius Valerius Catullus, dessen Erdenleben nur dreißig Jahre währte, immerhin mehr als hundert Gedichte, doch kaum ein paar Sätze, die seine Biographie uns erhellen. Auch kein physiognomisches Abbild.
Für den Dichter, der das Bildnis eines Poeten in Versen nachzeichnet, bedeutet das Freiheit vom Stoff, doch nicht von Stofflichkeit. Kunst will in Kunst überführt sein, so wie es die Komponisten hielten, die musikalische Nekrologe verfaßten, etwa Maurice Ravel in „Tombeau de Couperin“, an dessen wohllautendluftige Grazie mich diese Strophen erinnern.
Kein Wort über eine lateinisch-antike Dichterexistenz zwischen 80 und 50 vor Christus, nur das Zitat, „passer mortuus est meae puellae“, der dritte Vers des dritten Catull-Gedichts. Auch dies ein Nekrolog: Auf den toten Sperling seiner Geliebten („meae puellae“ – wie zärtlich kann das Lateinische sein), nur die weichen vokalgesättigten Jamben des Originals haben den deutschen Dichter zweitausend Jahre später inspiriert. Kein Monument des erzenen Worts, eher dies „Flüstern noch / in Pappeln“ über dem Grab des Poeten, der so genau den „Vogelflug der Worte“ gekannt hat, der zärtlichen, klagenden, lüsternen, haßgeschüttelten, die sich durch die Zeiten hindurch immer wieder „aus vollem Himmel“ niedergelassen haben in der Dichtung des Abendlands.
Nach dem Glauben der frommen alten Ägypter war niemand tot, solange sein Name im Mund und Gedächtnis der Nachgeborenen blieb. Tot die physische Existenz des jungen Veronesers Catull, tot seine Sprache, aber gelesen, gesprochen, geliebt noch heute „in unserer Luft“ und darum noch immer lebendig.
Was dieses Gedicht so kostbar macht, ist seine vollkommene Mischung aus Totenbeschwörung mit ganz leiser Stimme und unausgesetztem Gespräch, aus statuarischer Festigkeit- „vom Alter jener Augen, / die sich nicht mehr schließen“ – und verhaltenem Flüstern im Blattwerk: Das in die Luft Geschriebene tönt.
Was es sonst noch gibt in den Versen Catulls, die lateinischen Phrasen der Schmähung und der Verwünschung, diese Hagelschauer des Hasses, das wird auch weiterhin die Philologen beschäftigen. Dem Dichter aber, der dem Frühverstorbenen nachsinnt, bleiben jene Verse Teil seines Selbst, in denen ein Dasein „von leichten Buchstaben / der Liebe geschützt“ ist, zart wie der Flaum eines Sperlings.
Eckart Kleßmann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988
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