– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „An die Musik“ aus Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. –
RAINER MARIA RILKE
An die Musik
Musik: Atem der Statuen. Vielleicht:
Stille der Bilder. Du Sprache wo Sprachen
enden. Du Zeit,
die senkrecht steht auf der Richtung vergehender Herzen.
Gefühle zu wem? O du der Gefühle
Wandlung in was? –: in hörbare Landschaft.
Du Fremde: Musik. Du uns entwachsener
Herzraum. Innigstes unser,
das, uns übersteigend, hinausdrängt, –
heiliger Abschied:
da uns das Innre umsteht
als geübteste Ferne, als andre
Seite der Luft:
rein,
riesig,
nicht mehr bewohnbar.
Für Rilke ist die Musik lange eine dionysische Bedrohung gewesen; sie sei „eine Gefahr für mich“, schrieb er 1908 an Sidonie Nádherný. Erst als er 1914 die Bekanntschaft der Pianistin Magda von Hattingberg machte, begann sich eine Wandlung abzuzeichnen:
Musik (…) fürchtete ich fast, wenn sie nicht in einer Kathedrale vor sich ging, geradenwegs an Gott hinan, ohne sich bei mir aufzuhalten – und in Ägypten ließ ich mir erzählen und verstand es, daß im Alten Reich die Musik (so vermutet man) verboten war; sie durfte nur vor dem Gotte hervorgebracht werden, nur um seinetwillen, als ob er allein das Übermaß und die Verführung ihrer Süße ertrüge, als ob sie jedem Minderen tödlich sei. Ist sie’s nicht, meine Freundin?
Rilkes Scheu im Umgang mit Musik bestimmt auch dieses Gedicht. Es wurde am 11./12. Januar 1918 in München niedergeschrieben und in das Gästebuch von Hanna Wolff anläßlich eines Hauskonzerts eingetragen. Wir wissen nicht, welche Musik Rilke in diesem Konzert gehört hat und ob er sich in seinem Gedicht vielleicht darauf bezog. Das Gedicht umschreibt das Phänomen Musik: Was ist sie? Was bewegt sie im Hörer? Wie sie benennen? „Die Würde der Kunst“, so bemerkt Goethe, „erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat der abgerechnet werden müßte.“ Ist es falsch zu vermuten, es ließe sich aus dieser Aussage fast ein wenig Neid heraushören? Rilkes behutsame Annäherung an die Musik läßt an Goethes Satz denken. Vorsichtig wird das Phänomen benannt: „Atem der Statuen“, „Stille der Bilder“, „hörbare Landschaft“. Rilke empfindet Musik als bildhaft (wie übrigens auch Goethe), löst sich aber zugleich auch von dieser Metaphorik. In der Musik erlebt er gebändigte Form, vergeistigte Sinnlichkeit.
Das Empfinden von Musik entzieht sich dem Wort. Zwar läßt sich die Struktur einer Komposition wissenschaftlich analysieren, nicht aber ihre Wirkung auf den Hörer. Jedes Gedicht über Musik zeugt von der Ohnmacht der Sprache, die sich mitteilen möchte. Ist Musik, da sie des Worts nicht bedarf, wirklich „Sprache wo Sprachen enden“? Wie reagieren wir auf eine Musik, die uns mitreißt? Durch Gesten, Körperbewegung (Tanz), Mitsingen, vielleicht auch Tränen. Es ist unser Inneres, das, von Klang und Rhythmus überwältigt, „hinausdrängt“. Wir können so bewegt sein durch Empfindung, dass wir tatsächlich „das Innre“ als etwas sich außen Manifestierendes zu erleben glauben, „als andre / Seite der Luft“.
Rilke hat dieses „der Gefühle / Wandlung in was?“ in dem eingangs zitierten Brief umschrieben mit der Frage:
Oder ist Musik die Auferstehung der Toten? Stirbt man an ihrem Rand und geht strahlend in ihr hervor, nicht mehr zu zerstören?
Obwohl von Menschen erdacht und tönend realisiert, erscheint die Musik in diesen Versen als ein Ereignis, das sich vom Menschen löst und ihm letztlich den Zugang verweigert:
nicht mehr bewohnbar.
Dieses Gedicht, das Erlebnis Musik umkreisend, wirkt skizzenhaft, fragmentarisch. Das ist gewollt. Das Unsagbare kann nur in der Andeutung gesagt werden, in der Umschreibung. Nach der Uraufführung einer Motette Guillaume Dufays 1436 meinte ein Hörer, es sei gewesen, als habe sich der Himmel aufgetan. Er umschrieb damit, was Rilke als „Innigstes unser, / das, uns übersteigend, hinausdrängt, – / heiliger Abschied“ übersetzt.
Eckart Kleßmann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2003
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