Eckart Kleßmann: Zu Wulf Kirstens Gedicht „Wüstgefallener jüdischer Friedhof in Mähren“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wulf Kirstens Gedicht „Wüstgefallener jüdischer Friedhof in Mähren“ aus Wulf Kirsten: die erde bei Meißen. –

 

 

 

 

WULF KIRSTEN

Wüstgefallener jüdischer Friedhof in Mähren

wer auch sollt noch verharren
vor den ausgedörrten steinen
zur lichtzeit in andacht
außer der erdrebe, der vogelwolke,
die ein windstoß aufhebt
und davon bläst wie spreu?

wo grab um grab überwuchs
das schnellebige jahrhundert,
findest du nicht tür mehr noch tor,
bruchstücke von steinmetzarbeiten
im gras, zerschmetterte vokabeln
unter thuja und wilder kirsche.

das los ist uns gefallen aufs lieblichste.
wohin rollte der in honig getauchte apfel?
wer spricht den lichtsegen nach?
alle nach euch wie vieh ausgetrieben
und wohin?
auf der triumphstraße der barbaren?

der säemann säet das wort
in die verwölkten abendweiten,
und seine wahrheit
so weit die wolken gehen.
komm, o komm, gestirnte messiaszeit!
der wind säet unkraut.

neben dem grabstein Rosa Knöpflmachers
stehn hochkant an eine zypresse gelehnt
zwei sarglange schiebböcke.
im speichenkranz, bis zu den holmen hinauf
rankt ein profanes grün.
die abgüsse ortsabständiger stimmen:
kürbisblütengelb.

der sabbat wird wie eine braut empfangen.

 

In memoriam Rosa Knöpfelmacher

Ein Friedhof ist eher ein Ort der Lebenden denn der Toten. Er ist ein Memento mori, eine Stätte des Gedenkens, der Trauer, der verlassenen oder verlorenen Liebe. Wer an einem Grab verweilt, erinnert sich der Toten, als sie noch lebten und mit uns umgingen. Wenn aber die Lebenden nicht mehr da sind, der Toten zu gedenken, dann haben wir die Toten wirklich aus dem Leben ausgestrichen. Viele jüdische Friedhöfe sind „wüstgefallen“, das meint: der Verwüstung anheimgefallen zwischen 1933 und 1945, als nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten geschändet wurden. Nicht immer mußte man die Gevierte gewaltsam planieren; es genügte, die Hinterbliebenen in den Tod zu schicken. Und mit der physischen Vernichtung ging einher das Verlöschen von Brauchtum, von Tradition.
Denn „der in honig getauchte apfel“, jüdische Sitte an Neujahr, um dem neuen Jahr Süßigkeit zu verheißen – ja, wohin ist er gerollt? Und „wer spricht den lichtsegen nach“, wenn niemand übriggeblieben ist, den Sabbat fromm zu begehen? Wir sollten uns erinnern, daß die Pflege der Tradition, daß die Geborgenheit im Glauben und frommes Bewahren die Wurzeln gewesen sind, aus denen die Juden in den Jahrhunderten ihrer tagtäglichen Gefährdung die Kraft gewonnen haben: Kraft, zu überleben, Kraft, geistig zu überdauern in einer Welt, die sie schmähte, verhöhnte, haßte und schließlich mordete. Und daß ihre unendliche Leidensfähigkeit – von den Pogromen des Mittelalters bis zu den Gaskammern – nicht zu begreifen ist, wenn man von der Kraft des Glaubens nichts weiß. Das Kreuz, von dem es heißt, es sei den Christen auferlegt, wurde von den Christen nur zu oft den Juden auferlegt.
Als Wulf Kirsten 1974 den wüsten, verwüsteten, wüstgefallenen Friedhof im mährischen Loschitz (Losiče) besuchte, rankten dort Kürbisse in der Einöde. Im Gedicht aber, ein Jahr später entstanden, assoziiert das „kürbisblutengelb“ jene Farbe, mit der Juden schon im Mittelalter optisch gebrandmarkt wurden, und auch der „Judenstern“ der grausamsten Verfolger trug jenes Gelb, das keiner vergessen wird, der es mit eigenen Augen auf der dunklen Kleidung der Gezeichneten, der Todgeweihten gesehen hat.
Der Schlußvers erinnert an eine Stelle in den „Hebräischen Melodien“ von Heinrich Heine mit dem Titel „Prinzessin Sabbat“:

Komm, Geliebter, deiner harret
Schon die Braut…

Das Begrüßungslied für die Braut Sabbat wurde und wird freitags abends in der Synagoge gesungen. Das war und ist Realität, Realität wie die Schiebböcke für die Särge, die verlassenen, Realität, die auch Rosa Knöpflmacher heißen konnte, die hier ins Grab gelegt wurde, während man die Spätergeborenen durch den Schornstein schickte. Niemand hat Rosa Knöpflmachers Gedächtnis behütet, deren Name nur noch im Vers verwahrt bleibt. Der Dichter „säet das wort“.
Ein Friedhof kann wüstfallen, ein Glaube nicht, solange es Menschen gibt, die in ihm beten, solange es Menschen gibt, die noch gedenken und nicht wollen, daß Gras über die Geschichte wächst.

Eckart Kleßmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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