Edgar Lee Masters: Die Toten von Spoon River

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Edgar Lee Masters: Die Toten von Spoon River

Masters-Die Toten von Spoon River

ALFONSO CHURCHILL

Sie verhöhnten mich und nannten mich „Prof. Mond“,
als Junge in Spoon River, geboren mit dem Durst,
alles über die Sterne zu erfahren.
Sie spotteten, wenn ich von den Mondgebirgen sprach
und der durchdringenden Hitze und Kälte
und den schwarzen Tälern bei den silbernen Gipfeln
und Spica, Billiarden von Meilen weit weg,
und der Kleinheit des Menschen.
Doch nun, da mein Grab geehrt wird, Freunde,
sorgt dafür, dass es nicht geschieht, weil ich
am Knox College Sternkunde lehrte,
sondern vielmehr deshalb: weil ich durch die Sterne
von der Größe des Menschen kündete,
der nichtsdestotrotz Teil des Weltenplans ist,
ungeachtet der Distanz zu Spica oder den Spiralnebeln;
und nichtsdestoweniger Teil der Frage,
was das ganze Drama bedeutet.

 

 

 

Vorworts des Übersetzers

The author knows that the truth is never known, or never told, unless the dead can speak – speak when ’far too naked to be „shamed“.

Mit diesen Worten versuchte 1916 einer der zahlreichen Literaturkritiker den singulären Erfolg von Edgar Lee Masters’ Spoon River Anthology zu erklären, dem wahrscheinlich erfolgreichsten Gedichtband des 20. Jahrhunderts. Diese Einschätzung trifft zweifellos zu, ist die Wirkungskraft des Werks doch maßgeblich der gewählten Form geschuldet: Inspiriert von der Anthologia Graeca, einer Sammlung antiker Epigramme, Gelegenheitsgedichte und Grabinschriften, sprechen in 244 Epitaphen die Toten von Spoon River zu uns, die verstorbenen Einwohner einer für den amerikanischen Mittelwesten seinerzeit typischen Kleinstadt. Sie tun dies mit einer Aufrichtigkeit, die ihnen zeitlebens versagt war, denn sie haben nichts mehr zu verlieren, aber auch nichts mehr zu erwarten. Die dargestellten Schicksale mit ihren Bekenntnissen fielen aus damaliger Sicht bisweilen skandalträchtig aus: So drehen sie sich neben Alltäglichem nicht nur um Machtkämpfe, Intrigen, Korruption, Betrug, Mord und Suizid, sondern auch um enttäuschte Liebe, Promiskuität, Ehebruch, Prostitution, Vergewaltigung und Abtreibung. Dies alles vor dem Hintergrund der frühen Lebensorte des Autors, den ländlichen Dörfern Petersburg und Lewistown in Menard County im Bundesstaat Illinois, deren Bewohner sich den porträtierten Figuren teilweise als reale Vorbilder zuordnen lassen. Für manchen damaligen Kritiker nicht minder skandalös waren sodann die von Masters für die Epitaphe gewählten free verses, die freirhythmischen Verse, die einer von ihnen als „shredded prose“ bezeichnete und die auf den direkten Einfluss von Walt Whitmans und Carl Sandburgs Dichtungen zurückzuführen sind.

Einzelne Epitaphe der Spoon River Anthology erschienen ab Mai 1914 unter dem Pseudonym Webster Ford in der Literaturzeitschrift Reedy’s Mirror. Erstmals in Buchform wurden 209 Epitaphe im April 1915 von der Macmillan Company in New York publiziert. 1916 erschien beim gleichen Verlag die erweiterte und endgültige Version der Spoon River Anthology mit 244 Epitaphen. Der Erfolg war einzigartig: Über Jahre hinweg war sie in den Vereinigten Staaten das meistverkaufte literarische Werk, und sie ist bis heute der meistverkaufte Gedichtband der amerikanischen Literatur. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Klassiker seit einigen Jahrzehnten in Vergessenheit geraten und nur noch antiquarisch greifbar. Dies im Übrigen ganz im Gegensatz zu Italien, wo sich die Spoon River Anthology nach wie vor größter Beliebtheit erfreut und in mehreren Übersetzungen und Ausgaben erhältlich ist. Im Spätsommer 2014 fand sie sich zum Erstaunen und zur Freude des Übersetzers neben anderen Klassikern gar im Kiosk einer Autobahnraststätte.

Edgar Lee Masters wurde am 23. August 1868 in Garnett im Bundesstaat Kansas geboren. Er wuchs in Petersburg und Lewistown auf. Nach der Highschool besuchte er ein Jahr lang das College und begann danach in der Anwaltskanzlei seines Vaters zu arbeiten 1891 erhielt er seine Zulassung als Anwalt und eröffnete zwei Jahre Später in Chicago mit einem Partner eine eigene Kanzlei. Masters schrieb und veröffentlichte seit seiner Jugend Gedichte, Essays und Theaterstücke, erlangte jedoch erst mit dem Erscheinen der Spoon River Anthology Bekanntheit. Im Zuge dieses Erfolges wandte er sich von der Juristerei ab, zog nach New York und widmete sich fortan ganz dem Schreiben Es gelang ihm jedoch nicht mehr, an seinen früheren Erfolg anzuknüpfen, auch nicht mit dem 1924 veröffentlichten Werk The New Spoon River, einer Fortsetzung der Spoon River Anthology. Obwohl ihm seine Popularität dank des anhaltenden Erfolges der Spoon River Anthology erhalten blieb, fanden seine zahlreichen späteren Werke wenig Beachtung, und Masters wurde zu einer Verkörperung des homo unius libri. Seine letzten Jahre waren geprägt von Krankheit und finanziellen Nöten. Masters starb am 5. März 1950 in einem Pflegeheim in Melrose Park in Pennsylvania.

Der vorliegenden Übersetzung steht der Ursprungstext der Macmillan-Ausgabe von 1916 gegenüber, wobei die Originalinterpunktion weitgehend beibehalten wurde. Vieles in der Spoon River Anthology ist erfunden, vieles ist aber auch verwandelt, und oft bleibt Masters beim Autobiografischen. In den Kommentaren zu den Epitaphen wurde versucht, die autobiografischen Bezüge und historischen Hintergründe aufzuzeigen. Auf weitergehende Interpretationen wurde verzichtet.

Claudio Maira, Vorwort

 

Auf dem Friedhof von Spoon River,

einer Kleinstadt im amerikanischen Mittelwesten, liegen 244 Menschen begraben. Aus ihren Gräbern sprechen sie zu uns, in Gedichten, die von ihrem Leben erzählen, von entscheidenden Momenten und Erfahrungen, von der Summe ihres Lebens über alles Glück und Unglück und über ihren Tod hinaus. Versöhnlich und im Zorn, voll Sehnsucht und Bedauern, ohne Umstände und Rücksichten, im Reinen oder Unreinen mit sich und der Welt. Aus diesem Konzert der vielen Stimmen ergeben sich berührende Geschichten kleiner und großer Schicksale, eine Art Lokalchronik aus allerletzten Bekenntnissen, ein staunenswert lebendiges Bild menschlichen Lebens und Strebens.
Edgar Lee Masters hat sich mit diesem Buch verewigt. Längst gehört Die Toten von Spoon River, in viele Sprachen übersetzt und seit seinem Erscheinen lieferbar, zum Kanon der Weltliteratur. Er hat den Toten eine Sprache gegeben, nackt und direkt, in der sie uns jenseits aller Zeit- und Lebensumstände für immer etwas über unser Leben zu erzählen wissen.

Jung und Jung Verlag, Ankündigung

 

Die Toten dieser Kleinstadt sprechen noch

– Was sie noch zu sagen hätten, dauert ein paar Zigaretten: Edgar Lee Masters gab vor gut hundert Jahren den verstorbenen Bewohnern des fiktiven Städtchens Spoon River eine lyrische Stimme. Jetzt reden sie ungekürzt auf Deutsch. –

Der Doktor, der Sheriff, die ermordete Schwangere, die selbstkritische Stiefmutter – sie alle hätten noch so viel zu erzählen gehabt, mussten aber abtreten von der Bühne des Lebens. Angeregt von antiken Grabinschriften, begann Edgar Lee Masters 1914 in St. Louis damit, fiktive, aber von Menschen seiner Heimat im Mittleren Westen inspirierte Epitaphe in einer Zeitschrift zu veröffentlichen. Wenig später wurden sie als Buch zur Spoon River Anthology gesammelt, die amerikanische Literaturgeschichte schrieb. Masters verband darin Sherwood Andersons fast zeitgleich entstehenden Geschichtenreigen der amerikanischen Kleinstadt (Winesburg, Ohio) mit einer vielstimmigen Moderne und den freien Versen Walt Whitmans und Carl Sandburgs.

Claudio Maira, im Hauptberuf Schweizer Oberrichter, hat nun auf der Grundlage der erweiterten Macmillan-Ausgabe erstmals alle Epitaphe ins Deutsche übersetzt, kenntnisreich mit Bezügen zur amerikanischen (Literatur-)Geschichte annotiert und dankenswerterweise mit einem Register versehen, mit dem man schnell die allerletzten Worte des Pastors Wiley, der betrogenen Mrs. Purkapile, des Fiedlers Jones, der Witwe McFarlane findet.
Mairas Übersetzung ist dezidiert keine poetische, sie dient dem Verständnis sowie dem Transport von Masters’ Lakonie, etwa wenn der Apotheker analysiert, warum ein Familienexperiment schiefging:

Jeder für sich gut, doch zueinander schlecht; er Sauerstoff, sie Wasserstoff, ihr Sohn ein verheerendes Feuer.

Die Anmut der freien Verse kann sie so freilich nicht wiedergeben: „She drained me like a fevered moon / That saps the spinning world. / The days went by like shadows, / The minutes wheeled like stars“, barmt, nein, singt wohl der arme Fletcher McGee über die Frau, die sein Leben ruiniert hat. Die rahmende Vorrede mit ihrem wiederholten „All, all are sleeping on the hill“ suggeriert, dass im Tode alle gleich sind:

the tender heart, the simple soul, the loud, the proud, the happy one.

Aber der Groll so mancher Verstorbener belügt diese Hoffnung.

Spoon River wird oft reduziert auf seine markigeren Figuren, die Raufbolde und Säufer, die uns inzwischen allzu bekannt vorkommen. Aber es gibt darin auch rätselhaftere Stimmen wie jene der kaum charakterisierten Serepta Mason, die sich beschwert:

Meine blühende Seite habt ihr nie gesehen!

Oder den Delinquenten Frank Drummer, dessen Lebensziel es war, die Encyclopedia Britannica auswendig zu lernen – woran starb er im Alter von 25 Jahren? Es gibt Stimmen wie jene der Dorfdichterin Minerva Jones und überraschenderweise die des englischen Dichters Shelley, die sich zwischen jene der Amerikaner mischt. Manche von ihnen wissen schon, dass sie ein Nachleben in der Literatur haben:

So spross ein Baum aus mir, einem Senfkorn.

Der Einfluss von Spoon River auf Amerikas Literatur, Film und Musik ist kaum zu überschätzen; weltweit inspirierte es ferner auch schwedische Komponisten, italienische Cantautori und jüngst Robert Seethaler zu seinem Roman Das Feld. Wer diese lebendigen Totengedichte liest, darf hoffen, im Jenseits mit den Geistern von Chaucer, Cäsar, Poe und Marlowe, von Cleopatra und Mrs. Surratt Tee zu trinken – selbst wenn dabei nur dummes Geschwätz („mere trifling twaddle“) herauskommt. Im besseren Fall werden es so wunderbare Verse sein wie die von Edgar Lee Masters.

Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.7.2020

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Timo Brandt: „All, all are sleeping on the hill…“
signaturen-magazin.de

Maximilian Mengeringhaus: Stimmen aus dem Jenseits
literaturkritik.de, 9.11.2020

 

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