GEFÄHRLICHE TRÄUME
Geh nicht zu nah an deine Träume:
sie sind Rauch und können zerstieben −
sie sind gefährlich und können bestehn.
Sahst du deinen Träumen in die Augen:
sie sind krank und verstehen nichts −
sie folgen nur eigenem Sinn.
Geh nicht zu nah an deine Träume:
sie sind nicht wahr und sollten gehn −
sie sind ein Wahn und wollen dauern.
Übersetzt von Richard Pietraß
1
Die eingeschneiten Kanonen des nahe unserem Hotel vor Anker liegenden Kreuzers Aurora erinnerten daran, daß wir einen Streifzug in Vergangenes unternahmen, als wir dezembermorgens ins Dunkel traten, um zu Fuß zum Finnländischen Bahnhof und von dort mit dem Vorortzug nach Raivola zu gelangen. Fünfzig Jahre nach Gunnar Ekelöfs Wallfahrt gehört der schon früher grenznahe Ort zu Sowjetkarelien und trägt einen anderen Namen. Diesen herauszufinden, bedurfte es des Glücks. Denn als mein Moskauer Begleiter am Hotelstand nach einer Karte der Gegend fragte, erntete er Schulterzucken. Ob nicht wenigstens jemand wisse, wie das ehemalige Raivola heute heiße? Da steckten die Weiblein die Köpfe zusammen; mit dem Ergebnis, daß ein Schränkchen geöffnet und uns das Gewünschte verkauft wurde. Schließlich half Lenin. Denn die belehrende Kartenrückseite hob neben seinen karelischen Verstecken den Ort hervor, in dem er im Oktober 1917 bei seiner geheimen Rückkehr aus Finnland das Kupee verließ, um in die Lokomotive umzusteigen. Ausgerechnet das war in Roschtschino (ehemals Raivola)… Unsicher, wie zugänglich der Ort für Ausländer ist, lösten wir weiter, von Leningrad bis Wyborg. Ehe der S-Bahnen vergleichbare Zug mit automatischem Türschluß und Stationsansage (in unserem Wagen ein frostersticktes Schnarren) abfuhr, war es heller geworden, auch wenn es diesig blieb. Beruhigt beunruhigt vom großflächig gelbumrandeten roten Milizrufknopf musterten wir, hin und wieder russische Laute murmelnd, die sich in Vorsiedlungen verlierende Millionenstadt. Die doppelt verglasten Wagenfenster haben den Vorteil, nicht zu befrieren. Immer häufiger tauchten Holzhäuser auf, Datschen, graugrün, gelbbraun, graublau. Udelnaja, Oserki, Schuwalowo. Ein freies Stück mit fein bereiften Birken. Pargolowo, Lewaschowo, schon eine Sommerhaussiedlung klassischen Typs. Ab Pesotschni hoher Nadelwald und viele schöne Holzhäuser. Beloostrow, Solnetschnoje. Repino, nach fünfzig Minuten Komarowo, wo Anna Achmatowa ihr Nachkriegsdomizil hatte und begraben liegt. Mit Selenogorsk erreichten wir das frühere Terijoki, die Perle der karelischen Riviera mit ihren ausgedehnten Sandstränden. Wagen mit Dünnholz, kleine Sümpfe, erkennbar an siechenden Birken mit Bruchstämmen. Der Zug nur mäßig besetzt. Die Arbeitsplätze liegen im Ballungszentrum. Eine Landschaft im Winterschlaf. Uschkowa. Roschtschino! In der letzten Vormittagsstunde verlassen wir den Zug. Ein gelb und weiß getünchtes Stationsgebäude mit gleiszugewandtem dreieckigem Giebel und den Rundsäulen des sowjetischen Neoklassizismus. Das Innere ist klein und dient zugleich als Wartesaal und Schalterraum. Neben dem Gebäude ein wackliger, fast leerer Kiosk, an dem ein paar Zeitungen, Neujahrskarten und Wimpel verkauft werden. Durch eine Großzügigkeit der Karte verfehlen wir die Landstraße, die geradewegs ins etwas abgelegene Raivola führt, und folgen der heutigen Bahnhofsstraße, einer dicht mit hohen Fichten gesäumten Allee. Zwischen den Stämmen hinter Zäunen gepflegte Holzhäuser, die meisten von ihnen mit frostblinden Scheiben. Reiner Schnee auf der Straße, den Gärten und Dächern. Uns entgegen kommt ein Schulmädchen mit Ranzen und Mütze. Ein verirrter Autofahrer. Ein uns verbellender Hund. Weit vor uns eine Frau, die ihr Kind im Schlitten vor sich her schiebt. Sonst weit und breit kein Mensch. Da mein Begleiter nach Moskau telefonieren will (ein wie mir scheint geradezu abenteuerliches Unterfangen), betreten wir ein verwunschenes Geschäft. Trotz zweier silberbronzierter, den Ladenraum bis zur Decke füllender Kanonenöfen sitzt die Verkäuferin in dickem Pullover und Mütze. In der Ecke Milchkannen. Sonst die landesübliche Leere. Auf unserem weiteren Weg ein zweites Schulmädchen, Antennenbauer, im Garten eine Vermummte, die im Frost ihre Wannenwäsche traktiert. Unvermittelt Szenenwechsel: mehrstöckige lange Neubauten, unverputzt. Der städtische Teil des Ortes. In einem der Ziegelriegel das wie ausgestorbene Postamt. An den Telefonzellen ein Schild: kein Strom. Beim Hinaustreten bemerken wir, wie das Gelände nach Norden hin sanft abfällt, auf ein weites weißes Feld zu, das weder Häuser noch Bäume bestehen. Das muß der Onkamosee sein…! An dessen hohem südwestlichem Ufer das Södergransche Grundstück lag. Dank einer alten Skizze fühle ich mich sogleich im Bilde, weiß ich, wo ich das Grab zu finden hoffe. Wenn auch kaum mehr als es, fünfundsechzig Jahre nach Edith Södergrans Tod, nahezu fünfzig Jahre nachdem die Feuerwalze des Krieges den Ort dreimal überrollt hatte und Finnland das mischbevölkerte Gebiet abtreten mußte. Das Södergransche Anwesen und die russische Holzkirche, das wußte ich, bereits damals ein Raub der Flammen. Verschwunden und in einen bescheidenen Park umgewandelt, das sah ich jetzt, der kirchangrenzende Friedhof. Statt Kreuzen ragten aus dem hohen Schnee ein paar eiserne Kinderschaukelstühle. Östlich zur Straße hin ein ausgedehntes Ehrenmal für die 1939/40 gefallenen Soldaten der Roten Armee. Wir überstiegen die Schneebarrieren und gelangten zurück in den Park. Instinktiv folgten wir einem schneebefreiten Plattenweg, der erst gerade, dann, auf Södergranschem Grund, leicht nach rechts abbiegend aufs Ufer zu führte. Da stand er und an neuer Stelle, der von einer Abordnung des finnschwedischen Schriftstellerverbands unlängst gesetzte neue Stein: schwarzgrau und übermannshoch, schon einem Obelisken ähnlich, basalten, kunstglatt. Wo das Gelände zu See und Wiese steiler abzufallen beginnt, gleicht er einem Wächter, einem Seher. Wieder trägt er, in kürzer gebrochenen Zeilen, die erste Strophe von Edith Södergrans Abschiedsgedicht „Ankunft im Hades“, die hier schwedisch zitiert sei:
SE HÄR ÄR
EVIGHETENS STRAND
HÄR BRUSAR
STRÖMMEN FÖRBI
OCH DÖDEN
SPELAR I BUSKARNA
SIN SAMMA
ENTONIGA MELODI
Drunter Name und Daten. Drunter der Hinweis auf die Wiederaufstellung. Mehr als alles andere verwunderte und rührte mich der sorgsam geschippte Schnee. Ein Zeichen von Verehrung und spätem Frieden? Unauffällig fotografierte ich, was zu fotografieren war. Stapfte durchs Anwesen, scharrte den Schnee beiseite, wo ich Grundmauern der verschwundenen Gebäude vermutete. Stieß auch auf welche, doch wollte nichts zur Skizze von damals passen. Die Eisdecke des Sees fand ich unter der Schneelast gebrochen und zur Mitte hin schneeunter vom braunen Wasser des Flusses überflutet, dessen Stau damals wie heute die Fläche bildet. Die russische Volksschule verschwunden. An ihrer Stelle nun das „Haus der Gartenstadt“ (Dom Sadogorod). Verschwunden Paavolainen sowie Galkins Kontor. Einzig übriggeblieben die Wasserzuführung zu Galkins Sägewerk. Heute wie damals faßt sie einen Teil des nun Roschtschinka genannten Seeabflusses, der sich über das Wehr tief hinabstürzt auf seinem Waldweg zum nur wenige Kilometer entfernten Finnischen Meerbusen. Kaum eines der heutigen Häuser dürfte noch aus Södergranscher Zeit stammen. Man baute damals zierfreudiger, mit Schnitzereien und kunstvollen Veranden. Hinzugekommen das steinerne Milizgebäude, eine bungalowartige Buchhandlung (einziger deutschzüngiger Autor: Gottfried Keller), ein Lebensmittel- und ein Industriewarengeschäft. Am modernsten das Kino Karelia, das ich für eine Kaufhalle hielt. Am Nordwestrand des Ortes, beiderseits der schon waldgesäumten Sowjetskaja uliza, entdeckte ich den neuen Friedhof, unumgrenzt, denn man umzäunt jedes der Gräber, die unweit einer Kaserne einfach zwischen den Bäumen liegen. Ich fand Grabmale von um die Jahrhundertwende Geborenen, aber alle waren sie Russen und erst in den letzten zwanzig Jahren gestorben. Der Schnee war tief, die Daten oft nicht lesbar. Am Badehaus, mit seinem dünnen Blechschlot, tranken Männer im Freien stehend Bier, das aus einer Klappe in den Frost gereicht wurde. Im Schnee liebestolle Katzen, sich um einen Innereifetzen streitende Hunde. Nach Stunden traf ich mich wieder mit meinem weniger neugierigen Begleiter, einem Absolventen des Moskauer Fremdspracheninstitutes und Verehrer Bunins. Auf dem Postamt kaufte und schrieb ich, um des historischen Stempels willen, mehrere Exemplare der einzigen erhältlichen Postkarte, eines Neujahrsgrußes. Sie zeigt einen roten Fuchs, der durch verschneite Fichten schnürt. Als letzte und einzige Gäste der Stolowaja (einer Selbstbedienungsgaststätte) bekamen wir Klops und Reis, davor eine Gurkensuppe mit einer dicken Scheibe Bauchspeck, schließlich Tee und ein Glas verdünntes Mandarinenkompott. Beim Verlassen des Gastraumes durch die Küche erblickte ich, auf den Fußboden geworfen, die Fleischration für die nächsten Tage, hartgefroren und enthäutet: ein Viertelrind. Im Dunkel hasteten wir nun Ediths Pferdeweg entlang, der kein Ende zu nehmen schien, mich zum Schwitzen, den jungen Halbtataren zum Frieren brachte. Durch knirschenden Schnee und straßensäumenden Fichtenwald erreichten wir mit Mühe den Fünfuhrzug nach Wyborg. Dieser war voll besetzt. Leute, bepackt mit ihrer Beute aus Leningrad. Erschöpft starrte ich in die Finsternis. Kareliens Wälder nun ein gespenstischer Tunnel. In Wyborg Schneetreiben. Wenige hundert Meter vom Bahnhof kehrten wir um. Nochmals näherten wir uns Raivola, nun aus der Richtung wie Hagar Olsson 1919 und 1921 bei ihren Besuchen, wie Eimer Diktonius im Juli 1933 anläßlich der Aufstellung des Grabsteins zehn Jahre nach dem Tod der Dichterin, wie Gunnar Ekelöf bei seiner Wallfahrt 1938. Ein halbes Jahrhundert nach dieser Reise zu Edith Södergrans Grab und der greisen Mutter, die erst 1940, kriegsevakuiert, bettelarm und blind, starb, kamen wir in eine Zeit, der ihre andere Vergangenheit nicht mehr ist als ein kaum merklicher Schatten. So wußte ich mehr als ich sah. Dieses aber gesehen, den Platz erreicht zu haben, auf dem Edith Södergran aufwuchs, lebte und litt, klagende und kühne Verse schrieb und ihre hochfliegenden Pläne schmiedete, bedeutet mir viel. Zur inneren Anschauung durch ihre Gedichte, Briefe und die Berichte anderer trat so die äußere, die allem die Aura des Authentischen verleiht und es mir erleichtert, die Welt ihrer Gedichte und die Umstände ihres Strebens und Sterbens als Ganzes vor Augen zu haben.
2
Edith Irene Södergran wurde am 4. April 1892 in St. Petersburg geboren. Ihr aus Närpes, an der schwedisch besiedelten Westküste Finnlands gebürtiger Vater Matts Södergran (1846-1906) war eines von zahlreichen Kindern eines hünenhaften Bauern. Selber ein schwächlicher Junge, absolvierte er eine Mechanikerausbildung an der Technischen Schule in Vaasa. Nach ersten Anstellungen in Helsingfors, Åbo und Nystad verdingte sich der Unstete als Schiffsheizer, ehe er 1882 nach Rußland ging. In Diensten der Petersburger Firma Nobel gelangte er nach Kaluga, Smolensk, Tula und Dünaburg. Nachdem ihm aus erster Ehe früh beide Kinder und dann die Frau starben, heiratete er 1890 zum zweiten Mal. Helena Lovisa Holmroos war die Tochter eines aufstrebenden Gießereigründers in Petersburg, der es schnell zu Wohlstand gebracht hatte. Die Hochzeitsreise ging nach Närpes, wo die fremde Frau die Dorfbevölkerung in Erstaunen versetzte. Sie machte Sprachvergleiche zwischen dem Närpesdialekt und Worten im Deutschen, Englischen und Russischen. Und sie badete im Meer! Als Schülerin der finnischen Annenschule hatte sie in Petersburg eine gute Bildung genossen, Belesenheit und literarische Interessen entwickelt. Entsprechend gering war die Lust zur Führung eines Haushalts. Aber nach einer unehelichen Fehlgeburt war die bald Dreißigjährige froh, daß sich wieder ein Freier eingestellt hatte. Nur drei Monate nach Geburt der Tochter zog man nach Raivola, um einer Choleraepidemie zu entfliehen, welche die Hauptstadt des Zarenreiches heimsuchte. Das an der Eisenbahnlinie nach Wyborg gelegene Raivola gehörte ohnedies zu deren Erholungsgebiet. An der Küste des Finnischen Meerbusens und in den Wäldern standen viele Sommerhäuser der Petersburger Intelligenz und Bürgerschicht. Gabriel Holmroos erwarb der jungen Familie ein zwölfzimmriges Holzhaus mit großem Garten und vererbte ihr bei seinem Tod im Jahre 1896 die Hälfte seines sich auf 160.000 Rubel belaufenden monetären Vermögens. Doch Matts Södergran war ein schlechter Ökonom, brachte das Geld rasch durch und suchte, seiner Frau ohnehin unterlegen, bald Zuflucht im Alkohol. Edith Södergrans Kindheit haben wir uns dennoch behütet vorzustellen, wenn auch einsam. Mutter Helena, Höherem zugetan, fütterte die Kleine mit Märchen und Sagen. Im Frühjahr 1902 zogen Mutter und Tochter nach Petersburg, wo Edith die am Newski Prospekt gelegene Deutsche Hauptschule St. Petri besuchte, in die bessergestellte Zöglinge verschiedener nationaler Herkunft gingen. Die Sommer jedoch verbrachte man in Raivola. Um ihrem Einzelkind Gesellschaft zu verschaffen, nahm Helena Södergran Singe, eine Pflegetochter, zu sich, die einer kinderreichen Raivolaer Familie entstammte und verwaist war. Aus irgendeinem Anlaß, einer Auseinandersetzung heraus, entlief Singe eines Tages aus der Petersburger Wohnung, um die Schienen entlang zu Fuß in den Heimatort zurückzukehren. Ediths Mutter lief ihr bald nach und fand sie tödlich verstümmelt an einer Bahnstation. Tagelang rang sie die Hände und mußte hypnotisiert werden, damit sie Schlaf fand. Das Unheil wich nicht. 1904 erkrankte Matts Södergran an einer Grippe, welche er vernachlässigte. Husten blieb und Gewichtsverlust. Edith hing sehr an ihrem leidenden Vater, der im Winter 1905/06 schwächer und schwächer wurde, und besuchte ihn im Sanatorium von Nummela, wo er bald starb. Das Erschrecken über das langsame, wehrlose Hinscheiden des Vaters grub sich in ihre Seele. Zwei Jahre später, sie ist gerade sechzehn, erkrankte Edith selber an Lungentuberkulose. Heilung suchte sie gleichfalls in Nummela, wo sie sich nie wohl fühlte und im Herbst 1911 endgültig nach Hause entlassen ließ. Noch ein Versuch wird unternommen: über Stockholm fahren Mutter und Tochter in die Schweiz nach Arosa und Davos. Dort wohnte man im Meierhof, einem kleineren Hotel mit kosmopolitischer Gästeschaft. Großen Einfluß auf die Entwicklung von Ediths Persönlichkeit gewann die Begegnung mit Ludwig von Muralt, dem Psychologen und Arzt, einem Schüler Eugen Bleulers. Die Krankheit indessen konnte nur vorübergehend gebessert werden. Auf Dauer fühlte sich die Herangewachsene, die ihren Lebensplatz noch nicht gefunden hatte, dem Kurbetrieb mit seinem bittersüßen Nichtstun nicht gewachsen. So kehrt sie nach dem Welterlebnis Schweiz mit Abstechern bis Norditalien im Frühjahr (1914 endgültig nach Finnland zurück. Nun wieder auf sich selbst zurückgezogen, widmet sie sich konsequenter ihrer dichterischen Tätigkeit. Deren Anfänge reichen bis in die Petersburger Schulzeit. Während sie damals überwiegend deutsch, mitunter gar russisch schrieb, jene Texte aber meist backfischhaft blieben, entscheidet sie sich nun für ihre Muttersprache, das Schwedische. Und langsam denkt sie an ihr Debüt. Bei einem Helsingforsbesuch. im Jahre 1915 sucht sie keinen Geringeren als Arvid Mörne auf, dem sie ihr Manuskript zeigt. Der muntert sie auf: „Sieht das Fräulein nicht selbst, daß seine Gedichte famos sind?“ Ein anderer, der Literaturprofessor Gunnar Castrén, urteilte weniger günstig, meinte, sie habe sich allzu unkritisch dem Muster des deutschen Expressionismus angeschlossen. Und tatsächlich kannte Edith Den Sturm, Herwarth Waldens radikale Zeitschrift. Doch möchte ich mich nicht in Einflußerörterungen verlieren. Vor allem anderen erwächst die Dichtung Edith Södergrans aus einem konflikthaften Schicksal. Was im Leben versagt blieb, sucht Kompensation und visionäre Erfüllung in den Versen. Was dort drohend auf sie zukam, hier wird es gebannt. Schon ihre erste Sammlung Gedichte, erschienen 1916 im Holger Schildt Verlag Borgå, läßt alle Verspieltheit der gereimten Schulmädchenverse hinter sich und bricht durch ihre vorherrschende Reimlosigkeit mit dem geltenden Kanon. Entsprechend ist die Aufnahme durch die literarische Öffentlichkeit. Obwohl Edith Södergran auch Anerkennung und Bescheinigung starken Talents erfährt, überwiegen die kritischen Töne. Nicht nur das Fehlen von Reimen, auch das eines festen Rhythmus wird moniert. Hagar Olsson, die spätere Freundin, bemerkt rückblickend, daß man auf diese Verse nicht vorbereitet war. Bei der Gescholtenen überwiegt zunächst die Entmutigung. Doch schon zwei Jahre später, gegen Ende des ersten Weltkrieges, der auch Finnland verdunkelt und im nahen Petersburg von den Revolutionswirren samt Bürger- und Interventionskrieg gefolgt wird, bringt sie ihren zweiten Band, die Septemberlyra (Frucht eines Monats) heraus. Im Gegensatz zu den elegischen „Gedichten“ ist dies ein hymnisches, ein ekstatisches, ein übermenschliches Buch im Sinne Nietzsches, den die Autorin nun zu ihrem Gott erkoren hat. Und sie geht in die Offensive. In der Vorbemerkung schreibt sie:
Meine Selbstsicherheit beruht darauf, daß ich meine Dimensionen entdeckt habe. Es kommt mir nicht zu, mich kleiner zu machen als ich bin.
Das sind unerhörte Töne. Die Kritik schlägt zu. Zu jenen, die Edith Södergran hier mißverstanden, zählte auch Hagar Olsson. Edith wehrt sich und gewinnt eine Schwester. „Göttlich miteinander umgehen“, das wünscht sie sich. Das Beglückende dieser Wende für ihre letzten vier Lebensjahre, welche die Krankheit ihr noch lassen wird, lese man in den Gedichten des „Rosenaltars“ und in ihren Briefen an Hagar, die es mir erlauben, mich über diese Zeit kurz zu fassen. Denn sie sind einmalige lebensbegleitende Zeugnisse, Herzensbericht und Arbeitsjournal, Chronik des äußeren Lebens und Wunschzettel an die erträumte Zukunft. Man erlebt Edith Södergrans entflammbares Wesen, ihren Tatendurst, ihre Herrschsucht, aber auch Fähigkeit zu geistiger Unterwerfung bis hin zur Selbstaufgabe. Wird Zeuge ihres Orientierungswechsels von Nietzsche zu Steiner und dessen anthroposophischer Reinkarnationslehre und europäischer Gesellschaftsmission, ja schließlich ihres Weges von Steiner zu Christus. Gerade diese letzten beiden Phasen nimmt sie so ernst, daß ihr die eigenen Hervorbringungen zunehmend unwichtiger werden. Und doch gehören gerade ihre letzten Gedichte, zusammen mit einigen frühen erst im Nachlaßband Das Land, das nicht ist (1925) veröffentlicht, für mich zu ihren schönsten. Abgestreift ist da der symbolistische oder märchenhafte Schleier, entwichen die gewaltsame Geste, In irdischen Worten spricht in ihnen ein durch Leiden geläuterter Mensch, der die Angespanntheit und Zerrissenheit schon überwunden hat und sich seinem Schicksal gelassen stellt. Ich denke an Gedichte wie „Kranke Tage“, „Nichts“, „Ein Leben“, „Die Bäume meiner Kindheit“, „Das Land, das nicht ist“ und „Ankunft im Hades“. Die zu schlichtem Gottglauben gefunden hat, weist ein selbst herbeigeführtes Ende von sich.
Die zunehmende Unmöglichkeit des Schreibens signalisierte Edith Södergran in ihrem Gedicht „Beschluß“, dessen letztes Wort unserer Auswahl den Titel gab:
Ich bin ein sehr reifer Mensch,
doch kennt mich niemand.
Meine Freunde machen sich von mir ein falsches
Bild.
Ich bin nicht zahm.
Ich habe die Zahmheit in meinen Adlerklauen geprüft und kenne sie wohl.
O Adler, welche Süße in deiner Schwingen Flug!
Wirst du schweigen wie alles?
Willst du vielleicht dichten? Du wirst nie mehr dichten.
Jedes Gedicht wird die Zerreißung eines Gedichtes sein,
nicht Gedicht. Klauenspur.
Selber in den unbarmherzigen Klauen der Krankheit und von dieser gezeichnet, bäumte sie sich auf, nicht spurlos unterzugehen, nicht umsonst auf der Welt gewesen zu sein. Eingeschrieben in die Wachstuchhefte ihrer abgebrochenen Schulzeit, sind drei ihrer vier bei Lebzeiten erschienenen Gedichtbände in ihrer Handschrift erhalten. Im Archiv der schwedischen Literaturgesellschaft in Helsinki, wo sich Edith Södergrans literarischer Nachlaß befindet, habe ich in diesen Heften geblättert. Es war das Durchblättern eines Lebens im Wartestand. Des Wartens auf Gesundung, auf die Liebe, auf Freundschaft, auf Besuch. In Erwartung eigenen Wirkenkönnens und des ersehnten Ruhms. Meist einsam mit der alten Mutter, ein, zwei Katzen und einem Hund, blieb ihr das meiste versagt. Durch die Umwälzung der russischen Verhältnisse endgültig verarmt und nach und nach zum Verkauf all dessen gezwungen, was in dem geplünderten Haushalt noch irgend von Wert war (man lese den Brief vom 16. April 1920), halfen in der allerletzten Zeit Zuwendungen des Schriftstellerverbandes und großherziger Kollegen über die ärgste Not. Oft fehlte das Geld für Briefmarken, und Besuch mußte gebeten werden, Seife mitzubringen. Aktiviert fühlte sich Edith Södergran gegen Ende ihres Lebens von ihrer Mitarbeit an der zweisprachigen radikalen Literaturzeitschrift Ultra und von der angestrebten Herausgabe einer Anthologie der finnlandschwedischen Dichtung (dafür wollte sie die Überlebenshilfe drangeben) in Deutschland. Beide Projekte zerschlugen sich trotz leidenschaftlichsten Engagements aus unterschiedlichen Gründen, letztlich demselben Grund: der Geringschätzung des Geistes in einer Welt des Geldes. Das Erlöschen dieser Hoffnungen beschleunigte das körperliche Ende. Der Tod hielt sein Versprechen. Am Mittsommerabend des Jahres 1923 kam die Einunddreißigjährige im Hades an.
Edith Södergran ist eine Dichterin des Nachruhms. Dieser ist noch immer im Wachsen begriffen. Die Skandinavier datieren mit ihrem und Elmer Diktonius’ Werk den Beginn moderner Dichtung in Europas Norden. Seit einigen Jahren existiert eine Edith-Södergran-Gesellschaft mit Sitz in Närpes, die den hundertsten Geburtstag der Dichterin zu einem übernationalen Ereignis lassen werden wird. Im deutschen Sprachraum haben sich Nelly Sachs mit ihren Nachdichtungen schon in den Nachkriegsjahren, Hans Magnus Enzensberger durch Aufnahme dreier ihrer Gedichte in sein Museum der modernen Poesie und der Limes Verlag mit seiner Ausgabe in den Übertragungen Karl Kerns um Edith Södergran verdient gemacht, deren schöner Name, uns paradox, südlicher Nachbar heißt.
Richard Pietraß, Nachwort, September 1989
Vom Kupeefenster aus machte Finnland einen düstern Eindruck. Es fehlte der Landschaft vielerorts an dem Wechsel von Wald, See und Berg, in dessen Besitz zu sein wir uns einbilden, allerdings habe ich inzwischen etwas über schwedische Einförmigkeit und finnische Improvisation dazugelernt. Ich glaube, der Ernst begann in Åbo, verkörpert in dem Schloß, das mehr als unsere Vasaburgen das schmucklose Aussehen einer Festung beibehalten hatte. Er verfolgte einen die ganze Strecke bis nach Viborg, dort erneut sich verkörpernd in der düsteren, hochragenden alten Grenzfestung, deren Turmkappe bereits etwas Östliches an sich hatte.
Der noch östlichere Teil der Karelischen Landenge mit seinen endlosen Sandstränden, seinen endlosen auf Sandboden stehenden Wäldern machte keine Ausnahme. Hier und dort öffnete sich dem Blick eine ausgedehnte spärlich bewachsene Heidelandschaft – ob das die Folge eines Waldbrandes war oder einer Kriegshandlung oder ob der Ort von den ehemaligen Ansiedlern verlassen worden war, blieb ungewiß. Die Verlassenheit nahm zu, je näher man der russischen Grenze kam. Wenn man diese einladenden Sandbuchten sah, die so gut wie menschenleer waren, erschien einem der Gedanke eigentümlich, daß weniger als fünf Meilen entfernt eine Millionenstadt liegen sollte. Das Grenzland war entvölkert. Düstere Erinnerungen und Vorahnungen machten es, daß niemand dort wohnen wollte.
In den Vorstadtsiedlungen jeder größeren Stadt findet sich immer das eine oder andere geheimnisvolle unbewohnte Haus des Typs, den der Kriminalschriftsteller mit Vorliebe zum Schauplatz seiner Schlüsselhandlung macht. Hier, an den Stränden, standen Tausende davon. Die Karelische Landenge war die Riviera der Zarenzeit. Die unverhältnismäßig großen und öden Zentralbahnhöfe, die hier und da die Bahnlinie berührten, zeugten noch von einem lebhaften Verkehr. In dem stillen Kuokkala, das nie zu den größeren oder feineren Orten gezählt hatte und in dem ich nun ein paar Wochen bei dem Maler Svenka Grönwall und bei Eimer Diktonius zu Gast war, gab es ehemals dreihundert Iswostschiks vor dem Bahnhof. Jetzt reichte der Ford des Chauffeurs Pekkanen.
In den Wäldern standen überall die alten Villen verstreut. Manchmal noch ganz menschlich anzusehen, obwohl das Holz grau geworden war und die Fensterscheiben das Zeitliche gesegnet hatten, manchmal war das Dach eingestürzt und hatten Brombeerranken Fuß gefaßt und waren durch die morschen Fensterhöhlen geklettert, manchmal stand nichts mehr da als der hohe, schmale, brandgeschwärzte Schornsteinstumpf oder die Grundmauern, nachdem das Haus abgerissen und das Bauholz verkauft worden war. In der Nähe von Rajajoki, der eigentlichen Grenzstation, soll es eine Villensiedlung dieser Art mitten in einem heranwachsenden Jungwald gegeben haben, von der wurde behauptet, sie erwecke die vollkommene Illusion eines hundertjährigen Dornröschenschlafes. Aber die habe ich nie gesehen. Den Strand entlang, auf den von Natur aus schönsten Grundstücken und in den einstmals begehrtesten Villen, wohnten noch Leute – teils eine dahinsiechende aus Russen und Deutschrussen sich zusammensetzende Flüchtlingsbevölkerung, teils einige verstreute Sommergäste. Die Art, auf die sich Rußland bemerkbar machte – außer in der Erinnerung –, das waren die ständig suchenden Strahlenbündel der Scheinwerfer und die grobe Artillerie Kronstadts, die einen nachts mit ihren erdbebenartigen Übungen aufweckte. Dabei klapperten die Bilder an den Fugenwänden. Ich erinnere mich auch noch an eine Elektrolok irgendeiner Schmalspurstrecke, die dort auf der anderen Seite in der halben Stunde einmal ihr Elektrogeheul ertönen ließ.
In dieser Umgebung, noch primitiver und vor dem Maschinenzeitalter, erreichte Edith Södergrans Dichtung ihre höchste Blüte – oder besser gesagt, nicht in dieser Umgebung, sondern in einer Oase in der Wüste, in Raivola. Dem, der ihre Dichtung liebt und die Gegend besuchen konnte, in der sie lebte, wird sich das für immer in die Erinnerung eingraben. Es war ein sehr enger Kreis, ein kleiner armer Fleck auf Erden, aber sie verstand es, ihn für sich so zu erweitern, daß er eine Welt wurde. Er bestand aus Kirche, Friedhof, dem „Garten“ mit den großen Bäumen und endlich dem See weiter unten – vier Mächte waren es sozusagen, die die wenigen Morgen Land unter sich aufteilten, vier Regionen, ein Kreuz. Aber sie stimmten wunderbar überein, diese Mächte – es gab keine Zwietracht unter ihnen. Dadurch gewann die Stelle den Charakter eines Kreuzwegs, eines Zentrums. Es gibt viele kulturelle Mittelpunkte auf der Erde, Stellen, an denen sich eine intensive verdichtete Stimmung konzentriert. Selten bin ich einer so intensiven Stimmung begegnet wie dieser.
Es ist wirklich eigentümlich. Die Kirche war eine alte morsche Holzkirche, ganz russisch, pittoresk, übersät mit Holzschnittarbeit, aber wenig glanzvoll. Der Friedhof – mit seinen Andreaskreuzen, seinen künstlichen Blumen, die die Zeit dennoch zum Verwelken gebracht hatte, mit seinem religiösen Trödel, seinen vergilbten Fotografien in schmalen Glasrahmen – vermittelte mehr als etwas anderes den Eindruck allgemeiner Vergänglichkeit. Der Garten war alles in allem ein gewöhnlicher zugewachsener Garten und der See ein gewöhnlicher, von einem Fluß durchflossener See. Und doch war alles so schön trotz seines kläglichen Verfalls, und doch schien alles zu leben. Es war wie eine Anwesenheit von etwas.
Die alte Muttter von Edith Södergran empfing uns. Sie war inzwischen fast blind, und der Fußboden war von Federn der Vögel übersät, die die Katzen Kolk und Silverfota ins Zimmer geschleppt hatten. Sie zeigte uns das große, kalte, kahle Zimmer, in dem die Tochter starb, wenig zuträglich einem Lungenkranken. Die Tapeten hingen achtlos an den Wänden, Kunstreproduktionen waren direkt draufgeklebt. Das Haus war grau und verfallen. Frau Södergran wies uns tastend in den Garten. Sie sagte: – Hier müssen ein paar Birken stehen, hier links, und da vorn ein Fliederbusch… es ist doch ein Fliederbusch?… und da hinten stehen die großen Bäume, die Edith so gern hatte – ein Ahorn muß da sein, ja, ein Ahorn… und dann Lärchen, die großen Lärchen. Und hier irgendwo muß eine sibirische Fichte stehen, sie hat eine ganz weiche Rinde, man kann sie an der Rinde erkennen… Edith hat oft gesagt: „Wir gehen jetzt und befreien“ – sie meinte damit, daß wir hinausgehen sollten, die trockenen Äste von den Bäumen und Sträuchern abzuschneiden, damit sie sich von ihnen nicht behindert fühlten…
Sie setzte ihren Monolog fort und wies um sich, ohne zu sehen, aber sie hatte ihren Garten gut in Erinnerung. Wenn man sie reden hörte, erkannte man das oft eckige und ungelenke Schwedisch in den Gedichten ihrer Tochter wieder. Es ist auswärtiges Schwedisch – Edith Södergran ist ja in St. Petersburg geboren – ein Schwedisch, das nur über das Buch in Beziehung zu seiner Urheimat gestanden hatte. Frau Södergran sprach auch wie ein Buch, sie sprach alle Pluralformen aus.
In einer Ecke des Friedhofs mit Aussicht auf den See lag das Grab mit einem einfachen Stein von Aaltonen. Man muß diese Bäume und Sträucher gesehen haben, durch die verlassen der Wind strich, man muß das Magnetische des Ortes gespürt haben, um die Zeilen recht zu verstehen, die in den Stein gehauen standen:
Sieh hier ist das Ufer der Ewigkeit,
hier rauscht der Strom vorbei
und der Tod spielt in den Sträuchern
seine immer gleiche eintönige Melodie…
Denn ebenso wie diese Örtlichkeit eine Rolle für Edith Södergran gespielt hat, muß sie auch eine für ihren Leser spielen. Tatsächlich gibt es einige Gedichte von ihr, die man nicht ganz versteht, wenn man nicht an Ort und Stelle gewesen ist. Unmittelbar neben dem Grab befand sich z.B. der Himbeerhang, um den es in dem Gedicht „Die Bäume meiner Kindheit“ geht:
Die Bäume meiner Kindheit stehen hoch im Gras
und schütteln ihre Köpfe: was ist aus dir geworden?
– – –
Als du Kind warst, führtest du lange Gespräche mit uns,
dein Blick war weise.
Nun wollen wir dir das Geheimnis deines Lebens sagen:
der Schlüssel zu allen Geheimnissen liegt im Gras am Himbeerhügel.
Wir wollen dich vor die Stirn stoßen, du Schlafende,
wir wollen dich, Tote, aus deinem Schlaf wecken.
Es ist gleichzeitig eine Tiefe und eine Freude in diesem Naturerlebnis – die wenigen Dichtern vergönnt ist, eine Rückkehr des kämpfenden und bilderstürmenden Geistes zum Einfachen und Ersten – dahin, daß alles beseelt ist und daß der Schlüssel aller Rätsel in der nächsten Nähe zu finden ist, an einer Stelle, an die man am wenigsten denkt und an der man ebensogut suchen kann wie irgendwo außer Landes.
Ein anderes Gedicht, dessen Stimmung deutlicher wird, ist „Die Zigeunerin“.
Ich bin eine Zigeunerin aus fremdem Land,
In braunen, geheimnisvollen Händen halte ich die Karten.
Tage vergehen und Tage, einförmig und bunt.
Trotzig blicke ich den Menschen ins Angesicht:
Was wissen die, daß Karten brennen?
Was wissen die, daß Bilder leben?
Was wissen die, daß jede Karte ein Schicksal ist?
(Übertragung von Nelly Sachs, in: Von Welle und Granit, Berlin 1947.)
Dies Gedicht – über Karten, über ihre eigenen Gedichte – steht einem nicht in seiner vollen Anschaulichkeit vor Augen, ehe man nicht die Zigeuner der Karelischen Landenge gesehen hat, weniger mischrassig als unsere oder vielleicht nur stärker östlich herausgeputzt, wirklich fremde Vögel in dieser so nördlichen Umgebung. Und überhaupt gibt es viele Gedichte – oft sind es solche, die man vorher für weniger wertvoll gehalten hatte –, die durch den Kontakt mit der Umgebung plötzlich ihre Erklärung finden und die nun dank des Eindrucks, den die Netzhaut bewahrt, als Lesezeichen in ihren Sammlungen vor einem stehen. Hierher gehören meiner Meinung nach ein paar kleine Sachen aus ihrer allerersten Sammlung Gedichte, z.B. Herbsttage, Bleicher See des Herbstes, Die Sterne, Im Fenster steht ein Licht, Frühe Dämmerung und viele andere, die anfangs wie Bagatellen erscheinen mögen, in Wahrheit aber etwas von der Konzentriertheit der chinesischen Lyrik an sich haben.
*
In Raivola zu Besuch sein hieß bei der Armut zu Besuch sein – wenn man sich am Äußeren festhielt. Für den Sammler literarischer Ansichtskarten mußte der Eindruck einer unerhörten Dürftigkeit entstehen. Krank, arm und verhöhnt hat hier ein Mensch gelebt und es dennoch vermocht, das, was er in diesen engen Grenzen vorfand, den Garten, den Friedhof, zu einem Schauplatz eines seelischen Abenteuers von allgemeinmenschlichem Maß zu machen. Welch innerer Kraft und Gewißheit hat es dazu bedurft. An Stelle von Klageliedern waren es mutige Worte wie diese, geschrieben mitten in Kriegsbrand und verzehrender Hungersnot:
Lieben sollen wir des Lebens lange Stunden der Krankheit
und engen Jahre der Sehnsucht
wie die kurzen Augenblicke, da die Wüste blüht.
*
Nun ist all das, als ob es niemals gewesen wäre. Oder es existiert einzig in den Gedichten und auf einigen verblichenen Fotografien.
Das letzte Mal, als ich etwas von Raivola hörte – das ist nun schon lange her, ich glaube, es war der gleiche Svenka Grönwall, den sein Weg dort vorbeigeführt hatte, irgendwann während des Krieges – stand an dem Platz eine riesige Garage für Militärbusse. Von dem alten Södergranschen Haus war keine Spur mehr da und von der Kirche ebensowenig. Die alten russischen Lungenkrankengräber waren eingeebnet, und Edith Södergrans Grabstein war vielleicht zum Garagenbau verwendet worden oder in eine Brüstung eingegangen, was weiß ich. Die „großen Bäume“ sind nicht mehr, nur der See, der nicht auszulöschen ging und vielleicht das eine oder andere Gesträuch, in dem der Tod spielen konnte.
Ich frage mich nun, ob die Strände um die Landenge herum der Leningrader Bevölkerung wieder offenstehen, glaube aber eher, daß sie mit Stacheldraht abgesperrt sind.
Aber der Abfall, der gewöhnlich ans Land gespült wurde und hauptsächlich aus der großen Stadt stammte, ist wohl der gleiche geblieben. Er bestand in der Regel aus schwimmenden bimssteinartigen Bröckchen, möglicherweise Kesselstein, aus ewig den gleichen wäßrigen Kohlstrünken und ewig den gleichen blauweißgestreiften Fetzen ausgedienter Matrosenoveralls.
*
Jetzt steht dort Ralf Parland zufolge, der dagewesen ist, ein riesengroßes „Volkshaus“, das sich gern mit einem neuen, berühmten Grabstein schmückte.
Gunnar Ekelöf, Vorwort
erwächst die Dichtung Edith Södergrans (1892–1923) aus einem konflikthaften Schicksal. Was im Leben versagt blieb, sucht Kompensation und visionäre Erfüllung in den Versen. Was dort drohend auf sie zukam, hier wird es gebannt. Schon ihre erste Sammlung Gedichte (1916) läßt alle Verspieltheit der gereimten Schulmädchenverse hinter sich und bricht durch die vorherrschende Reimlosigkeit und den Verzicht auf feste Rhythmen mit dem geltenden Kanon. Entsprechend ist die Aufnahme durch die literarische Öffentlichkeit. Obwohl die Autorin auch Anerkennung und Bescheinigung starken Talents erfährt, überwiegen die kritischen Töne. Hagar Olsson, die spätere Freundin, bemerkt rückblickend, daß man auf diese Verse nicht vorbereitet war. Bei der Gescholtenen überwiegt zunächst die Entmutigung. Doch schon zwei Jahre später, gegen Ende des ersten Weltkrieges, bringt sie ihren zweiten Band, Septemberlyra, heraus. Im Gegensatz zu den elegischen „Gedichten“ ist dies ein hymnisches, ein ekstatisches, ein übermenschliches Buch im Sinne Nietzsches, den die Autorin nun zu ihrem Gott erkoren hat. und sie geht in die Offensive, wenn sie schreibt:
Meine Selbstsicherheit beruht darauf, daß ich meine Dimensionen entdeckt habe. Es kommt mir nicht zu, mich kleiner zu machen als ich bin.
Reclam Leipzig, Klappentext, 1990
… habe ich in Moskau nachgedichtet, vier Wochen nach Tschernobyl – es reichen Ortsnamen, um vom Grauen zu reden. Ich war zu Puschkins Geburtstag eingeladen. Jahr für Jahr wurde er in Michailskoje, auf halbem Wege nach Karelien, auf einer riesigen Waldwiese gefeiert. In Pskow, wo die Geburtstagsgäste aus den „Ostblockländern“ am Vortag in Fabriken und Kolchosen Lesungen hatten, ging ich im mitternächtlichen Licht mit meiner russischen Freundin. Die weißen Steinmauern des Pskower Kreml warfen das Mitternachtslicht zurück. Die Wiesenhügel und Wasserflächen um Michailowskoje – den Verbannungs- und Zufluchtsort Puschkins – ließen Edith Södergran zu, zu mir kommen. Auf der Rückreise über Moskau, das seinen Dichter als Denkmal und das Denkmal als Dichter ausgiebig und familiär gefeiert hatte, saß ich über den Nachdichtungen. Im Hotel Moskwa unweit des Roten Platzes wieherten aus allen fünfzig Zimmern, die gleich einer Perlen-Imitat-Kette auf einem Flur aufgereiht waren, Pferde.
Obwohl die Sonne schien, war Moskau lichtlos an jenen Tagen. Am Abend aber hüpfte das Licht um das Puschkindenkmal, fuhr zwischen die Leute, Punks und Bauern, Musterschülerinnen und Schlampen, viele vom Schlage jener Leute, die ich an Jessenins Grab getroffen hatte. Sie legten ihm Brot hin, schenkten Wodka nach – gleich einer ewigen Flamme steht bei Jessenin das Wodka-Glas –, und Gorbatschow hatte den Alkohol gerade aus dem Verkehr gezogen. Edith Södergran hatte die Bolschewiki zu fürchten – sie brachten die Fahrpläne durcheinander und standen als Schatten vor den kostbaren Besuchen, von denen sie in den letzten Lebensjahren zehrte. Als ich in meinem Moskauer Hotelzimmer saß, gelähmt von der Lieblosigkeit, der Trostlosigkeit, der Maßlosigkeit und der Sorglosigkeit – es war vier Wochen nach Tschernobyl –, löste sich der Knoten, der in Berlin eine Begegnung mit den Södergranschen Texten nicht zugelassen hatte.
Daß es Puschkin, Jessenin und vor allem Marina Zwetajewa waren, deren Erinnerungen und Briefe ich parallel las, die mich in diese Bewegung gebracht hatten – sie waren so akkurat gegen den Strich gebürstet, auf den das aktuelle Leben ging –, ist eher biografisch als ideengeschichtlich zu begreifen.
Wo aber wäre dieser Poeten Heimat gewesen? War Puschkin mit seiner afrikanischen Ader, seiner Frankophilie, der gern unter Zigeunern gelebt hätte, der Rußland mehr als einmal verflucht hatte, dort zu Hause, wo man ihn erschossen hatte?
Jessenin, der seine bäuerlichen Wurzeln kappte, sich eine amerikanische Frau nahm und sich am Arbat in Moskau die Seele aus dem Leib zu saufen versuchte, wo war er zu Hause?
Oder Marina Zwetajewa, untragbar im Rußland der Boschewiki mit ihrem weißen Gatten, unhaltbar in ihren europäischen Exilländern, zurückgekehrt und in den Tod gegangen?
Wo lebte Edith Södergran?
Postalisch in Rußland.
Sie hat zwischen den Zeilen der Alltagsprosa überlebt, dort, wo die Dichter bleiben.
Brigitte Struzyk, die horen, Heft 170, 2. Quartal 1993
– Lese-Erfahrungen. –
Es gibt Dichter, die einen verwandeln, Dichter, bei denen man, wenn man sie gelesen hat, ein Vorher und ein Nachher benennen kann. Davon gibt es in einem Leben nicht viele, man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen. Ihre Werke arbeiten auch nach der Lektüre in einem weiter, versetzen einen mit Sauerstoff, durchsetzen einen mit ihrer Atmosphäre und ihrer Lebenserfahrung. Wie ein Resonanzkörper trägt man sie stets bei sich.
Edith Södergran ist mehr als irgend jemand sonst eine solche Dichterin. Ihr persönliches Schicksal war grausam, ihr Leben kurz. So vieles in ihrem Leben war Gefangenschaft. Dennoch gelang es ihr, mit ihren wenigen Gedichtsammlungen das grundlegende Werk des schwedischen Modernismus zu schaffen. Sie wurde die Vermittlerin eines neuen Lebensgefühls, und einer neuen Ästhetik, sie führte die Regungen des Unbewußten in die schwedische Sprache ein.
Sie war das große Leseerlebnis meiner Jugend. Wie sich ihr wieder nähern? Es ist, als ob auch die Gedichte der Autorin weitergelebt, sich verändert, sich gewandelt hätten. Die Gedichte, die man früher neben seinem Kopfkissen hatte, sind ausgetauscht worden oder rufen ganz andere Assoziationen hervor. Andere, über die man flüchtig hinweggelesen hatte, können sich ganz unvermutet erschließen.
Edith Södergran heute lesen, heißt, mit doppelter Perspektive lesen, noch immer mit einem Echo des früheren Erlebnisses in sich. Es ist schmerzlich, denn zu seiner eigenen Pubertät zurückzukehren, zu allem Wunden, Schweren und Eingeschlossenen, tut weh. Sie heute lesen, heißt, ohne Fieber, nicht mehr aus Lebensnotwendigkeit lesen, doch es ist unmöglich, sie jemals ganz ohne Rausch zu lesen, sie ist solch eine Dichterin.
Und ich bin glücklich, daß ich sie einmal ganz ohne Vorbehalt gelesen habe, als Ritus, Religion, Code und Mysterium, daß ich jung war, als ich ihr begegnete. Ihre Begeisterung entsprach der meinen. Ihr Lebensrausch und ihre Maßlosigkeit gehören zur Jugend.
Ich las Edith Södergran in der Pubertät, in einer Zeit, als mein religiöser Glaube schwand und der Stern von Bethlehem sich in einen grauen physikalischen Stern verwandelt hatte. Das religiöse Weltbild wurde allmählich von einem naturwissenschaftlichen abgelöst, und dabei entstand eine Leere.
Ich konnte in einer Welt, die so häßlich, so beschnitten und so trostlos war wie die, welche von den naturwissenschaftlichen Gesetzen bestimmt wurde, nicht leben. Ich konnte auch nicht zu den schillernden Wunderwerken, zu den biblischen Salti mortali, den einfachen und phantastischen Geschichten zurückkehren; sie spielten sich in einer anderen Dimension ab. Der brennende Dornbusch war erloschen.
Wenn die Nacht kommt,
stehe ich auf der Treppe, lauschend,
die Sterne schwärmen im Garten
und ich stehe im Dunkel.
Hör, ein Stern fiel mit einem Klang!
Geh nicht ins Gras mit nackten Füßen;
mein Garten liegt voller Scherben.
In dieser Situation war es eine enorme Befreiung, Edith Södergran zu lesen. Was mich so ungeheuerlich ansprach, war gerade ihre Unbeschwertheit im Umgang mit den Naturgesetzen. Alles war wieder möglich! Die nackten Bäume stiegen zum Ufer hinab, in ihrem Garten fielen die Sterne mit solch souveräner Selbstverständlichkeit in Scherben, daß sie fürchtete, sich ihre bloßen Füße zu zerschneiden.
Hier gab es das Wunder wieder. Und auch das Märchen, die Leichtigkeit, die Verspieltheit und Musikalität der Natur. Hier gab es die Schönheit und das Versprechen, jedoch in anderer Form:
Komm, komm, du goldene Tochter, Wanderin des Herbstes, Lauscherin des Waldes,
ich werde dir sagen, woher das Glück kommt, wohin es geht.
Leg deine Finger auf meine Rinde und ich will
deine Glieder in des Herbstes Schönheit hüllen.
Hier fanden sich die existentiellen Lebensfragen in klaren und starken Farben, Gemälden von Kandinsky oder Edvard Munch ähnlich: „Was suchst du den Tod? Spürst du das Ekelnde seiner Kleider? / Und nichts schreckt mehr als der Tod durch eigne Hand.“ – Hier gab es die Wehmut, das Märchen, die Sehnsucht nach Schönheit:
Um meiner eigenen Bleichheit willen liebe ich rot, blau und gelb,
das große Weiß ist wehmütig wie die Schneedämmerung
da Schneewittchens Mutter am Fenster saß und bat hinzu das Schwarz und das Rot.
Die Sehnsucht der Farben ist die Sehnsucht des Blutes.
Wenn du dürstest nach Schönheit,
schließ die Augen und sieh in dein eigenes Herz.
Und hier war ein sinnlicher und geplagter Mensch, der über Liebe nicht schön schrieb, sondern Eros den grausamsten aller Götter nannte. Der wußte, was die Erotik aus einem Menschen hervorlocken kann:
Ich werde zu dir kommen, seltsam, böse und treu
mit dem Gang eines wilden Tiers aus der fernen Wüstenheimat deines Herzens,
Du wirst hart und machtlos gegen mich kämpfen
wie man nur gegen sein Schicksal, gegen sein Glück, gegen seinen Stern kämpft.
Ich werde lächeln und Seidenfäden um meinen Finger wickeln
und das kleine Knäuel deines Schicksals in den Falten meines Kleids verbergen.
Und hier gab es ein Temperament, einen Lebenshunger, eine Siegesgewißheit! Was im Märchen geschehen ist, wird auch mir geschehen!
Eine Lebensintensität, ein animalisches Lebensgefühl, stark genug, um jedweden Umstand zu bezwingen:
Was fürchte ich? Ich bin ein Teil der Unendlichkeit.
Ich bin ein Teil der großen Kraft des Alls
eine einsame Welt in Millionen Welten
ein Stern erster Größe, der zuletzt erlischt.
Triumph zu leben, Triumph zu atmen, Triumph zu sein!
Triumph, die Zeit eiskalt durch die Adern rinnen zu spüren.
Der Einfluß Nietzsches
Mein Konflikt war im Grunde auch der des Jahrhunderts. Goethe schrieb bereits 1830:
Die Menschheit steht jetzt in einer religiösen Krisis, wie sie durchkommen will, weiß ich nicht, aber sie muß und will durchkommen.
Die Kräfteverluste der Religion und ihre reduzierten Möglichkeiten, sich geistig auszuleben, wurden in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende zu dem Fundament einer einzigartigen Energieentwicklung auf dem Gebiet der Kunst und Literatur.
Munch – Strindberg – Freud – Hamsun konkretisierten die menschliche Seele in einer noch nie dagewesenen Weise. Die Pioniere der abstrakten Kunst, wie beispielsweise Kandinsky, vollzogen ihre Kraftübertragung von der Religion in die Kunst und betrachteten ihre Werke als religiös. Hans Arp schrieb 1915 über seine Kunst:
Diese Arbeiten sind aus Linien, Flächen, Formen und Farben gemachte Gebäude. Sie versuchen, sich dem Ewigen, dem Unerklärlichen jenseits des Menschen zu nähern.
Nietzsche, der Philosoph und Schriftsteller, der Edith Södergran mehr als irgend jemand sonst prägen sollte, ging das Problem an, indem er Zuflucht zur Naturwissenschaft, zur „Wirklichkeit“ nahm. Alle jenseitigen Welten seien Zeichen von Schwäche, zu der alle, die sich in der Welt des gesunden Seins nicht behaupten könnten, ihre Zuflucht nähmen. Der Mensch solle sein Wesen nicht verleugnen und sich nicht nach einem Jenseitsideal formen.
In seinem prophetisch-religiösen Werk Also sprach Zarathustra verbreitete er die Lehre vom Übermenschen, was kein darwinistischer Begriff sei, sondern eine geistige Utopie: durch Willenskraft und Kampf müsse der Mensch sich selbst überschreiten, durch eine heroische Selbsterziehung den Gott im eigenen Ich verwirklichen. Ganz neue Werte müßten herausgearbeitet werden, meinte Nietzsche, man sei Jenseits von Gut und Böse, dies sei die Berufung des Übermenschen.
Die Nietzschelektüre wurde für Edith Södergran eine Quelle der Inspiration bis hin zur Identifikation. Sie betrachtete sich schließlich als die erste rechtmäßige Jüngerin von Zarathustras Lehren, und dieses Buch löste bei ihr eine großartige, hypnotisch selbstverherrlichende Dichtung aus, deren Anspruch es war, sich selbst, also den Übermenschen, zu erschaffen.
Von der wehmütig graziösen Gedichtsammlung des jungen Mädchens (Dikter) tat sie den Jaguarsprung zu Septemberlyran, wo sich ihr Anspruch schon in der einleitenden Anmerkung der Gedichtsammlung manifestierte – es gehört zum Stolzesten, was in schwedischer Sprache geschrieben wurde:
Daß meine Dichtung Poesie ist, kann niemand bestreiten. Daß es Verse sind, will ich nicht behaupten. Ich habe versucht, gewisse widerspenstige Gedichte zu rhythmisieren, und dabei herausgefunden, daß ich die Macht des Wortes und des Bildes nur bei voller Freiheit, das heißt auf Kosten des Rhythmus, besitze. Man nehme meine Gedichte als flüchtige Handzeichnungen. Was den Inhalt betrifft, so lasse ich meinen Instinkt aufbauen, was mein Intellekt abwartend betrachtet. Meine Selbstsicherheit beruht darauf, daß ich meine Dimensionen entdeckt habe. Es steht mir nicht zu, mich kleiner zu machen als ich bin.
Also sprach Zarathustra lesen bedeutet in vieler Hinsicht, Edith Södergran lesen. Dieses Buch für Alle und Keinen traf auf einen empfänglichen Sinn, ein Talent, das seiner Kraft Ausdruck verleihen konnte. Der Mensch sei etwas, was überwunden werden müsse, lehrte Zarathustra, und dieser Kampf war Edith Södergrans eigener, schwerer, täglicher Kampf.
Lesen Sie beispielsweise aus Also sprach Zarathustra das folgende Gedicht:
Denn schon kommt sie, die Glühende – ihre Liebe zur Erde kommt! Unschuld und Schöpfer-Begier ist alle Sonnen-Liebe!
Seht doch hin, wie sie ungeduldig über das Meer kommt! Fühlt ihr den Durst und den heißen Atem ihrer Liebe nicht?
Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich in die Höhe trinken: da hebt sich die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten.
Geküßt und gesaugt will es sein vom Durste der Sonne; Luft will es werden und Höhe und Fußpfad des Lichts und selber Licht!
Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere.
Und dies heißt mir Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf – zu meiner Höhe!
Klingt das nicht in vielerlei Hinsicht als würde man Södergran lesen? Und hören sie ihren ekstatischen Antwortruf: „Das ist die Sonne. / Die Sonne hat mich geküßt. So küßt niemand auf Erden.“
Es fragt sich, wie Edith Södergran Nietzsche las. Auch diese berühmten Worte stehen in Also sprach Zarathustra: „Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht.“ Dies scheint an Edith Södergran glücklicherweise vorübergegangen zu sein. Sie las als die Künstlerin, die sie war, und nahm sich das, was sie brauchte.
Von einer müden, wehmütigen, erschöpften Welt, Schopenhauerscher Lebensverleugnung, führte Nietzsche sie zu dionysischer Lebensbejahung und einem Selbstbewußtsein, das zu ihrem Temperament paßte.
Auf losem Sattel kommen wir wiegend daher,
die Leichtsinnigen, die Unbekannten und Starken.
Trägt uns der Wind vorwärts?
Wie ein Hohnlachen klingen unsere Stimmen
aus der Ferne, der Ferne…
Es ist schwer, von Zeilen wie diesen nicht berauscht zu werden. Edith Södergrans von Nietzsche inspirierte Poesie ist eine Droge, ein starkes Gebräu, von dem man berauscht wird. Sie dichtet maßlos und inspiriert vom vielleicht tabuisiertesten und primitivsten Trieb des Menschen, der Lust zu herrschen und zu beherrschen.
Im Hinblick auf den Nazismus, den Zweiten Weltkrieg sowie die germanische Herrenmenschenideologie erscheint diese Dichtung gefährlich, hypnotisch und verführerisch. Ein Zug von rücksichtsloser Massenverführung, ein Wille, die Menschen zu zwingen, dem stärksten Willen zu folgen, ist in Zeilen wie diesen unleugbar vorhanden:
Ich bin die gebietende Stärke. Wo sind, die mir folgen?
Auch die Größten tragen ihren Schild auf Träumerart.
Gibt es keinen, der die Kraft der Begeisterung in meinen Augen liest?
Gibt es keinen, der versteht, da ich mit leiser Stimme leichte Worte zu den nächsten spreche?
Ich folge keinem Gesetz. Ich bin Gesetz in mir selbst.
Ich bin der Mensch, der nimmt.
Ist sie damit der Embryo eines Hitler? War Hitler so zeitgemäß, daß die Umstände ihn nahezu heraufbeschwörten? Was für eine Macht ist das, von der sie spricht?
Gunnar Tideström, der Biograph, und Hagar Olsson, die Freundin, sowie Olof Enckell, alle haben sie das Problem angesprochen. Enckell meint, daß Edith Södergran durch ihre Nietzschelektüre ein Modell erhalten habe, das kriegerische und revolutionäre Chaos zu betrachten, das ganz in ihrer Nähe herrschte, es sei zu einem Vorspiel zum Reich der Zukunft geworden, das mit den Entbehrungen des Augenblicks habe versöhnen können. Sie habe ihren täglichen Kampf als einen Schöpfungsprozeß sehen können, aus dem eine göttliche Zukunft hätte geboren werden können. Tideström betont, wie uninteressiert sie an praktischen politischen Fragen gewesen sei, der einzige praktische Vorschlag, den sie vorgebracht habe, sei gewesen, „daß alle überlegenen Geister Purpurmäntel tragen sollten. Damit die übrigen Menschen sie erkennen würden“, was eher entwaffnend als erschreckend klingt. Und Hagar Olsson betont, daß ihr Hoheitsanspruch von der Art gewesen sei, daß „etwas anderes aus ihrem Munde sprach“. Gleichwohl hat man das Gefühl, daß beide diese primitive und rücksichtslose Seite ihres Charakters ein wenig scheuen, sie bemänteln und die Heftigkeit verringern wollen. –
Ich weiß, ich weiß, daß ich siegen werde.
Wie man mich auch nennen wird, wer immer mich erwarten wird: ich bin der Zukunft Stern.
Ich habe auf uraltem Throne gewacht.
Edith Södergrans nietzscheanische Poesie lesen bedeutet, sie nicht im Schatten der Zukunft, sondern in dem des Zweiten Weltkriegs zu lesen. Die gesamte nietzscheanische Begriffsbildung ist so schwer kompromittiert, daß sie womöglich für immer unanwendbar bleibt. Ein Abscheu vor Krieg, Nazismus, Herrenmenschenideen und Übermenschengedanken bewirkt, daß vieles von dieser Dichtung des Machtrausches nicht lesbar ist.
Gleichwohl ist das ein seelischer Zustand, den wir alle in uns haben, man muß es sich nur eingestehen. Vielleicht ist unsere Gesellschaft zum großen Teil auf Instinkten wie diesen aufgebaut. Daß die Ideen vom Übermenschen auch ein Trost sind, fiel Edith Södergran zu jenem Zeitpunkt vielleicht nicht ein? Ein Trost, der nicht in einem kommenden Leben zu suchen ist, sondern hier und jetzt.
Nietzsche bekannte selbst, daß ihm unter den Menschen ängstlich zumute gewesen sei und nichts seine Sehnsucht gestillt habe. Da sei er in die Einsamkeit hinausgegangen und habe den Übermenschen geschaffen. Noch war die Zeit nicht gekommen, da Edith Södergran dies „das Spiel der Spiele“ nennen sollte. Nietzsche vermittelte ihr Kraft, Lebensmut und durch seine Betonung des schaffenden Menschen auch eine Lebensaufgabe: der Menschheit geistiges Leben zu schenken, sie „zu einer Freude für Götter“ zu gestalten.
Doch heute hat die Angst vor der Zukunft das Sehnen nach der Zukunft abgelöst. Niemand wird mehr vom Gedanken an die Zukunft berauscht. Die Dichtung Edith Södergrans scheint auch wie aus einer optimistischeren Epoche gekommen, in der Kriege und Revolutionen nicht die vollständige Vernichtung bedeuteten, aus einem naiveren, unschuldigeren Stadium, in dem der Krieg dionysischen und leichtsinnigen Kräften ein Ventil bieten konnte. – „Gefahr und Unsicherheit sind die wahren Elemente der Sorglosigkeit, das zivilisierte Leben ist schwer zu ertragen.“
Rudolf Steiner und die Anthroposophie
Es waren auch in hohem Maß der Krieg und die Revolution von 1917, die Edith Södergrans Dichtung schließlich so radikal veränderten und zur Beschaffenheit von Septemberlyran beitrugen. Sie und ihre Mutter wurden von den Kriegsgeschehnissen unmittelbar berührt, Raivola lag an der russischen Grenze. Die Matrosen von Kronstadt schossen, daß die Fensterscheiben klirrten, in der Nähe fanden Erschießungen statt, man war zeitweise von der Umwelt abgeschnitten, bekam nichts zu essen.
In diesen Zeiten zu überleben, erforderte Heroismus. Mit so geringen Aussichten auf Erfolg, wie Edith Södergran sie hatte, war es fast ein Wunder, zu überleben. Aus diesem täglichen Mirakel und aus ihrer Nietzschelektüre entstand jenes inspirierende und hypnotische Gebräu. Doch Edith Södergran blieb nicht bei Nietzsche stehen. Sie interessierte sich mittlerweile für Rudolf Steiner und die Anthroposophie. Steiner versuchte die religiöse Krise der Zeit auf eine Art zu lösen, die der von Nietzsche genau entgegengesetzt war; anstatt jegliche „Jenseitsideale“ zu verwerfen, versuchte Steiner durch das Studium verschiedener Religionen mit diesen Welten in Kontakt zu kommen. Er schuf ein verworrenes religiöses Entwicklungsdrama, das Elemente aller denkbaren religiösen Richtungen enthielt, das christliche Golgathamysterium stellte er jedoch ins Zentrum, Da fanden sich Züge des Buddhismus mit Reinkarnationen, des Okkultismus mit Astralleibern, christliche Elemente usw.
Edith Södergran, die „Geisterfeindin, Antimystikerin“ betrachtete das Ganze zunächst mit Mißtrauen, interessierte sich aber immer mehr dafür, teilweise durch „das Beiseitelegen des Verstandes.“ „Das Vorurteil gegen Gott ist am schwierigsten zu überwinden“, lautet einer ihrer berühmten Aphorismen, und als Hagar Olsson in ihrem Buch Kvinnan och Nåden ihre religiösen Erfahrungen darlegte, geschah dies in einer solchen Form, daß Edith Södergran nachgeben konnte.
Sie begann mit Hingabe und Ernst Steiner zu studieren. An Nietzsche hielt sie in dieser Zeit noch fest. Steiner war auch sozial und politisch interessiert, schrieb Mysterienspiele, war pädagogisch tätig. All das verachtete Edith Södergran indes, sie war nicht der Meinung, daß Gottheiten sich mit dergleichen abgeben sollten. Letztlich war ihr Steiners Gedankenwelt zu geradlinig systematisch für einen Instinktmenschen wie sie. „Alle langen Wurzeln der Wahrheit sind verdächtig, die Wahrheit erhält man nur in kurzen, gebrochenen Stücken“, lautet einer ihrer Aphorismen. War es das Steinersche Gedankengebäude, worauf sie damit anspielte?
Sie wandte sich schließlich von Steiner ab und Christus zu, von der Verwicklung zur Einfachheit. Sie näherte sich dem Evangelium wie ein Kind, wie ein Naturkind. Ihre Krise stand natürlich im Zusammenhang mit der Verschlimmerung ihrer Lungenkrankheit.
Gegen Ende ihres Lebens gewann sie etwas von der Naivität ihrer Kindheit und Jugend zurück, der Zeit, da die Natur für sie auf eine direkte und unmittelbare Weise beseelt war, ein Zug, der ihre Poesie so seltsam und märchenhaft macht. –
… daß ein Garten stehn und trauern kann
und ein Baum kann sich wenden und fragen:
wer ist nicht gekommen und was ist nicht gut.
Sie konnte sich wieder den kleinen Dingen zuwenden, dem, was sie umgab, und im Alltag wieder das Wunder sehen, das Wunder, das mich ursprünglich dazu gebracht hat, sie zu lesen und zu lieben:
Und Gott wohnt in jedem Zusammenhang.
Als die Greisin unerwartet am Brunnen ihre Katze traf
und die Katze ihre Kostmutter
war beider Freude groß
aber das Allergrößte war, daß Gott sie zusammenführte
und ihnen diese wunderbare Freundschaft gab
durch vierzehn Jahre.
So starb sie, erst 31 Jahre alt, an ihrer Lungentuberkulose, einige Jahrzehnte vor der heilenden Entdeckung der Tuberkulosemediziner.
Södergran von zwei unterschiedlichen Temperamenten her gesehen
Will man etwas über Edith Södergran lesen, so gibt es zwei zentrale Werke, die sich wie Tag und Nacht voneinander unterscheiden. Das eine ist die Biographie von Gunnar Tideström. Es ist ein in vieler Hinsicht bewundernswertes Buch, das Edith Södergrans Herkunft und Jugend nachzeichnet, ihre Dichtung analysiert sowie Einflüsse und Intentionen zergliedert.
Hier wird ihre Jugend in Raivola geschildert, der seltsame Garten, in dessen Nachbarschaft die orthodoxe Holzkirche mit den Zwiebeltürmen lag, der Schulbesuch in der Weltstadt St. Petersburg, die Verehrung der Mutter durch das einzige Kind, der Tod des Vaters an Tuberkulose. Hier werden die düsteren finnischen Sanatorien geschildert, in die das Mädchen im Alter von sechzehn Jahren gebracht wird, da sie von der ihr Leben entscheidenden Krankheit angesteckt worden war, und die mondäneren Umgebungen der Sanatorien in der Schweiz, wo sie ebenfalls behandelt wurde.
Hier wird das Leben in Raivola geschildert, nachdem die beiden Frauen nach der Revolution von 1917 in Not geraten waren, wie sie, mehr in der Weltliteratur als in der Hauswirtschaft bewandert, versuchten, eßbares Brot zustande zu bringen. Hier wird die Edith Södergran geschildert, die ihren Freunden die Ebereschen mit Seifenwasser wusch, wenn sie von Ungeziefer befallen waren, und die ihre Haustiere wie ihresgleichen liebte.
Tideström verweist auch auf russische und deutsche Stilideale und führt Vorbilder aus der russischen dekadenten Poesie, dem deutschen Expressionismus und dem russischen Ego-Futurismus an. Schließlich verweist er immer wieder auf die Realistin Edith Södergran, zeigt, in welch hohem Maß tatsächliche Begebenheiten ihrer Dichtung zugrunde liegen, daß man nach den Kiefern, Ebereschen und Himbeerbüschen, die sie in den Gedichten erwähnt, fast eine Karte zeichnen könne. Die Betonung der Realistin Edith Södergran, das ist für mich Tideströms größter Verdienst.
Tideström analysiert auch den größten Teil von Södergrans Gedichten und verfährt dabei nach herkömmlicher literaturwissenschaftlicher Methode; seine Ergebnisse sind oft glänzend, doch macht man ständig diese niederschmetternde Erfahrung, die jede Literaturgeschichte einem bereitet, nämlich die, daß sie Brot in Steine, Wein in Wasser und Gras in Grus verwandelt.
Die ganze Zeit studiert, untersucht und systematisiert die effektive und systematische linke Gehirnhälfte, ohne daß eine Saite des Gefühls in Schwingung versetzt würde. Es macht einen verheerenden Eindruck, wenn eine so intensive Dichterin wie Edith Södergran, eine Poetin, die so glühend ist und so direkt das Gefühl anspricht, derart behandelt wird. Sie muß man offen und vorbehaltlos in sich aufnehmen, als diese Seltsamkeit, die sie ist – die literaturwissenschaftliche Methode macht ja das Gegenteil.
Gleichwohl ist Tideström im großen und ganzen ein gütiger Obduzent. Er kann den Gegenstand seiner Biographie mit einer beinahe verliebten Distanz betrachten, ironisch, so, wie man sich vorstellt, daß der in der Schule angebetete Lehrer Henri Cottier Edith angesehen haben mochte, oder eher feinfühlig wie der Schweizer Arzt Ludwig von Muralt, den Edith sehr in ihr Herz geschlossen hatte.
Sein Dilemma ist indes das der Literaturwissenschaft, Als Leser der Biographie merkt man auf Schritt und Tritt, daß einem das eigene Erleben begrenzt wird, obwohl das Buch so detailliert, so reich ist und die Interpretationsvorschläge so logisch wahrscheinlich sind. Es ist eine äußerliche Biographie.
Ganz anders dagegen Hagar Olssons Briefsammlung, in der sie die Briefe ihrer toten Freundin kommentiert publiziert hat. Die Freundschaft mit Hagar Olsson begann im Zusammenhang mit der Fehde, die Septemberlyran ausgelöst hatte. Hagar Olsson war die einzige, die den Handschuh, den die Titanin warf, aufzunehmen und sich über die Gefühlslage zu freuen vermochte, die eine Gedichtsammlung wie diese hatte, und sie war es auch, die sie in der finnlandschwedischen Presse verteidigte.
Dies wurde der Auftakt einer Freundschaft, die bis zum Ende ihres Lebens halten sollte, d.h. fünf Jahre. Es war keine idyllische Verbindung zwischen den beiden Freundinnen; durch Edith Södergrans Isolierung und Lebenslage wurde sie hochgespannt, dramatisch. Dennoch blieb Hagar Olsson ihre „Schwester“, die „Vergolderin ihres Lebens“, sie ist das „Schwesterlein, mein Kind“, wenn sie nicht gerade eine „Verräterin“ ist. Das Vorwort ist ergreifend, Hagar Olsson legt darin Rechenschaft über die tiefe Seelenqual und das moralische Problem ab, das es ihr bereitet, auf diese Weise eine private Briefsammlung herauszugeben, bei der die Gegenpartei tot ist und sich nicht mehr wehren kann. Sie appelliert an den Leser:
Sieh mal, wie wehrlos diese Briefe sind! Nimm sie als das, was sie sind: die leichte und flüchtige Gischt der schweren Woge über der Klippe.
Sie spricht von ihrer Abscheu gegen alle herumstöbernden Literaturhistoriker und von Ediths Absicht, den Leichenwürmern nichts zu hinterlassen. Mit dieser Ambivalenz macht man sich an die Lektüre der Briefe, mit dem Wissen, daß man ein lüsterner Leichenwurm ist.
Die Briefe sind jedoch wunderbar. In ihnen kommt man Edith Södergran entgegen, und auch Hagar Olsson. Man bekommt ihr spontanes, unnachahmliches Wesen zu sehen, man kann sie sich vorstellen, sie wird ein Mensch. Alles, was sich in den Gedichten findet, findet sich auch dort, die Verspieltheit, die Tintomarazüge, das Lachen, der Humor, die Katzen, die Natur.
Die Briefe sind oft voller Versprechen alles Herrlichen, das Hagar zuteil werden solle, wenn sie Raivola besuche, und Klageliedern, wenn sie ausbleibe. Die Freundschaft war von Ediths Seite aus leidenschaftlich und beherrschend, fast tyrannisch, aber auch bezaubernd, eigen.
Das Buch und die Briefe sind geprägt von Hagar Olssons Schuldgefühl, nicht genügend unternommen zu haben, etwas versäumt zu haben… „Unverzeihlich ist es, zu versäumen!“ hatte Edith Södergran einmal in einem Gedicht geschrieben; ihr waren Schuldgefühle völlig fremd. – „Schuldgefühl ist stets ein sicheres Zeichen von Charakterschwäche, die tatsächliche Schuld bleibt ein Fragezeichen.“
Man erhält ein Bild von Ediths Leben, von ihrem erniedrigenden Leben in Armut, wo sie gezwungen ist, Parfümflaschen und eine gebrauchte Spitzenunterwäsche zu verhökern, um Geld für Essen zu bekommen, und von ihrem ekstatischen Leben im Geiste Nietzsches. Von ihren heiteren Zukunftsplänen, die Welt zu erobern, und ihrer Krankheit, die alles, was sie erträumt hat, unterbindet.
Man erhält ein Bild davon, wie Hagar Olsson mit unendlichem Taktgefühl versuchte, einen Puffer zwischen Edith und der Wirklichkeit zu bilden und ihr praktisch und gefühlsmäßig beizustehen. Man erhält ein Bild davon, wie sie von dem Konflikt zwischen Steiner und Christus gequält wird. Man erhält ein Bild von ihr konkret, was sie dachte, was sie fühlte. Aber auch wie verhaßt diese „Zeitungssprache“ für eine Dichterin wie sie war. Aus einem der ersten Briefe:
Wir wollen rücksichtslos miteinander umgehen, scharf wie Diamanten. Ich finde es abscheulich, in dieser Zeitungssprache mit Ihnen zu sprechen, ich möchte nur in schönen Worten sprechen, in unserer eigentlichen inneren Sprache, aber wer kann kostbare Kraft auf Briefe verschwenden? Wir haben ein schönes, märchenhaftes, verfallenes altes Anwesen. Kommen Sie im Sommer hierher (wenigstens für ein paar Tage), außer wir sind gezwungen, das Anwesen zu verkaufen.
Ja, es kommt einem abscheulich vor, über Edith Södergran in „dieser Zeitungssprache“ zu schreiben, am liebsten würde man etwas Fleckiges und Nasses wie ein Orchideenblatt schreiben… Die gewöhnliche Sprache kommt einem so träge vor, so wohlerzogen, so voller Syntax und Grammatik, die Worte legen sich in den Sätzen quer wie dicke Tumore und versperren den Weg zum Phantastischen, Graziösen, Funkelnden, Verschwenderischen…
Man möchte es gern so malen, wie man sich den verträumten Garten bei der morgenländischen Kirche, den verschlafenen See auf dem Grund des Gartens, alle Bäume auf dem goldenen Grund des Waldes vorstellt. Oder so schreiben, wie Edith Södergrans eigene Handschrift sie schreibt, mit einer Schrift, die wie ein Kandinskyzug oder ein Majakowskigedicht über das Papier stürmt, launenhaft, ausdrucksvoll. Und die Fotographien betrachten, die es von ihr gibt, wo sie mit ihrem dicken schönen Kater im Arm dasteht, ja sie trägt ihn wie ein Kind mit dem Kopf auf dem Herzen. Und der Blick ist sowohl stolz als auch zärtlich, sowohl robust als auch zerzaust gutmütig, ungefähr so, wie stolze Mütter auszusehen pflegen, wenn sie ihre Kinder vorzeigen. So entdeckt man erneut all das, was ihr verwehrt war.
Oder das Foto, das es von ihr gibt, wo sie krank im Bett liegt, den Mund groß, offen, sinnlich aufgeworfen, die Augen weit in die Ferne gerichtet und die Hände, die kräftig ihre Schiefertafel fassen: „Ich singe vor Wahrheit“.
*
So ist sie mehr als alles andere eine Dichterin der Lebensbejahung und der Lebensfreude. Trotz ihrer Nähe zum Tod sind da ein Lebenstrotz und eine Weigerung, sich in ihr Schicksal zu fügen, die belebend und heilend sind:
HYAZINTHEN
I
Ich stehe so tapfer, so erwartungsvoll und selig.
Wird mich das Schicksal mit Schneeballen bewerfen?
Möge der Schnee auf mein braunes Haar rinnen,
möge der Schnee meinen wonnigen Hals kühlen.
Ich hebe das Haupt. Ich habe mein Geheimnis. Wer bestimmt über mich?
Ich bin ungebrochen, eine Hyazinthe, die nicht welken kann,
Ich bin eine Lenzblume mit rosigen Glöckchen,
die sich zum Vollen aus der Erde sorglosem Triumphe hebt:
unübertrefflich, sicher, ohne Widerstand zu leben.
II
Ich wachse als eine Hyazinthe aus eisenhartem Grund.
Brich mich mit deinen mächtigen, harten Händen, Leben!
Ich küsse deine Hand, die saftiger ist als ich.
Brich mich zum Schmuck einer Königin!
Wenn es eine sorglose und unbekümmerte Königin gibt,
möge sie die Hyazinthe wie ein Zepter halten,
das zarte Sinnbild des Frühlings, der Sonne verwandt.
Eva Ström, die horen, Heft 170, 2. Quartal 1993
Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder
– In memoriam Edith Södergran. –
Im Dezember 1918, der Erste Weltkrieg war gerade zuende gegangen, erreichte die Redaktion einer finnlandschwedischen Tageszeitung in Helsinki ein schmales Gedichtbändchen, das den nicht gerade zeitgemäßen Titel Septemberlyra trug. Gegen alle Konvention war dem Gedichtband eine „Einleitende Anmerkung“ vorangestellt, aus dem folgender Auszug zitiert sei:
Man nehme meine Gedichte als flüchtige Handzeichnungen. Was den Inhalt betrifft, so lasse ich meinen Instinkt aufbauen, was mein Intellekt abwartend betrachtet. Meine Selbstsicherheit beruht darauf, daß ich meine Dimensionen entdeckt habe. Es steht mir nicht zu, mich kleiner zu machen, als ich bin.
Verfasserin war eine junge finnlandschwedische Dichterin, namens Edith Södergran, die mit ihrer Mutter in einem karelischen Dorf lebte. Dieses Dorf Raivola, das vielen Petersburgern vor dem Krieg als Sommerresidenz diente und nur 50 km von Petrograd entfernt lag, war in jenen Tagen wegen der revolutionären Ereignisse in Rußland zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden und von Helsinki nur mit einer Sondergenehmigung zu erreichen.
Nun, das kleine Gedichtbändchen – die Dichterin hatte zwei Jahre vorher debütiert – gelangte in die Hände einer jungen Kritikerin, namens Hagar Olsson, die ihren Dienst bei der Zeitung gerade im Herbst aufgenommen hatte. Doch ehe sie sich überhaupt an die Arbeit machen konnte, wurde bereits am letzten Tag des Jahres unter der Rubrik „Allgemeines“ ein Kommentar veröffentlicht, den die Dichterin unaufgefordert der Zeitung eingesandt hatte.
In diesem Statement in eigener Sache, das die Überschrift „Individuelle Kunst“ trug, macht die Dichterin – ohne falsche Bescheidenheit – gleich zu Anfang klar, daß die Septemberlyra nicht auf das Publikum abziele, nicht einmal auf die höheren intellektuellen Kreise, sondern nur auf die wenigen Individuen, die der Grenze der Zukunft am nächsten stünden.
Ein Zufall habe gefügt, fährt sie fort, daß sie nicht bei der letzten Entscheidung bei der Auswahl der Gedichte hätte beteiligt sein können und auch nicht Korrektur gelesen habe.
Als Folge davon fehlen bestimmte wichtige Gedichte und überflüssige sind mitgekommen. Dies gibt dem Buch eine Nuance von Schludrigkeit, das schon in sich selbst unter dem Zeichen der Nachlässigkeit steht und eigentlich nichts anderes ist als eine intime Kladde.
Dann hebt sie einige Gedichte hervor, die sie für ihren Entwicklungsprozeß als besonders wichtig ansieht, und charakterisiert sie so:
Aus diesen Gedichten strömt ein höheres Feuer, eine mächtigere Leidenschaft als aus meinen früheren Kunstwerken. Ich kann dem nicht helfen, der nicht fühlt, daß in diesen Gedichten das wilde Blut der Zukunft pulsiert. Das innere Feuer ist das Wichtigste, was der Mensch besitzt. Der Erdball gehört denen, die in sich die höchste Musik tragen. Ich wende mich an diese seltenen Individuen und ermahne sie, ihre innere Musik zu steigern und gleichzeitig an der Zukunft zu bauen… Mein Buch wird nicht sein Ziel verfehlt haben, wenn ein einziges Individuum das Unerhörte in dieser Kunst gewahr wird. Ich bin überglücklich, diese Gedichte gemacht zu haben, es gibt kein Maß, mit dem man die Weite des Verdienstes messen könnte, das mir der Verlag erwiesen hat, diese Gedichte herauszugeben.
Das Feuermeer
Das elitäre Bewußtsein, das sich in einer so überspannten Weise Bahn bricht, mußte jeden Kritiker erst einmal vor den Kopf stoßen. Es gab nicht wenige Kritiker, die Edith Södergran am liebsten zu einem Fall der Psychiatrie gemacht hätten. Hinzu kommt, daß das finnische Kulturleben trotz des Völkermordens auf dem Kontinent und trotz der in unmittelbarer Nähe stattfindenden russischen Revolution noch fest im Vergangenen verankert war.
Auch Hagar Olson, junge Kritikerin und Schriftstellerin, durchaus offen für die neuen Strömungen auf dem Kontinent, war über den von Edith Södergran vorgetragenen Anspruch sehr irritiert und wies die Autorin mit einem Nietzsche-Zitat zurecht:
Der Autor hat den Mund zu halten, wenn sein Werk den Mund auftut.
Sie war der Ansicht, Edith Södergran habe sich und vor allem der Sache geschadet.
„Sie ist nicht wie eine aufgetreten“, faßt sie ihr Urteil zusammen, „die von dem Pathos der Sache erfüllt ist – das doch einige ihrer Gedichte rein und glühend macht – sondern so wie eine dieser billigen Tingeltangelmacher, die Propaganda für sich selbst machen.“
Gerade diese Form der Zurechtweisung, die eben nicht von Unverständnis gegenüber dem Neuen in ihrer Dichtung geprägt ist, scheint Edith Södergran in ihrem Innersten getroffen zu haben. Sie verteidigt in einem Brief noch einmal ihre Position. Vor allem kann sie nicht verschmerzen, daß der Verlag eine Reihe der besten Gedichte ohne ihre Zustimmung herausgepickt hat. Diese Gedichte fügt sie mit der Bitte um Stellungnahme bei und macht Hagar Olsson ein weitgehendes Angebot:
Ich beginne gleich mit meiner Offensive, ich möchte, daß Sie mich als diejenige sehen, die ich wirklich bin, und Sie sich mir als die zeigen, die Sie sind. Können wir so göttlich miteinander umgehen, daß alle Schranken fallen? Noch rede ich zu Ihnen mit der tastenden, erniedrigenden Sprache einer Fremden. Nietzsche ist der einzige Mensch, vor dem ich keine Angst hätte, den Mund aufzumachen. Sind Sie das Feuermeer, in das ich tauchen möchte?
Mit diesem Brief wird eine Korrespondenz eröffnet, die dem weiteren Schaffen Edith Södergrans entscheidende Impulse geben sollte. Die Briefe Ediths – unter diesem Titel hat Hagar Olsson sie 1955 eigentlich gegen den letzten Willen Edith Södergrans veröffentlicht – sind die wichtigste Quelle über eine um ihre geistige und materielle Existenz ringende Dichterin. Der Briefwechsel bedeutete für Edith Södergran unendlich viel, selbst wenn er auch weitgehend in eine Richtung ging. Edith Södergran mußte oft lange auf eine Antwort der vielbeschäftigten Hagar Olsson warten, deren Briefe ihrerseits nicht erhalten sind.
Wie isoliert sich Edith Södergran in dem karelischen Dorf Raivola gefühlt hat, mag man daran ermessen, daß sie schon in ihrem zweiten Brief Hagar Olsson, die sie nie vorher gesehen hat, eine Art Liebeserklärung macht:
Ich werde dir Liebesbriefe schreiben, Hagar, wenn ich in der Stimmung bin. Nun habe ich einen Menschen für mich, fürs ganze Leben. Vor zwei Jahren schrieb ich ein Gedicht. Jede Strophe begann mit: Ich wünsche mir einen Spielgefährten (gemeint war freilich ein männlicher), und das Gedicht schloß mit den Worten: „Ich wünsche mir einen Spielgefährten, der sich aus totem Granit bricht, der Ewigkeit zu trotzen. Nun ist der fröhliche Spielgefährte gefunden, nach zwei Jahren Warten.“
Freudlose Ehe
Wer war nun diese Frau, die so schnell und rückhaltlos ihre geheimen Wünsche offenbarte? Stichwortartig stellt sie sich in dem gleichen Brief vor, in der Absicht, auch Näheres über ihre Briefpartnerin zu erfahren:
Wie alt sind Sie? Gesundheit? Nerven? Ich wünschte, Sie wären gesund und hätten Kraft. Bitte, eine kurze Biographie. Frau oder Fräulein? Bildungsgrad? Ich: Residenz: Raivola. Petrischülerin, lungenkrank seit dem 16. Lebensjahr, Nummela, Davos, künstlicher Pneumothorax, warte auf die Erfindung des Tuberkuloseheilmittels.
Das Entscheidende ist hier schon gesagt. Edith Södergrans Leben und Werk ist von ihrer Lungentuberkulose gezeichnet, einem Schicksal, das sie Hagar Olsson nicht wünscht. Die Grenzen, die ihr die Krankheit gesetzt hat, lassen sich ähnlich wie bei ihrem Vorbild Nietzsche nur durch einen übergroßen Anspruch kompensieren, der von vielen ihrer Zeitgenossen als Zumutung und Herausforderung verstanden wird. Geboren wurde Edith Södergran am 4. April 1892 in St. Petersburg. Als einzige Tochter finnlandschwedischer Eltern. Die Mutter, Helena Holmroos, Tochter eines Gießereibesitzers, war schon in der zweiten Generation in St. Petersburg und hat dort eine deutsche Schule besucht. Der Vater, Matts Södergran, entstammte einer Bauernfamilie aus Närpes, einem Ort an der von der schwedischsprachigen Bevölkerung besiedelten Westküste Finnlands.
Nach Tätigkeiten an verschiedenen Orten im zaristischen Rußland hatte er sich vom Mechaniker zum Ingenieur hochgearbeitet. Nachdem er Frau und Kinder verloren hatte, bot sich dem damals schon Dreiundvierzigjährigen die Chance, durch die Ehe mit Helena Holmroos, der Tochter aus vermögendem Hause, zu einigem Wohlstand zu kommen.
Die ihrem Partner auch bildungsmäßig weit überlegene Frau, die nach damaligen Vorstellungen mit ihren fast dreißig Jahren das heiratsfähige Alter überschritten hatte, glaubte durch diese Ehe den Makel eines unehelichen Kindes, das schon nach 18 Tagen verstarb, tilgen zu können.
Glücklich war ihre Ehe mit Matts Södergran nicht. Mit seinen geschäftlichen Aktivitäten, die er mit Hilfe des erheirateten Vermögens in Gang setzen konnte, hatte er wenig Erfolg. Zunehmend verfiel er dem Alkohol. Dies hat sicher auch Schatten auf die Kindheit Edith Södergrans geworfen, die auf der anderen Seite das Leben einer Tochter aus wohlbehütetem Hause führte und von ihrer Mutter wie zunächst auch von der Großmutter ein Übermaß an Zuwendung erfuhr. Kurz nach der Geburt hatte die Familie in Raivola ein Anwesen, ein Holzhaus mit zwölf Zimmern erworben, wo Edith Södergran ihre Kindheit verbringen sollte.
Die Bevölkerungsstruktur Raivolas war sehr ungewöhnlich: russische Landbevölkerung, finnische Bauern sowie Vertreter der finnischen und russischen Oberklasse, die sich dort an der karelischen Riviera ihre Sommerresidenzen hielten. In dieser Gesellschaft nahm die Familie Södergran mit ihrer finnlandschwedischen Herkunft eine recht isolierte Position ein. Hinzu kam der Bildungstick der Mutter, der sehr daran lag, ihrer Tochter ein deutsche Schulbildung zu verschaffen. In der freudlosen Ehe, die sie führte, sicher auch ein Stück Selbstbewahrung.
So verlegte die Familie ab 1902 ihren Hauptwohnsitz nach St. Petersburg, damit Edith die Höhere Töchterschule an der deutschen St. Petri Hauptschule, zentral am Newski Prospekt gelegen, besuchen konnte. Diese Schule hatte auch ein Gymnasium für Jungen, die allerdings von den Mädchen streng getrennt gehalten wurden. Ja, sie mußten sogar verschiedene Eingänge benutzen. Schwerpunkte der Erziehung im Lyzeum waren Sprachen und Literatur.
Das Lernen bereitete Edith Södergran keine Schwierigkeiten. Nach Aussage einer Mitschülerin soll sie die begabteste Schülerin der Klasse gewesen sein. Nur in Handarbeit sei sie nicht besonders stark gewesen. Unterrichtssprache war Deutsch. Dies war offenbar auch die Kommunikationssprache der sich aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzenden Klasse.
In ihrer eigentlichen Muttersprache, dem Schwedischen, ist Edith Södergran nie unterrichtet worden. Der schwedischen Orthographie war sie zeit ihres Lebens nicht sicher, in ihrer schwedischsprachigen Dichtung taucht manche Wendung auf, die man nur als Germanismus deuten kann.
Mit der deutschen Sprache war sie offenbar auch so vertraut, daß sie in dieser Sprache ihre ersten dichterischen Gehversuche gemacht hat. Aus den Jahren 1907 bis 1909 existiert ein sogenanntes Wachstuchheft, eine Art lyrisches Tagebuch, das neben einigen französischen. russischen und schwedischen über 200 Gedichte in deutscher Sprache enthält. Ihr literarischer Mentor scheint in erster Linie Heinrich Heine gewesen zu sein, dessen Buch der Lieder seine Spuren hinterlassen hat.
Dies ist vielleicht für ihre künftige Entwicklung nicht ohne Bedeutung, weil Heine auch zu den Dichtern gehört, die „Instinkt“ und „Intellekt“ in Einklang bringen – um in der von Nietzsche übernommenen Terminologie Edith Södergrans zu bleiben. Eine Hauptrolle in diesem lyrischen Tagebuch spielt ihr Französischlehrer Henri Cottier, in den sie sich offenbar verliebt hat und dem viele dieser Texte gelten.
Langsam scheint sich ihr auch die Frage zu stellen, ob das Deutsche das adäquate Medium für ihre dichterische Ausdruckssuche ist. Dies ist auch das Thema des letzten in deutscher Sprache geschriebenen Gedichts, das vom 22. September 1908 datiert ist und das hier zitiert sei:
Ich weiß nicht, wem meine Lieder bringen.
Ich weiß nicht, in wessen Sprache schreiben,
Ich weiß nicht, zu wessen Herzen dringen,
Vor wessen Augen stehen bleiben.
Ich hab für mich selbst gesungen
Und bin schon müde geworden,
Was ist mir jetzt das verschneite Tal
Im kalten, weißen Norden,
Dort schluchzen die Fichten meine Qual.
Ich aber verfluche die Einsamkeit
Und suche in der weiten Welt
Nach einem Herzen
Und schau in der Menschen Augen
Und suche eine menschliche Seele
Die mich verstehen könnte
Jedoch ihre Augen sind mir so fremd,
Sie schauen auf andere Dinge.
Dieses Gedicht ist insofern aufschlußreich, als hier Themen angesprochen werden wie Heimatlosigkeit, Entwurzelung und Entfremdung, die in ihrer späteren Produktion eine große Rolle spielen werden. Das Gefühl der Verzweiflung, dem die sechzehnjährige Dichterin hier Ausdruck gibt, erweist sich als so sperrig, daß es sich im Schlußteil des Gedichts auch nicht mehr in ein Reimschema bannen läßt. Der freie Vers sollte die Form werden, in der sie sich später in ihrer schwedischsprachigen Dichtung verwirklichen konnte.
Im gleichen Winter diagnostizierte man an ihr eine Lungentuberkulose, die gleiche Krankheit, an der ihr Vater 1907 verstorben war. Sie war genötigt, Anfang des Jahres 1909 die Schule kurz vor der Abschlußprüfung abzubrechen. Sanatoriumsaufenthalte in Finnland und in den Jahren 1911 bis 1914 in der Schweiz, vor allem in Davos, bestimmten ihr weiteres Leben. Natürlich in ständiger Begleitung ihrer Mutter.
Einen Einblick in die kosmopolitische Sphäre, die sie dort erlebt haben mag, vermittelt Thomas Manns Zauberberg, wenn es auch in dem von Dr. Ludwig von Muralt geleiteten Sanatorium vielleicht nicht so lasziv zugegangen sein mag. Ludwig von Muralt war offenbar eine ausgeprägte Arztpersönlichkeit, deren auch erotischer Anziehungskraft die sich so leicht verliebende Edith Södergran nicht entziehen konnte. Der aus einer alten Züricher Familie stammende Ludwig von Muralt war nicht nur Lungenspezialist, sondern auch Psychotherapeut, der neun Jahre als Assistenzarzt bei dem Freud-Anhänger Eugen Bleuler in Zürich gearbeitet hatte, ehe er 1905 auch aufgrund einer eigenen Lungentuberkulose Chefarzt des Sanatoriums Davos-Dorf wurde.
Für Edith Södergrans literarische Entwicklung, über die wir eigentlich nichts Genaues wissen, können die Jahre in der Schweiz viel bedeutet haben. Hier mag sie mit den neuen literarischen Strömungen auf dem Kontinent in Berührung gekommen sein.
Nach einem Abstecher nach Norditalien kehrte Edith Södergran 1914 endgültig nach Raivola zurück. Durch die Einsetzung eines Pneumothorax hatte sich ihr Gesundheitszustand stabilisiert. In den ersten beiden Kriegsjahren, die Mutter und Tochter in Raivola in angemessenem Abstand miterlebten, muß ein Großteil der ersten Sammlung, die 1916 unter dem Titel Gedichte herauskommen sollte, geschrieben worden sein.
Im Juli 1916 ist es dann soweit, daß sie ihr Manuskript an den Schriftsteller Runar Schildt schicken kann, der für seinen Bruder Holger Schildt die Aufgaben eines Verlagslektors wahrnimmt. Das positive Gutachten, das er für seinen Bruder erstellt, sollte für die Einstellung des Verlags zu Edith Södergran grundlegend werden.
Sende heute Edith Södergrans Gedichte ab, von denen ich ganz viel halte. Gewiß ist sie sichtlich von Obstfelder u.a. beeinflußt, doch sehe ich ihre Auffassung als voll selbständig. Wie Du selbst feststellen kannst, sind die besten ihrer Gedichte in der Stimmung außerordentlich stark und suggestiv. Trotz aller Sonderlichkeiten hat man – scheint es mir – doch die Wahrnehmung von etwas absolut Echtem, Durchlebtem und Durchlittenem.
Die meisten Kritiker, besonders in der Provinzpresse, waren auf das Neuartige und Revolutionierende in dieser Dichtung nicht vorbereitet. Neben total ablehnenden Kritiken gab es doch auch wenige, die ähnlich wie Runar Schildt das Eigene und Neue der Södergranschen Lyrik erkannten. Formal fiel ihre Lyrik, die weitgehend auf Reim und Strophenform verzichtete, aus dem damals üblichen Rahmen.
Sprung in die Freiheit
Durchgängiges Thema ihrer ganzen Dichtung ist der Kampf zwischen Liebe und Tod, zwischen Eros und Thanatos, der ja auch ihr ganz persönliches Schicksal widerspiegelt. Viele Gedichte der Debütsammlung stehen in der Tradition der Dekadenz und des Symbolismus. Anregungen hat sie auch aus der deutschen Literatur aufgenommen, etwa aus ihrer intensiven Beschäftigung mit Gedichtanthologien von Hans Benzmann und Hans Bethge, die in ihre Schulzeit zurückreicht. Hier wären Namen wie Alfred Mombert, Max Dauthendey und vielleicht auch Else Lasker-Schüler zu nennen. Die großen deutschen Expressionisten wie Georg Trakl und Georg Heym scheint sie nicht gekannt zu haben. Dies gilt auch für die großen russischen Symbolisten und Futuristen wie Alexandr Blok und Majakowski.
Ihre Kenntnisse sind oft zufällig. Erstaunlich dabei, daß eine große Dichterin wie sie sich oft für Zweitrangiges begeistern kann. Hier ist nicht die Stelle, den einen oder anderen Einfluß nachzuweisen, sondern die Zeitgenossenschaft, in der sie sich befindet. sichtbar zu machen. Entscheidend ist wohl, daß sie aufgrund ihrer persönlichen Vorgeschichte und ihres persönlichen Schicksals eine Sprache findet, die gerade, weil es ihre eigene Sprache ist, als eigenständige Stimme im Weltkonzert der modernen Poesie bestehen kann. Dies wird auch an den Gedichten deutlich, die in Enzensbergers Museum der modernen Poesie von 1960 abgedruckt sind.
Was an ihren Gedichten auffällt, ist die ungeheuer reiche Bild- und Zeichensprache, die sie souverän beherrscht, um ihren sich jederzeit wechselnden Gefühlen und Stimmungen eine sinnliche Form geben zu können. Die Wiederholungtechnik beziehungsweise der Katalogstil, von dem sie in ihrer ersten Sammlung häufig Gebrauch macht, ist für sie auch ein Instrumentarium, die Disponibilität der ihr zu Gebote stehenden Bilder ins Bewußtsein zu rücken. Dies gibt manchem ihrer Gedichte ein Gefühl der Grenzenlosigkeit und Freiheit, das vielleicht auch das kompensieren mußte, was ihr in ihrem durch Krankheit gezeichneten Leben versagt war. Als Beispiel „Vierge Moderne“:
Ich bin keine Frau. Ich bin ein Neutrum.
Ich bin ein Kind, ein Page und ein kühner Entschluß,
ich bin ein lachender Strahl einer Scharlachsonne…
Ich bin ein Netz für alle gierigen Fische,
ich bin eine Schale für die Ehre aller Frauen,
ich bin ein Schritt auf Zufall und Verderben,
ich bin ein Sprung in die Freiheit und ins Selbst…
Ich bin des Blutes Flüstern im Ohr des Mannes,
ich bin ein Fieber der Seele, Sehnsucht und Verweigern des Fleisches,
ich bin ein Eingangsschild zu neuen Paradiesen.
Ich bin eine Flamme, suchend und furchtlos,
ich bin ein Wasser, tief aber dreist bis an die Knie,
ich bin Feuer und Wasser ehrlich vereint in freiem Entschluß…
Die russische Revolution, die sich sozusagen in unmittelbarer Nachbarschaft von Raivola vollzog, bedeutete für Edith Södergran und ihre Mutter einen Eingriff in ihre Lebensverhältnisse. Auch materiell. Ihr Vermögen, angelegt in russischen und ukrainischen Staatspapieren, wurde wertlos. Man darf annehmen, daß der Sturz des verhaßten Zaren, der ja Finnland den Weg in die Unabhängigkeit ebnete, von Edith Södergran – in Einklang mit vielen liberalen Bürgerlichen – erst einmal begrüßt wurde. Schon Ende März 1917 trieben Neugierde und Anteilnahme an den Ereignissen Edith Södergran und ihre Mutter nach Petrograd.
Die Reise war strapaziös und wirkte sich auf den Gesundheitszustand von Edith Södergran negativ aus. Dennoch scheint das Jahr 1917 mit seinen Umwälzungen sie in ihrer dichterischen Berufung eher noch bestärkt zu haben. Trotz der unruhigen Verhältnisse unternimmt sie im September des gleichen Jahres eine Reise nach Helsinki, mit dem Ziel, eine Reihe von Autoren, Künstlern und Kritikern persönlich kennenzulernen.
Auf ihre Umgebung muß das Fräulein Södergran, das nach heutigen Vorstellungen wenig medienerfahren war, einen etwas absonderlichen Eindruck hinterlassen haben. Angetan mit einer Boa, einem Hut mit verblichenen blauen Federn fuchtelte sie in ihrer Verlegenheit mit einem braunen Muff herum, den sie immer wieder in die Höhe ihres Mundes brachte, wohl auch aus Furcht, Opfer einer ihrer häufigen Hustenreizungen zu werden.
Ihr von Natur aus pausbäckiges Aussehen mit einem etwas ausgeprägten Kinn ließ ihre Gesprächspartner vergessen, daß sie es mit einer schwer kranken Frau zu tun hatten. Etwas irritierend mag auch gewirkt haben, daß Edith Södergran, die ihren starken Akzent im Schwedischen nicht verleugnete, gleich auf die Dinge kam, die ihr wesentlich erschienen. Was manchmal zu etwas peinlichen Gesprächspausen führte. So ist eher zu vermuten, daß der Besuch in Helsinki nicht unbedingt ihre literarische Karriere befördert hat. Wie auch immer – die Jahre der großen Umwälzungen in Rußland wurden für ihre persönliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Die intensive Beschäftigung mit Nietzsche, die sich vor allem auf ihr Lebensgefühl auswirkte, bestärkte sie in ihrem dichterischen Sendungsbewußtsein.
Während die erste Sammlung eher von elegischen Tönen geprägt ist, nehmen viele der Gedichte der Jahre 1917 bis 1919 den Ton eines ekstatisch zu nennenden Aufschwungs an. Schlag auf Schlag erscheinen die Gedichtsammlungen Septemberlyra, Der Rosenaltar und Schatten der Zukunft. Es sollten die letzten Sammlungen sein, deren Veröffentlichung Edith Södergran noch erleben konnte.
Mehr als ein Tropfen im Meer
Die letzten Jahre im karelischen Raivola waren gekennzeichnet durch Armut, Not, Einsamkeit und Krankheit. Als einzige Gesellschaft hatte sie ihre treu für sie sorgende Mutter und die von ihr heiß geliebte Katze Totti, die von mißgünstigen Nachbarn umgebracht wurde. Obwohl es sich bei Raivola um die vertrauten Stätten ihrer Kindheit handelte, lebte sie hier dennoch in einer Art von geistigem und seelischem Exil.
Krankheit und Armut fesselten sie an einen Ort, der überdies – durch die Wirren von Revolution und Bürgerkrieg zum militärischen Sperrgebiet geworden – auch von der Außenwelt schwer erreichbar war. Die wenigen Besuche von Hagar Olsson und im letzten Jahr auch von dem jungen Dichter Elmer Diktonius müssen unendlich viel für sie bedeutet haben.
Immer wieder unternimmt sie Versuche, ihre Isolierung aufzubrechen, auch auf die Gefahr hin, daß ihre dichterische Produktion in den Hintergrund tritt. Durch intensive Beschäftigung mit Rudolf Steiner und seiner Anthroposophie, die auf viele Intellektuelle in Europa nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs eine große Anziehungskraft ausgeübt hat, geht sie eine Art religiöse Erweckung durch.
Sie formuliert dies so:
man fragt nicht, ob es Gott gibt oder nicht, sondern man legt ganz einfach seinen kleinen Verstand zur Seite.
Einen Einblick in ihre Situation gibt der Brief an Hagar Olsson vom 16. April 1920, aus dem hier einige Passagen zitiert seien:
Ging gestern zu Länsmanns, eine Flasche Parfüm und eine Spitzengarnitur verscherbeln. Erst waren sie interessiert, dann vergaßen sie die Sache. Werde heute zu anderen gehen. Sie sehen einen schief an, man kommt sich wie ein Bettler vor. Die Parfümflasche ist nun verkauft, aber ich bin wie gerädert. Wenn das so weitergeht, gehe ich unter. Du kannst mich retten, aber viel mehr durch Freundschaft als durch materielle Unterstützung… Der Verlust unseres ganzen Vermögens hat mich nicht gestört, aber Tottis Tod hat mich getroffen… Wir tragen die Verantwortung für die ganze Menschheit und all ihre Qual und für die Tiere, die armen Tiere. Ich will nicht sterben, bevor ich nicht etwas getan habe, was mehr ist als bloß ein Tropfen im Meer. Möge man mir auch sagen, er sei ein Scharlatan, möge man ihn mit den Krallen der Kritik zerfetzen, den lebendigen Rudolf Steiner ignorieren, das ist nicht möglich!
Über die schlimmste materielle Not, wovon ja auch dieser Brief Zeugnis ablegt, halfen gelegentliche Unterstützungen durch Kollegen und durch den Schriftstellerverband, um die sich vor allem Hagar Olsson bemüht hat. Doch bedurfte es allen Taktes, Edith Södergran zur Annahme derartiger Zuwendungen zu bewegen. Als Zeichen der Dankbarkeit für diese Hilfen und auch als Dank für die Anerkennung, die sie zunehmend durch die jungen finnlandschwedischen Modernisten erfährt, mag man ihre Bemühungen interpretieren, 1922 eine Anthologie finnlandschwedischer Lyrik zusammenzustellen, die sie selbst ins Deutsche – nach eigenem Urteil ihre beste Sprache – übersetzt.
Der Versuch, diese Sammlung mit Hilfe eines befreundeten deutschen Industriellenpaares bei Rowohlt unterzubringen, scheitert. Selbst auch auf das Angebot hin, daß Edith Södergran dafür eine ihr zugekommene Unterstützung von 5.000 Finnmark opfern will. Die Bemühungen um die Anthologie und die Hoffnungen, die sie darauf gesetzt hat, scheinen sie ihre letzten Kräfte gekostet zu haben. Am 24. Juni 1923 ist sie dann gestorben.
*
Zwei Jahre später im Jahre 1925 geben Hagar Olsson und Elmer Diktonius ihre nachgelassenen Gedichte unter dem Titel Das Land, das nicht ist heraus. Vielleicht qualitativ der herausragendste Lyrikband, der je in schwedischer Sprache veröffentlicht wurde. Er enthält auch das kleine Gedicht „Verheißung“, das in die Entstehungszeit der Septemberlyra fällt und noch einmal ihr dichterisches Credo zusammenfaßt:
Ich will unbekümmert sein –
deshalb lasse ich die edlen Stile,
die Ärmel kremple ich hoch.
Der Gedichtteig gärt…
O welch Sorge – Kathedralen
nicht backen zu können…
Der Formen Vollendung –
unermüdlicher Sehnsucht Ziel.
Kind deiner Zeit –
hat dein Geist nicht die richtige Schale?
Ehe ich sterbe,
backe ich eine Kathedrale.
Marianne Rieger, die horen, Heft 170, 2. Quartal 1993
– Kritische Würdigung. –
In einem Kabäuschen dicht bei einer russischen Holzkirche in der karelischen Grenzmark lebt eine junge Frau. Mit einer kleinen rotwangigen Tante, ihrer Mutter, und einem schwarzen Hund, ihrem Freund. Kein Körper, vielmehr ein Gesicht mit einem Mund, der wundervoll lächelt. Eigentlich bloß Gesicht. Eigentlich bloß dieser lächelnde Mund. Und Augen.
Fünf schmale Bändchen, fünf anspruchslose Hefte, vier mit Gedichten, eins mit Aphorismen, 1916–20 – diese vier schmalen anspruchslosen Gedichthefte bedeuten Durchbruch, Umwertung in der schwedischsprachigen Literatur Finnlands, in der schwedischen, nordischen Literatur – Beiträge zur großen umstürzenden Literaturrevolution, die im weltkriegdurchtobten Europa vor sich geht.
Die Erstlingssamlung Gedichte (Dikter), ein Erfolg, ein verdächtiger Erfolg, eine argwöhnische Kritik. Niedliche Schulmädchenpoesie neben Li Taipe’schen Traumbildern, glattgekämmten wassersüchtigen Jungfrauen und Zukunftsracheengeln, wahren Landschaften und Mondscheinnächten, Buschmänner-Logik und Spekulationen in Transzendentem – bizarre Grillen einer Schwangeren. Sie gebar Giganten.
Erst in Ansätzen in Die Septemberlyra (Septemberlyran) und Der Rasenaltar (Rosenaltaret); – Bunte Betrachtungen (Brokiga iakttagelser) ist der architektonische Versuch einer Dichterin, ohne wirkliche Dachstühle und Fundamente, ohne Beton und Zement – zufällige Betrachtungen eines Passanten über das Bleibende. Und über dem Ganzen liegt der Schatten des großen Jägers, des Dichtereinpeitschers Nietzsche, befruchtend lenkend vorwärtsstoßend; durch seine Einöden sucht sie die ihren, durch ihn sich selbst. Zeitweise aber reicht sie schon hinauf zu den eigenen Gipfeln, spürt den Freudentaumel der Ich-Werdung, singt deren ungestüme Gesänge. Und setzt ihren Weg fort. (Der Kritik sträuben sich die Haare.)
Bis zu Schatten der Zukunft (Framtidens skugga), der stärksten von einer Frau gezeugten Gedichtsammlung, die die moderne Literatur kennt, zur einheitlichsten, reifsten, am schärfsten ausgeprägten Manifestation einer Dichtung des dämmernden Tages im Norden Europas: die Befreiung vom Erbe der Vorgänger und Besitzergreifung des eigenen Ichs, über die tödlichen Schwächen dieses Ichs zum kosmischen Ewigkeitsgefühl, aufgelöst in Dichtung. (Die Kritik schweigt.)
Die Södergran selbst sagt in der verspotteten Einleitung zu einem ihrer Werke, sie „lasse ihren Instinkt aufbauen, was ihr Intellekt in abwartender Haltung betrachtet“ (geistreicher läßt sich der Mechanismus zeitgenössischen lyrischen Schaffens aphoristisch nicht beschreiben). Instinkt und Intellekt, entscheidende Merkmale auf den jeweiligen Visitenkarten von Tier und Mensch, die charakteristischsten Seeleneigenschaften des Heute und eines vieltausendjährigen Gestern vereint zu lyrischem Schaffen! Der Kaffeekränzchenreaktionär und die ihm gleichgestellte, von ihm besoldete Kritik finden in solcher Dichtung 182 Gedankenstriche und 81 Punkte. Höchstens.
Schaffen heißt, mit der Faust (der kleinen Menschenfaust) auf den Tisch der Götter (den harten Steintisch der Götter) zu schlagen. Das brennt man schreit – nur die Finger des Stärksten behalten nach diesem Schmerz ihre zusammengepreßte Form. Selten die einer Frau. Die der Södergran auch nicht immer. Aber: Kraft ist das, was kracht, Stärke hingegen, was drinnen steckt. Es gibt Gedichte, die Edith Södergrans an brutaler Kraft übertreffen – an gleichmäßig heißer Stärke erreicht sie keins. Gleichmäßig? – ein elektrischer Strom, knisternd vor Leidenschaft, Blitz-Gleichmaß, beherrschte Orkane, gebändigte trunkene Wildheit. Durchgehende schwarze Hengste mit Schaum vorm Maul, ihnen in die Zügel fallend eine junge blasse Frau, die Zügel straff haltend.
In Gedichte gibt es noch Landschaft, in der Septemberlyra Nietzsche, im Rosenaltar eine Schwester (die Erde – der Prophet – der Freund) – in Schatten der Zukunft sprechen die animalisch lebendigen Wörter.
Die rote Sonne geht auf
ohne Gedanken
und gleich gegen alle.
…
Es kommt der Tag da unser Leib zu Staub zerfällt,
wann das geschieht ist einerlei
rücksichtslos fegt der Urstoff den Dichter-Menschen beiseite, spricht selbst in seiner entsetzlichen, eisigen Objektivität. So haarscharfnah dem auf viele Namen hörenden, meist „Gott“ genannten unbestimmbaren Lebensembryo war noch kein Dichter, wenn nicht in gewissen Augenblicken Dostojewski und vielleicht Fröding in seinen letzten Schöpfungen.
Und danach? (die Zukunft Entwicklung Umformung?) – es ziemt nicht (und ist unnötig), den Siegeszug der reichen reinen Echtheit mit plumpen Worten abzustecken und vorherzusagen. Eins aber ist sicher: in einiger Zeit werden die, die jetzt in ihrer jämmerlichen geistigen Armut die Größe von etwas belächeln und verspotten, dessen Schönheit und Weisheit zu sehen und verstehen sie nicht imstande sind, mit Begeisterung die geringsten Brocken auflesen, die aus den Händen der Begnadeten fielen. Und eines ist noch sicherer (und wichtiger): die künftige Jugend, die wirkliche, die Starken, Leichtsinnigen, sich in losen Sätteln Wiegenden – sie werden ihr die Liebe, Genugtuung, den Ruhm schenken, die allein einer Wegbereiterin und Vorläuferin zukommen: sie werden in ihre Fußstapfen treten.
Elmer Diktonius 1922, die horen, Heft 170, 2. Quartal 1993
Aus dem Schwedischen von Klaus-Jürgen Liedtke
Mit Edith Södergran bricht vehement und radikal und erschreckend das neue Jahrhundert in die skandinavische Literatur.
Es war kein geringerer als Walter Berendsohn. Nelly Sachs, die Edith Södergran als erste ins Deutsche übertragen und nachhaltig auf sie aufmerksam gemacht hat, sagte in ihrer emphatischen Art:
Ihre Gedichte waren keine nur so dahingeschriebenen Verse, sie waren ein Sturmwind, der die Herzen ergriff. Bis heute kann sich kein Schwede, der die Dichtung liebt, ihrer soghaften Bilderfülle entziehen. Sie ist das Alpha und Omega der nordischen Dichtung. Wer sie begreift, wird auch dieses Land und diese Menschen verstehen.
Und Peter Hamm schreibt in seinem Nachwort zu einer Anthologie Junger Schwedischer Lyrik im Jahre 1957:
Die skandinavische Moderne wurde von einer Frau eröffnet, von Edith Södergran, eine der grandiosesten Dichterinnen der Welt. Ihr war es auferlegt, in nur wenigen Jahren das wichtigste lyrische Werk zu schaffen, das der gesamte Norden heute besitzt.
Und rühmend ruft Régis Boyer anläßlich der Ausgabe ihrer Sämtlichen Gedichte in Frankreich aus:
Es ist höchste Zeit, daß man Edith Södergran bei uns kennenlernen und lieben muß, denn in der Tat, sie hat den Schlüssel zum Königreich der Dichtung.
Wir sehen: es geht ihr viel an Ruhm voraus (…) Edith Södergran steht an der Schwelle der modernen europäischen Literatur, schrieb ein schwedischer Literaturhistoriker. Ich möchte es genauer sagen: Sie hat die Schwelle mit ihrem Werk bereits überschritten. Das macht ihre Aktualität auch heute noch aus. Sie hat Nietzsche und Trakl und die Else Lasker-Schüler auf deutsch gelesen und sich davon beeinflussen lassen. Selbstzerfleischung, Hybris und Trauerklage gehen bei ihr zusammen. Und das in kühnen, ausschweifenden, auch grellen, lauten Bildern.
Horst Bienek, die horen, Heft 170, 2. Quartal 1993
TOD DER DICHTERIN E. S.
Mädchen,
eine Amsel nistet in
deinem Herzen, ängstlich
singt sie, wenn
nachts der Schwarzmäntelige
über die Eichenholzschwelle
schleicht.
Der zückt sein spitzes
Messer, ritzt jede
Nacht tiefer den Schnitt.
Kichernd wischt er
das Messer an deinen
Wangen, die röten sich
falsch.
Morgens
im Spiegel lächelst du,
schiltst die furchtsame
Amsel.
Eines Nachts fällt die
Rose, die Amsel
fliegt fort, singt
über Kareliens Wäldern.
Christa Kożik
Der Blogger jay schreibt hier über Edith Södergran.
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
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