Das Wesentliche der Södergranschen Dichtung sind nicht die Wörter, die Formen, das Modernistische oder Nichtmodernistische, sondern das Erlebnis, das Leben dahinter. Sie ist ein Glied in der uralten, trotz aller Kreuzigungen lebendigen Tradition, für die galt, daß das Wort Fleisch werden kann.
Gunnar Ekelöf
Vier Gedichtbände hat Edith Södergran, die finnlandschwedische Lyrikerin, zu ihren Lebzeiten veröffentlicht: 1916 Gedichte, 1917 Die Septemberlyra, 1919 Der Rosenaltar und 1920 Schatten der Zukunft. 1923, am 24. Juni, starb sie im Alter von 31 Jahren an Lungentuberkulose, und 1925 gaben Hagar Olsson und Elmer Diktonius unter dem Titel Das Land, das nicht ist Gedichte aus Edith Södergrans Nachlaß heraus. Olsson und Diktonius, beide ihrerseits Schriftsteller, hatten 1922 die (nur kurzlebige) Literaturzeitschrift Ultra gegründet und von Edith Södergran dafür noch fünf Gedichte erhalten.
Der posthumen Buchveröffentlichung hätte sie wohl nicht zugestimmt. „Nie mehr sollst du dichten. / Jedes Gedicht sei das Zerreißen eines Gedichts“, heißt es 1920 in Entschluß. „Glaube, daß ich meine Laufbahn als Dichter beendet habe“, schreibt sie am 16. April 1920 an Hagar Olsson und nennt das Gedicht „Der große Garten“ („Heimatlose Wanderer sind wir alle…“) ein „veraltetes Gedicht“. Und ihre Mutter, Helena Södergran, hatte sie beim Ordnen ihrer Papiere gebeten, nichts den literarischen „Leichenwürmern“ zu überlassen.
Das freilich waren Olsson und Diktonius nicht; „am letzten Tag meinte sie, wie schön, wenn Hagar und Diktonius hier wären. (…) Sie dachte oft an all das, was Hagar und Diktonius für sie getan haben“, schreibt die Mutter am 8. Juli an Hagar Olsson. Nicht zuletzt wird sie damit auf die (anonym gehaltene) finanzielle Hilfe von Jarl Hemmer angespielt haben, der Mutter und Tochter das Überleben in ärmlichsten Verhältnissen verdankten.
Hagar Olsson und Elmer Diktonius hatten sich für Edith Södergran eingesetzt, als deren Gedichte in der Presse „Narrengedichte“ oder „formlose Ausbrüche“ eines kranken Gehirns gescholten wurden. Dem Ton wie der Form nach stachen sie von der zeitgenössischen finnlandschwedischen Lyrik so sehr ab, daß die krasse Abfuhr zumindest begreiflich wird.
Dabei blieb lange ungewiß, ob Edith Södergran mit einem Buch in schwedischer Sprache debütieren würde. Sie war am 4. April 1892 in Petersburg geboren und hatte dort sechs Jahre lang die Deutsche Hauptschule St. Petri besucht. „O Petersburg, du grosse / Und nebelverhüllte Stadt“, schreibt sie im August 1907 – auf deutsch – in das schwarze Wachstuchheft, in dem sie so etwas wie ein lyrisches Tagebuch führt. Es enthält, im unüberhörbaren Ton Heinrich Heines, mehr als 200 Gedichte in deutscher, dazu fünf in französischer und eines in russischer Sprache. Nur die letzten zwei Dutzend Gedichte sind auf schwedisch geschrieben.
1921 übersetzt Edith Södergran Hagar Olssons Roman Die Frau und die Gnade (1919) ins Deutsche und schlägt als Titel dafür wahlweise Elkanas Frau oder Die Familie Elkana vor. Wie vertraut ihr das Deutsche geblieben war, zeigen Sätze aus ihrem Brief an Hagar Olsson vom 16. April 1920. „Deutsch ist meine beste Sprache. (…) Garantiere, daß meine Übersetzung tadellos sein wird.“
Sie hofft, durch einen Berliner Bekannten, einen Herrn Bogs, zu einem deutschen Verleger zu kommen. Gleichzeitig stellt sie eine Anthologie zeitgenössischer finnlandschwedischer Dichter in deutscher Übersetzung zusammen und schickt das Manuskript am 30. Dezember 1922 an den Ernst Rowohlt Verlag in Berlin. Doch der lehnt ab:
R-w-lt hat geschrieben: die ök. Lage z.Z. katastrophal. Die deutsche Lyrik ist zum Schweigen verurteilt, daher kann er keine Fremden herausbringen. (…) Er meine, das Buch hätte „die kulturellen Beziehungen“ zwischen Deutschland und Finnland befördert, die Verlage müßten aber von vielen schönen Plänen Abstand nehmen. – Das ist Schicksal.
So Edith Södergran in einem Brief an Hagar Olsson vom 15. Januar 1923, gut fünf Monate vor ihrem Tode. Man wüßte gerne, ob Edith Södergran außer Texten von Eömer Diktonius, Ragnar Rudolf Eklund und Hagar Olsson in diese Anthologie auch eigene Gedichte in eigener deutscher Übersetzung aufgenommen hatte. Überliefert sind keine, und so dauerte es knapp zwanzig Jahre, bis 1942 in der Zeitschrift Nordlicht drei erste Gedichte von ihr auf deutsch erschienen: „Der Schmerz“, „Macht“ und „Der Mond“. Der Übersetzer war Otto Manninen, der für dieselbe Zeitschrift den Erinnerungsartikel „Das Grab in Raivola“ (1933) von Elmer Diktonius übersetzt hat. Diese Erstübersetzungen, die Klaus-Jürgen Liedtke ermittelt hat, waren in Band 170/1993 der Zeitschrift die horen nachzulesen.
Liedtke hat damals auch eigene Übersetzungen von zehn Gedichten Edith Södergrans vorgelegt. Sie finden sich wieder in dem Auswahlband Gedichte 1907–1922, den er im Berliner Gemini Verlag herausgebracht hat – nach den Gesammelten Gedichten (1977) bei Limes und den Gedichten und Briefen (1990) bei Reclam (Leipzig) die dritte umfassende Präsentation der Lyrik Edith Södergrans in deutscher Sprache.
Sie ist weniger umfangreich als die beiden früheren, bietet dafür aber die schwedischen Texte mit, und diese Zweisprachigkeit, die man sich für Ausgaben fremdsprachiger Lyrik als Selbstverständlichkeit wünschte, lenkt die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Qualität der Übersetzung.
Daß Klaus-Jürgen Liedtke mit äußerster Sorgfalt gearbeitet hat, erhellt am besten aus einer Gegenüberstellung mit früheren deutschen Versionen, beispielsweise des Gedichts „Die Sterne“ („Stjärnorna“) aus Gedichte (1916):
När natten kommer
står jag på trappen och lyssnar,
stjärnorna svärma i trädgården
och jag står i mörkret.
Hör, en stjärna föll med en klang!
Gå icke ut i gräset med bara fötter;
min trädgård är full av skärvor.
*
Wenn die Nacht kommt,
lausch’ ich stehend an der Treppe:
die Sterne schwärmen im Garten,
und ich stehe im Dunkel.
Höre: ein Stern fiel tönend!
Geh nicht ins Gras hinaus mit bloßen Füßen;
mein Garten ist von Scherben voll.
Karl R. Kern (1977)
*
Wenn die Nacht kommt,
stehe ich auf der Treppe, lauschend,
die Sterne schwärmen im Garten
und ich stehe im Dunkel.
Hör, ein Stern fiel mit einem Klang!
Geh nicht ins Gras mit nackten Füßen;
mein Garten liegt voller Scherben.
Christiane Grosz (1990)
*
Wenn die Nacht naht
steh ich auf der Schwelle und lausche,
im Garten schwärmen die Sterne
und ich steh im Dunkel.
Horch, mit einem Klingen stürzte ein Stern!
Tritt nicht mit bloßen Füßen ins Gras;
mein Garten liegt voller Scherben.
Klaus-Jürgen Liedtke (1993/2002)
Der Schlüssel zu allen Geheimnissen lautet der Titel des neuen Auswahlbandes. Es ist der Anfang einer Zeile von Edith Södergrans Gedicht „Bäume meiner Kindheit“ (Juni 1922), einer Zeile, die schließt: „… liegt im Gras am Himbeerhang.“ Gunnar Ekelöf zitiert sie gleich am Anfang seines Aufsatzes „Die Landschaft von Edith Södergrans Dichtung“ (1943), den Liedtke seiner Auswahl beigegeben hat (auf ein eigenes Vor- oder Nachwort hat er verzichtet) und der daran erinnert, daß Klaus-Jürgen Liedtke der Herausgeber und Übersetzer einer Ausgabe von Gunnar Ekelöfs Werken ist, die seit 1991 beim Verlag Kleinheinrich in Münster erscheint und von der bisher vier Bände vorliegen, als letzter, 1999, Der ketzerische Orpheus mit Essays, Skizzen und Briefen zu Autobiographie und Poetik.
In diesem Band steht auch „Eine Wallfahrt“ – 1938, der Bericht von einer Reise, die Gunnar Ekelöf 1938 zusammen mit Elmer Diktonius nach Raivola, zu Edith Södergrans (inzwischen fast blinder) Mutter gemacht hat. Auch darin zitiert Ekelöf Bäume meiner Kindheit mit der „Schlüssel“-Zeile, die zugleich den Schlüssel zu Klaus-Jürgen Liedtkes Auswahl aus den Gedichten Edith Södergrans enthält.
Ekelöf spricht nämlich von einer „Reihe kleiner Gedichte voll feinster Stimmungsmalerei“ aus Edith Södergrans frühester Produktion und fährt fort:
Ist man (…) erst einmal über die jugendliche Phase nietzscheanischer Hypertrophie hinausgelangt, kehrt man gern zu ihnen zurück und folgt damit nur dem Beispiel, das Edith Södergran selbst in den berühmten Gedichten aus ihrem letzten Sommer gegeben hat.
„Der Schlüssel zu allen Geheimnissen“, meint Ekelöf, „liegt in der Kindheit, im Naturerleben der Kindheit, in dem, was dieses Erleben an ,Apriorischem‘ enthält. Die Lebensgeheimnisse sind apriorisch, nicht empirisch“
Klaus-Jürgen Liedtke seinerseits folgt dem Beispiel, das Gunnar Ekelöf in seinen beiden Aufsätzen gegeben hat. Daraus erklärt sich, daß er aus den Sammlungen Die Septemberlyra (1918) und Der Rosenaltar (1919) in seine Auswahl jeweils nur sieben Gedichte aufgenommen hat – aus jenen beiden Sammlungen also, in denen nach Ekelöf Edith Södergrans jugendliche „nietzscheanische Hypertrophie“ dominiert. (Zum Vergleich: Die Auswahl bei Reclam bringt aus der Septemberlyra 19, aus dem Rosenaltar 24 Stücke.)
Auch wenn es nicht ausdrücklich erläutert wird, ist das ein in sich stimmiges und sinnvolles Auswahlprinzip. Es ermuntert den Leser, ohne ihn zu bevormunden, und leitet ihn auf den richtigen und den wichtigen Wegen durch Edith Södergrans reiches lyrisches Werk.
Daß sie in buchstäblichem Sinne nahe am Tode gebaut hatte, daran erinnert Gunnar Ekelöf in seiner „Wallfahrt – 1938“:
In einem Winkel des Kirchhofs mit Ausblick über den See lag das Grab (…). Man muß diese Bäume und Sträucher gesehen haben, in denen öde der Wind rauscht, und das Magnetische der Umgebung verspürt haben, um die Zeilen recht zu verstehen, die auf dem Stein eingemeißelt waren:
Sieh hier den Strand der Ewigkeit
hier braust der Strom vorbei,
und der Tod spielt im Gesträuch
sein immergleiches Einerlei…
Hanns Grössel, die horen, Heft 211, 3. Quartal 2003
Klaus-Jürgen Liedtke, der bekannte Übersetzer schwedischer und finnlandschwedischer Lyrik, hat nunmehr in einer zweisprachigen Ausgabe eine repräsentative Auswahl der Gedichte Edith Södergrans vorgelegt. Sie reicht von ihren frühen Versuchen in russischer und deutscher Sprache bis zu den Meisterwerken ihrer 1925 posthum veröffentlichten Sammlung Das Land das nirgendwo ist.
Das Buch besticht durch seine geschmackvolle bibliophile Ausstattung wie auch durch die Sorgfalt der Übersetzung, die danach trachtet, so nahe wie möglich am Original zu bleiben und gleichzeitig etwas von dem eigenen dichterischen Ton der Södergran in der deutschen Wiedergabe spüren zu lassen. Dies ist wahrhaft keine leichte Aufgabe und hat womöglich auch Einfluß auf die Auswahl gehabt.
Statt eines eigenen Nachwortes läßt Liedtke den schwedischen Dichter Gunnar Ekelöf zu Wort kommen, der 1943 – zwanzig Jahre nach dem Tod der Dichterin – die karelische Landschaft in ihrer Dichtung in einer sehr persönlichen Betrachtung wieder auferstehen läßt. Der um fünfzehn Jahre jüngere Gunnar Ekelöf, um dessen Wiedergabe in deutscher Sprache sich Liedtke ebenfalls große Verdienste erworben hat, ist in der Tat der angemessene Interpret Edith Södergrans. Wenn man so will, hat Edith Södergran in großer Isoliertheit das Tor zur skandinavischen Moderne aufgestoßen, die in der Dichtung des weltläufigen Gunnar Ekelöf ihre volle Entfaltung finden sollte.
Bereits Hans Magnus Enzensberger hat 1960 die finnlandschwedische Dichterin mit fünf Gedichten in seine epochemachende Anthologie Museum der modernen Poesie aufgenommen, so auch mit dem Gedicht „Die Hölle“, das aus ihrer Debütsammlung von 1916 stammt, hier in der Übersetzung von Klaus-Jürgen Liedtke:
O wie herrlich die Hölle ist!
In der Hölle spricht niemand vom Tod.
In die Eingeweide der Erde ist die Hölle gemauert
und mit glühenden Blüten geschmückt…
In der Hölle spricht niemand ein hohles Wort…
In der Hölle hat niemand getrunken und niemand geschlafen
niemand ruht aus und niemand sitzt still.
In der Hölle spricht niemand, doch alle schreien,
dort sind Tränen nicht Tränen und ohne Kraft aller Kummer.
In der Hölle wird niemand krank und niemand ermüdet.
Unveränderlich ist die Hölle und ewig.
Die Hölle wird mit einer fast masochistischen Wollust beschrieben, die traditionell Vorgegebenes in einem neuen Licht erscheinen läßt. Das Gedicht hat durch die Erfahrung der totalen Isolation, der Edith Södergran in ihrem karelischen Dorf ausgesetzt war, und durch ihren täglichen Umgang mit Krankheit und Tod, einen sehr persönlichen Ausgangspunkt. Dennoch gelingt es, durch die suggestive Bilderabfolge und den ihr eigenen Ton einen Gegenentwurf zu ihrer Existenz zu entwerfen, der – gerade weil er die in diesem Gedicht angesprochenen Ambivalenzen nicht auflöst – eine Umwertung aller Dinge in greifbare Nähe rücken läßt und so einen Ausweg – wenn auch nur im Gedicht – aus ihrer Isoliertheit eröffnet.
Edith Södergran, Tochter finnlandschwedischer Eltern, wurde am 4. April 1892 in St. Petersburg geboren. Sie wuchs dreisprachig auf. Die Familiensprache war schwedisch. Deutsch und russisch lernte sie vor allem an der Höheren Töchterschule der deutschen St. Petri Hauptschule, die sie in den Jahren 1902 bis 1908 besuchte. Die Umgangssprache zwischen den Schülerinnen verschiedener Herkunft war offenbar deutsch. In dieser Sprache hat sie auch ihre ersten dichterischen Versuche gemacht.
Der Vater starb 1907 an Lungentuberkulose, 1908 diagnostizierte man die gleiche Krankheit an ihr. Sanatoriumsaufenthalte in Finnland und in den Jahren 1911 bis 1914 in der Schweiz, vor allem in Davos, bestimmten ihr weiteres Leben. Die Jahre bis zu ihrem frühen Tode 1923 verbrachte sie mit ihrer Mutter in dem kleinen Ort Raivola, auf der karelischen Halbinsel, wo die Familie kurz nach der Geburt Edith Södergrans eine Sommerresidenz erworben hatte.
Das Gedicht „Die Fackeln“ ist wie viele andere Gedichte Edith Södergrans ganz von der Botschaft durchdrungen, die die Dichterin zu verkünden nicht müde wurde: „Ohne Schönheit lebt der Mensch keine Sekunde.“
Meine Fackeln will ich entzünden über der Erde.
Mein Fackel soll stehn
auf jedem nächtlichen Hof
in den Alpen, wo die Luft ein Segen,
in den Tundren, wo der Himmel Melancholie.
O meine Fackel, leucht dem Verschreckten ins Angesicht,
dem Verweinten, Verdunkelten, Verunreinigten.
Ein sanfter Gott reicht euch die Hand:
ohne Schönheit lebt der Mensch nicht eine Sekunde.
Die Sammlung Der Rosenaltar, in der dieses Gedicht steht, lag schon wenige Monate nach der zu Weihnachten 1918 erschienenen Septemberlyra dem Publikum vor. Edith Södergran muß in diesen Monaten wie in einem Rausch gearbeitet haben. Dies lag vielleicht auch daran, daß sie in dieser Zeit zum ersten Male eine persönliche Resonanz erfuhr, die ihrem Schaffen neue Impulse geben sollte.
Nach dem Erscheinen der Septemberlyra trat sie in einen Briefwechsel mit der in Helsinki lebenden jungen Kritikerin und Schriftstellerin Hagar Olsson, die zur engsten Vertrauten der mit ihrer Mutter in größter Einsamkeit und Armut lebenden Dichterin werden sollte.
Die Briefe Ediths, die Hagar Olsson erst nach langem Zögern – eigentlich auch gegen den letzten Willen der Dichterin – 1955 der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte, geben ein bewegendes Bild der letzten Jahre im karelischen Raivola. Sie legen auch Zeugnis darüber ab, welch große Rolle Nietzsche gerade in der Entstehungszeit der beiden Sammlungen Septemberlyra und Der Rosenaltar gespielt hat.
So schreibt sie am 26. März 1919:
Es ist, als ob Flammen aus mir schlügen, ich sehne mich nach Sturm, Leiden und Schwangerschaft. Auf der Straße und in den Geschäften spreche ich alle Deutschen an, die ich sehe, und frage sie, ob sie ein Buch von Nietzsche haben.
Vor diesem Hintergrund ist auch das Gedicht „Die Fackeln“ zu sehen.
Die Modernität ihrer Verse wurde von vielen Kritikern, die darauf nicht vorbereitet waren, nicht verstanden. Gegen alle Konvention schickt sie ihrem Gedichtband Septemberlyra eine „Einleitende Bemerkung“ voraus, aus der folgender Auszug zitiert sei:
Meine Gedichte sind als hingeworfene Skizzen aufzufassen. Was den Inhalt betrifft, lasse ich meinen Instinkt aufbauen, was mein Intellekt in abwartender Haltung betrachtet. Meine Selbstsicherheit beruht darauf, daß ich meine Dimensionen entdeckt habe. Mir steht es nicht an, mich kleiner zu machen als ich bin.
Der Anspruch, den sie hier formuliert, hat am ehesten seine dichterische Entsprechung in dem kleinen Gedicht „Hoffnung“ das in die Entstehungszeit der Septemberlyra fällt, aber erst 1925 im Nachlaßband Das Land das nirgendwo ist veröffentlicht wurde:
Ich will unbefangen sein –
drum pfeife ich auf edle Stile,
die Ärmel kremple ich hoch.
Der Teig des Gedichtes gärt…
O welch Kummer – nicht Kathedralen backen zu können…
Hoheit der Formen –
inständiges Sehnsuchtsziel.
Kind der Gegenwart –
fehlt deinem Geist seine richtige Schale?
Ehe ich sterbe
backe ich eine Kathedrale.
Die oben angesprochene Spannung zwischen Intellekt und Instinkt findet in diesem Text ihre dichterische Gestaltung. Aus der strikten Ablehnung überkommener Formen, die sie als „edle Stile“ apostrophiert, gelangt sie in diesem Gedicht trotz vieler Selbstzweifel zu der Gewißheit, eines Tages etwas absolut Neues zu schaffen. So schließt das Gedicht mit einer Vision, die durch die Kühnheit ihrer Metapher die von ihr formulierte Intention schon ein Stück weit einlöst:
Ehe ich sterbe
backe ich eine Kathedrale.
Offenbar war die Kühnheit der Vorstellung, Kathedralen zu backen, auch für Edith Södergran noch so neu, daß sie in einer handschriftlich überlieferten Fassung bei dem konventionellen „baue ich eine Kathedrale“ bleibt.
„Gedichte über den Kosmos können nur aus Flüstern bestehen.“ Etwas von dieser Vorstellung findet sich auch in dem Gedicht „Das Land das nirgendwo ist“, das vermutlich im Herbst 1922 entstanden ist:
Mich verlangt nach dem Land das nirgendwo ist,
alles was ist, bin zu begehren ich müde.
In silbernen Runen erzählt mir der Mond
vom Land das nirgendwo ist.
Das Land wo sich all unsre Wünsche wundersam erfüllen,
das Land wo all unsre Ketten fallen,
das Land wo wir unsre zerfetzten Stirnen kühlen
im Tau des Monds.
Mein Leben war ein heißer Wahn.
Eins aber hab ich gefunden, eins hab ich wahrhaftig gewonnen –
den Weg zu dem Land das nirgendwo ist.
Im Land das nirgendwo ist
geht mein Geliebter mit funkelnder Krone.
Wer ist mein Geliebter? Finster die Nacht
die Sterne flimmern mir Antwort.
Wer ist mein Geliebter? Wie lautet sein Name?
Es wölben die Himmel sich höher und höher,
in endlosen Nebeln ertrinkt ein Menschenkind
und weiß keine Antwort.
Doch ein Menschenkind ist nichts als Gewißheit,
es reckt seine Arme höher als alle Himmel.
Und es kommt eine Antwort: Ich bin der den du liebst und immer lieben wirst.
Der ekstatische Ton früherer Gedichte ist hier gewichen. An Intensität allerdings hat dieses Gedicht, das man als einen Psalm bezeichnen könnte, nichts eingebüßt. Das Land das nirgendwo ist, ersehnt sie mit einer religiösen Inbrunst, die es zu einer inneren Realität werden läßt. Alle durchlebten Leiden rücken in weite Ferne. „Mein Leben war ein heißer Wahn.“
Die Wirren der russischen Revolution hatten Edith Södergran, die mit ihrer Mutter in dem kleinen karelischen Raivola lebt, völlig verarmen lassen. Ihr Vermögen, angelegt in russischen Aktien und Staatspapieren, war nichts mehr wert. Ihre 1919 und 1920 publizierten Gedichtbände Der Rosenaltar und Schatten der Zukunft hatten ihr wenigstens bei den jungen finnlandschwedischen Modernisten eine gewisse Anerkennung verschafft, die in ihr fast eine Leitfigur sahen. In der tonangebenden Presse und beim großen Publikum jedoch blieb sie weitgehend unverstanden.
In den letzten Jahren unternimmt sie verschiedene Versuche, ihre Isolierung aufzubrechen. Sie beschäftigt sich intensiv mit der Anthroposophie Rudolf Steiners. Schließlich wendet sie sich dem Christentum zu, wovon auch das oben zitierte Gedicht Zeugnis ablegt. Der Versuch, eine Anthologie finnlandschwedischer Lyrik, von ihr ins Deutsche übersetzt, bei Rowohlt unterzubringen, scheitert. Dies scheint ihre letzten Kräfte gekostet zu haben. Am 24. Juni 1923 ist sie in Raivola gestorben.
Aus den letzten Jahren sind nur wenige Gedichte erhalten, die neben vielen anderen in den 1925 von Elmer Diktonius und Hagar Olsson herausgegebenen Band Das Land das nirgendwo ist Einlaß finden. Dazu gehört auch das Gedicht, das dieser Sammlung den Titel gegeben hat.
Marianne Riegel und Gerd Enno Riegel, die horen, Heft 211, 3. Quartal 2003
– Über Edith Södergran. –
Nicht Dichter. Und doch niemals etwas anderes.
Adler bin ich.
Dies ist mein Bekenntnis.
Nicht Dichter.
Und doch nie etwas anderes. (…)
Was geschieht im Adlerflug?
Das Immergleiche, das Ewige.
Nicht Dichter, nicht im herkömmlichen Sinn. Und doch niemals etwas anderes. Dichten, einem poetischen Sprechen mit der ganzen Existenz verfallen sein. Sprechen über alles, was man spürt, eindringlich spürt, was einen ausmacht und zwingt, die sich einstellenden Worte zu durchleben. „Blitzesverlangen“ heißt dieses Gedicht von Edith Södergran. Die finnlandschwedische Poetin meidet jedes laue Wechselspiel einer Konversation, das lebendige Feuer des Existierens in der Welt brennt in ihr:
Ich mache keine Gedichte, sondern ich erschaffe mich selbst.
Gedichte machen, reimen womöglich noch. Nein, diese Art, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, ist Södergran zu wenig. „Wenn es um gereimte Sachen geht, bin ich ein Idiot, kann damit nichts anfangen“, schrieb sie an die anderthalb Jahre jüngere Kritikerin, Autorin, Übersetzerin, Freundin und Vertraute Hagar Olssen. Es geht nicht allein um die Ablehnung traditioneller Formen, die in der zeitgenössischen Poesie gebräuchlich und akzeptiert waren.
Edith Södergran geht aufs Ganze. Notfalls erschafft sie sich selbst neu. Es ist ihre eigene Person, die in den Gedichten spricht und Form gewinnt. Es ist mehr als nur ein sogenanntes lyrisches Ich. Ihre Gedichte sind die Welt, das Brennen und Pochen ebenso wie die Leere und Einsamkeit desjenigen, der erkennt, daß er erkennt. Dem aber aufgrund fehlenden Austauschs nur das tastende Selbstgespräch bleibt, in Texten konserviert und der Ewigkeit anvertraut.
Södergrans Gedichte, besonders jene ihres ersten Bandes, werden oft als märchen- und mythenhaft bezeichnet. Wenn sie auch Worte wählt, die diese Zuschreibung bestätigen – Mond, Seele, Einsamkeit, Welt –, fehlt diesen doch Märchentypisches, Wehmut, Wunschvorstellung, Zartheit oder Träumerei. Die Sprache ist glasklar und nüchtern wie im Gedicht „Dekadenz“:
Ich bin in einem Schneegefilde
Über mir zittert der Mond.
Alles ist weiß.
Ich bin allein und friere.
Eine knappe Bestandsaufnahme, die nicht nur eine einsame Person in nächtlicher Winterlandschaft zeigt, sondern auch eine lebensgefährliche Situation. Weiß ist die Farbe des Todes, kalt der Zustand lebloser Körper, allein verläßt man die Welt. Kein Lamento, keine Suche nach ausdrucksstarken Bildern. Dieses Gedicht ist pur, nackt und bloß und kommt mit wenigen Worten aus. Es ist eines der von ihr auf deutsch geschriebenen Gedichte.
Edith Södergran wurde als Tochter finnlandschwedischer Eltern am 4. April 1892 in Sankt Petersburg geboren. Die gebildete, aus vermögenden Verhältnissen stammende Mutter Helena brachte ihrer einzigen Tochter Literatur und Kunst, und hier vor allem die deutsche, nahe. Auf der Hochzeitsreise nach Närpes, dem Herkunftsort ihres Mannes Matts an der von Schweden besiedelten Westküste Finnlands, versetzte „die fremde Frau die Dorfbevölkerung in Erstaunen (…) Sie machte Sprachvergleiche zwischen dem Närpesdialekt und Worten im Deutschen, Englischen und Russischen. Und sie badete im Meer!“ schreibt Richard Pietraß in seinem Nachwort zu Klauenspur, dem 1990 bei Reclam Leipzig herausgekommenen Band mit Gedichten und Briefen.
Helena Södergran schickte ihre Tochter in Sankt Petersburg auf die renommierte Petrischule, deren Unterrichtssprache Deutsch war. Auch Lou Andreas-Salomé, Daniil Charms und Modest Mussorgski besuchten diese Einrichtung, zeitweise gab es in dem palastähnlichen Haus rund 1.600 Schüler, nur ein Viertel davon waren Russen.
Mit fünfzehn begann Södergran Gedichte zu notieren. Das kleine Wachstuchheft, das sie zwei Jahre lang benutzte, enthält zweihundertsechs hauptsächlich auf deutsch verfaßte Texte. Dazu kamen wenige auf französisch und russisch, Sprachen, die sie ebenfalls auf der Petrischule lernte, und ihre ersten sechsundzwanzig schwedischen Gedichte. Später schrieb sie nur noch in ihrer Muttersprache, die sie allerdings ausschließlich in der Familie lernte, so daß ein Hauch Fremdheit oder besser Eigenheit blieb. „Ich weiß nicht, wem meine Lieder bringen / Ich weiß nicht, in wessen Sprache schreiben“, klagte sie im September 1908. Und zehn Jahre später:
Welches ist mein Heimatland? Etwa das sternenübersäte Finnland?
Der Vater war 1907 an Tuberkulose gestorben, ihr selbst stellte man bald darauf die gleiche Diagnose. Zwei Jahre später überrollte eine erste Welle tiefer sozialer und politischer Erschütterungen am sogenannten Blutsonntag Sankt Petersburg: Zweihunderttausend waffenlose Arbeiter zogen mit Heiligenbildern und Kirchenfahnen zum Winterpalais, um vom Zaren eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu fordern. Statt zu antworten, ließ er in die Menge schießen und tötete fünfhundert Demonstranten. Darauf entluden sich in ganz Rußland Enttäuschung und Wut der Menschen in Streiks, Meutereien und Aufständen. Doch nicht diese Ereignisse beunruhigten die junge Frau. Ihre Unruhe war eine andere, tiefergehende, nicht an politische Ereignisse oder private Lebensumstände gebundene. Södergran gehörte zu den per se unstet Suchenden, Einsamen:
Ich (…) schau in der Menschen Augen
Und suche eine menschliche Seele,
Die mich verstehen könnte,
Jedoch ihre Augen sind mir so fremd,
Sie schauen auf andere Dinge.
Es war eine existentielle Einsamkeit, die sich nicht teilen und auch kaum mitteilen ließ. Um so erschütternder ist zu lesen, wie Edith Södergran mit nur knapp sechzehn Jahren diese ihre Einsamkeit als universelle Einsamkeit begriff. Sie spürte etwas Ungeheuerliches, Verstörendes und doch zutiefst Menschliches, was sie in ihren Gedichten auf knappem Raum zu fassen versuchte. Aus einer ähnlichen existentiellen Erschütterung heraus haben letztlich auch Nietzsche und Blanchot ihre komplexen philosophischen oder literarischen Werke ausformuliert.
Sie sieht Menschen aus Kirchen treten, bleich und stark und zu sterben bereit, sieht geschminkte, um ihr Glück würfelnde und verlierende Frauen. Und sie ahnt, daß sich nichts ändern wird:
Ein Kreis war gezogen um diese Dinge
Von keinem zu überschreiten.
Als sie diese Verse veröffentlicht, in ihrem zweiten Band mit dem Titel Dikter (Gedichte, 1916), ist sie dreiundzwanzig. Obwohl das Buch sich lesen läßt als Sammlung von Liebesgedichten – wem sie galten, ist ungewiß – und durchzogen ist von einer wehmütigen Sehnsucht, denn ihrer kurzen Liebe war weder Platz noch Zeit zur Erfüllung geblieben, geht es um mehr als nur um Schmerz und Enttäuschung einer jungen Frau:
Trink Wärme aus meiner Hand,
meine Hand ist voll Frühlingsblut.
Södergran sieht hinter allen hoffnungsvollen Verabredungen Liebender bereits Schatten heraufziehen, erkennt die Verletzlichkeit der Liebenden:
Nimm meine Hand, nimm meinen weißen Arm,
meiner schmalen Schultern Sehnsucht…
Seltsam wär es zu spüren,
eine einzige Nacht, eine Nacht wie diese,
dein schweres Haupt an meiner Brust.
Nicht nur erscheint es ihr seltsam, fast ungeheuerlich, das andere Haupt zu spüren. Mit dem Konjunktiv verflüchtigt sich das an sich schon Unbegreifliche zur rein abstrakten Möglichkeit. Södergran zeigt eine Distanz, die sich ständig zu potenzieren scheint und ihre Einsamkeit in geradezu kosmische Kälte und Menschenferne ausweitet. Annäherungen erfolgen allenfalls behutsam, fast ungläubig. Der andere, wer immer es sein mag, ist zwar ihr „Herr“ – und beugt ihr sogar mit einer „Krone“ das Haupt zum Herzen –, begreift aber nicht die Fülle und den Reichtum ihres Wesens. Er wird sie nie erkennen. Und das ist der eigentliche, viel tiefer als der Verlust einer Liebe reichende Schmerz:
Eine Knospe hast Du gesucht
eine Frucht gefunden.
Eine Quelle hast du gesucht
ein Meer gefunden.
Eine Frau hast Du gesucht
eine Seele gefunden –
du bist verstimmt.
Einsamkeit läßt im weitesten Sinn an den Tod denken. Nicht als Bedrohung, vielleicht nicht einmal als Erlösung. In entrückter Stille sind Dinge und Abläufe besser zu begreifen. Sie werden nicht von Projektionen, kurzsichtigen Gründen, Selbstbetrug oder Blindheit verstellt, die sich sonst leicht einfinden. Aus einer gewissen Distanz erst zeigt sich eine andere, eher unheimliche Art Vollkommenheit:
Der ganzen Welt lächeln die Tage des Herbstes.
Wie schön ist es wunschlos zu entschlummern,
der Blumen müde, müde allen Grüns.
Es sind die Dichter, die sich derart furchtlos und aufrecht der menschlichen Vergänglichkeit stellen:
ich hab ein Tor zum Tod – das steht immer offen.
Södergrans Schwester Tod „geht mit rosigen Wangen umher und redet mit allen“. Doch der ihre „sanfte Hand auf seinem Herzen spürte“, bleibt ungewärmt und kalt wie Eis und ist nicht imstande, jemanden zu lieben.
Als Edith Södergran bereits schwer krank war, muß es Momente gegeben haben, in denen sie an Selbstmord dachte. Darauf deuten zwei Zeilen in dem Gedicht „Nichts“:
Was willst Du vom Tod? Spürst Du aus seinen Kleidern den Ekeldunst,
nichts ist abscheulicher als Tod von eigner Hand.
In Todesnähe blieb ihr nur, den Tod mit Worten zu verkleinern und zu vertreiben. Der Band, aus dem das Gedicht stammt, heißt Framtidens skugga (Schatten der Zukunft), sie war schon sehr geschwächt, als er 1920 erschien: „hier gibt es nichts, und wie du es siehst, ist alles“, im Annehmen dessen, was ist, liegt eine wissende und traurige Beruhigung.
Södergran sah sich stets als „Vierge moderne“, wie ein Gedicht heißt, als Unberührte, Unschuldige, Unbeschriebene, Leere und Reine. Man könnte auch übersetzen: als Unverdorbene, Ungebeugte und sich ihrer selbst Bewußte. Die Dichterin ist eine geistige Schwester von Else Lasker-Schüler, Lou Andreas-Salomé, Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa. Achmatowas Grab in Komarowo befindet sich nur 17 Kilometer von Söldergrans späterem Wohnort Raivola entfernt.
Die Welt wird annehmbarer, wenn man sie in Worte kleidet. Sie läßt sich zwar nicht ändern, aber vielleicht wirksamer vom Leibe halten:
Der Mann ist nicht gekommen, ist nicht gewesen, wird nie sein…
Ein falscher Spiegel ist der Mann, den Sonnentöchter zornentbrannt
am Fels zerschellen lassen. (…)
wir sind die man am wenigsten erwartet, von dem tiefsten Rot,
Tigergesprenkel, gespannte Sehnen, schwindelfreie Sterne.
Frauen, die auf der Suche nach sich selbst sind, segeln im freien Wind und spotten aller Konventionen und Zuschreibungen. Was Södergran über den beschwerlichen und schwierigen Weg in diese Freiheit schreibt, hätte jede „Frau mit maßlosem Herzen“ ähnlich formulieren können:
Zu Fuß
mußte ich die Sonnensysteme durchqueren,
eh ich den ersten Faden meines roten Kleides fand.
Schon ahne ich mich selbst.
Irgendwo im Weltall hängt mein Herz,
Funken strömen von ihm aus, erschüttern die Luft,
hin zu anderen maßlosen Herzen.
Södergrans Anspruch „Ich mache keine Gedichte, sondern ich erschaffe mich selbst“ ist keine größenwahnsinnige Schöpfungsphantasie, sondern notwendiges Handeln. Kein Mensch ist fertig geschaffen, Etikettierungen halten ihn meist klein. Mögen andere sich damit zufriedengeben, sie begreift die Notwendigkeit, den eigenen Weg zu gehen, und sei es durch die Hölle:
O wie herrlich die Hölle ist!
In der Hölle spricht niemand vom Tod. (…)
In der Hölle spricht niemand ein hohles Wort.
Dieser Ort ewiger Qualen wird für die Dichterin paradoxerweise zum Ruhepol, denn schlimmer als Strafen für begangene Sünden quälen sie ihre körperlichen Leiden:
In der Hölle wird niemand krank und niemand ermüdet.
Hölle klingt hier nach Höhle. In ihren Briefen an Hagar Olssen beklagte Södergran oft, wie müde und kraftlos sie sei. Die Krankheit kostete sie viel Lebensenergie. Sie lebte gleichsam mit der Vergänglichkeit an ihrer Seite. Das Glück wertet sich für sie um, es ist gedankenlos und ein Habenichts. Dieses schwächliche Glück verfehlt den Menschen, denn es „ist ohnmächtig, schläft und atmet und weiß von nichts“.
Der starke Schmerz hingegen ist wach und von beruhigender Kraft.
Groß und stark mit heimlich geballten Fäusten. (…)
Der Schmerz gibt uns alles, wonach wir verlangen –
Gibt uns die Schlüssel zum Totenreich,
schiebt uns durchs Tor, da wir noch schwanken.
Im Schmerz spürt sie die Macht, die sie gern vom Leben erfahren hätte. Nur er fordert jene bedingungslose Präsenz, die radikal genug ist, um selbst die Hölle auszuhalten:
die höchsten Gewinne des Lebens:
Liebe, Einsamkeit und das Antlitz des Todes
Der Tod wird in Södergrans Gedichten zur Schwester, er trägt ein weibliches Antlitz statt Maske oder Fratze. Diese Schwester wird zum Gegenüber, das die Dichterin nicht verläßt. Am Ende schließlich, als der Tod als galanter Tänzer sie dem Leben entwindet, setzt die Dichterin Kraft und Widerstand dagegen. Nicht der Knochenmann tanzt dann mit ihr, sondern sie mit ihm, sie allein gibt Takt wie Tempo vor:
Tod – ich sah Dir ins Antlitz, ich hielt die Waagschale wider dich.
Tod – deine Umarmung ist nicht kalt, ich selbst bin Feuer.
Daß Södergran mit solchen Gedichten und Gedanken aus dem gesellschaftlichen Konsens herausfiel, war ihr bewußt. Als sie im Vorwort zu Septemberlyra (1918) schrieb: „Meine Selbstsicherheit beruht darauf, daß ich meine Dimension erkannt habe. Mir steht es nicht an, mich kleiner zu machen als ich bin“, war das keine Überheblichkeit oder Selbstüberschätzung, sondern Einsicht in ihr Los. Ihre Moiren wußten, was sie tun. Die unverblümte Klarheit, mit der die Dichterin ihren enormen Anspruch scheinbar beiläufig formuliert, macht sprachlos.
In Septemberlyra kommt ein anderer Ton in ihre Gedichte, ein nicht nur selbstbewußter, sich in allen Gefährdungen und Potentialen wahrnehmender. Plötzlich tönt ein befremdender, eigentümlich heroisierender Ton, es ruft mit „frenetischer Freude der Kraft“ aus einer „Heldin mit neugebornem Blut“. An ihre Freundin Hagar Olsson schrieb sie:
Ich bin im September neu geboren (…) Ich fühlte plötzlich mit unumstößlicher Gewißheit, daß eine stärkere Hand meinen Pinsel gefaßt hatte.
Södergran pries ihre Gedichte als „unerhörte Kunst“ und war „selig, diese Gedichte gemacht zu haben“. In „Fragment“ heißt es:
Ihr Kinder drunten, die ihr Dung auf die Karre des Pöbels ladet,
auf die Knie! Tut Buße! Naht euch noch nicht der heiligen Schwelle –
Zarathustra wartet darin auf auserwählte Gäste.
In dem ein Jahr später geschriebenen Rosenaltaret (Rosenaltar, 1919) findet sich übrigens eine ähnliche Passage, an Goethes „Prometheus“ angelehnt. Herablassung auch hier, doch der Ton ist milder geworden:
Die Menschen dort unten
Wandeln in Wolkendunst,
sie weinen und lachen,
folgen Särgen zum Grab
bloß im Traum.
Es scheint, als wäre, was vorher aus ihrem Inneren sprach, in Septemberlyra zum Zitat verringert. Neue Worte – Opfer, hohes Ziel, alte Gesellschaft, selig, dunkle blutgetränkte Erde, metallische Stimme des Schöpfers, Größe – verraten den Einfluß Nietzsches, den sie entdeckt, gelesen und begeistert als Übervater angenommen hatte. Ihm widmete sie das Gedicht „An Nietzsches Grab“:
Den kalten Stein küssend sag ich:
Hier ist dein erstes Kind in Freudentränen
(…) Seltsamer Vater!
Möglicherweise war er ihr, ohne unzulässig psychologisieren zu wollen, nicht nur Vater im Geiste, sondern auch eine Art Vaterersatz. Ihr eigener starb, als sie erst vierzehn war, an Tuberkulose und den Folgen seines Alkoholismus.
Was Södergran faszinierte und wovon sie sich vor allem körperliche Kraft erhoffte, war der dionysische Gedanke Nietzsches, der ein Sein mit allen Sinnen bis zur Besinnungslosigkeit pries. An Hagar schrieb sie:
Habe schwere dionysische Anfälle gehabt, das Bedürfnis, mich physisch in die Luft zu werfen, zu tanzen und zu tanzen. Wenn ich gesund wäre, würde ich in den Wald laufen und kilometerweise tanzen, o der Übermensch ist physisch tausendmal stärker als der Mensch, und ich bin ein Wrack. Darf man mit Christus tanzen oder ist der Tanz einzig und allein des Teufels?
Dieser Furor entsprach Södergrans Naturell. Als Außenseiterin, deren Bücher von der Öffentlichkeit weitestgehend abgelehnt wurden, fühlte sie sich durch Nietzsche bestärkt. Die Einsamkeit im Schmerz weicht einer gemeinsamen Einsamkeit im Auserwähltsein. So schreibt sie im Gedicht „Schöpfergestalten“ aus dem Band Schatten der Zukunft:
Uns wiegend in losen Sätteln kommen wir
Unbekannte, Leichtsinnige, Starke
(…) klingen unsere Stimmen von ferne, ferne…
Ein Jahr nach Veröffentlichung von Septemberlyra entdeckte sie zudem die Werke Rudolf Steiners und sprach von ihm nun ebenso begeistert wie zuvor von Nietzsche:
Steiner hat mir Luft zum Atmen verschafft!
Diese hochsensible, geistig wache Frau, die alles in sich trug, was eine große Dichterin braucht, überließ sich mit überraschender Selbstvergessenheit einer Vision, von der nicht immer klar war, ob diese auch erfüllen würde, was sie darin zu finden hoffte. Trotz ihres Könnens, ihres Selbstbewußtseins neigte sie plötzlich zur nahezu selbstverleugnenden Anerkennung eines für den Menschen unerreichbar Höheren, der alles lenkt und leitet. Mal nennt sie ihn Gott, mal Herr:
er, der Tanzende, weiß: er allein ist Herr der Erde.
Die Welt ist nicht Herr über sich (…)
zum grenzenlosen Glück schleicht der Mensch sich einsam davon
Doch sie wäre nicht Edith Södergran, fände sie nicht auch hier ihren eigenen Weg. Aus diesen Verirrungen zieht sie wie aus einer Nährlösung neue Kraft, wird reifer, geht noch stärker in die Offensive:
Gib auf dein Boot acht in übermenschlich reißender Strömung.
Wasserstrudeln des Wahnsinns –
Im Laufe des Bandes dämpft sich ihre Euphorie und ihre Gedichte finden ins Zentrum des Södergranschen Universums zurück. Weder der Neue Mensch noch Gott geben den Ton an, sondern sie selbst „singt die Sterne vom Himmel herab / wie es noch niemand zuvor getan“. Es ist wieder ihre eigene Stimme: „Ich bin Orpheus. Ich kann singen wie ich will. / Mir ist alles verziehen“ oder „Was fürchte ich? Ich – Teil von der Unendlichkeit. / Ich – Teil der großen Kraft des Alls“. Edith Södergrans neu gefundene Gottheit scheint aber nicht minder gefährlich:
Die Sonne hat mich geküßt. So küßt nichts auf Erden. (…)
Einmal will ich mich in die Sonne einspinnen wie eine Fliege in Bernstein,
für die Nachwelt wird das kein Kleinod,
ich aber war im Glutofen der Seligkeit.
Ein knappes Jahr vor ihrem Tod schrieb sie an den befreundeten finnlandschwedischen Schriftsteller Elmer Diktonius:
Das Schreiben fällt mir bleischwer. Jedes Wort, das nicht durch Gott geht, ist vergeudet. Alles vergebens. (…) Bin keine Frau, bin heilig, unabhängig vom Christentum, da ich dem Ziel geweiht bin.
In einem weiteren Brief an Diktonius nur vierzehn Tage später spürt man, wie sie sich von allem Religiösen verabschiedet und den Kampf gegen das Erlöschen endgültig aufzugeben bereit ist:
Habe bislang geglaubt, ich könne mich selbst von neuem aus der Asche aussäen, nun aber glaube ich es nicht mehr. Der Weg ist für mich zu weit. Glaube, die Religion hat mich gebrochen. Bin kein bißchen pessimistisch, aber müde, müde, müde. Mit dreißig Jahren sehen zu müssen, daß ich nicht einmal das Abc kann, ist mörderisch.
Mit dem Abc meinte Södergran die Sprache der Bäume ihrer Kindheit, die sie im 1925 postum veröffentlichten Gedichtband Das Land, das nirgendwo ist anredet und die ihr vorwerfen:
Du bist Mensch geworden, fremd und verhaßt.
Als du Kind warst, führtest du lange Gespräche mit uns,
dein Blick war weise.
Die Bäume wollen die von ihnen Entfernte zurückholen, zum Lebendigen bekehren. Denn die Lebenden sind aus Perspektive der Bäume die eigentlich Toten, weil ohne Bewußtsein ihres Tuns.
Södergrans letzte Gedichte klingen ernüchtert, ratlos:
Ich bin nichts als ein unermeßlicher Wille,
(…) doch wozu?
Sie ist nicht nur körperlich erschöpft, sondern auch tief enttäuscht von der ihr immer bewußter werdenden menschlichen Unvernunft, für die sie eine Mitverantwortung empfindet:
Wir, die glauben, wir schaffen, vergiften die allgemeine geistige Erdatmosphäre mehr als die Schornsteine Londons die physische. Wir wissen es nicht, aber wir erzeugen Stoffe, die das Leiden der Schöpfung verlängern. Wenn wir ein Gedicht machen, stehen wir den Mächten bei, die bewirken, daß Menschen einander verbrennen und foltern, einander die Augen ausstechen, sich kaltblütig hungern sehen. (…) Sie mögen sein, wo sie wollen, und in gleich welchem Lager stehen, ich aber will, daß sich dies mit Eisenhaken in ihrem Gehirn verhakt: Mit meiner Kunst foltere, kreuzige ich, wegen meiner Gedichte prügeln sie ihre Pferde, jede Grausamkeit, die geschieht, habe ich unterschrieben, sie ist in meinem Lager geschehen.
Ein bitteres Resümee, ein vernichtendes und um so erschütternderes Urteil über sich selbst. Stellt Edith Södergran – die gleichsam ihr Leben der Dichtkunst opferte, nur durch diese überleben konnte – doch damit ihr gesamtes Werk in Frage. Hätte sie denn anders überhaupt existieren können? Im April 1922 schrieb sie an Elmer Diktonius:
Wir sind stärkere Charaktere, Sie und ich, daher sehen wir verrückter aus als andere ebenso Verrückte. Können Sie mich mit Barbusse bekannt machen?
Dazu kam es nicht mehr, Edith Södergran starb 1923 in der Mittsommernacht im Alter von nur 31 Jahren. Sie war angekommen im „Land, das nirgendwo ist“, anderes zu begehren war sie bereits zu müde. Dieses Land versprach, was sie sich zeit ihres Lebens vergeblich erhofft hatte, daß sich „Wünsche wundersam erfüllen“ und „Ketten fallen“. In diesem Nirgendwo quält keine Suche nach Antworten, es gibt nur noch Gewißheiten. Und hier würde auch jener warten, der in einem ihrer Gedichte von sich sagt:
Ich bin der, den du liebst und immer lieben wirst.
Doch selbst die herbeigesehnte Vollkommenheit des Todes bleibt unvollkommen und der menschlichen Natur verhaftet, wie sie schließlich begreift. „Tod, weshalb verstummtest du? (…) / Nie hatten wir eine Amme / Die so singen konnte wie du“, fragt sie in ihrem letztem Gedicht „Ankunft im Hades“. Der Tod als Zukunftsvision war ihr so vertraut geworden, daß sie im Sterben seinen betörenden tröstlichen Ruf, seine vertraute Nähe zu vermissen begann.
Erst Jahrzehnte später nahm die Öffentlichkeit wahr, daß mit Edith Södergran eine der großartigsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts gegangen war.
Cornelia Jentzsch, Sinn und Form, Heft 2, 2019
Der Blogger jay schreibt hier über Edith Södergran.
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