– Edoardo Sanguineti und sein Gedicht „Fegefeuer der Hölle – 17.“. –
EDOARDO SANGUINETI1
Fegefeuer der Hölle
17.
so haben wir hier (in Cerisy); (so sagten sie): haben unter uns einen chinesen;
(und natürlich war ich der chinese); und auf der Autobahn erklärte ich auch
den rückschlag auf das literarische wirken, ganz radikal, den unmittelbaren, (und
so weiter); und man sprach vom triumph des opportunismus (und als ich dann
reformismus sagte, meinte ich damit eigentlich opportunismus); denn
die chinesische position (sagte ich) rechtfertigt jede hoffnung (und es gehe schließlich nicht
um eine arbeiterelite, sondern, wahrhaftig, um das ende der
prähistorie und so weiter); und zu meiner frau sprach ich unterdessen von der quantität des unglücks (von seiner
qualität und so weiter);
aaaaaaaaaaund ich meinte damit: das rechtfertigt auch uns; und auch unsere kinder;
und ich meinte damit: rechtfertigt das utopische moment (und zwar wirklich, auch für uns,
und zwar hier und jetzt); dieses moment (rechtfertigt es); und ich meinte: für immer;
(aber im nachtlokal in Palermo hörte ich sie doch wahrhaftig fragen: warum
lebst du eigentlich? und sie fragten: wie rechtfertigst du dich? fragten: rechtfertigst du dich überhaupt?);
aber jetzt: siehst du, jetzt, diese müdigkeit? und diese (hier in
unserer prähistorie), diese ruhe?
aaaaaaaaaasieh den schmutz, der hinter uns liegt
und den sonnenschein zwischen den bäumen, und die kinder, die schlafen: die kinder,
die träumen (die sprechen im traum); (aber die kinder siehst du, wie unruhig);
(die kinder, die schlafen); (die jetzt träumen);
November 1963
Walter Benjamin hat in seiner Beschreibung von Baudelaires Verhalten auf dem literarischen Markt einen genauen Hinweis auf die Etymologie der die Avantgarde kennzeichnenden Struktur gegeben: als die unumgängliche Prostitution des Dichters im Zusammenhang mit dem Markt als objektiver Instanz und dem Kunstprodukt als Ware. Das erklärt hinreichend, warum die Avantgarde zwar deutliche Analogien zu historischen Gegebenheiten in anderen Kulturen aufweist, in ihrer letzten und tiefsten Gestalt aber, wie jedermann weiß, ein romantisches und bürgerliches Phänomen ist. (Benjamin sagt im „Zentralpark“: „Natürlich sind persönliche Rivalitäten zwischen Dichtern uralt. Hier handelt es sich aber gerade um die Transponierung der Rivalität in die Sphäre der Konkurrenz auf dem offenen Markt. Dieser, nicht die Protektion eines Fürsten, ist zu erobern.“)
Diese Prostitution läßt deutlich die der Avantgarde innewohnende doppelte Bewegung erkennen. Gleichzeitig und sogar mit denselben Gebärden drückt sie nämlich – auch dort wo sie sich dessen kaum oder gar nicht bewußt ist – zweierlei aus. Einmal das heroische und pathetische Streben nach einem makellosen Kunstprodukt, das sich dem unmittelbaren Spiel von Angebot und Nachfrage entziehen kann und kommerziell nicht verwertbar ist. Zum anderen die zynische Virtuosität des geheimen Verführers, der in den Umlauf des Kunstkonsums eine Ware einschleust, die durch eine überraschende und gewagte Wendung die ermattete und stagnierende Konkurrenz weniger aufmerksamer und weniger vorurteilsloser Produzenten aus dem Felde schlagen kann. Wenn diese Konkurrenten die avantgardistische Kunst der Unmoral und der Unaufrichtigkeit bezichtigen, so jammern sie in Wirklichkeit aus der Sehnsucht nach dem Handwerklichen, aus einem kleinbürgerlichen Komplex oder aus der Rückständigkeit des Kapitalisten klassischer Prägung (der darum zum Beispiel der kommerziellen Situation des Imperialismus oder, wie man gemeinhin sagt, des Neo-Kapitalismus nicht gewachsen ist) über eine Form der Konkurrenz, die in ihren Augen zutiefst unloyal ist. Und das alles geschieht natürlich ideologisch stark sublimiert und moralistisch überdeckt.
Das heroisch-pathetische und das zynische Moment sind chronologisch, psychologisch und manchmal sogar ästhetisch genau zu unterscheiden, gehören aber in der historischen Wirklichkeit zu ein und demselben Augenblick, denn sie sind ihrer Struktur nach ein und dasselbe. Die Rolle des Zynikers auf einen zukünftigen Händler anstatt auf den nächstbesten abzuwälzen ändert nichts an der Sache als solcher. Es trägt auch nichts dazu bei, das gesamte System harmloser und loyaler zu machen das die Existenz des Produkts garantiert und ihm überhaupt erst die Möglichkeit gibt, seine spezifische Gestalt, die der ästhetischen Kommunikation, anzunehmen.
Am Anfang steht natürlich das Angebot eines Fetischs, der geheimnisvoller als alle anderen ist. Es wird also eine Ware angeboten, für die es keine anerkannte Nachfrage gibt. Vielmehr scheint anfänglich das Fehlen jeder formalen Beziehung zu den Produkten, die auf dem zeitgenössischen Markt anerkannt sind, die ästhetische Garantie des Produkts zu sein. Das vom merkantilen Gesichtspunkt Unästhetische der Form gilt, war polemisch betont wird, als unbestreitbares Zeichen dafür, wie fern das Produkt den Gesetzen des bestehenden Marktes steht. Als ob das Fehlen einer Nachfrage oder der provokatorische Verzicht auf jede mögliche gegenwärtige Nachfrage, die man als Garantie für Unschuld und Loyalität betrachtet, der Ware heute, morgen und für immer ihren Warencharakter nehmen könnte. Das heroisch-pathetische Moment ist auf heroische und pathetische Weise blind. Es handelt sich darum, die Augen vor dem Moment zu verschließen, in dem das ästhetische Produkt, um wirklich und wahrhaft erkennbar zu existieren, seine eigene natürliche und effektive Existenz als Ware beginnt. Des Dekors wegen klammert der Künstler darum die erfolgversprechenden Kapitalinvestitionen, von denen er doch wünschen muß, daß sie an der nächsten Straßenecke auf ihn warten, aus seinen Überlegungen aus. Aus Gründen der ästhetischen Hygiene rückt er diese Investitionen schlicht und einfach und nur in seiner künstlerischen Phantasie in eine unendliche Ferne. Pathetisch und heroisch, wie er nun einmal ist, ist er aber auch tatsächlich zu dem Risiko bereit, daß sein Werk nicht in die ästhetische und soziale Kommunikation eintritt und dadurch sozusagen nicht existiert, wenn er es dadurch, soweit das überhaupt möglich ist, der kommerziellen Verwertbarkeit entzieht, die zwangsläufig seinen Sinn brandmarken und degradieren müßte. Daß der Händler das Geschäft wittert, geht in diesem Fall den Künstler nichts an. Das Verschließen des Manuskripts ist die Geste der Unschuld. Stendhal notierte dabei zwar schon den Verleger (M. Levasseur, Place Vendôme, Paris), konnte aber, ohne zu, erröten, schreiben:
S’il y a succès, je cours la chance d’être lu en 1900 par les âmes que j’aime, les madame Roland, les Mélanie Guilbert, les…
Die Geschichte des Wortes „succès“ ist das Geheimnis der romantischen bürgerlichen Bewegung.
Schließlich muß aber noch einmal gesagt werden, daß die avantgardistische Kunst durch diese Etymologie ihrer Struktur der Moralisten wenig oder gar keinen Trost läßt. Denn hier wird auf unverhohlen dramatische Weise flüchtig sichtbar, was andernorts mit geringerem Heroismus und geringerem Zynismus geschieht. Denn dort geht man, wie schon erwähnt wie friedliche Bürger bei kleinen Geschäften vor. Man tut so als sei die Kunst in erster Linie immer noch etwas, von dem jedermann weiß, was es ist. Und das im Rahmen eines Marktes von dem man utopischerweise annimmt, er befinde sich in einem beständigen Gleichgewicht, in dem Angebot und Nachfrage sich in aller Ruhe aufeinander einstellen können. Seit Baudelaire, aber insbesondere und im weitesten Ausmaß im ganzen bürgerlichen und romantischen Umkreis, beruht die geheime Wahrheit der Kunst auf der Avantgarde, die ihren verborgenen Mechanismus indiskret preisgibt und in der schließlich mit unausweichlicher Logik die ganze Bewegung der romantischen und bürgerlichen Kultur ihr Ende findet. Hier kommt es unaufhörlich zum Aufstand des Abenteuers gegen die Marktordnung, wodurch freilich zwangsläufig, und das heißt immer nach den Gesetzen des Marktes, das chaotische Abenteuer der kommerziellen Interessen an der Kunst seinen Anfang nimmt.
Markt und Museum. –
Von ihrer Struktur her gesehen erhebt sich die Avantgarde gegen die kommerzielle Verwertbarkeit des Ästhetischen und fällt ihr schließlich – wie schon beschrieben – zum Opfer. Auf der Ebene des Überbaus ist ihr erklärter Feind das Museum, das sie am Ende, wie in den schlimmsten Märchen, verschlingt. Daß sie schließlich in neuer Gestalt aus ihrer Asche aufersteht, ist nur ein geringer Trost. Denn sie ersteht nur, um abermals verschlungen zu werden. Die Zukunft des Futurismus zum Beispiel – und das ist ein höchst bemerkenswertes Symptom – sollte gerade mit der Zerstörung des Museums beginnen oder, konkret gesagt, mit der Zerstörung jener interesselosen Kontemplation, die, wie Adorno geklärt hat, die Neutralisierung der Kultur bedeutet ihre absichtsvolle Verbannung in die Vorhölle einer nutzlosen und nicht wirklich schuldlosen Unschuld. Äußerstenfalls darf und muß sich, um ein anderes Beispiel anzuführen, der Dadaismus in einer Welt, in der Kunst nur noch in der Isolierung des Museums (der Bibliothek, des Konzertsaals usw.) vorstellbar ist, als Verweigerung der Kunst verstehen. Der Einzug des Dadaismus (wie jeder anderen Avantgarde) in die aseptischen Säle des Museums vollzieht sich parallel und als Ergänzung zu seinem Einzug in die schmutzigen Hallen des Marktes. Museum und Markt grenzen aneinander und stehen miteinander in Kommunikation. Ja, sie sind zwei Aspekte der gleichen Gesellschaftsstruktur. Preis und Wert werden identisch, was sich sowohl auf die praktische und aktive wie auf die theoretische und jedem Nutzen entzogene Seite des ästhetischen Phänomens auswirkt. Das Museum ist Ausdruck der Autonomie der Kunst und zugleich Kompensation für ihre merkantile Heteronomie.
Gewiß steigt die Kunst in die Niederungen des Marktes hinab, aber aus diesem heilsamen Bad rauher Wirklichkeit, stimulierender Konkretheit wird sie alsbald emporgeschleudert zum hohen und unschädlichen Olymp der Klassiker. Der Vorgang bleibt geheimnisvoll, solange man das Gesamt seines Mechanismus nicht begreift und nicht versteht, daß die spezifische Daseinsberechtigung des Museums auf der Sublimierung beruht, die dort der kommerzialisierten Kultur zuteil wird. Das Museum ist der Gipfel der Kommerzialisierung der Kunst, auf dem der wilde Aufruhr des Geldes endlich zur Ruhe kommt und die Realität ihr Haupt in den Wolken verbirgt. Hier wird das Kunstprodukt zu einer Sache, die mit keiner noch so großen Summe zu bezahlen ist.
Den Kampf gegen das Museum hat jede Avantgarde sich natürlicherweise auf die Fahne geschrieben. Er ist zwangsläufig ihre hochheilige Parole. Es geht dabei um nichts Geringeres als um die ständig frustrierte Möglichkeit der Kunst, die kommerziell verwertbar geworden ist, ihre ideelle Wirklichkeit wiederzugeben, die nichts anderes ist als ihr effektiver praktischer Grund, ihre Möglichkeit, ästhetisch zu wirken. Auf das Niveau eines kostenlosen Amusements herabgesunken, aus soziologischer Sicht in den Umkreis der Freizeitgestaltung verwiesen (deren Probleme teils mit dem naturwissenschaftlichen, teils mit dem ästhetischen Museum gelöst werden), versucht die Kunst sich dem Schicksal bänkelsängerischer Sterilität zu entziehen und irgendwie ihren Adelsbrief aus dem Ozean der Massenkommunikationsmittel zu retten. Im besten aller Fälle gelingt es ihr dabei, den eigenen Preis zu steigern, ehe sie im Museum versinkt. So nimmt die wirtschaftliche Elite der Kunst den Sinn ihres Daseins und versetzt sich gleichzeitig in die noble Rolle ihrer Retterin. Der Kleinbürger dagegen, dem per definitionem die Verteidigung des alten gesunden Menschenverstandes zufällt, gibt sich außerdem der Illusion hin, es sei seine Aufgabe, alle ewigen menschlichen Werte zu bewahren, die ihm in der Schule, in der Familie und in der Kirche eingebläut worden sind. Infolgedessen ist der Ärmste immer noch erschrocken, überrascht und entsetzt über die Entmenschlichung der Kunst. Der Großbürger indessen, der, so gut er kann, die Preise kontrolliert und den Konsum dirigiert, weiß genau, was er kauft, und bekanntlich schreckt ihn dabei nichts. Und da er weiß, daß jedes Ding seinen Preis hat und daß es darum geht, den angemessenen Preis in Erfahrung zu bringen und ihn bezahlen zu können, so weiß er auch, daß jedes Kunstprodukt, früher oder später, das für es geeignete Museum findet.
Edoardo Sanguineti, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
ist Universitätsdozent in Salerno; er gehörte der Gruppe 63 an. In dieser Gruppe befanden sich neben Sanguineti Lyriker wie Balestrini, Pagliarani, Giuliani. Die Zeitschrift Il Verri, die der Gruppe 63 nahesteht, ist bekannt durch ihre Beiträge zur modernen Poetik, u.a. erschien dort auch Olsons Essay über den „projektiven Vers“.
In Berlin war Sanguineti schon einmal, in der Colloquiums Veranstaltung Modernes Theater auf Kleinen Bühnen, zu Gast, mit seinem Stück Traumdeutung. Schon in diesem Fall zeigte sich, daß das Interesse für Literatur und Psychoanalyse, und das Interesse für Literatur und Gesellschaft bei Sanguineti zusammenkommen in seinem Interesse für die gegenwärtig gesprochene, für die gegenwärtig „gebrauchte“ Sprache. Ganz deutlich sichtbar ist dies auch in seinen Romanen Capriccio italiano und Il giuoco dell’oca. Engagiertheit und Formfragen sind für ihn voneinander untrennbare Probleme: die Gegenwärtigkeit des einen hängt ab von der Richtigkeit des anderen. Das, was ein Poet hat, sein Fundus, und damit auch sein Engagement, drückt sich in der Art des Sprechens, in der Art seiner Verszeilen, in der Struktur des Gedichts aus, – nicht nur in Motiven und Symbolen. Hier zeigt er sich, hier entlarvt er sich. Der geübte Analytiker, der die täglich benutzten Redensarten ebenso unter die Lupe nimmt wie schwierigste Denkoperationen, erkennt, daß er sich hier kaum verstecken kann. Wie weit sich der Essayist Sanguineti allerdings auf seinen eigenen Spuren, auf den Spuren des verseschreibenden Sanguineti bewegen kann, das zu beurteilen bleibt dem überlassen, der seine Texte aufmerksam vergleicht. Reflexion und Traumbildwelt, wirtschaftswissenschaftliche Analyse und schnellvollzogene Assoziationen sind Hilfsmittel dieses angreiferischen, beweglichen, rational-mystischen Geistes.
Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
Schreibe einen Kommentar