wenn ein versprechen das papier
mit soviel mordsgeduld begabt
daß ich mich an den grund verlier
der uns den schriftverkehr versagt
und es nicht weiter unterscheide
vom überfluß der requisiten
aus dem theater unsrer bleibe
im keller ihrer selbstkritiken
entkommt die frage na was dann
mit einem scherz dem nichtverstehn
erledigt sich mein übergang
als toter aus dem sinnproblem
zur tagesordnung die sich reimt
auf alles was man doppelt sieht
die floskel aus der spaltung keimt
zu wuchern mit dem unterschied
Andreas Koziol
– peter böthig und egmont hesse im gespräch über das buch sprache & antwort. –
böthig: du beginnst deine interview-reihe mit ingeborg bachmanns skpetischer frage: „haben wir mit unserer sprache verspielt, weil es kein wort mehr gibt, auf das es ankommt?“ an welchem punkt & in welcher situation tauchte diese frage für dich auf?
hesse: diese frage ist nur an ingeborg bachmann angelehnt, sie hat sie so ähnlich formuliert, aber nie wörtlich so gestellt. mir schien das damals, 1985, ein problem zu sein. ich hatte geglaubt, daß sie das problem nicht einer generation, aber von 3-4 leuten fasse. da dachte ich zunächst an lorek, papenfuß und koziol. auch an döring. aber schon während andreas koziol und ich am interview arbeiteten, kam zum vorschein, daß diese frage wahrscheinlich ad absurdum geführt werden muß durch die antworten.
böthig: diese frage bezeichnet ja einen endpunkt, keinen anfangspunkt. ich könnte mir denken, daß sie zum weiterkommen nicht produktiv war…
hesse: das ist durchaus so. die frage bewegt mich, weil mich eben endpunkte interessieren. gerade weil ich weiß, daß man nicht hinkommt. aber was dazwischen passiert, von dem, wo man sich befindet bis dorthin, das bewegt mich schon. aber nach dem ersten gespräch habe ich das, was diese frage für mich und auch für andreas koziol an problemen aufgeworfen hatte, als abgeschritten gesehen. ich habe sie zwar später noch als vorschlag unterbreitet, aber sie wurde abgeblockt, weil sie eben nicht das problem der einzelnen leute bezeichnet. sicher wurde darüber nachgedacht, und man kann das vielleicht in manchen texten erkennen, aber es war nicht mehr das, worüber man reden wollte.
böthig: hattest du darüber hinaus bestimmte orientierungspunkte, als du mit den interviews begannst? gab es da einen ausgangspunkt, einen rahmen, eine strategie?
hesse: der ausgangspunkt der interviews war gegeben aus der arbeit am schaden. eine reihe hefte dieser kommunikationsidee lag vor, und ich merkte, daß etwas neues den texten hinzukommen müßte. da lag es nahe, gründe für die entstehung von literatur zu erkunden, und nicht mehr nur die texte selbst sprechen zu lassen, sondern die autoren nach ihrem selbstverständnis zu befragen. ich hatte ein sehr weitreichendes interesse, mich auf eine schöpferisch werdende art den autoren zu nähern, deren texte wir in den heften vorstellten. da wollte ich natürlich wissen, was es mit den texten, die mich etwas angingen, auf sich hat. ihrer subjektiven ursprünglichkeit nachzugehen, die unmittelbarkeit des umgangs mit sprache, ihre verbindlichkeit zu erfahren, das war beabsichtigt. ich habe da eine menge vermutet, auch auf eine menge gehofft, dem ich mich nähern wollte. dabei hat es sich von vornherein auf leute beschränkt, die bei diesem „selbstverantworteten experiment“ dabei waren, die das gerüst bildeten und es getragen haben, das engagement dafür war von beginn an mit einem engagement dieser vielfältigen literatur gegenüber verbunden. dazu kamen dann die autoren als möglichkeit zum gespräch.
der anfang war ziemlich zufällig. andreas koziol, weil ich mit ihm gerade am besten in kontakt war.
…
Auszug, Mai 1987
die eine andere und bei uns kaum bekannte DDR-Literatur vorstellt. Nur einzelne Autoren haben hierzulande Bücher veröffentlicht, so Sascha Anderson, Uwe Kolbe und Gert Neumann. Neben diesen Schriftstellern stellt der Band Sprache & Antwort Stefan Döring, Bernd Igel, Andreas Koziol, Leonhard Lorek, Bert Papenfuß-Gorek, Rainer Schedlinski und Ulrich Zieger vor, die zumeist in nicht-offiziellen Zeitschriften publizieren konnten. Ihnen gemeinsam ist die eigenwillige Arbeit mit und an der Sprache, das Ausforschen der Möglichkeiten des Worts und der lyrischen Techniken der Moderne. Alle Autoren sind mit z.T. bisher unveröffentlichten Texten vertreten. Genauso wichtig aber sind die Gespräche, die Egmont Hesse mit diesen Autoren geführt hat, und in denen sie ihre Art der Literatur begründen, auf hohem Niveau und dem Ernst einer großen Verantwortung.
Klappentext, S. Fischer Verlag, 1988
– Adolf Endler über die Anthologie „Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR“. –
Der Untertitel der Anthologie „Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR“ dürfte kaum einhellig akzeptiert werden — nicht im Westen, weil er manchem zumindest in ästhetischer Hinsicht konservativ gestimmten Literaturexperten das vertraute und so handliche Bild von der literarischen DDR-Landschaft kaputt zu machen verspricht; und auch nicht in der DDR, weil er, als Signal eines eventuellen „Bruchs“ und einer Frontenbildung, den Gedanken an eine politische „Opposition“ nahelegt. Am besten, man vereinigt sich zu einer neuerlichen Chorprobe: Vermutlich sei das keine „andere“, sondern überhaupt keine Literatur, bestenfalls irgendetwas „Vorliterarisches“ (im Unterschied etwa zu den Werken Ulla Hahns hier, Eva Strittmatters dort). Der Rezensent, in den Traditionen solcher korinthenkackerischen quasi literaturhistorischen Grundsatzentscheidungen „aufgewachsen“ will gestehen, daß auch er den Untertitel als möglicherweise werbewirksamen Gag verdächtigt hat; nicht zu lange … Er wußte es ja vorher und sieht es nach einigen Anfangsschwierigkeiten bei der Lektüre bestätigt: Bert Papenfuß-Gorek, Rainer Schedlinski, Sascha Anderson, Stefan Döring und ihre Kompatrioten aus der Generation der heute Dreißig bis Fünfunddreißigjährigen (repräsentieren zweifellos eine „andere“ DDR-Literatur; sie sind „anders“ allein schon aufgrund des für die DDR unerhörten (und auch dort noch kaum begriffenen) Faktums, daß sich eine ganze, inzwischen schon recht breite und an unterschiedlichsten Temperamenten reiche Literatur-Formation seit mehr als einem Dezennium kontinuierlich weiterentwickelt und qualifiziert, fern den Verlagen und ferner noch dem Schriftstellerverband und verwandtem staatlichen Zugriff.
Entscheidender noch als das „andere“ unter solchen nicht immer gemütlichen Bedingungen herausgebildete theoretisch-poetologische Selbstverständnis dieser Plejade, wie es sich in den seit 1980 florierenden zahlreichen in der Regel hektographierten lüde mags artikuliert, ist die schroffe Abwendung „von dem Rest der Literatur“ in der DDR, zum Beispiel auch in den ergebnisreichen Klassik-orientierten ästhetischen Standards der sogenannten „Mittleren Generation“ (der heute fünfzig- bis fünfundfünfzigjährigen Kirsch, Mickel, Czechowski usw.).
Die Neutöner
Der 1929 geborene Gerhard Wolf meinte in seinen „Wiener Vorlesungen“ von 1986: „Es läßt sich vermutlich nicht eindeutig begründen, warum zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, kaum vorhersehbar, junge Leute in der Kunst eine andere Tonart anschlagen, weil sie anders sehen und hören, anders empfinden — und demzufolge anders schreiben als andere vor ihnen …“ Wie sehr anders, das demonstriert der 27 Jahre jüngere Rainer Schedlinski im Gespräch mit Egmont Hesse: „Ja, gerade in der Ostberliner Lyrik der letzten Jahre gibt es viele Versuche, die Dinge in anderer Sprache neu zu denken . . . Papenfuß zerlegt die Sprache in kleinste monemische Einheiten, die sich dann untereinander, vom Text gereinigt, neu vermitteln lassen. Bei Döring finden digitalisierte, dialektische Kettenreaktionen statt, bei denen ein Wort das nächstliegende umbringt. Koziol arbeitet mit der Mechanik der Floskeln.“
So hat bislang noch niemals ein Dichter der DDR über das Dichten gesprochen (und Schedlinski ist ein Dichter, ein beachtlicher außerdem!), was nicht heißen will, daß uns diese Sprache ganz und gar fremd wäre. Der Poststrukturalismus und neben ihm andere neugallische Denkschulen haben auf dem Feld der Theorie so gründlich und fast alles andere verdrängend Wurzel geschlagen, daß es einen schon wieder mißlaunig stimmen könnte. Das gilt in verstärktem Maß für die vorliegende Anthologie, doch im Allgemeinen auch für so gut wie alle Kleinzeitschriften des Kreises, auf deren dreijährige Arbeit die Anthologie letztendlich zurückgeht. Darunter die Berliner schaden, der Dresdner Und, der Sinn und Form des „Underground“ namens Mikado, länger als ein halbes Jahrzehnt herausgegeben von Lothar Trolle, Bernd Wagner und Uwe Kolbe, sowie die ariadnefabrik, Zweite Person, Anschlag und verwendung.
Vor dem Hintergrund dieses Blätterwäldchens und von seinem Gezirpe und Rauschen begleitet, zeichnen sich freilich in letzter Zeit mehrere Wege ab, darunter einige, die ins Abseits des Sektiererhaften und Dumpf-Provinziellen führen mögen: Bis zu einem gewissen Grad möchte ich diese Befürchtung auch auf den Herausgeber von Sprache & Antwort, Egmont Hesse, bezogen wissen, dem der Glitzerkram der Luftikusse, der Poeten und Literaten, recht eigentlich verhaßt zu sein scheint. Da heißt es etwa: „Es läßt sich (leider) nicht leugnen, daß das Schreiben u.a. an Worte gebunden ist“.
Den Rezensenten möchte es zumindest originell anmuten, wenn der Herausgeber einer Poesie-Kollektion den Ausgangspunkt und Verlauf seiner Arbeit folgendermaßen beschreibt: „meine eigene skepsis, die ich sprache und literatur gegenüber hatte, ist zunehmend abgebaut worden, heute halte ich es für entscheidend und wichtig, die dinge in ihrer deutlichkeit auszusprechen.“ (Wie das wohl aussehen mag?) „und dann wird literatur nicht mehr nur literatur sein . ..“ (Ja, was denn?, weltwandelnde Botschaft, Lebenshilfe, Sterbehilfe, New Age, Charles Manson, „religion“?) Dank der Durchsetzungspotenz der Beiträger ist Hesse (zu seinem eigenen Glück auch) mit seiner Ideologie und einigen anderen Unangemessenheiten gescheitert. Was wäre dann das Finis für alle „Diskurse“ über Sprache und Wort? Es ist nur die eine und nicht übermächtige Seite in diesem Buch; auf der anderen erkennt man zunehmende Souveränität und Weitläufigkeit, kritisch-distanzierte Neugier gegenüber der „Prenzlauer-Berg-cottrcecriow“, deren lässige Schnoddrigkeit jedem Sekten-Bierernst als „Nestbeschmutzung“ erscheinen muß:
im untergrund steht mein schwanz
so scharf, alle sind geradezu im untergrund
der groupietherapie in die krisis entronnen
die unserem alter auch zukommt, aber noch
vor einer strukturanalyse flieht & fleht, wer fehlt — fällt
wenigstens auf & sei’s nur auf die beine
alles ist im untergrund obenauf; einmannfrei…
Zeilen aus einem der sicher leicht-gewichtigeren Texte von Bert Papenfuß-Gorek…
Und auch das wird man wieder hören: „So etwas hatten wir hier in Koblenz vor über zwanzig Jahren schon mal!“; so wie es die Wiener Gruppe vor über zwanzig Jahren schon mal zu hören bekam. Im Fall des Bert Papenfuß-Gorek, der in vielerlei Hinsicht paradigmatisch ist, könnte man munter erwidern: „Ja, gewiß, und vor fünfhundert Jahren hatten wir’s auch schon mal!“
Ist Papenfuß ein moderner Fischart? Man müßte es als ein ästhetisches Phänomen ersten Ranges erachten, wenn eine durch die Jahrhunderte untergründig weiter schwärende frühbarocke Literaturtradition — wer kennt schon Johann Fischart? — in einem jüngeren Poeten der DDR ihre Wiederauferstehung feiern würde. Papenfuß kommt in gewisser Weise „von unten“ — wie vor fast dreißig Jahren Uwe Greßmann — und ist mitgeprägt von den Bräuchen und der Sondersprache „ddrspezifischer“ Ausläufer der sogenannten „Jugendkulturen“, zu denen er sich zeitweilig demonstrativ bekannt hat, aber er scheint von aktuellen Lyrik-Trends „im Westen“ nicht gerade mitgerissen worden zu sein.
Aber er „kannte“ zu diesem Zeitpunkt längst einen anderen, ohne es zu verraten, er „kannte“, und nicht nur soso, nein, er kannte in der Tat Johann Fischart. Um zum spannenden Kulminationspunkt dieses „Heureka“-Krimis zu kommen: Die Prosaschriften, vielleicht auch das eine oder andere Gedicht? — des wahrhaft kostbaren Mannes aus dem 16. Jahrhundert zählen zu den ganz großen frühen Lese-Erlebnissen Papenfuß-Goreks. Irre Vorstellung: Da sitzt ein Siebzehn- oder Achtzehnjähriger im abgelegensten DDR-Winkel und liest sich an Fischart die Ohren blutrot — derlei sollte Hesse nun doch nicht, wie er es tut, aus dem Handgelenk heraus von sich wegwedeln. Karl Mickel hat sicher mit gleich großem Recht unter anderem Quirinus Kuhlmann zu den „Vätern“ Papenfuß-Goreks gezählt und außerdem auf die Zweite Schlesische Schule verwiesen.
Selbstverständlich erklärt das nicht „alles“, und es gab bekanntlich außer Poesie und Literatur noch mancherlei anderes. Trotzdem: Man liest das Gespräch Papenfuß/Hesse mit wachen Sinnen, wenn man nicht ausschließlich die Moderne als Bezugsfeld im Kopf hat; die Seiten, auf denen Papenfuß ganz spontan sein Verhältnis zur Sprache, zu den Wörtern darlegt, gehören für mich zu den Höhepunkten des Bandes: „Ich bin kein Philologe und kein Linguist… Ich interessiere mich natürlich für die Etymologie, aber nicht in jedem Falle, und ich glaube, auch nicht landläufig wissenschaftlich…“
Und jetzt passiert’s (nämlich die Zündung mittels des hier ganz beiläufig herbeigepurzelten „landläufig“), es passiert, was Gerhard Wolf zu der Bemerkung veranlaßt hat, dieser Dichter schreibe „die Wörter nicht nur bei ihren Wurzeln packend, sondern ihnen selbständige Zweige, ja, Flügel verleihend…“ Papenfuß: „… landläufig ist sowieso ein ganz herrliches Wort… land-läufig… Als mir das Wort auffiel, war eben dieses kleine Bild vom Landloper da — das Bild von Bosch —, „ein anderer Aspekt ist die Läufigkeit, also Geilheit, in diesem Sinne wohl Geilheit auf was Neues (landläufig auch Neugier genannt)…“ Naja, undsoweiter; man muß es lesen.
Der Wortfeger
Das Gespräch Egmont Hesses mit Papenfuß macht verständlich, weshalb sich Papenfuß keinesfalls als Sprach-Experimentator bewertet wissen möchte: „… das ist mein leben, mit dem ich experimentiere…“ Es dürfte zudem erahnbar werden, daß für Papenfuß-Gorek und die Seinen ein Bruch mit den in der DDR dominierenden Poetiken unumgänglich geworden war (und ist).
Sprache & Antwort ist bereits die dritte repräsentative Anthologie dieser „anderen Literatur aus der DDR“, die sich nun schon seit zehn bis zwölf Jahren munter entwickelt. (Aber möglicherweise ist Sprache & Antwort überhaupt nicht als Anthologie gedacht, sondern als ein Buch der „Gespräche“ Egmont Hesses, dem die Texte der Autoren lediglich als Belegstücke beigegeben? In diesem Fall wäre eine zweite und um Nuancen schwärzere Rezension zu schreiben.) Die erste dieser Sammlungen, von Sascha Anderson u.a. zusammengestellt, ist allerdings Manuskript geblieben; nach vielem Hin und Her um 1980 als „Arbeitsheft“ der Akademie der Künste geplant und vor allem von Franz Fühmann unterstützt, ist dieses Werk mit dem kennzeichnend extravaganten Titel „Einsame Augen in Augenhöhe wie streunende Hunde im Wortschatz“ dann doch noch gescheitert. Die zweite, ein erheblich breiteres Spektrum erfassend als die vorliegende, ist unter dem Titel Berührung ist nur eine Randerscheinung 1985 in Köln erschienen. „Sprache & Antwort“ zeigt im wesentlichen die darauffolgende Phase, hauptsächlich an einigen Kernautoren der Klein-Zeitschrift schaden demonstriert.
Exemplarisch im Hinblick auf manche Momente der Weiterentwicklung ist ein nur auf den allerersten Blick, „gespieltes“, im Grunde sehr strenges, ja unheimliches Gedicht aus der Feder des (im doppelten Sinn) hervorstechenden Stefan Döring. Die Verse sind überschrieben „wortfege“ und gehen so:
weinsinnig im daseinsfrack
feilt an windungen seiner selbst
wahrlässig er allzu windig
im gewühl fühlt er herum
und windet sich nochmal heraus
fund, kaum geborgen, bloss wort
wasser, lauernd, von wall zu wall
die spiegel mit fellen überzogen
wetter, uns umschlagend, dunst
die gewährten fegt es hinüber
die bleibenden gefahren erneut
der sich herausfand währt dahin
Das Hier und Heute mit seinen Ambivalenzen auf den Punkt gebracht!
Man kann diese „wortfolge“, „fortwege“, „wortfege“ des Herrn Döring alias „weinsinnig im daseinsfrack“ als ein Parallel-Gedicht zu Papenfuß-Goreks „Befindlichkeits“-Statement „unter uns gesagt“ lesen — es scheint die Zeit für solche erfahrungssummierende Bekundungen zu sein (andernorts finde ich sie auch bei Schedlinski); es erübrigt sich eigentlich, auf die an die Bilder M.C. Eschers erinnernden Doppel oder Dreifach-Bedeutungen der Wörter, Sätze, Bilder zu verweisen (weit hinausgehend übers nur Sprachspielerische), auf die „Gefährten“, denen es „gewährt“ wurde, „hinübergefegt“ zu werden, mein Gott!, auf die Schlußzeile, die das Gegenteil ihrer Bedeutung mit sich führt: „der sich herausfand währt dahin“; die Klette daran; „der sich herauswand fährt dahin“ — betont noch einmal den Ernst des Anliegens durch den in diesen Vers hineinwirkenden Schlußsatz des Büchnerschen „Lenz“ — Funde solcher Qualität sind in dieser Anthologie einige zu machen.
Die Arno-Schmidt-Fans so vertraute „Verschreib-Technik“ (und nicht nur Stefan Döring ist von ihm beeinflußt), dieses mörderische Element verfehlter Aggressivität streunt gleichsam durch das ganze Buch, wie unterschiedlich es sich auch immer artikuliert; bei Andreas Koziol z.B. in Wortneubildungen, die an ihrer Stelle wie verbale Molotow-Cocktails wirken: „nekrofühler“, „sinnhinterfraglosigkeit“, „mummenchance, „majuskelschwund“, etc.: oder der jüngste Beiträger, Ulrich Zieger (geb. 1961), der weiteren Entwicklungen vorarbeitet, ein surrealismusnaher Poet direkterer Aggressivität, Artaud und Bataille im Gepäck — „Der junge chauffeur liegt den kopf / in der suppe genäht in die haut ihrer bilder…“, „Stalin hieß gertrud mit vornamen / sagen die männer / gertrud hieß hitler“; oder der auf den ersten Blick konventionellste, der Leipziger Erzpoet Bernd Igel — „ich sah die nacht in der mundhöhle meiner mutter“ —, möglicherweise die dritte wichtige Stimme einer „Leipziger Schwarzen Neo-Romantik“ neben der Gert Neumanns und Wolfgang Hilbigs… Mag der Herausgeber „Gespräche“ führen noch und noch, aber den „Gesprächsvorgang“, wie er es nennt, sollte er nicht nur dem gleichgestimmten Mystiker erfahrbar machen, sondern auch einem Entertainer-Gemüt wie dem meinen. Die „Sehnsucht zum Dialog“ in allen Ehren, solange sie nicht darauf hinzielt — bitte genau hinzuhören, dear Hesse! — „eine Begehbarkeit der letzten Zeile des Dichters, die nur die seine ist, wo kein anderer reinpaßt, für mehrere zu ermöglichen“ —, was zweifellos, wenn man im Bild bleibt, nur mit einem gegenseitigen Massenmord sowie der Detonation des Dichters enden kann … Ein einziges Beispiel nur! Egmont Hesse hat es selber gesagt: „Es läßt sich leider nicht leugnen, daß das Schreiben u.a. an Worte gebunden ist…“
Adolf Endler, Die Zeit, 30.9.1988
– Anläßlich einer Anthologie. –
1
Die von dem jungen Egmont Hesse im S. Fischer-Verlag herausgegebene Anthologie und Präsentation zehn „neuer“ Poeten der DDR heißt schlicht und ergreifend Sprache & Antwort; ein auch für den nur in Ansätzen informierten Leser sofort einleuchtender Titel, der sprachphilosophischen und sprachpsychologischen Diskussion unter zahlreichen jüngeren Autoren der DDR gedankt, wie sie auch die Gespräche des Herausgebers mit den Autoren durchzieht, zuweilen verstiegen bis in neo-mystische Exaltationen; ein vielstimmiger ,Diskurs‘ (um das z.Z. wohl meist-strapazierte Fremdwort der „Szene“ zu wiederholen), zu welchem die ursprünglich sprach-kritisch akzentuierte Verschärfung des Sprachbewußtseins (sicher auch ein politischer Vorgang „in den auslaufenden siebziger Jahren“; Leonhard Lorek) seit etwa 1984/85 geführt hat: Er dauert unvermindert an… Obschon es aus naheliegenden Gründen bis vor kurzem keine allzu scharfe Grenzziehung zwischen den sich allmählich herausbildenden Positionen gab (wenigstens nicht „öffentlich“), kann man durchaus mit Peter Böthig von „semiotischen Kämpfen“ sprechen, solange man nicht vergißt, mit Gerhard Wolf auch der „Wortlust“ dieser Autoren Tribut zu zollen; sicher, sie könnte leicht ins „Verstummen“ umschlagen, und die frenetischste am ehesten.
Der Untertitel dieser 1988 erschienenen Anthologie (Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR) dürfte weniger einhellig akzeptiert werden – im Westen, weil er manchem zumindest in ästhetischer Hinsicht kreuzbrav-konservativ gestimmten Literatur-Experten das vertraute und so handliche Bild von der (im wesentlichen gleichfalls „konservativ“, also von konservierenden ästhetischen Vorstellungen geprägten) literarischen DDR-Landschaft kaputtzumachen verspricht – man erspare mir, die Täler und Höhen solchen Gefildes bei Namen zu nennen −; in der DDR möglicherweise als Signal eines eventuellen „Bruchs“ und einer Frontenbildung, welche den Gedanken auch an eine politische „Opposition“ nahelegen, die wir bekanntlich auch dann nicht hätten, wenn wir sie hätten. (Um solchen Irrtümern oder Hoffnungen von vornherein vorzubeugen: Diese Anthologie ist keinesfalls ein Sammelplatz etwelcher aktivistischen politisch-artistischen Gegenpartei, nicht einmal der intendierten Jewtuschenkoschen „Partei der Parteilosen“; kein „sogenannter Liedermacher“ Krawczyk, um die Leipziger Volkszeitung zu zitieren, kein Rathenow! Sie ist nur insofern politisch, als jegliches ästhetische Scharmützel selbstverständlich auch seine politischen Bezüge bzw. Hintergründe hat.) – Kurzum, es wird das Beste sein, sich neuerlich zu einer west-östlichen Chorprobe unter der Stabführung Stefan Hermlins zu vereinigen: Vermutlich sei das keine „andere“, sondern überhaupt keine Literatur, bestenfalls irgend etwas „Vorliterarisches“ (im Unterschied zu den Werken Ulla Hahns dort, Eva Strittmatters hier)… So geschehen anläßlich der Vorläufer-Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung von 1985.
Der Rezensent, in den Traditionen solcher korinthen-kackerischen quasi literarhistorischen Grundsatzentscheidungen „aufgewachsen“, will gerne gestehen, daß auch er den Untertitel zunächst als unter Umständen werbewirksamen Gag verdächtigt hat; nicht zu lange… Er wußte es ja vorher und sieht es nach einigen Anfangsschwierigkeiten bei der Lektüre bestätigt, was für Christoph Heim in einem Brief an Elmar Faber (siehe Sinn und Form 3/88) noch grüblerische Vermutung bleibt: „Hier trennen uns möglicherweise nicht nur verschiedene Ästhetik, sondern überdies andere Erfahrungen…“ Ich wußte es vorher: Bert Papenfuß-Gorek (geb. 1956 in Stavenhagen), Rainer Schedlinski (geb. 1956 in Magdeburg), Sascha Anderson (geb. 1953 in Weimar), Stefan Döring (geb. 1954 in Oranienburg) und ihre Kompatrioten aus der Generation der heute Dreißig- bis Fünfunddreißigen (re)präsentieren zweifellos eine „andere“ DDR-Literatur, um die Bezeichnung noch zu verschärfen (und weil mich gerade wieder einmal der Teufel reitet); sie sind „anders“ geworden allein schon aufgrund des für die DDR bislang unerhörten (und auch hierzulande noch kaum begriffenen) Fakts, daß sich eine ganze, inzwischen schon recht breitgestreute und an unterschiedlichen Temperamenten reiche Literatur-Formation, eben diese, seit mehr als einem Dezennium (Sascha Anderson bezeichnet als „Konstituierungsphase“ die Jahre von ’76 bis ’79/80) fern den Verlagen und ferner noch dem Schriftstellerverband und verwandtem para-staatlichen Zugriff weiterentwickelt und qualifiziert. (Was ihre wahrlich „anderen Erfahrungen“ betrifft, wie sie unsereinem erspart geblieben im großen und ganzen, erkundigt man sich besser bei der Polizei als im Verband, der vermutlich an diesen Erfahrungen mitschuldig ist; das gerade in dieser Beziehung besonders aufschlußreiche Briefwerk Franz Fühmanns wird leider erst in Jahrzehnten zugänglich sein.) Diese Autoren bzw. „Personen“, da man sie jetzt sporadisch auf- oder wiederauftauchen läßt, nach dem ohnehin schon kuriosen Sprachgebrauch – selbst „New-Comers“ wäre mir lieber – als „Debütanten“ vorzustellen, ist entweder unverschämt und zynisch oder schlichtweg idiotisch; sie werden es kaum anders sehen, und sie werden deshalb auch Christoph Heins gutgemeinten Ratschlag an den Verleger Elmar Faber bestenfalls als etwas weltfremd empfinden, dieses: „Mit größter Behutsamkeit und fast ängstlicher Besorgnis aber sollten wir uns den Texten der neuen Generation nähern…“ – Habe ich soeben ein höhnisch abweisendes Wiehern gehört?
Entscheidender noch das „andere“ unter solchen nicht immer gemütlichen Bedingungen nach und nach herausgebildete theoretisch-poetologische Selbstverständnis dieser Plejade, wie es sich in den seit 1980 florierenden zahlreichen in der Regel zunächst nur hektographierten little mags artikuliert, angefangen mit Uwe Kolbes noch etwas ängstlich wirkender Typoskript-,Zeitschrift‘ Der Kaiser ist nackt, die im Mai 1981 den programmatischen Text des Herausgebers sehen ließ: „Der Kaiser ist nackt; das heißt: / Weg mit der Ersatz- und Sklavensprache, das heißt: / Nachsehen, den Augen trauen, sagen, das heißt: / VERANTWORTLICHES ALLGEMEINES GESPRÄCH…“ (Glasnost 81?; ach, was wart Ihr doch für liebe Kindsköpfe damals! Kolbe heute in Sprache & Antwort und an Frank-Wolf Matthies sich wendend: „Wo haben die uns hingebracht, / wie lehren die uns schweigen, / die deutschen Oberflaschen…“; und: „Gib Feuer, Freund, / wir zünden die Eine gemeinsam an.“ No comment!) – Wie Kolbe vielleicht noch mit einigen dünnen Strähnen dem sogenannten „Weltanschauungslyrischen“ der mittleren Generation verknüpft sein mag, so gilt für die anderen so gut wie ausschließlich: Schroffe Abwendung „von dem Rest der Literatur“ in der DDR und „Verlust des klassischen intentionalen Bogens“ (Schedlinski), Abkehr also auch von den ergebnisreichen klassik-orientierten ästhetischen Standards der sogenannten mittleren Generation (der heute fünfzig- bis fünfundfünfzigjährigen Kirsch, Mickel, Czechowski usw.), welche sich demzufolge bei der Beurteilung der neuen Welle nicht minder schroff teilt: Ein Spannungsfeld, in dem sich die Ursache für manche zuweilen unappetitliche wie absurde Kontroverse findet, trübe nachklingend in Heinz Czechowskis in den Bizarren Städten 3 ausgesprochener Einladung zu einer Kumpanei unter dem Motto „Mir san ja alle rechte Sünderlein“ – man beachte den feinen Qualitätsunterschied zwischen dem „Sich-Vergnügen“ hier, dem „Sich als-Voyeure-Gebärden“ dort −: „Eigentlich leben wir alle / In einem anderen Jahrhundert: die einen / Vergnügen sich / Mit dem Zeitalter Goethes, die anderen / Gebärden sich als Voyeure des Futurismus…“ Nebenher: Der Kunstwissenschaftler Christoph Tannert spricht ’88/89 von einem parallelen „Riß“ in der bildenden Kunst der DDR…
Die unterschiedliche Tonlage der folgenden beiden Zitate – Czechowski verfehlt wenigstens mit diesem Text jedwede Adresse – sagt Genaueres über die tiefe Kluft, die sich zwischen hier und dort aufgetan hat. Der 1929 geborene Gerhard Wolf, der gleich dem Referenten die Poeten in Sprache & Antwort (und einige mehr) im großen und ganzen als die ,eigentlichen‘ ihrer Generation empfindet, in seinen Wiener Vorlesungen von 1986: „Es läßt sich vermutlich nicht eindeutig begründen, warum zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, kaum vorhersehbar, junge Leute in der Kunst eine andere Tonart anschlagen, weil sie anders sehen und hören, anders empfinden und demzufolge anders schreiben… als andere vor ihnen…“ – Wie sehr anders, das demonstriert der 27 Jahre jüngere Rainer Schedlinski im Gespräch mit Egmont Hesse: „Ja, gerade in der Ostberliner Lyrik der letzten Jahre gibt es viele Versuche, die Dinge in anderer Sprache neu zu denken… Papenfuß zerlegt die Sprache in kleinste monemische Einheiten, die sich dann untereinander, vom Text gereinigt, neu vermitteln lassen. Bei Döring finden digitalisierte, dialektische Kettenreaktionen statt, bei denen ein Wort das nächstliegende umbringt. Koziol arbeitet mit der Mechanik der Floskeln.“
So hat bislang noch niemals ein Dichter in der DDR über das Dichten gesprochen (und Schedlinski ist ein Dichter, und ein bemerkenswerter außerdem!); was nicht heißen will, daß uns derlei Sprache ganz und gar fremd wäre. Der Poststrukturalismus und neben ihm andere neu-gallische Denkschulen – regelmäßige Gaben des westberliner Merve-Verlages vor allem? haben auf dem Feld der Theorie so gründlich und fast alles andere verdrängend Wurzel geschlagen, daß es einen schon wieder mißlaunig stimmen könnte. Bloch, Adorno, Benjamin, die kunsttheoretischen wie philosophischen Anzapf-Säulenheiligen unserer Generation auch in der DDR (obwohl dort verfemt oder aber nur in Bruchstücken bekannt gemacht), scheint es niemals gegeben zu haben. Statt dessen erlebt man eine Flut von Verweisen und zuweilen fast gläubigen Berufungen auf Lacan, Derrida, Foucault, Blanchot, doch nicht minder auf Deleuze und Guattari, gelegentlich auch auf Bataille.
Das gilt in verstärktem Maß für die vorliegende Anthologie, doch im allgemeinen auch für so gut wie alle Klein-Zeitschriften des über die ganze DDR verstreuten Kreises, darunter die berliner schaden (hervorgegangen mit Undsoweiter um 1984 aus der einzigen polizeilich gestoppten, der dresdener Und Lothar Fiedlers), auf deren dreijährige Arbeit die Anthologie letztendlich zurückgeht. (Der Luchterhand-Verlag Iegt eine Sammlung auf der Basis einer anderen dieser „Heft-Editionen“ vor, wie sie Peter Böthig genannt hat, der Sinn und Form des ,Underground‘ namens Mikado, länger als ein halbes Jahrzehnt herausgegeben von Lothar Trolle, Bernd Wagner und Uwe Kolbe; und im Greno-Verlag, Hans Magnus Enzensberger nahestehend, soll in Kürze eine Auswahl aus den inzwischen zwei Dutzend Heften der Schedlinskischen ariadnefabrik herauskommen. Die vergleichenden Analysen versprechen aufregend zu werden.) ariadnefabrik, Liane, Zweite Person, Anschlag, Verwendung und so weiter; der favorite hit in den meisten der quasi Redaktionen müßte eigentlich „I’m In Love With Jacques Derrida“ von Pop-Star Green Gartside sein… Ich empfehle mit Nachdruck Schedlinskis ariadnefabrik, in der auch sämtliche Autoren der Anthologie Sprache & Antwort neben anders tickenden „publizieren“. Einigermaßen ungleichmäßig in Erscheinungsweise wie Qualität ist bis heute das zählebigste dieser Organe geblieben, die seit ungefähr einem Dezennium immer mal wieder Lebenszeichen gebende Entwerter – Oder, zuerst Karl-Marx-Stadt, jetzt Hauptstadt.
Im Humus bzw. vor dem Hintergrund dieses Blätter-Wäldchens und von seinem Gezirpe und Rauschen begleitet, zeichnen sich freilich in letzter Zeit, und wie sollte es anders sein?, recht divergierende Wege ab, darunter einige, und auch das kann keinen verwundern!, die ins schwammig-schwiemelige Abseits des Sektiererhaften und Dumpf-Provinziellen führen mögen; auch die Anthologie Sprache & Antwort hält sich dann und wann in Richtung solcher sich verengenden Fahrtrinne. Indessen, es ist nur die eine und nicht übermächtige Seite in diesem Buch; auf der anderen erkennt man zunehmende Souveränität und Weltläufigkeit, kritisch-distanzierte Neugier gegenüber den Angeboten der Provinz wie des Erdkreises gleichermaßen (fast kaum Aktivismus, allerdings, außer ästhetischem); hin und wieder die Nase zugeneigt den wechselnden Auslagen des internationalen Supermarkts der Wörter und Begriffe, den man ja im Sommer und bei kecker Laune auch als einen Abenteuerspielplatz der Sprache empfinden kann, nicht beängstigend nur, sondern faszinierend, ja, „anmachend“ nicht minder… eben Pop! Weltläufigkeit und Souveränität – sie signalisieren sich (paradoxerweise?) auch in der Sichtung des engeren Umkreises, sofern sie der Ironie nicht enträt, z.B. im Sarkasmus eines längst fällig gewordenen (und inzwischen von Leuten wie Jan Faktor differenziert wiederholten bzw. erweiterten) gruppenkritischen Statements „unter uns gesagt, aber behalt es für dich“ (Bert Papenfuß-Gorek) über die derzeitige, vielleicht nun auch schon wieder gestrige „Befindlichkeit“ der Prenzlauer-Berg-Connection (Nachricht, nicht „Botschaft“), dessen lässige Schnoddrigkeit jedem Sekten-Bierernst als „Nestbeschmutzung“ erscheinen muß.
Also, unter uns gesagt, aber behalt es für dich!: 1. „……….“ (Nein, auf die so gern zitierte Mensching/Wenzel-Beschimpfungsstrophe möchte ich dieses Mal verzichten, zumal es sich im Zusammenhang mit diesem Thema eher um eine Auseinandersetzung, hört das denn nie auf?, mit einer immer schon einäugigen – „parteilichen“? −, jetzt aber endgültig debil – „parteilich“? – gewordenen Literatur-Propaganda handeln müßte, die für einige Jahre Mensching und Wenzel sozusagen als jugendliche Musterhelden erkoren hatte, ein mittelmäßiges und in keiner Weise innovatorisches Gedicht wie Menschings Rosa-Luxemburg-Memorial „Traumhafter Ausflug mit Rosa L.“, „kühn“ bestenfalls für beschränkte Alt-Stalinisten, bei jeder Fete vorzeigend als gezinkte Trumpfkarte; und es gibt wahrlich interessantere Texte von Mensching; und Wenzel und Mensching mag es manchmal selber kühl den Rücken hinuntergerieselt sein…) Nun denn, 2.:
… im untergrund haben alle einen schatten
alles wird angerissen & mitgeschnitten
sagt man; man sagt, alle sind im widerstand
in mißverstand & wohlgefallen
unumstritten sascha anderson
leicht angegangen aber unverrissen
der treffliche stefan döring
den uwe kolbe die scheidung der gemüter
trifft
im untergrund steht mein schwanz
so scharf, alle sind geradezu im untergrund
der groupietherapie in die krisis entronnen
die unserem alter auch zukommt, aber noch
vor einer strukturanalyse flieht & fleht
der existenzbolschewismus möge ausbrechen
:wer fühlt – fehlt, wer fehlt – fällt
wenigstens auf & sei’s auf die beine
alles ist im untergrund obenauf; einmannfrei…
Zeilen aus einem der sicher leicht-gewichtigeren Texte von Bert Papenfuß-Gorek, allerdings deutlicher als manches andere einer der aktuellen literarischen Schulaufgaben dieser Generation auf der Spur: die strapaziöse Ambivalenz zu formulieren, die das Leben und Denken dieser Autoren seit einigen Jahren mitbestimmt… (Wir kommen darauf zurück.)
Nebenher, auch Papenfuß könnte sich leicht auf Deleuze berufen, auf jenen Deleuze nämlich, wie ihn Schedlinski in seinem Gespräch mit Hesse kurz streift: „Deleuze und Guattari entwerfen eine ,rhizomatische‘ Struktur des Diskurses, in der jeder Punkt mit jedem verbunden werden kann…“ Es ist ein Deleuze, dem auch der intellektuelle Karneval nicht fremd ist und wie er z.B., vorbereitet durch die Aufnahme Nietzsches in die Bretonsche Anthologie des schwarzen Humors, zu sagen den Mut findet: „Wer Nietzsche liest, ohne zu lachen, ohne häufig und zuweilen sogar wie verrückt zu lachen, für den ist es so, als ob er Nietzsche nicht läse…“ (Wird das die dunstumwaberte und tödliche altgermanische Tiefgründelei jemals begreifen?) Ja, auch Papenfuß ist womöglich zu den Leuten mit „D-&-G-Kick“ zu zählen, wie es genannt worden ist.
2
Und auch das wird man wieder hören: „So etwas hatten wir hier in Koblenz vor über zwanzig Jahren schon mal!“, so wie es z.B. die Wiener Gruppe vor über zwanzig Jahren schon mal zu hören bekam. (Als ob auch nur das früheste der Programme und Konzepte der Moderne als „endgültig abgegolten“ ins Schubfach getan werden könnte – so sehr der deutsche Ordnungssinn dazu neigt −; und die sogenannte „Postmoderne“ tut es, trotz gegenteiliger Behauptungen, erst recht nicht…) Im Fall des Bert Papenfuß-Gorek, paradigmatisch in vielerlei Hinsicht, könnte man sogar munter erwidern: „Ja, gewiß, und vor fünfhundert Jahren hatten wir’s auch schon mal!“ – Karl Mickel, diesen neuen literarischen Phänomenen gegenüber aufgeschlossen wie kein zweites Akademie-Mitglied, über die Sprache des von ihm hochgeschätzten Papenfuß: „… um jedes Wort lauert ein mehr oder weniger großes Rudel anderer Bedeutungen…“ Einige Jahre vorher Ute Nyssen: „Der Versuch, den speziellen Sinn einer Vokabel innerhalb des Kontextes zu fixieren, führte zu der Entdeckung, daß die Wörter… bewußt gerade in der Komplexität ihrer Bedeutung eingesetzt sind. Daß es für ihn Eindeutigkeit des Wortes nicht gibt, wird evident vor allem in seinen Wortspielen…“ Diese zweite Äußerung gilt indessen nicht Papenfuß; sie stammt aus der Vorbemerkung zu der westdeutschen Ausgabe der Geschichtsklitterung von 1964, jener exzessuösen frühesten Rabelais-Übersetzung von Johann Fischart (1547 bis 1590). Daß die beiden Zitate geradezu aufeinander zuspringen wollen, ist ganz und gar nicht Zufall…
Papenfuß ein moderner Fischart? Man müßte es als ein ästhetisches Phänomen von nicht geringer Bedeutung erachten, wenn eine untergründig durch die Jahrhunderte weiter schwärende frühbarocke Literaturtradition – wer kennt schon Johann Fischart? – in einem jüngeren Poeten der DDR (auf zunächst unerklärliche Weise und scheinbar durch nichts vorbereitet) ihre Wiederauferstehung feiern würde. (Man lese probeweise in den Fischart-Seiten des Deutschen Lesebuchs von Stefan Hermlin nach.) Jedenfalls, in gewisser Weise „von unten“ kommend – wie vor fast dreißig Jahren Uwe Greßmann – und mitgeprägt von den Bräuchen und von der Sondersprache „ddr-spezifischer“ Ausläufer der sogenannten „Jugendkulturen“, zu denen er sich zeitweilig demonstrativ bekannt hat – siehe den in Westberlin erschienenen Gedichtband Harm −, scheint er keinesfalls in besonderem Maße von aktuellen Lyrik-Trends „im Westen“ mitgerissen worden zu sein, auch „experimentellen“ nicht, für deren Charakterisierung in der DDR letztendlich immer nur der Name Ernst Jandls herhalten muß. „Er kannte ihn nicht“ (nämlich Jandl), resümiert Elke Erb lakonisch ein diesbezügliches Gespräch mit dem Dichter, das um ’82/83 stattgefunden haben muß. (Natürlich hat er ihn später sogar persönlich kennengelernt; solche Poeten ziehen sich gegenseitig an; und Ernst Jandl hat den Begleittext zu Harm verfaßt und Papenfuß darin als einen „Dichter ersten Ranges“ bezeichnet; wenn er es noch nicht sein sollte, auf dem Wege dahin ist er sicher, sogar nach den Vorstellungen früherer Jahrhunderte neuerdings, da er zu saga-artigen Großgebilden, zum epischen Gedicht gekommen ist – es ist die abseits der Weimarer Alpen zu einem ganz anderen Himalaya führende Strecke, die schon Alfred Döblin, bis in seine letzten Jahre ein entschiedener Befürworter des Arno Holzschen Poesie-Entwurfs, mit seiner epischen Dichtung „Manas“ und anderem genommen hat und auf der man auch Chlebnikow reisen sah und sieht, Männer mit einem quasi „dritten Auge“ gleich Papenfuß −, da er schließlich den welten- und zeitenumspannenden Bewußtseinsprospekt, Collage plus Cantos Poundschen Anspruchs ins Auge faßt: Siehe vor allem die letzten beiden Jahrgänge der ariadnefabrik!) Zur besonderen Farbe oder Musik der Papenfußschen Ariadnefabrik: Woher nur sein spökenkiekerisch-ahnungsvolles Interesse an Keltischem?, an den Wikingerzügen neuerdings?, und in solchen Zusammenhängen an Speziell-Mecklenburgischen? Wollte er vor Jahren nicht einmal nach Irland auswandern, als wüßte er dort seine eigentliche Seelen-Heimat? Allerlei Rätsel – und phantasy und science fiction spuken (spöken?) auch in der Nähe herum; wiederum wie bei Döblin.
Nein, Jandl kannte er nicht; aber er „kannte“ zum Zeitpunkt des von Elke Erb erwähnten Gesprächs schon längst einen anderen, ohne es zu verraten (und ähnlich verrückte Bildungserlebnisse halten auch andere der Generationsgefährten Papenfuß-Goreks für den forschenden Leser parat), er „kannte“, und nicht nur soso, in der Tat Johann Fischart. (Der Referent auch hat erst während der Niederschrift dieser Zeilen die mit Recht als etwas billig oder anrüchig geltende „Herkunfts“-Frage gestellt, und diese hier schien mehr als abwegig: „Mh, kennst du eigentlich Fischart?“ Prompt: „Ja, natürlich!“) Um zum spannenden Kulminationspunkt dieses „Heureka“-Krimis zu kommen: Die Prosaschriften – vielleicht auch das eine oder andere Gedicht? – des wahrhaft kostbaren Manns aus dem 16. Jahrhundert zählen zu den ganz großen frühen Lese-Erlebnissen Papenfuß-Goreks. Irre Vorstellung: Da sitzt ein Siebzehn- oder Achtzehnjähriger in abgelegenem DDR-Winkel und liest sich („Leseland DDR“!) an Johann Fischart die Ohren blutrot – derlei sollte der Herausgeber Hesse nun doch nicht, wie er es tut, aus dem lockersten Handgelenk heraus von sich wegwedeln −, und liest ihn, um ungläubigen Fragen zuvorzukommen, „in den Ausgaben, die es da ’mal in den zwanziger Jahren für die Germanisten gab, you remember…“; und konsultiert ihn „immer ‚mal wieder bis heute…“ – Karl Mickel hat sicher mit gleich großem Recht u.a. den irrwitzig genialen Barockpoeten Quirinus Kuhlmann zu den geistigen „Vätern“ Papenfuß-Goreks gezählt und außerdem auf die Zweite Schlesische Schule verwiesen.
Selbstverständlich erklärt das nicht „alles“; und es findet sich auf Erden außer Poesie und Literatur und Kunst noch mancherlei anderes, wie bekannt (ob es vielleicht auch nicht zu gerne bekannt gemacht werden möchte zum größten Teil). Trotzdem: Man liest das Gespräch Papenfuß/Hesse mit geschärfteren Sinnen, wenn man nicht ausschließlich die „Moderne“ bzw. die „Avantgarde“ als Bezugsfeld im Kopf trägt (sicher, man könnte Fischart als einen Joyce des Barockzeitalters begreifen); die Seiten, auf denen Papenfuß ganz spontan sein Verhältnis zur Sprache, zu den Wörtern darlebt – eine frühe Betrachtung zu seinen Gedichten hatte unter der etwas irreführenden Überschrift „Linguistische Gedichte“ gestanden −, gehören für mich zu den Höhepunkten des Bandes Sprache & Antwort: „Ich bin kein Philologe und kein Linguist… Ich interessiere mich natürlich für die Etymologie, aber nicht in jedem Falle, und ich glaube, auch dann nicht landläufig wissenschaftlich…“ – In einem früheren Gespräch hatte es geheißen: „… landläufig ist sowieso ein ganz herrliches Wort, land-läufig…“ (Das dürfte ja der „Skepsis“ Egmont Hesses gegenüber der Sprache diametral entgegengesetzt sein.) – „Ich spreche über’n Text, den ich noch nicht geschrieben habe…“ Und jetzt passiert’s (nämlich die Zündung mittels des hier ganz beiläufig – auch’n ziemlich trächtiges Wort, nicht wahr? – herbeigepurzelten „landläufig“), es passiert, was Gerhard Wolf zu der Bemerkung veranlaßt hat, dieser Dichter schreibe „die Wörter nicht nur bei ihren Wurzeln packend, sondern ihnen selbständige Zweige, ja, Flügel verleihend…“; mit unterschiedlicher Verve, mit wechselndem Glück, ja, gewiß. Papenfuß: „… als mir das Wort auffiel, war eben dieses Bild vom ,Landloper“ da“ – das Bild von Bosch −, „ein anderer Aspekt ist die Läufigkeit, also Geilheit, in diesem Sinne wohl Geilheit auf ’was Neues (landläufig auch Neugier genannt), vielleicht auch läufig in dem Sinne, daß man Altes nicht verdauen will und kann und sich deswegen Neuem zuwendet. Läufigkeit ist mit negativen Aspekten belastet, läufig wie eine Hündin… läufig – geläufig, diese Eingeschliffenheit… Hier sind Notizen, die sich auf Mittelalterliches beziehen, die, wenn ich den Text überhaupt schreibe, gar nicht drin stehen müssen, hier steht z. B. ,Hanfkrause‘ und ,Holzstoß‘; mit einer Hanfkrause wurden Hexen oft gebrandmarkt, ihnen wurde eine Hanfkrone aufgesetzt…“ Na ja, undsoweiter, undsoweiter; man muß es lesen. (Ach, und welch schlimme Wut arbeitet auch in dem allen!) Papenfuß an anderer Stelle und bilanzierend: „Der Aspekt der Attacke gegen Konventionen ist mir ebenso wichtig wie der Aspekt der Tiefe, des Verwurzeltseins.“
Anschließend kann die Anthologie – zu selten solcher direkte Bezug zwischen poetologischer Erörterung und Text! fünf der Gedichte mitteilen, die obigem (nur schwach angedeuteten) Gedankengang bzw. Assoziationsgebrodel entsprossen sein werden: eins mit dem Titel „Der allzulängliche Landlauf“; dann „Kavashili – ,landlauf‘ – Mantra“; dann „The Continental ,Landlauf‘“, gleichsam ein barockes Lied: „wan ich ein fant gewest / wan ich den knüttel schwang…“; dann „Landlauf aus Liebe“ mit der schwer zu vergessenden Anfangszeile „unumgang geht um“ (unumgänglich?), ein winziges geradezu „Volksliedhaftes“ aktueller Couleur – ja, wenn schon Liedchen-Trällern in dieser Zeit, dann, bitte, so:
unumgang geht um
flucht, die heimsucht
was ich entsponnen
ist nimmer zu entspannen
wohl habe ich dich gehabt
gehabe dich wohl, habe ach
zeit verloren, lieb & gut
& uns in unehren verlassen…
Verhaltenes, nein, wie fast Ersticktes und dieses Mal doch in Jandl-Nähe, spürbarer Frust – der Grund „privater“ Gram, in den auch wieder die „Staatsgrenze“ hineinspielt −, nur wenig an den frenetischen Sprachschöpfer Papenfuß erinnernd, wie er an anderer Stelle dann wieder zum Zug kommt mit „Läufen“ wie diesen: „ich klaube, was ich klaute, klobe, was ich glaubte / klittere, was ich creierte, kliere“ – das englische „cleare“? – was ich fühlte / klotze ran, trage auf, trickse rum, betrüge tricks…“ – Ein weiterer Text der „Landläufig“-Serie ist dem Thema „des landlauf’s niederschlag“ gewidmet und stößt auf die Barriere der ,heiklichkeit der banalyse‘“; am Ende hat sich das Thema peinlicherweise in „des niederschlags landlauf“ verwandelt, und was Barriere war – „die heiklichkeit der banalyse“ – hat sich durchgesetzt und triumphiert als Titel: Eine Niederlage offenkundig, von der hier gehandelt wird…
Das Gespräch Egmont Hesses mit Papenfuß und solche Beispiele machen verständlich, weshalb sich Papenfuß, obwohl es manchmal so aussehen mag, auf keinen Fall als Sprach-Experimentator im engeren Sinn bewertet wissen möchte: „… das ist mein Leben, mit dem ich experimentiere…“ Es dürfte zudem erahnbar geworden sein, daß für Papenfuß-Gorek und die Seinen ein Bruch mit den in der DDR dominierenden ästhetischen und poetologischen Konventionen unumgänglich geworden war (und ist). – Mit Opas Metrik in der Hand, kommt man nimmermehr durch dieses Land. – Bert Papenfuß-Gorek spricht im Sinne der meisten seiner Generationsgenossen, wenn er von einem poetischen Gebilde Kunde gibt, „das statt auf versen / auf rhetorischen einheiten fußt“; womit er schwerlich Bezug nimmt auf Brechts ähnlich begründete „gestische Schreibweise“, sondern sich eher in der Nähe solcher Poetiken wie der Charles Olsons aufhält, ausgehend von der beklagenswerten „Abtrennung des Verses von der Stimme“ nicht zu vergessen, daß Papenfuß auch im Hexenkessel der Noise Music, in Punk- oder Popgruppen mithält −, oder nicht allzuweit von den halb vergessenen und durch manches im Phantasus diskreditierten Theorien von Arno Holz. Sascha Anderson hat es jüngst bei der Verleihung des südtiroler (!) N.C.-Kaser-Preises an Papenfuß auf die etwas zugespitzte Formel gebracht: „Bert Papenfuß-Gorek schreibt nicht, er spricht…“ – Vielleicht hätte Volker Braun in seinem Rimbaud-Essay von 1983 besser vom „Mundbetrieb der Avantgarde“ sprechen sollen (bei Max Walter Schulz wird der Braunsche Begriff des „Handbetriebs“ auf die Moderne schlechthin bezogen) … Auweia!, das möchte ich lieber nicht weiter ausarbeiten; das wäre uns ja noch viel häufiger von jeder verstimmten professoralen Arschgeige wiederholt worden!
3
Ein Gegenbeispiel (jedenfalls einer Gestalt wie Nicolas Born erheblich näher als der Ernst Jandls): Rainer Schedlinski, weder ein Dichter barocken Wortgepränges noch der Dada-Kabbala (wie gelegentlich der „zerrissene“ Andreas Koziol), eher einer des vorsichtigen und „zurückgenommenen“ Tons; von den ganz entblätterten und winterkahlen Gedichten dieses Autors, von den extremsten Stücken Schedlinskis, die sicher einer Grundtenzen bei ihm entsprechen, teilt Sprache & Antwort leider so gut wie nichts mit: „das fenster ist geschlossen / der hund bellt nicht / das wetter ist ernst…“ – Es sind Zeilen, wie sie neulich ein ungewisser Michael Thulin – es handelt sich um den hochbegabten jungen Germanisten Klaus Michael (inzwischen kein „Geheimnisverrat“ mehr) −, wie sie dieser Mann in der ariadnefabrik (IV/87) als Ausgangspunkt eines partiell nicht uninteressanten, wenn auch zu einsträhnigen Essays gewählt hat – Zitat: „die dinge wollen nicht mehr. sie haben ihren zusammenhang aufgekündigt…“ −, welcher dem „dezentrierten subjekt“ in Schedlinskis Poesie nachzuspüren verspricht. Bis zu der (wenigstens für den Referenten) eigentlich entscheidenden Frage gelangt der Aufsatz allerdings nicht, was der Widerspruch zu bedeuten hat, daß von Schedlinski – wie von achttausendneunundachtzig weiteren Dichtern der Moderne – vom „destruierten Subjekt“ o.ä. auf eine Weise gehandelt wird, die jeweils „unverwechselbar“ ist, den Poeten also doch wieder als eigentümlich und als besonderes „Subjekt“ erkennbar werden läßt. (Ein Widerspruch, den auch bereits die Surrealisten auflösen wollten; in diesem Punkt zumindest letztendlich „Verlierer“.) Selbst ein so radikales Gebilde wie die fünf Zeilen „Sonntag“ Philippe Soupaults von 1920 hat (gleich den meisten Arbeiten Schedlinskis) sozusagen seinen ganz „eigenen Charme“: „Das Flugzeug häkelt Telegraphendrähte / Und die Quelle singt das gleiche Stück / Beim Treff der Kutscher ist der Aperitif orangen / Aber die Lokomotivführer haben Augen die weiß sind / Diese Dame ließ ihr Lächeln im Gebüsch…“ – Es könnte ergiebig sein, die merkwürdige Wortwahl Schedlinskis ins Auge zu fassen: „das wetter ist ernst“; „ernst sind die äcker & ernst / die häuser vor den äckern“; undsoweiter.
Überhaupt scheinen die Arbeiten Rainer Schedlinskis nicht so leicht auf einen Nenner zu bringen sein. (Schedlinskis erster Band die rationen des ja und des nein, Anfang 1989 erschienen, präsentiert die unterschiedlichsten Gedicht-Typen, vom nachdenklich-kritischen „Befindlichkeits“-Statement, wie man es z.B. in nicht ganz der gleichen Tonlage von Autoren wie Heinz Czechowski oder Kurt Drawert vorgetragen hört, bis hin zur essayistisch-poetischen Zeit-Definition, vom stillebenhaften Arrangement – „… im fenster die unvermeidlichen hühnergötter / in einem glas muscheln und haarspangen…“ bis hin zum biographischen Porträtgedicht z.B. in „der alte rudi thiele“: „im regen stand er mit wehendem mantel / blieb er vor der wirklichkeit stehen / wie vor einem hohen dom…“) Eben doch kein Verächter des poetischen Bildes wie etwa der von Schedlinski beschworene Tadeusz Roźewicz in seinem recht widerspruchsvollen „Haß“ auf die Dichtung, scheut Schedlinski gelegentlich nicht einmal vor der Verwendung allerfettester Reizwörter zurück, z.B. vor den alt-bewährten vokalstarken Farb-Signalen (wie er auch mit effektvollen Wiederholungen zu hantieren versteht), so am Schluß des geradezu expressionistischen Textes, der im Band jetzt die Widmung „den toten, wenn es sie gibt“ als quasi Überschrift trägt, ein Gedicht, dessen erste „Strophe“ allerdings geprägt ist von Formulierungen, wie sie eigentlich der polemischen Essayistik des beginnenden Jahrhunderts entsprechen (Maximilian Harden, Theodor Lessing, Karl Kraus, Theodor Haecker): „diese katholische erotik / gipsgeflickter tugendallegorien / unter barocken kummerbögen / (steißjungfern und säulenheilige) / erotik die die ewigkeit gähnt…“
Drei „Strophen“, und jede folgt einem anderen stilistischen Grundgestus; dem polemisch-essayistischen in der ersten folgt der eigentlich „expressionistische“ in der zweiten, an deren Beginn sogar ein Gedicht aus der Menschheitsdämmerung, Rudolf Leonhards „Der tote Liebknecht“ (bewußt, unbewußt?) paraphrasiert wird – „Seine Leiche liegt in der ganzen Stadt, in allen Höfen, in allen Straßen“ –, nämlich folgendermaßen: „einer umgefallenen gittertür schmiedeeiserne seligkeit / liegt über der ganzen stadt…“ Und in der dritten (im Band ein wenig veränderten) „Strophe“ kommt’s noch erheblich sämiger; ein Noldesches Farbenbukett -man könnte auch an die Farbexperimente Adolf Hölzels denken –: „wenn doch die toten nicht so schief schliefen / denk ich bei mir, / schwarzer vogel, blasser stein / blasser tag, roter schuh / die geschichte, schwarzes stroh.“ (Das alles muß einen natürlich daran erinnern, daß Schedlinski neben Sascha Anderson mit zahlreichen erfreulich unkonventionellen Aufsätzen über neuere bildende Kunst so etwas wie der Däubler oder Apollinaire dieses Feldes zu werden versucht; auch das könnte offene oder indirekte Auswirkungen auf die Sprache seiner Poesie haben.) – „den toten, wenn es sie gibt“; ein Friedhofs-, ein Stadtgedicht, ein „Weltanschauungsgedicht“ gar, über das man sich streiten mag: vor allem im Hinblick auf die stilistischen Brüche; aber sind es „Brüche“?, und wenn, sind sie beabsichtigt?
Jedenfalls könnten diesen variablen Gebilden so geschlossene und karge Texte wie das Landschaftsgedicht „schleinitz“ kritisch zur Seite gestellt werden (eins der Gedichte Schedlinskis, die dem Referenten die liebsten sind), leider nicht in Sprache & Antwort zu finden, sondern – außer in Schedlinskis Band – im Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 87/88; ein Gedicht, nicht städtisch-ambivalenter, sondern ländlich-eindeutiger Szenerie verpflichtet, Fixierung einer „Kindheits“-Landschaft doch wohl, freilich in distanziertester Weise mit Wörtern wie aus dem Baukasten zusammengesetzt, also nicht „expressionistisch“ dieses Mal – man erlaube mir, die Parallelen zur bildenden Kunst weiterzuspinnen! −, sondern näher den Ideen des Kubismus:
ernst sind die äcker & ernst
die häuser vor den äckern
die hecken sind
ernst & gezeichnet
die quadratischen höfe
ihre rigorose geometrie
ins fleisch der äcker geschnitten, stumm
ziehst du deine diagonale
von stall zu stall
über den kopfstein des hofes ernst & stumm
& gezeichnet steht der
holunder hinter dem hof
beginnen die äcker & hecken, ernst.
Wahrscheinlich sind solche Gebilde gemeint, wenn es heißt: „In den neuen Texten Schedlinskis geht die Einheit des Poetischen auch von der Einheit der beschriebenen Gegenstände aus. Ortschaften und Landstriche werden darin zu den verläßlichen Dingen der Sprachgebung…“ Aber bei aller spürbaren Realitätsbezogenheit solcher Texte teilt sich doch etwas Herb- Wortspielerisches mit – und paradoxerweise nicht zuletzt dank der Verwendung so wertender Wörter wie „ernst“ und erst recht „gezeichnet“ −, in flimmerndem Kontrast zum betonten Super-„Ernst“ der Landschaft, durchaus geeignet, den Leser auf subtile Weise ironisch zu stimmen… (Noch einmal das Stichwort: Ambivalenz! Wir kommen darauf zurück.) Es erscheint mir bedeutungsvoll, daß einer der Texte aus dem Umkreis von „schleinitz“ den Titel „kindheit, verspielt“ trägt; er endet ganz zuletzt mit einem „usw.“ und den Zeilen:
& wieder stieg ich stieg
hoch auf die Hohe Warte
wo wind blies & wind &
nur steine waren die steine
ganz nackt & die fetten äcker
ganz schwarz entschlossenes schwarz
& der wind blies den wind usw…
Von derlei poetischer Arte Povera schlägt sich ein Bogen, wie verblüffend es klingen mag, zur essayistisch-poetischen, mit bruchstückhaften Floskeln und Views arbeitenden Groß-Collage „sicher funktionieren die modelle“ (zuerst in ariadnefabrik IV/87 und jetzt im Band die rationen des ja und des nein bekannt gemacht); ja, das Landschaftsbild mag einem sogar als Seitenwuchs oder als direkte Vorstufe dieser Räume, Zeiten, Positionen umgreifenden Arbeit erscheinen, eines Weltbewußtseinsprospekts mit berliner Momenten. Einer der acht Abschnitte: „sicher funktionieren die modelle die s / ender schneiden den raum urbi et orbi / oder die zeit ist mit raymond roussel / unterwegs ihren personalausweis bitte / bitte alles trifft ein wie die geister / kolonnen schwarzer limousinen am abend.“ Den besonderen Akzent (besser Pferdefuß), den solcher dem Weltbewußtsein und „Zeitgeist“ gewidmete Text im Unterschied zu ähnlichen in den USA, in Tokyo oder Frankfurt am Main mitklingen läßt, ist natürlich bedingt durch die einzigartige Situation, durch die spezifischen Atmosphärilien in Berlin/DDR, welche Rainer Schedlinski und einige der gleichaltrigen Autoren aus seinem Umfeld zum ersten Mal in der Geschichte der DDR-Literatur (Christa Wolf steht für eine Früh-Phase) halbwegs überzeugend in den Griff bekommen, eine nicht nur heikle, sondern auch schwierige Aufgabe. (Gerhard Wolf spricht von „unserer verwickelten Gegenwart jenseits der Verlautbarungen“ etc. als dem „brisanten Thema Schedlinskis“.) Diese Situation unter „geteiltem Himmel“ wird von Schedlinski nicht nur andeutungsweise, sondern – an anderer Stelle – auch ganz direkt bezeichnet:
als wir telefonierten vorhin
zwischen den zwei monden dieser einen stadt sagtest du
du könntest mich nicht verstehen
wegen des lauten flugzeuges über dem haus
bis das amt unterbrach dann
hörte ich das flugzeug auch hier
heißt es die welt würde immer kleiner…
Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Selbst solche notizenhaften Verse, wie sie übrigens bei Schedlinski keinesfalls überwiegen, legitimieren schwerlich die Meinung jenes oben erwähnten jüngeren Germanisten: „… in einem Anflug lethargischer Sachlichkeit wird alles von der lyrischen Bühne gekehrt…“ – Schön gesagt! Aber von einem neuerlichen „Kahlschlag“ kann die Rede nicht sein, wenn es sich um Zeilen wie die folgenden handelt: „in wahrheit schrecken mich die kühlen / verkünder der brände, ebenso / wie die vegetative hochnäsigkeit / der spargelbünde und geschmackspriester…“. Die „Bilder“ mögen stiller sein als bei Papenfuß; aber sie bleiben „Bilder“. Indessen wird die Geste des Lyrik-Ausfegers in der Tat allenthalben spürbar (wie nicht weniger häufig bei Stefan Döring), und manchmal nähert sie sich der abwinkenden (und ganz und gar lyrischen) des späten Benn und dessen melancholisch-illusionslosem Weltverständnis: „Fragen, Fragen! Erinnerungen an eine Sommernacht / hingeblinzelt, hingestrichen, / in meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs / nun alles abgesunken / teils-teils das Ganze / Sela, Psalmenende.« (Gottfried Benn 1954). Sicher klingt es – wie könnte es anders sein? – bei Rainer Schedlinski weniger süß, kommt es kantiger daher (ein Benn-Epigone ist er keinesfalls), so in dem Gedicht „zungenfilm“: „am ende meines lateins stand ich schlußendlich / vor dieser monitorwand / aber auch das war nur so / eine nutzlose wahrnehmung…“
4
Sprache & Antwort ist recht eigentlich bereits die dritte repräsentative Anthologie dieser „anderen“, auch als „nichtinstitutionalisiert“ begriffenen Literatur aus der DDR nach einer schon zehn- bis zwölfjährigen Entwicklungsgeschichte des Feldes. (Aber möglicherweise ist Sprache & Antwort überhaupt nicht als Anthologie gedacht, sondern als ein Buch der „Gespräche“ Egmont Hesses, dem die Texte der Autoren lediglich als Belegstücke beigegeben?) Die erste dieser Sammlungen, von Sascha Anderson u.a. zusammengetragen, ist allerdings Manuskript geblieben; nach vielem Hin und Her um 1980 als „Arbeitsheft“ der Akademie der Künste geplant, hatte sie vor allem Unterstützung durch Franz Fühmann erfahren. (Nach allem, was erzählt wird, muß Fühmanns Haltung ungefähr der entsprochen haben, die Karl Mickel 1984 im Nachwort zu den Gedichten seines Freundes Bernd Dieter Hüge eingenommen hat: „Hüges jüngste Gedichte, argwöhne ich, sind auf dem Wege vermutlich am ehesten dort, wo ich sie nicht verstehe… Vielleicht haust, was mir verschlossen ist, in einer Kunstsphäre, die sich erst bildet: will ich denken…“ Geradezu mutig: Ich möchte ein einziges Mal einen unserer Offizial-Rezensenten bei solch souveränem Eingeständnis ertappen… Das gilt jedoch auch für einige Kollegen, die nicht nur die kleinstaatlich bedingte Erhabenheits- und Großmannsgestik unserer sog. „Klassiker“ nachzuspielen versuchen, sondern ebenso deren Borniertheiten gegenüber literarischen „Abweichlern“.) Trotz Fühmanns Bemühungen ist bekanntlich das „Arbeitsheft“ mit dem kennzeichnend extravaganten Titel „Einsame Augen in Augenhöhe wie streunende Hunde im Wortschatz“ dann doch noch am Veto der doktrinären Kamarilla in der Akademie gescheitert. (In diesem steckengebliebenen Buch findet man neben vielen anderen schon die Namen von sechs der zehn Autoren von Sprache & Antwort: Sascha Anderson, Stefan Döring, Uwe Kolbe, Leonhard Lorek, Gert Neumann, Bert Papenfuß-Gorek.) – Die zweite dieser Anthologien ist unter dem schon ein wenig schlichteren Titel Berührung ist nur eine Randerscheinung 1985, herausgegeben von Sascha Anderson und Elke Erb, in Köln erschienen, ebenso häufig abgelehnt wie begrüßt. Sprache & Antwort zeigt im wesentlichen die darauf folgende Phase, hauptsächlich an einigen Kern-Autoren der Klein-Zeitschrift schaden demonstriert.
Exemplarisch im Hinblick auf wesentliche Momente der Weiterentwicklung ein nur bei flüchtiger Betrachtung „verspieltes“, in Wirklichkeit ungemein strenges und gerade durch seine Diszipliniertheit (in Spannung zum Wortspielerischen) fast unheimliches Gedicht aus der Feder des (im doppelten Sinn) hervorstechenden Stefan Döring; Verse – und es sind Verse! -, bei deren Lektüre sich wohl keiner mehr an die Intentionen Nicolas Borns erinnert fühlen wird (wie es nach Kenntnisnahme älterer Arbeiten Dörings dem sympathisierenden Gerhard Wolf geschah). Das Gedicht ist „wortfege“ überschrieben, und es geht so:
weinsinnig im daseinsfrack
feilt an windungen seiner selbst
wahrlässig er allzu windig
im gewühl fühlt er herum
und windet sich nochmal heraus
fund, kaum geborgen, bloß wort
wasser, lauernd, von wall zu wall
die spiegel mit fellen überzogen
wetter, uns umschlagend, dunst
– Und dann, und man höre scharf hin: „die gewährten fegt es hinüber / die bleibenden gefahren erneut / der sich herausfand währt dahin“. – Das Hier und Heute mit seinen Ambivalenzen auf den Punkt gebracht!
Man kann diese „Wortfolge“, „Fortwege“, „Wortfege“ des Herrn Döring alias „Weinsinnsinnig im Daseinsfrack“ als ein Parallelgedicht zu Papenfuß-Goreks lokal orientiertem „Befindlichkeits“-Statement „unter uns gesagt“ lesen oder auch zu Schedlinskis gleichsam kosmopolitischem „sicher funktionieren die modelle“ (ja, die Modelle, wie sicher sie funktionieren, eh!); in der Tat, es scheint die Zeit für solche erfahrungssummierenden Bekundungen zu sein (bei anderen Autoren der Gruppe findet man sie in modifizierter Form ebenfalls), erstaunlich und begrüßenswert, daß sie nicht auf vordergründige Weise zu „Abrechnungen“ werden (womit sie das Zwielichtige der Zeit ja auch verfehlen würden): Das ändert nichts an der tiefen Betroffenheit, die sie beim aufmerksamen Leser hinterlassen müsse… Was die Verse speziell Dörings betrifft: Es erübrigt sich eigentlich, auf die an manche Effekte in den Bildern M.C. Eschers erinnernden sofort assoziierten Doppel- oder Dreifach-Bedeutungen der Wörter, Sätze, Bilder zu weisen (weit hinausgehend über das nur Neckisch-Sprachspielerische), auf die „Gefährten“, denen es „gewährt“ wurde, „hinübergefegt“ zu werden, mein Gott!, auf die Schlußzeile schließlich, die das Gegenteil ihrer Bedeutung mit sich führt: „der sich herausfand währt dahin“; die Klette daran: „der sich herauswand fährt dahin“ – betont noch einmal der Ernst des Anliegens durch den in diesen Vers hineinwinkenden Schlußsatz der Büchnerschen „Lenz“-Novelle: „So lebte er hin…“ (Funde solcher Qualität sind in dieser Anthologie nicht zu viele, aber doch einige zu machen.)
Ein (seit längerem vorbereiteter) Einbruch des Anagrammatischen, auch der den Arno-Schmidt-Fans so vertrauten „Verschreib-Technik“ usw.; und nicht nur Stefan Döring von ihm gezeichnet (der übrigens zur gleichen Zeit auch die Techniken des „Cut-up“ ausprobiert, inspiriertes Getiftle). Dieses unter Umständen mörderische Element verhehlter Aggressivität, als das es ja spätestens seit Unica Zürns und Hans Bellmers Anagrammen erkannt ist, streunt gleichsam durch das ganze Buch, wie unterschiedlich es sich auch immer artikuliert; bei Andreas Koziol z.B. in Wortneubildungen, die an ihrer Stelle wie verbale Molotow-Cocktails wirken: „nekro-fühler“, „sinnhinterfraglosigkeit“, „Mummen-Chance“, „Majuskelschwund“, „altarsschwäche“ etc. (Nebenher: in Koziol wütet ein bleicher bayerischer Barockprediger, Pech und Schwefel ausschüttend über die Häupter seiner Gemeinde, zuweilen innehaltend und baß erstaunt über die kostbare „symbolistische“ Fügung, die ihm untergekommen, zuweilen selbstversunken und wenig kommunikativ in „Zungen redend“: „nimm fünf, das heißt wir scheren das gesetz / der großen dreizehn über einen quintenkamm…“; Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1987/88.) Zum Hintergrund dieser Entwicklungen gehören natürlich nicht zuletzt die unterschiedlichsten Versuche Elke Erbs, zum Beispiel auch ihre Neu-Entdeckung des ursprünglich surrealistischen „Zufalls“-Prinzips, wie es u.a. in Tipp- oder Druckfehlern ungenierte Triumphe feiert: „Schreibe ich z.B. statt Ermittlungsprozeß Ermittlungsprprzeß“, sagte Elke Erb, „zeigt mir das falsche P wortlos beredt und genauer, als es Worte könnten, an, daß es Steine regnet, wo ich durchzukommen denke. / Oder z.B. unglaubwürig statt unglaubwürdig. Man könnte es nicht besser sagen.“ (Stefan Döring dagegen: „Ich gehe oft vom fehlerhaft gesprochenen Satz aus… Es gibt ja nicht nur Informationsverlust beim Sprechen, sondern auch Informationsgewinn durch Fehler…“) Bedenkenswert auch die Gleichzeitigkeit solcher Tendenzen in der Bundesrepublik, in der Schweiz und in Österreich; bei Oskar Pastior, Schuldt und anderen. – Der Referent will nicht hoffen, daß es solche Produktionen waren (Christoph Hein scheint es anzunehmen), die der Verlagsleiter Elmar Faber im Auge hatte, als er jüngst ziemlich nebelschwadenhaft „eine Tendenz in unserer Literatur“ beklagt hat, „bei der die Belanglosigkeit der Stoffe in einem eigenwilligen Wettstreit mit der Unverständlichkeit der sprachlichen Form steht, in der diese dargeboten werden…“ So viel zum Zustand unserer Literaturkritik: Unsereiner – wie mancher andere auch – braucht wirklich keine hundert Jahre, um zu erkennen, daß Elke Erbs Kastanienallee ein ungleich belangvolleres Werk ist als etwa Patrick Süskinds Parfum oder Hermann Kants Summe…
„Cut up!“; und noch einmal kurz Stefan Döring gestreift, nämlich den Döring der „Cut-up“-Technik – Meister William S. Burroughs hat uns, wenn auch als Prosaist, so manchen Trick aus dieser Kiste gezeigt −, der Methode also, einem Film-Cutter ähnlich Wörter und Sätze oder auch Abschnitte, ehe sie zum erwarteten Ende gelangen, rigoros abzubrechen bzw. die vorgefundenen fertigen zu zerschnibbeln, u.U. zu zerfetzen (ein weites Feld, das hier nur angedeutet werden kann, ein Experimentierfeld wiederum der unausgelebten bösesten Aggressivität in der Regel)… Döring setzt auch dieses Mittel mit großer Klugheit und von erkennbaren Absichten gebändigt ein, was wir jedoch weniger auf den schwächeren „Cut-up“-Ansatz „hamelett“ in der Anthologie Sprache & Antwort bezogen sehen möchten als auf den weitergehenden (schärfer zerschneiderten) Text „wie als, ob“, erschienen in der ariadnefabrik IV/87… Man höre den Anfang und das Ende: I.
oftmals wollte ich so sein wie
doch bemerkte ich immer
daß ich nicht anders sein kann als
wenn ich darüber nachdenke
würde es mir auch nichts nützen zu werden wie
denn würde ich werden wie
könnte ich nicht anders sein als
wünschte ich aber wenn ich z.B. wäre wie
da ich bemerke dass ich nicht anders sein kann als
doch wieder zu werden wie
der ich auch jetzt nicht anders sein kann als
so könnte ich doch zumindest wünschen zu sein wie
wie ich bin also…
Und so weiter über mehrere Zwischenstationen bis 2. zum Schluß:
… wie kann ich sicher sein das was ich bin als
mir nicht vorzustellen
als ob ich wäre wie ich wäre als
also nur vorzugeben zu sein was ich wäre als
in wirklichkeit aber wünsche zu sein wie wenn ich wäre was ich wäre als…
Und so verliert sich der tiefernst-clowneske Text – nein, vom Thema der Ambivalenz will ich lieber doch nicht mehr reden −, eine Sammlung abgebrochener oder steckengebliebener Sätze, um Objekt und Subjekt kreisend wie die Spiralnebel um die bekannten schwarzen Löcher im Weltall, und es will mir scheinen, daß diese amputierten Sätze sehr viel mehr über dich und mich aussagen – nein, Sie Ausnahme dort hinten meine ich nicht! −, über unsere Situation, über unsere sogenannte „Befindlichkeit“ als jede intakt sich gebärdende „Aussage“ unserer Leit- und Führungsliteraten, „Aussagen“, wie sie sich immer noch, als wäre seit vor- und vorvorgestern nicht so manches geschehen, „belangvoll“-breitbeinig und allgemein „verständnis“-erregend auf den Buchbasaren aufstellen (um demnächst wie überalterte Luftballons zu zerplatzen?).
Vielleicht nicht überdeutliche, aber doch durchaus abzurechnende Unterschiede (bei Döring und überhaupt) zwischen dem jetzigen Entwicklungsstand und dem, wie er vor drei Jahren von der „Berührungs“-Anthologie dokumentiert worden ist, in welcher man viele Autoren noch bei der erheblich naiver anmutenden Verfertigung rotzig-assoziativer Wortreihungen vorfand – „Zuspitzung, Vorspitzung, zerspitz, spitzbohrend, Fingerspitzen, Haarspitzen, Spitzbart“ etc. (Thom di Roes) −, als gehe es um eine die armseligen offiziellen Sprach-Muster zerfetzende stachlige Heerschau der Wörter und eine „linguistische“ Wikingerfahrt ins Unbekannte gleichermaßen; vieles davon der jetzigen Phase vor-arbeitend, das versteht sich von selbst … – So, wie jetzt vielleicht der jüngste Beiträger Ulrich Zieger (geb. 1961; inzwischen außer Landes wie mancher der hier erwähnten Autoren) weiteren Entwicklungen vorarbeitet, ein surrealismus-naher Poet direkterer Wut, Artaud und Bataille im Gepäck – „Der junge chauffeur liegt den kopf / in der suppe genäht in die haut ihrer bilder…“; „stalin hieß gertrud mit vornamen / sagen die männer / gertrud hieß hitler“ (andere Leute im Alter Ziegers reisen mit Panizza und Lautreamont durchs Land) −; oder wie der leipziger Erz-Poet Bernd Igel, dem sogar seine Briefe an Behörden und seine Rezensionen zu manchen Oberbuchhalter, manchen Germanistik-Dozenten befremdender Poesie gerinnen, eigentlich der auf den ersten Blick konventionellste Autor in Sprache & Antwort, aber Vorsicht – „ich sah die Nacht in der Mundhöhle meiner Mutter verborgen“ −, es könnte die dritte wichtige Stimme einer „Leipziger Schwarzen Neo-Romantik“ neben der Gerd Neumanns und Wolfgang Hilbigs sein… – Nein, lieber keine Voraussagen! Die „Pruchnustikatz“ Fischarts in Bezug auf die Literatur bleibe den dafür ausgebildeten Literaturwissenschaftlern überlassen! (Und die sehen es dann jahrzehntelang durch die Brille, die ihre Prognosen, Wunsch- und Wahnvorstellungen zu bestätigen scheint, bis man sie endlich…, aber nein, aber nein!, natürlich nur pensioniert! Der Dichter Rainer Schedlinski: „Wer jetzt weiß, wie es weitergeht, der ist nicht voll informiert…“
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An anderer Stelle habe ich kritische Bedenken im Hinblick auf die „Gesprächs“-Methode des Herausgebers Egmont Hesses bekannt gemacht, was allerdings nicht heißen sollte, daß ich Egmont Hesse für nichts als ein Ärgernis halte; ganz im Gegenteil zähle ich ihn zu den Leuten, von denen „noch etwas kommen könnte“: Na, sehen wir mal, was aus dem Nach-schaden, aus der ,Publikationsidee’ verwendung wird, die Hesse gemeinsam mit Andreas Koziol präsentieren will, und wie ich sie in der Null-Nummer (1988) der südtiroler (sic) Literaturzeitschrift Der Prokurist angekündigt finde, und zwar folgendermaßen: „es mag ein blauäugiger funke maßloser entschlossenheit, da menschlich allemal wohl verzeihlich, der tatsache zu unterstellen sein, in der 1. nummer einer sagen wir immer-noch-kommunikationsidee, die ihren werdegang noch nicht kennt, die also offen ist für das, was kommen mag, als mitherausgeber, als verantwortung übender die stimme aufzutun und die eigene vorstellung, wenn es die eigentliche noch nicht mehr gibt, von dem was sein könnte, auf die probebühne, ins spiel zu bringen. ich weiß um die einfache ebene, auf der ich mich mit diesem anspruch, zu nahe will ich niemanden treten, befinde, auf der ich in doppelter hinsicht zu treffen bin, um nicht in resignation abzuheben, die in einem anflug von selbstzufriedenheit gipfelt, muß ich gerade an oben genannten ort, landfern?, wurzeln schlagen. ob der funke blühen wird und in welcher höhe früchte zu ernten sind wird sich zeigen müssen. ,sie jagen einem phantom hinterher‘ hat mir hoffentlich zum letztenmal der verkäufer in einem schreibwarenladen gesagt, als ich nach büroklammern fragte.“ (Egmont Hesse). – Die herausfordernd schrullige Umständlichkeit solchen Prologs läßt unsereinen (und nicht nur wegen des hübschen Witzes am Ende des Zitats) an bestimmte Artikulationen des nach-lautréamontschen Schwarzen Humors im weiteren Umkreis des Surrealismus denken bzw. an ein gerütteltes Maß fratzenschneidender Desperatheit… Wir werden sehen.
Adolf Endler, Den Tiger reiten, Luchterhand Literaturverlag, 1990
– Zur Jungen Lyrik in der DDR. –
In dem von Hugo von Hofmannsthal überlieferten „Brief“ an einen Freund beschreibt Lord Chandos eine tief sitzende Krankheit an sich selbst – eine Krankheit, die bis zur Wortlosigkeit geführt hat.
Mein Fall ist in Kürze dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen… die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze… Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten, und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.
Die Beschreibung des Krankheitsbildes ähnelt der Struktur einer Depression, einer tiefgehenden Melancholie, einer Todessehnsucht, die unaufhaltsam ins Leere zieht… Aber denkwürdigerweise setzt die Krankheit die Kräfte zur Heilung selbst frei. Das sich krank fühlende Ich löst sich auf und verschwindet – in den Dingen.
In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkümmerter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr, als die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. … Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffren, die mir alles aufschließen.
Aus der Symbiose, dem Glücksgefühl des Verschwindens in den Dingen, entsteht eine neue Sprache, „eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen“, schreibt Lord Chandos.
Als Auflösung einer scheinbar ausweglosen Situation, in der sich das Ich in die Dinge auflöst, erscheint die Möglichkeit einer neuen Ich-Konstitution. Sie fußt auf dem Bruch mit den rationalistischen Sprachrastern und auf einer neuen Kommunikation mit den Dingen, deren Sprache erlernt und durch das Ich vermittelt werden soll.
Hofmannsthals „Brief“ bezeichnet über die Jahrzehnte hinweg ein Problem, von dem auch die junge Literatur in der DDR – und nicht nur sie – geprägt wird: die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit zu beschreiben und sie gleichzeitig zu erkennen, stattdessen die Erfahrung unaufhebbarer Differenz zwischen Ich und Außenwelt, zwischen Ich und Sprache.
Wenn wir uns die jüngste Lyrik in der DDR anschauen, wie sie uns in den privaten Zeitschriften, den Maler-Dichter-Büchern und Anthologien seit Beginn der achtziger Jahre begegnet, so wird deutlich, daß ihre Autoren von ähnlichen Problemen geplagt werden wie jener bedauernswerte Lord Chandos in Hofmannsthals „Brief“; ihr Kampf gegen die Erstarrung von Sprache und Wahrnehmung mündet in das Bemühen, neuen Wahrnehmungsformen andere sprachliche Ausdrucksformen zu verleihen.
Dabei verbietet sich der Versuch, nach einem gemeinsamen ästhetischen Programm der jungen Dichter zu suchen; ebenso wäre es falsch, von einer (oder mehreren) Gruppierung(en) auszugehen. Zu verschieden sind Sprachgefühl, Stil, philosophischer Hintergrund. Eine Gemeinsamkeit liegt freilich in dem biographisch-zeitlichen Rahmen und in einem ähnlichen Lebensgefühl. Davon ist schon die Rede in den Gesprächen, die die Redaktion der Weimarer Beiträge 1979 mit mehreren jungen Autoren führte: Da sprach Stephan Ernst von der „Angst“ junger Autoren vor der „kollektiven Vereinnahmung“ durch Staat, Verband und marxistisch-leninistische Philosophie. Eindrucksvoll beschreibt er eine Generationenerfahrung, deren Folgen für die Literatur noch nicht abzusehen sind. Ihr Kern wird umrissen mit Formulierungen wie: Die Gesellschaft ist entfremdet; in ihr ist der Mensch Objekt, nicht Subjekt. In der gleichen Nummer berichtete der Autor Jürgen Groß von der „Erschütterung der jungen Autoren“, die „mit dem Sich-Loslösen von Illusionen“ zusammenhänge? Bernd Wagner, inzwischen in Westberlin lebend, sprach von der „seltsamen Art von Weltbürgerlichkeit“, die die Autoren und Autorinnen der jüngsten Generation befallen habe, und die sich sehr stark unterscheide vom „DDR-Messianismus“ der Autoren, die in den sechziger Jahren angetreten seien.
Uwe Kolbe meinte: „Meine Generation hat die Hände im Schoß, was engagiertes Handeln anbetrifft. Kein früher Braun heute“, und „Ich schreibe lieber aus Rissen heraus.“ Wohlgemerkt: Die Erfahrung der Entfremdung, die unverstellt bei den hier zitierten jungen Autoren zum Ausdruck gebracht wird, steht am Beginn der Schreibexistenz und ist nicht etwa Ausdruck der Bilanz langer Jahre des Schreibens. Freilich könnte man einwenden: Die Erfahrung der Entfremdung steht am Beginn jeder dichterischen Existenz, angefangen von Mallarmé und Rimbaud über Hugo von Hofmannsthal bis zu Bertolt Brecht. Es scheint jedoch, als wäre dieses unverhüllte Eingeständnis der Entfremdungserfahrung für die DDR etwas Neues. Denn bis in die sechziger Jahre hinein beherrschte ja der Glaube an die Überwindbarkeit der Entfremdung des Menschen in der Gesellschaft die künstlerische und literarische Produktion. Auf der anderen Seite thematisiert ein Buch wie Nachdenken über Christa T. von Christa Wolf indirekt die Aufkündigung der Symbiose zwischen Individuum und Gesellschaft, wie sie die sozialistische (Literatur-)Theorie in den sechziger Jahren forderte. Nachdenken über Christa T. brachte, wenn man so will, zum ersten Mal das Thema der Entfremdung indirekt zur Sprache. Auch für Volker Braun wäre zu sagen, daß bei ihm die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft mehr und mehr zum Thema wird.
Es würde sich also zumindest darum handeln, daß bei der jüngeren und jungen Generation von Autoren das Entfremdungserlebnis unverstellter in die Sprache gebracht bzw. als Voraussetzung des künstlerischen Prozesses begriffen wird, als dies in früheren Jahren bzw. bei älteren Autoren der Fall ist.
Seit den Gesprächen in den Weimarer Beiträge(n) sind acht Jahre vergangen. Die Haltung einiger junger Autoren hat sich inzwischen noch mehr verfestigt. Es scheint schon nicht mehr nur darum zu gehen, sich das Entfremdungserlebnis einzugestehen, sondern die Entfremdung nüchtern einzukalkulieren. Darauf deuten Äußerungen wie die des Autors Fritz Hendrik Melle aus Dresden:
Ich bin schon in einer frustrierten Gesellschaft aufgewachsen. Die Enttäuschung ist für mich kein Erlebnis mehr, sondern eine Voraussetzung.
Es scheinen keine Brücken der Verständigung mehr zu existieren; eher handelt es sich um ein nüchternes, materiales Verhältnis zur älteren Generation und zu den Institutionen der Macht. Gleichwohl muß festgehalten werden, daß die Suche nach Anerkennung auch im öffentlichen Kulturleben nicht aufgehört hat. Welcher Autor wäre nicht froh, wenn ihm ein Verlag eine Buch-Veröffentlichung anbieten würde. Welcher Papenfuß ist nicht froh, daß es ihm nach Jahren der Vertröstung gelungen ist, ein neues Bändchen mit Gedichten beim Aufbau-Verlag zu lancieren?
Bei der Suche nach dem poetischen Selbstverständnis einer Reihe von jungen Autoren stütze ich mich vor allem auf die Gespräche, die Egmont Hesse, die gute Seele der Zeitschrift schaden, mit zehn Autoren geführt hat, in denen er sie nach ihrem Verhältnis zur Sprache, den Dingen und Bildern gefragt hat. Ich habe mir aus diesem Material die Gespräche mit Stefan Döring, Andreas Koziol, Sascha Anderson und Bert Papenfuß-Gorek herausgesucht. Danach geht es mir um einige Traditionslinien, vor deren Hintergrund die junge Poesie gesehen werden muß.
An Stefan Dörings Gespräch ist zunächst auffällig, daß es in zwei Teile zerfällt, den Interview-Text, der sich über die eine Spalte der Seite hinzieht und den Essaytext, der fortlaufend auf der zweiten Spalte geschrieben steht. Es liegt nahe, in dieser Zweiteilung eine beabsichtigte Mehrschichtigkeit der Argumentation zu vermuten, was mit dem Gegensatzpaar „Hier spricht der Lyriker – dort schreibt der Essayist“, nur unzureichend umschrieben wäre. In beiden Teilen des Textes wird deutlich, daß sich Döring selbst als in einem Spannungsfeld befindlich definiert. Einerseits leidet er als Lyriker daran, daß er Objekt der Sprache ist, daß sich Sprache an ihm manifestiert. Daraus entsteht das Bemühen, im Gedicht „das Unausgesprochene aussprechbar“ zu machen.
Im Essay wird diese Problematik allgemeiner formuliert:
Durch die Sprache wird man erzogen. Hat man die Sprache gefressen, dann auch die Ordnung.
Der persönliche Schreibstil des Dichters sei immer „Auflehnung der Ordnung innerhalb der Ordnung.“ Deshalb sei Dörings Bestreben, „sich auf keinen Stil einzulassen, ihn immer nur virtuell zu bilden […]. So wie der Inhalt dadurch fragmentarisch oder mehrdeutig wird, geschieht das auch mit der Person im Gedicht, die nur drinnen sich aufbaut, den Text nicht verläßt.“
Der beherrschende Eindruck, der sich aus dem Gespräch vermittelt, ist der eines Eisläufers, der auf dünnem Eis von Bruchstelle zu Bruchstelle eilt und dabei kunstvolle Figuren dreht.
Auf die Frage seines Interviewers Egmont Hesse
Es geht Dir aber trotzdem nicht so sehr darum, unterschiedliche Lesarten offenzulassen, sondern um eine dem Text entsprechende, welcher der Leser sich, will er das Gedicht verstehen, annähern muß?
antwortet Döring:
Ich denke, wenn der Text gut geschrieben ist, dann zwingt er dem Leser seinen Rhythmus auf, ich sehe nicht verschiedene Arten, meine Texte zu lesen. Für mich gibt es den einen Duktus, der eben möglichst gut herausgearbeitet werden sollte, trotz aller Schwankungen und Zweideutigkeiten.
Es geht also keineswegs um die Auflösung der Form zugunsten der Beliebigkeit, um die Verfestigung der Fluchtgeste, sondern um eine ständige Auseinandersetzung mit ihr und um die Versuche, neue Formen, neue Ordnungen zeitweilig zu finden. Das Gedicht, das ich ausgewählt habe, trägt den Titel:
HAMELETT
die gefühle ausgesprochen… – naja
die gedanken ausdrücklich… – als ob
die tatsachen unwiderruflich… – also wirklich
die absichten unverkennbar… – gottlob
die auswirkungen unleugbar… – zum teufel
die ergebnisse sage und schreibe… – papperlapapp
aller mut zusammengenommen… eben
alles tun notwendig… – wie auch immer
die freiheiten zunehmend… – egal,…
Es handelt sich um eine jeweils dreizeilige (insgesamt dreistrophige) Reihung von Tatsachenbehauptungen und Redewendungen aus dem Alltags-, Unterhaltungs- und Zeitungsdeutsch, die jeweils am Ende der Zeile von Füllwörtern (wie auch immer, eben), Flüchen (zum teufel) und Bekräftigungen kommentiert werden. Die Art der Kommentierung des Textes zielt auf eine Ironisierung und Bloßstellung ab. Man kann das Gedicht Zeile für Zeile wahrnehmen, dann ergibt sich der Zusammenhang und der Widerspruch/Bruch in jeder Zeile von neuem. Man kann es auch in zwei Teilen wahrnehmen: als linke und rechte Hälfte. Man könnte das Gedicht auch als Dialog begreifen, etwa im Stile der commedia dell’arte, in der dem Arlecchino der kommentierende Teil zufällt: also wirklich – papperlapapp – eben – zum teufel. Auf jeden Fall wird der Sicherheit, mit der der erste Teil der Zeile jeweils einherkommt, der Boden entzogen; es wird Abstand geschaffen, zugleich aber erneute Aufmerksamkeit gefordert. Der Leser stutzt, liest noch einmal. Ihm fällt auf, daß manche Tatsachenbehauptungen mit vorgeblicher Sicherheit einherkommen („die ergebnisse sage und schreibe“), während andere einen geradezu bedrohlichen Charakter besitzen („die auswirkungen unleugbar“). Der erste Teil, so könnte man vermuten, formuliert Möglichkeiten wie Notwendigkeiten zu handeln, während im zweiten die Ohnmacht des Subjekts vorgeführt wird. Diese Zwiespältigkeit, die bis zur Handlungsunfähigkeit geht, wird in Shakespeares Hamlet thematisiert. Zum großen Thema liefert Döring das kleine, witzige Aperçu: „hamelett“.
Das Gefühl und seine Umsetzung in Sprache und Worte steht im Vordergrund des Gesprächs mit Bert Papenfuß. Es heißt
Also wenn ich ein Gefühl ausdrücke, dann ist da nicht nur ein Gefühl, sondern oft auch ein Geflecht von Sachen, oder es werden Sachen gegeneinander gestellt, das könnte man auch als Ablenkung bezeichnen, aber das ist dann eben eine gewollte oder gemachte, ’ne komponierte, wenn du so willst. […] Emotion bedeutet ja Hinausbewegung, also daß man, was drin ist, rausbringt. Und danach […] kommen die Gedanken. Und die Gedanken wiederum komponiert man, später kommt dann vielleicht auch ein anderes Gefühl dazu, und die werden zueinander in Beziehung gesetzt.
Hier benennt Papenfuß das Kompositionsprinzip seiner Gedichte, die den Leser in ein Labyrinth der Wort-Zerlegungen, Assoziationen und Bilder führt. Überhaupt spielt die Labyrinth-Metapher in der poetischen Selbstvergewisserung eine nicht unbedeutende Rolle. Rainer Schedlinski, der nicht nur dichterisch, sondern auch essayistisch und analytisch arbeitet und die mehr theoretisch orientierte Zeitschrift ariadnefabrik herausgibt, sagt im Überblick über die wichtigsten Vertreter der neuen Poesie:
alle diese gedichte [er nannte Bert Papenfuß, Stefan Döring und Andreas Koziol – d. Vf.] sind produkt einer ariadnemaschine, die in der gegenwärtigen leere neurotischer fiktion zu arbeiten beginnt; indem sie sich bewußt einer mechanisierten, induktiven kombination bedienen, gewinnen sie die freiheit, den gegenstand zu bedenken, ohne seiner diskursiven befangenheit zu verfallen.
Folgt man der Ariadnemetapher, so wäre der Dichter – dem Theseus gleich – der Held, der mit Hilfe des Fadens, den Ariadne – seine Dichtung (?) – ihm überließ, den Kampf gegen Minotaurus aufnimmt. Aber wer ist Minotaurus, das Ungeheuer? Nicht die Macht schlechthin, sondern die Macht der Worte, der „Schwarzwörter“, wie Gert Neumann schreibt, über den an anderer Stelle zu berichten wäre.
Die Ariadnemetapher taucht im übrigen auch bei Sascha Anderson und Rainer Schedlinski mehrfach auf. Auch ist es kein Zufall, daß eine der wichtigen privaten Zeitschriften ariadnefabrik heißt. Vielleicht drückt diese Metapher am deutlichsten aus, daß die junge Poesie in den Großstädten der DDR Ausdruck und Movens einer Such-Bewegung ist, einer Kärrner-Arbeit, für die künftige Dichter-Generationen zumindest in der DDR ihr dankbar sein werden. Bert Papenfuß, der, wie seinerzeit auch Sascha Anderson, seine Texte, um sie an sein Publikum zu bringen, mittels Rockmusik vorstellt, sie singt und zelebriert, spricht am deutlichsten aber auch aus, daß die neue Poesie nicht nur auf ernster poetischer Haltung beruht, sondern auch Spieltrieb und Lebensgefühl ausdrückt.
So tritt Papenfuß in seinen Gedichten zwar in der Haltung des Kombattanten auf, gleichwohl nicht martialisch: eher versteht er sich als Nachfahre Don Quixotes, der im Bestreben, etwas auszudrücken, sich wie ein Kämpfer gegen die Windmühlenflügel der Sinnlosigkeit vorkommt – oder wie Till Eulenspiegel, der „Extremist in Trauer und Lust“. Die Affinität zur Rock-Musik, die er immer wieder betont, legt ebenfalls nahe, daß hier nachhaltig – und auch mit der Macht der Töne – gegen die etablierte Macht der Worte und der Deutungen angegangen wird: „Der Aspekt der Attacke […] gegen Konventionen ist mir ebenso wichtig wie der Aspekt der Tiefe, des Verwurzeltseinseins“, sagt Bert Papenfuß. Dabei scheint mir, daß die Geste des Kampfes oder der Militanz, wie Papenfuß sie selber nennt, keine bloße Gebärde ist, sondern aus der bitteren Notwendigkeit des Überlebens im Wort- und Bedeutungswirrwar entsteht. Oft muß ich beim Lesen seiner Gedichte an Rolf Dieter Brinkmanns aufsässige Poesie denken, und mir kommt dabei Papenfuß als der zarte Bruder des rebellischen, mit wütender Gebärde gegen den „Mumientanz der Begriffe“ anfechtenden Brinkmann vor.
Freilich ist bei Papenfuß nichts zu spüren von der radikalen, wütenden Suche nach einer „Poesie ohne Worte“. Eine solche Radikalität und Agression, wie Brinkmann sie ausleben konnte, kann in der DDR so nicht gelebt werden. Es kommt hinzu: Brinkmanns Poesie lebt zu Ende der sechziger und in den siebziger Jahren, in einer Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung. Es ist vielleicht nicht untypisch für die achtziger Jahre und für die Situation in der DDR heute, daß die Labyrinth-Metapher anstelle der Evolutionsmetapher eine zentrale Bedeutung für die Poesie hat.
Ich wähle ein Gedicht aus dreien zu einer Assoziation des Wortes „landläufig“ aus:
LANDLAUF AUS LIEBE
unumgang geht um
flucht, die heimatsucht
was sich entsponnen
ist nimmer zu entspannen
wohl habe ich dich gehabt
gehabe dich wohl, habe ach
zeit verloren, lieb’ & gut
& uns in unehren verlassen.
Zu seinem Umgang mit dem Wort „landläufig“ hatte Papenfuß im Gespräch ausgeführt, daß ihn dabei gar nicht die etymologische Geschichte interessiere; ihn beschäftigten vielmehr die Bilder, die sich mit dem Wort verbänden, so z.B. das Bild „Landloper“ von Hieronymus Bosch, das einen Strolch zeige, der sich von Altem ab und Neuem zuwende. Ein anderes Bild sei mit dem Wort Läufigkeit im Sinne von Geilheit verbunden – von hier geht die Reise der Assoziationen ins Mittelalter, zu den Hexen, zu der von Obrigkeit und furchtsamem Volk in sie projizierten sexuellen Lust, zum Holzstoß, auf dem sie verbrannt wurden und der Halskrause aus Hanf, die ihnen aufgesetzt und angezündet wurde. Ich habe so ausführlich über die Metaphernassoziation berichtet, um einerseits die Metapher des Labyrinths in statu agendi vorzustellen und um andererseits darauf hinzuweisen, wie komplex die Beziehungen zwischen Bild und Wort sind; Bild einmal wörtlich verstanden als gemaltes Bild, zum anderen aber auch als überliefertes Wort-Bild, Bild im Wort.
Von der ganzen Assoziationskette ist in diesem Gedicht (es sind insgesamt drei) nur ein Teil enthalten. Es hält eine Begebenheit in Bewegung fest, im Rückblick, eine Liebesbegegnung zwischen Flucht und Heimatsucht (Heimatsuche). Dabei existiert in den Zeilen wie zwischen den Zeilen eine enge assoziative Beziehung der Wortbilder aufeinander: Flucht – Heimatsucht; entsponnen – entspannen: ich habe dich gehabt – gehabe dich wohl – habe ach Zeit verloren (hier eine kleine Anleihe an Goethes Faust: „Habe nun ach’ Philosophie, Juristerei und Medizin…“). Der Bezug zum Bild des „Landlopers“ erscheint im Hintergrund.
Da ist jemand auf der Reise, trifft eine andere, verharrt einen Augenblick, hat vielleicht sogar die Liebe gestohlen, will sie aber nicht behalten – und hastet weiter.
Gegenüber Bert Papenfuß erscheint Andreas Koziol, einer der wenigen, die die Kunst des Reimens benutzen, als Formalist, dem die Form und die Bewegung der Form der ganze Inhalt ist. Im folgenden Gedicht wird diese Form-Inhalt-Thematik selbst zum Gegenstand erhoben. Es ist ohne Titel:
rücken wir näher herum mit der sprache
treten dazwischen, den vers an den füßen
beim federnlesen zu kitzeln, die sache
der nerven ins herzlich gereimte zu schließen
wir machen es, sooft uns zweifel reiten
ob wir sinn und wider mit wohl feilen worten
verdreht genug um eines schlüssels bart zu streiten
die eigne torheit bei geschloßnen türen orten
wir tauchen mitunter des friedens wegen
in unfallquellen nach höheren gewalten
und setzen im grunde gefährlich verlegen
uns auseinander zu sanften gestalten
kämen uns kindisch gegen die strömung
baden uns aus in sekundenschnellen
werfen das handtuch ins netz der gewöhnung
werden nicht trocken durch unterstellen.
Es handelt sich um vierhebige Verse in (vier) vierzeiligen Strophen, die auf Kreuzreimen enden. Es sind also keine Knittelverse; aber rhythmisch sind sie diesen durchaus ähnlich. Es ist viel Bewegung in diesem Gedicht: wir rücken näher – wir treten dazwischen – wir reiten – wir tauchen in die strömung – wir werfen.
Sowohl die Form als auch die Bilder, Assoziationsketten und Zuordnungen sind ziemlich traditionell: nur wenn man dann aufs Ganze schaut, so wenden sich die Aussagen des Gedichts deutlich gegen seine Form – und umgekehrt. Zu dieser Form paßt eigentlich eine zusammenhängende Geschichte, eine Ballade. Statt dessen findet eine sanfte, aber nachdrückliche Selbstverspottung statt. Hier kommt einer in harmlosem Gewand einher, entpuppt sich jedoch als hinterlistig. Die Quintessenz der Verspottung: Wir Dichter kapitulieren mitunter vor der Macht der Gewöhnung, doch werden wir immer wieder in die Strömung gerissen, die uns auf die Suche treibt…
Im Gespräch mit Egmont Hesse, das vor zwei Jahren stattfand, passiert etwas Merkwürdiges. Es ist, wie wenn der Interviewer eine Lawine losgetreten hätte und dem Dichter die Worte nur so aus dem Munde strömten. Der Anlaß für diese hermetische Wortflut geht aus einer Zitatfrage von Egmont Hesse hervor. Der fragt nämlich mit Ingeborg Bachmann:
Haben wir mit unserer Sprache verspielt, weil sie kein Wort enthält, auf das es ankommt?
Als Antwort setzt Koziol eben jenen Schwall von Sätzen frei, die ebensosehr den Ritus des Sprechens, die Sprachgeste demonstrieren, wie sie Sinnvolles sagen zum Umgang mit Sprache und Sinn. Koziol weist dabei auf etwas sehr Wichtiges hin: daß nämlich die – ja nicht neue – Sprachkrise (Dichtung hat meist etwas mit Krise zu tun) auf einen „Wahrnehmungsriß“ (Koziol) zurückgeht. Dies war mir schon bei Christa Wolf aufgestoßen: Der Sprachzweifel, von dem sie seit Jahren schon spricht, hat seinen Grund nicht in sich selbst, nicht in der Inflationierung der Wörter, sondern in der Realität, in der unaufhebbaren Differenz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. Koziol reagiert auf diese Differenz mit einer Flucht aus der Verbindlichkeit des Wortes:
die geste löste […] das wort ab von dem ihm unterstellten verdacht, zuviel sand im getriebe lyrischer werften zu sein, verkörperte die differenz zwischen begriff und sache auf durch anfälligkeit bedingte äußerst unzulängliche art und weise […].
Die Geste wird bei Koziol zum Zweck der Worte, die Sprache selbst zur Werkzeugkiste à la Foucault.
Von Koziol stammt der inzwischen berühmt gewordene Spruch: „Sprachbenutz ja, Sprachbesitz nein“. Sprache als Mittel; gleichwohl ist man nicht gefeit gegen die Strudel, sagt sein Gedicht. Das Gedicht selbst, sagt Koziol, soll Zeichen, die ja Sprache sind, bewegen, Bewegungen in Zeichen setzen. Das Schauspiel, das dabei vorgeführt wird, ist zugleich Demonstration der Bewegung wie Denunziation der Geste und Suchbewegung im Labyrinth.
Bewegung und bewegte Bilder kennzeichnen auch die Lyrik Sascha Andersons, der zu Beginn der achtziger Jahre vieles angeregt und viele junge Autoren zum Schreiben ermutigt hatte.
Zum Verständnis seiner Lyrik sagt Anderson:
der grundgestus meiner texte hat immer mit dem tod zu tun, ohne daß mich das persönlich betrifft.
Gemeint ist damit die Aufspaltung des lyrischen Ich in das Ich und der Andere. „das andere, der andere ist immer gegenwärtig“, sagt Anderson; auch hier wieder die Erfahrung der Differenz, nicht so sehr zwischen Ich und Außenwelt, sondern im Ich selber. Das Denken in Widersprüchen, man könnte auch sagen: Ergänzungen, Gegenüberstellungen wird im übrigen mit den Mitteln einer durchaus konventionellen poetischen Sprache betrieben (Zitat Anderson: „Ich schaffe sprachlich keine neuen räume […] Ich bin keiner, der beim schreiben formal unbekanntes territorium betritt.“) – Es ist ein Denken, dem sich die Konturen konventioneller Rezeption von Wirklichkeit verwischen. Dies ist es besonders, was Volker Braun in seinem Rimbaud-Aufsatz aus dem Jahre 1985 zu herben Invektiven gegen die jungen Poeten veranlaßte:
Unsere jungen Dichter, Kinder der administrativen Beamten, suchen auch das Loch in der Mauer. Sie verbrauchen ihre Phantasie an Tunnels und Fesselballons, ihre „monologe gehen fremd“ [dies ist ein Zitat aus dem Gedicht von Anderson], Fluchten wieder, aber auf Hasenpfoten.
Und dann moderater:
Aber auch in dem Schüttgut werden Reize, Assoziationen, Anstöße geliefert; in dem bedeutenden Wortmüll sind verschwiegene Gefühle und Gedanken deponiert, die uns, selbstredend, mehr zu sagen haben als die gestanzte Festtagskunst.
Trockener Kommentar des Schreibers Fritz Hendrik Melle:
Volker Braun? – Da kann ich nur sagen, der Junge quält sich.
Was Volker Braun ärgerte, ist leicht ausgemacht: Es ist einmal die Verweigerungshaltung der jungen Dichter, die sich nicht mehr jenem, sicher schmerzhaften, Prozeß der Enttäuschung und – wie bei Braun – der Rebellion gegen die Enttäuschung aussetzen wollen, die seine Generation durchmacht, ja man kann ruhig sagen, durchleidet.
Sascha Anderson weist in seiner patzigen Antwort auf Braun in der Zeitschrift schaden auf ein sehr wichtiges anderes Element hin, das der Poetologie Volker Brauns sicherlich widerspricht: Der hält nämlich die Metaphernflut, die durch die junge Poesie in Bewegung gesetzt wird, für einen Ausdruck des Nicht-Könnens, des Dilettantismus. – Nebenbei bemerkt: Daß diese Kontroverse nicht nur typisch ,DDRsch‘ ist, sondern auch hierzulande stattfindet und stattgefunden hat, scheint mir keine Frage. Man braucht sich nur der Attacken zu erinnern, die seinerzeit die Hohenpriester der Literaturkritik gegen die Alltags- und Protestpoesie der sechziger und siebziger Jahre (Jürgen Theobaldy, Wolf Wondratschek, Rolf Dieter Brinkmann u.a.) vorgebracht haben. Worte fielen da, wie: „Wohngemeinschaftspoesie“ (P. Hamm), „Wegwerflyrik“ (H.J. Heise), „Laberlyrik“ usw.
Zurück zur jungen Lyrik in der DDR. „ich denke, die formulierung einer metapher ist weniger als bisher das tor zur psyche einer schreibenden generation“, schreibt Anderson in seiner Antwort auf Braun. Gemeint ist, daß die Metapher als fest umrissene Struktur nur noch eine sehr untergeordnete Rolle in der neuen Poesie spielt, ebenso wie das lyrische Ich.
Andersons Gedicht, das Braun so ärgerte, lautet:
die monologe gehen fremd
über einen bahnhof
zwischen woher und wohin
als ich aus dem knast kam
(luckau zwei etagen über der liebknecht-gedächtnis-zelle)
stand ich in doberlug-kirchhain
in der mitropa an der theke und wartete
auf einen schnellzug
von berlin nach dresden
und trank kaffee
und wußte nicht wie es weitergeht
und kaufte eine illustrierte
und schrieb das gedicht
wie ein montag im dienstag stirbt
Das Gedicht ist nach dem Gefängnisaufenthalt von Anderson entstanden; es zeigt eine „Position der Differenz“, der Nicht-Identität im Moment der Freilassung. Die Situation der Verhaftung, Bestrafung, Einkerkerung hat – wen wundert’s – das Ich auseinandergetrieben. Die Mitropa-Gaststätte erscheint als erster Ort der Freiheit, der Raum läßt für die Rekonstitution des Ichs, das seine vorläufige Gestalt im Gedicht „wie ein montag im dienstag stirbt“ erhält.
Der Generationenbruch, von dem in den vergangenen Jahren so viel die Rede war, an diesem Gedicht zeigt sich, daß er sowohl aus einer anderen Erfahrung mit der Gesellschaft und dem Subjekt in der Gesellschaft herrührt als auch aus dem anderen Umgang mit Sprache und Dichtung. (Anderson spricht in seiner Gegenrede zu Brauns Rimbaud-Aufsatz von der zentralen Kategorie der „Nicht-Erfahrung“ jenes Lebens und jener Ideale, an denen Volker Braun so hängt; umgekehrt wäre auch zu vermuten, daß Volker Braun die Erfahrung des Gefängnisses nie mit der Generation der jungen Dichter teilen wird.) Die Aussage relativiert sich freilich, wenn man bedenkt, wie viele der älteren Autoren eine Anregungs- und Schutzfunktion für junge Dichtung in den vergangenen Jahren übernommen haben (Karl Mickel, Franz Fühmann, Gerhart Wolf, Christa Wolf, Adolf Endler, Heiner Müller u.v.a.), die sicher nicht nur sozial bedingt war. Auch gilt zu beachten, daß der ästhetische Wechsel in der Lyrik auch bei älteren Autoren stattgefunden hat; Elke Erb und Wolfgang Hilbig beispielsweise sind ja nicht mehr unter die jungen Autoren zu rechnen. Nur: So zahlreich wie in den vergangenen sechs, sieben Jahren hat sich die Artikulation neuer Erfahrungen und neuer Ausdrucksmöglichkeiten nie gezeigt. Gleichwohl muß man hinzufügen: Die junge Lyrik ist keine Oppositionsbewegung gegen frühere Generationen, sondern Ausdruck einer Neuerungsbewegung innerhalb der Literatur selbst. Die Erfahrung der Differenz als literarischem Raum und die Metapher des Labyrinths bestimmt offensichtlich die ästhetischen Programmatiken der jungen Dichter. Zu fragen wäre abschließend nach ihrem poetologischen und historischen Bezugsrahmen.
Es gehört mit zur Gestalt der neuen Poesie, daß sie sich eher auf literarische Welttraditionen bezieht, als auf „progressive Lyrik“ im eigenen Land (so das Beispiel Volker Braun), wenngleich sicher auf manche Affinitäten zu Karl Mickel, Erich Arendt, Wolf Biermann u.a. verwiesen werden könnte. So existiert eine starke Beziehung zur „Concetto“-Dichtung des Manierismus, einer Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts (auch in der Malerei). Der Concetto, eine Sonderart der Metapher, ist, so schreibt Arnold Hauser in seinem Kompendium über den Manierismus, der „Inbegriff von all dem, was man unter Pointe, Witz, geistreichem Einfall, dunklen und bizarren Anspielungen, vor allem unter der paradoxen Verbindung von Gegensätzen versteht. […] Der Concettismus ist ein virtuoses Begriffs- und Wortspiel, dessen man sich bedient, um das Unmittelbare zu distanzieren, das Gewöhnliche und Alltägliche als erlesen und kostbar, das Einfache und leicht Begreifliche als kompliziert und raffiniert erscheinen zu lassen.“ In der Literatur war er an den Höfen West- und Südeuropas im 16. und 17. Jahrhundert verbreitet; zu seinen Vertretern gehören ebenso Petrarca wie William Shakespeare und John Donne. Interessant erscheint auch, daß der „Concettismus“ ein Metaphernspiel ist, das in der Literatur ebenso beliebt war wie in der Malerei. Das enge Zusammenwirken von Dichtern und Malern in der neueren Kunst-Szene der DDR erscheint daher nicht zufällig vor dem Hintergrund der Belebung manieristischer Traditionen. Der Schritt vom „Concettismus“, der über das einfallsreiche Metaphernspiel eine zweite Realität zu schaffen imstande ist, zur Traumtheorie, ist nicht weit. Das Traumprinzip als Bewegung des Zusammenfügens von Disparatem, das sei das wirkliche Prinzip jeder Poesie, hatte Franz Fühmann in seinem Buch über Trakl geschrieben.
Schauen wir uns die Gedichte Sascha Andersons oder Andreas Koziols (oder etwa die Texte der Malerin Cornelia Schleime) an, so begegnen wir einer Fülle von manieristischen und Traummetaphern, die einerseits ein Fluidum von Unbestimmtheit und Auflösung mit sich bringen, andererseits aber – wie bei den Surrealisten – unverhoffte Einblicke in die Tätigkeit des Unbewußten geben. „die dichtung sagt fast immer mehr als die sprache des lebens“, sagt Sascha Anderson einmal in dem Gespräch mit Egmont Hesse. Der Eindruck, der sich aus diesem Metaphern bzw. Concetto-Fluß vermittelt, ist der des Umbruchs und der Suche.
Ohne Schwierigkeiten läßt sich nachweisen, daß die junge Poesie in der DDR in einer langen Tradition steht, die beim klassischen Manierismus, den Hocke als den Vater der Moderne bezeichnete, beginnt und beim Surrealismus nicht endet, der ja die Verselbständigung der concetti zum Prinzip des „automatischen Schreibens“ erhebt, wie André Breton schon im „Ersten Manifest des Surrealismus“ von 1924 betonte.
Auch DADA gehört in diese Traditionslinie der jungen Literatur in der DDR, wenn wir etwa an das von dem Ostberliner tschechischen Kunstschlosser und Autor Jan Faktor verfaßte „Manifest der Trivialpoesie“ denken, in dem so freche Sätze stehen wie „Alles ist erlaubt, nichts ist mehr gültig.“ Wohlgemerkt, das Manifest war und ist eine Parodie auf sich selbst, ein Spaß-Manifest, keine programmatische Aussage, aber eben deshalb auch Ausdruck eines Spieltriebs, der Literatur auch in früheren Zeiten immer wieder beflügelte.
Schließlich, ich hatte es erwähnt, stehen die jungen Lyriker auch in der Tradition der sogenannten „experimentellen Poesie“ der fünfziger und sechziger Jahre (der Franz Mon, Gerhard Rühm, Ernst Jandl u.v.a.) und der „Protestpoesie“ der siebziger Jahre (Wolf Wondratschek, Jürgen Theobaldy, Rolf Dieter Brinkmann). Bei Papenfuß etwa sind deren Einflüsse nicht zu übersehen.
Der Versuch der Einbettung zeichnet eine lange Traditionslinie, darf aber nicht zur Einebnung führen. Der große Unterschied scheint mir darin zu bestehen: Es fehlt in der DDR der Gestus des Aufbruchs ebenso wie – jedenfalls meist – die Gebärde des Protests. Der Manierismus hob sich in Malerei und Dichtung von den strengen Kompositionsgesetzen der Renaissance ab und gab der Maniera, der Geste, Gebärde, freien Raum.
Der Surrealismus polemisierte gegen den Naturalismus; DADA gegen den Terror des 1. Weltkrieges und die Expressionisten. Die Linie der Abgrenzung gegen Vorheriges wäre in die Gegenwart fortzusetzen.
Nur ist die junge Lyrik in der DDR keine Protestpoesie; sie wirkt eigenartig verhalten, so als hätte man ihr gegen den Widerpart den Mund verboten. Es scheint, als wiese das Labyrinth nach innen und nicht nach außen. Ich meine damit nicht jenes Standard-Argument der „Flucht in die Innerlichkeit“, das so gern von Literaturkritikern gegen die junge Poesie eingewendet wird. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß der freie (Sprach-)Raum, der zweifellos von den Lyrikern der achtziger Jahre erobert worden ist, aus dem Kampf im Labyrinth der Sprache und nicht nur mit der Sprache – ihr also äußerlich bleibend – entstanden ist, und daß dieser Raumgewinn im Kampf gegen die „Schwarzwörter“ (Neumann) das eigentliche Verdienst der jungen Lyrik bis heute ist.
Antonia Grunenberg, Niemandsland, Heft 5, 1988
Bert Papenfuß, einer der damals dabei war und immer noch ein Teil der „Prenzlauer Berg-Connection“ ist, spricht 2009 über die literarische Subkultur der ’80er Jahre in Ostberlin.
Poesie des Untergrunds – Prenzlauer Berg kontrovers – Trailer zum Dokumentarfilm.
Poesie des Untergrunds -In der Kunstszene der DDR entstand in den Jahren vor der politischen Wende ein eigener Mikrokosmos. Besonders in Berlin-Prenzlauer Berg hatte sich eine Gemeinschaft entwickelt, die den Untergang des Systems in ihrem unangepassten Leben vorwegnahm. Eine neue Ausstellung im Stadtmuseum zeigt jetzt die Werke von 38 der wichtigsten Künstler jener Zeit.
Poesie des Untergrunds − Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989. Eine Ausstellung in der Kunstsammlung Jena vom 13. März bis 23. Mai 2010.
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