Elena Mpei: Das Grillenzirpen zwischen den Rippen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Elena Mpei: Das Grillenzirpen zwischen den Rippen

Mpe-Das Grillenzirpen zwischen den Rippen

FORSTE DICH AUF

21st century reality
Diese entseelte Teerstraße aus kleingedruckten Regeln und Rollenspiel
eine Denkstörung, nein, eine Existenzhemmung
Du bist nicht einmal da, es ist nur Einecho / Einecho
zwischen selbstdarstellerischen Dateianhängen
und linearen Lebenslaufzwängen

21st digital reality
Diese unersättliche Ich-erscheine-Industrie
ein technologisches Tentakel aus virtuellen Verhältnissen
Breche aus, Freund, deine Realität ist Replik

Doch irgendwo anders
in einem beinah gerodeten Gefilde, wo einst
wildes Schilfrohr und Oreganoblüten sprossen
findest du Wege, die nicht kartographiert wurden

Hier wurden unsere Körper einst zusammen-
geknetet aus Brot, Blut und Salz
ein Paar Augen und ein Paar Flügel auf dem Rücken
hungrig nach Durchleben und Erspüren am eigenen Leib

Wir sind abgezählt und bemessen
gemäß der Alchemie von Akt und Asche
und bewohnen ein paar Jahre: ein Labyrinth
das sich an Lichtpassagen und Abschiedstoren vorbeiwindet

Ein rückhaltlos mit Hand, Fuß und Herzfell
zu durchschreitender Widersinn
Freund, dir bleibt keine Zeit
für eine computergenerierte Existenz

 

 

 

Unverlangt eingesandte Manuskripte

gehören zu den Plagen des Verlagsalltags. Doch dann passiert plötzlich das Wunder: Man öffnet eine Einsendung, und merkt nach wenigen Worten: Literatur, wirkliche Literatur! Formbewusstsein, genaue Verdichtung der Empfindungen, ein Heraustreten aus der Beengtheit des Ich, Ahnungen und Erfahrungen. So ist es uns bei den Gedichten von Elena Mpei gegangen, und ohne über die Autorin etwas gewusst zu haben, stand gleich fest: Das bringen wir heraus.
Es ist ein Debut von 32 Gedichten mit breit gefächerten Themen: Mediterrane Reiseerlebnisse und nördliche Reflexionen, Erinnerungen „aus einer hand schriftlichen Zeit“ und ein Mitteilungsstakkato aus „Social Media“-Kanälen. Es geht um das Verschwinden eines kleinen Quartierladens in Athen und die Invasion grosser Windkraftanlagen auf Inseln der Ägäis; da ist eine Kaskade von Vielleicht-Erwägungen vor den Perspektiven eines jugendlichen Lebens, oder jenes Erlebnis am Morgen eines „unverbindlichen Frühlings“ in Berlin, „als dir die Zeit über den Weg lief“. Und da ist das grosse „Manifest der Feuergewächse“ gegen die Verwüstungen des Betonzeitalters. Unbedingt lesen!

Nimbus, Ankündigung

 

Instagram-Talk der Buchhandlung Zum Wetzstein mit Björn Siller und Elena Mpei am 12.5.2024

 

Seelenfutter

Auf den ersten Blick gibt es augenblicklich nichts, was mehr aus der Zeit gefallen und gerade deshalb so aufregend erscheint wie Lyrik. Denn auch 2024 haben einige Verlage den Mut, Gedichtbände zu veröffentlichen. Bei den 32 Gedichten von Elena Mpei, 1978 in Köln geboren, in Bonn zur Schule gegangen und verwurzelt, in Athen und auf den griechischen Kykladeninseln zuhause, ist der Nimbus Verlag aus der Schweiz sofort schwach geworden. Und hat ihnen mit einem Ganzleinen-Band und Fadenheftung auch gestalterisch die passende Aufmerksamkeit gewidmet. Die Gedichte der Deutsch-Griechin Mpei umspulen mediterrane Rastlosigkeit, scharte Beobachtung und melancholische Zuneigung, mit sprudelnder sprachlicher Verve, die selbst Gedicht-Phobiker nicht kalt lassen dürfte.

Erinnerst du dich
als wir fünf Uhr Februarmorgens auf dem kalten Schiffsdeck warteten
von oben den verspäteten Passagieren beim Einsteigen zusahen
und uns aus der Distanz taxieren?

Zwischen uns standen:
acht Plastikstühle, vier festgeschraubte Tische, drei Jahrzehnte
und zwei Lebensreisen in entgegengesetzte
politische Himmelsrichtungen

Auf dem Festland
hätten wir nicht miteinander gesprochen
Hier waren wir umschlossen
von fünfzehn Stunden Meer

(Aus: „SEEGEFÄHRTEN“)

Ein kurzes Nippen daran, welche Hassliebe die griechischen Fahren gleichermaßen Wohnzimmer, Taxi und Lebensader den Insulanern entlocken. Und auch die Invasion großer Windkraftanlagen auf den Ägais-Inseln und ein „unverbindlicher Frühling“ in Berlin strahlen eine ungekannte Mischung aus kosmopolitischer Gelassenheit und polyglotter Neugier aus. Form folgt der Funktion, wenn die formschön gedrechselten Zeilen sich übereinander stapeln oder im Fließtext einen Anflug von Eile vermitteln.

Die Plastilin-Sommer mit den galoppierenden Schiffen
und Pappmaché-Pappeln
die Stadt-Land-Flußorakel, die wir
auf gekreppten Schultraumen ausmalten
sommersprossige Einhörner, schwebende Peter Pans
zwischen Segein und imaginierten Sternkoordinaten
buntstiftkandierter Aesop-Fabel
waren unser erstes Zuhause

(Aus: „IN VIVO“)

Mpei hat in München studiert, arbeitete als Redakteurin und Texterin in Südafrika, als Theater-Regieassistentin in Salzburg und Heidelberg und hat einiges von der Welt gesehen. Ihre Neugier, ihr lyrisches Mitgefühl, die Wut nach oben und die Fürsorglichkeit nach unten strahlen aus jeder Zeile dieser kurzweiligen, gelungenen Gedichtsammlung, die kein besseres Datum zur Veröffentlichung hätte erwischen können als genau jetzt.
An ihren Worten können wir uns nicht allzu lange festhalten, nur kurz anlehnen und durchatmen, zu beschäftigt mit eigenen und fremden Problemen. Aber einer wachen Poetin, heimatliebenden Kämpferin und humorvollen Beobachterin zu lauschen, macht den Ärger anderer Leute und das eigene Wohlstandsleiden durchaus ein bisschen erträglicher.

Klaas Tigchelaar, Schnüss, Mai, 2024

Entdeckung auf der Leipziger Buchmesse

Literatur und vor allem Gedichte sind Geschmackssache. Um eine hoffentlich hilfreiche Rezension zu verfassen, habe ich deshalb versucht, meine Begegnung mit diesem Werk zu beschreiben.

Zugegeben, wenn mir jemand vor meinem diesjährigen Besuch der Leipziger Buchmesse gesagt hätte, dass sich unter meinen Messefunden ein Gedichtband befinden würde, hätte ich laut gelacht. Gedichte waren für mich eine Kunstform, die ich im Deutschunterricht analysierte, um mich nicht mit politischen Reden auseinandersetzen zu müssen. Das sich Gedichte seitdem weiter entwickelt haben, sich nicht zwangsläufig reimen müssen, zugänglich sein und so wie Songtexte Assoziationen wecken und eine Inspiration sein können, … Darüber habe ich nicht nachgedacht, weil sie seit der Schulzeit jenseits meines Interesses lagen.
Dann stieß ich auf der Leipziger Buchmesse auf dieses Kleinod. Inmitten überwiegend grauer Bücher erregte die Farbe meine Aufmerksamkeit, der Titel sodann meine Neugier. Um es vorweg zu nehmen, es gibt kein gleichnamiges Gedicht. Der Titel entstammt dem kürzesten Gedicht des Buches „Was bleibt“, welches auch auf der Rückseite abgedruckt ist. Somit obliegt die Interpretation des Titels allein dem Leser.
Aber auch unter den über 30 Gedichten finden sich vielversprechende Titel: „Meine Vielleichts sind nicht einzufangende Kolibris“, „Revolte der morschen Bauten in so-and-so City“ oder „Zuggleise treffen sich zuweilen“.
Ich entschied mich jedoch zuerst für „Forste Dich auf“, weil es wie der Titel eines seichten Selbsthilfe-Ratgebers klang, was mein Vorurteil von vorhersehbaren und damit uninteressanten Gedichten bestätigt hätte. Ich hätte nicht weiter daneben liegen können. Ich fand tiefgründige Gedanken, die in seltene und ungewohnte, aber (und hier fehlt mir das geeignete Wort; eines, dass wie Steampunk oder Jules Vernes Verfilmungen etwas melancholisch-vertrautes, eine romantisierte Industialisierung, eine Emotion von Wärme und Erinnerung ausstrahlt; eines das Charakter und Wiedererkennungswert ausdrückt) Worte.
Rasch entschied ich mich für „Meer & Aloe“ und fand anstelle einer poetisch-kitschigen Landschaftsbeschreibung eine Erzählung über eine Verkäuferin, die bei der Autorin mit ihren Fragen, ihrer Arbeit und ihrem Umgang mit einer tödlichen Krankheit anscheinend einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat.
Den weiteren Gedichten werde ich mich nach und nach in ruhigen Momenten widmen, wenn ich die Zeit habe, mich darauf einzulassen. Ganz so, wie es es bisher überwiegend mit Liedtexten und Werken von Pratchett bis Wilde gemacht habe.

„ancientrainbow“, amazon.de, 27.3.2024

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram 1 & 2

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