Elena Salibra: Gen Norden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Elena Salibra: Gen Norden

Salibra-Gen Norden

EIN NORMALES LEBEN

Und immer blieb da eine Frage für mich offen,
wie verwandelt sich gasförmiger Sauerstoff
in Flüssigkeit, die in die Venen

injiziert wird. Es war ein Vorwand
ohne Grundlage – sagtest du – nur dazu da,
meine unbegründeten Ängste zum Schweigen zu bringen.
Guten Tag, Frau H,
arme Haut zwischen Flüssigkeiten, Stimmungen

arterieller Blutabnahme. Die Geschichte
steht hier in der schillernden Mappe.
Ich fixierte eine Klinge aus Licht
am Himmel da unten und begann von neuem

den Wortwechsel mit dir, der du riskierst,
ein Heiliger zu werden – was nicht der Mühe wert ist –
hüte dich nur vor einem normalen Leben.

 

 

 

Vorwort

Eine ganz besondere Vitalität kennzeichnet die Abschnitte und einzelnen Texte dieses neuen Buchs von Elena Salibra. Eine unverzichtbare Vitalität, die auch angesichts von bedrohlichen Umständen insistiert, selbst dann wenn die Grenze zwischen der Realität der Lebenden und dem Gedanken an ein geheimnisvolles Jenseits schmal, ganz schmal erscheint. Und es ist eine Vitalität, die sich dem Leser sehr deutlich mitteilt, indem die Autorin detailliert Zeugnis ablegt von vielfältigen Geschehnissen und Situationen und dies mit überraschender Sachlichkeit und mit jener Tugend, die letztlich eine der wesentlichen Tugenden der Lyrik ist: auf einfache, natürliche Weise in scheinbar unwichtigen, alltäglichen Gegebenheiten einen tiefen, weiter weisenden Sinn zu erkennen, Gegebenheiten, die nur für den banal sind, der selbst banal ist.
So durchstreift Elena Salibra in ihrer zugleich ausdrucksstarken und sehr eleganten Lyrik völlig unterschiedliche Welten, die entweder sehr poetisch oder allem Anschein nach völlig unpoetisch sind, wie etwa der Dialog zweier Liebender oder die delikate Vielfalt der Speisen, wie das unaufhörliche Wiederauftauchen aus der Erinnerung von Fragmenten und Ereignissen, die sich vor kurzem zugetragen haben oder weit zurückliegen oder wie die ganz einfachen Arbeiten im Haushalt. Und der Ablauf ihrer Gedankenreise, die eben sehr reich an Einzelheiten ist, ist jener einer lyrischen Erzählung, in deren Verlauf weit voneinander entfernte Orte auftauchen und changierende Empfindungen, Träume und Betrachtungen über den prekären Sinn des Daseins, klar gezeichnete Figuren und Personen oder ganz rätselhafte. Rätselhaft, so wie letztlich der Sinn unserer menschlichen Lebensreise es auch ist. Im Verlaufe dieser Reise sucht die Autorin dieses Buchs immer häufiger mit Bestimmtheit „ein Passepartout fürs Jenseits“, obgleich das Dasein, Hier-Sein, mit seiner Vielzahl an physischen und spirituellen Kraftquellen sie im Glauben an das Leben bestärkt, auch wenn dies ein unausgesetztes Oszillieren zwischen dunklen Wassern und neuem Licht bedeutet. Im Übrigen ist das Übel überall anzutreffen, in der äußeren Welt und in unseren persönlichen Geschichten. Und mit dem Übel der Schmerz und die Krankheit, von der Elena Salibra auch zu uns spricht, ohne jegliche Emphase und in einem Rahmen, in dem auch Ärzte und Medikamente auftauchen, in bewegenden Spitals-Versen.
Und in einer extremen Landschaft, einer nordischen Landschaft, die sowohl suggestiv als auch merkwürdig für uns ist, aber auch ein exemplarischer Ort auf Erden und gleichzeitig Metapher für die totale Grenze. Hier versteht Elena Salibra es, ihr lyrisches Zeugnis für uns abzulegen, mit großem Bedacht auf die Form, die sie überzeugend variiert, von den ihr lieben Terzinen bis zu Skansionen und den kleinsten möglichen Verseinheiten wie im Abschnitt „Aus Tabarca“, (Tabarca ist der Name einer Insel in Tunesien), wie beim Karussell wechseln heitere und dunkle Töne einander ab, wobei das häufige Enjambement auch die Funktion hat, die Geradlinigkeit der Gedankenführung wiederholt zu unterbrechen, um sie dann wiederherzustellen. Und dies geschieht in einem feinen, sensiblen, auch psychischen Spiel, zwischen Kompaktheit und immer wieder auftauchenden Rissen, wobei dieses Spiel eine eindrucksvolle Eigenart der Gedichte Gen Norden ist.

Maurizio Cucchi, Vorwort
Übersetzung: Franziska Raimund

 

Nachwort

Im Dezember 2012 schenkte mir ein gemeinsamer Freund, Massimo Bacigalupo, damals noch Professor der Anglistik an der Uni Genua, einen schmalen, zweisprachigen Gedichtband von Elena Salibra La svista / The oversight. Diese erste Begegnung mit Elenas Gedichten war für mich bedeutsam. Ich fand ihre Verse rätselhaft, originell, ansprechend und ganz anders als mir sonst bekannte zeitgenössische italienische Lyrik. Was mich besonders anzog: eine gewisse Lakonie, Sprödigkeit, Vieldeutigkeit und der offensichtliche Versuch, Form und Inhalt überzeugend in Einklang zu bringen.
Und von Anfang an war klar, es handelte sich um „eine Frage von Leben und Tod“. Diese Gedichte wollte ich übersetzen, der Band trägt den Titel Das versehen:
Elena und ich korrespondierten miteinander, wir wollten einander kennenlernen. Im Mai 2013 verbrachte ich einige Tage bei Elena in Pisa. Sie war bereits schwer krank, unterrichtete aber weiterhin an der Universität. („Die Studenten wissen nichts.“) Im Dezember 2013 beendete ich die Übersetzung eines weiteren Gedichtbands (Il martirio di Ortigia / Das Martyrium von Ortigia). Elena freute sich, („Die Übersetzung ist ein kostbares Weihnachtsgeschenk, sie bedeutet mir sehr viel. Du hast gut erfasst, dass es hinter jedem Gedicht ein Geheimnis gibt. Aus dem Geheimnis erwächst die Vieldeutigkeit, die jedem lyrischen Ausdruck zueigen ist.“)
Elena behandelte alles, Menschen, Tiere, Dinge und sogar die Krankheit mit der größten Diskretion, mit bewundernswerter Würde und unerschütterlichem Respekt. Sie liebte das Leben in all seinen Schattierungen, aber vor allem liebte sie die Lyrik. („Der Stuhl vor meinem Schreibtisch ist der einzige, auf dem ich bequem sitze.“)
Zwischen uns wuchs die Sympathie, das gegenseitige Verständnis, die Wertschätzung. Sie nannte mich ihre „quasi gemella“ (beinahe eine Zwillingsschwester), wir wurden beide an einem 10. August geboren.
Mein Mann, Hans Raimund, und ich verbrachten 2014 eine unvergessliche Karwoche im Elternhaus Elenas in Syrakus. Sie hatte uns dorthin eingeladen.
Im Juli 2014 erscheint meine Übersetzung des Gedichts Per un congedo breve / Für einen kurzen Abschied als bibliophile Ausgabe in der Reihe „Edizioni dell’Angelo“.
Alle drei Monate begibt sich Elena zur Behandlung ihrer Krankheit nach Uppsala in Schweden. Sie liebt den Norden. Im Norden glaubt sie, ihren persönlichen „Übergang“ entdeckt zu haben. Dort erlebt sie Überraschungen, Verzögerungen, schließt Freundschaften, erfährt aber auch Bestürzung und Erschütterungen.
Meine Übersetzung des letzten Gedichtbandes Nordiche sollte ein Weihnachtsgeschenk für Elena sein.
Elena stirbt am 4. Dezember 2014 in Pisa.
Ich betrauere die tote Freundin, die tote Dichterin.
Es hat viele Jahre gedauert, doch nun habe ich mein Versprechen eingelöst: Nordiche / Gen Norden erscheint – endlich.

Franziska Raimund, Nachwort

 

 

Rezension

Elena Salibra wurde 1949 in Catania geboren. Sie war Literaturwissenschaftlerin an der Universität Pisa. Ihre fünf Lyrikbände wurden in mehrere Sprachen übersetzt. 2014 ist sie nach schwerer Krankheit gestorben. Franziska Raimund, die sie persönlich kennenlernte, fand die Dichtung Salibras erstaunlich anders als die zeitgenössische italienische Lyrik; sie widmete sich den Übersetzungen mit intensivem Interesse und Wertschätzung für die Persönlichkeit der Autorin.
Überraschend ist die Sachlichkeit dieser Gedichte, die oft in Terzinen geschrieben sind. Und überrascht ist man auch immer wieder, wenn die Themen innerhalb der Texte spontan wechseln, wenn „mit einem geheimnisvollen Sprung von einem Bereich des Gehirns zu anderen“ (mit Mohnsamen, S. 39) gewechselt wird. Nicht alles können wir verstehen. Über das Geheimnis in den Gedichten zitiert Franziska Raimund im Nachwort aus einem Brief der Autorin:

… weil es hinter jedem Gedicht ein Geheimnis gibt. Aus dem Geheimnis erwächst die Vieldeutigkeit, die jedem lyrischen Ausdruck zueigen ist.

Alltägliches wird in klarer Sprache geschildert, beschrieben, erzählt, aus unmittelbarer Beobachtung, von der „Rezeptsammlung“ am Beginn des Bandes bis zu den „Spitalskleinigkeiten“. Es gibt kaum ein Thema, das nicht in diese Lyrik Eingang findet. Die erzählfreudigen Gedichte sind gleichzeitig sehr zurückhaltend und sparsam, was das Persönliche betrifft. Dennoch fühlen wir das Bedrohliche, die Nähe des Todes von Anfang an. Die Sachlichkeit Salibras ist elegant, nur scheinbar kühl, tatsächlich voll Vitalität und Aufrichtigkeit wie für sie der Norden. Der Norden ist für diese in Sizilien geborene und aufgewachsene Dichterin anziehend wie eine Art „erstgeborenes Land“ (Bachmann).

Eine Nacht intensiven Lichts erhellt
die Stadt im Norden, in der ich ausruhen
möchte, aber wir müssen fast augenblicklich

wieder weg nach einem
– wie es scheint – entscheidendem Termin

Aus „In Uppsala“, wo Elena Salibra ihre Krankheit behandeln ließ:

… die Helligkeit des Eises leuchtet auf den Stiefelspitzen. Tag zwei

bricht gleichsam aus Gewohnheit an,
verlöscht aber sofort. Du entzündest
ein schwedisches Streichholz, schaust auf

das Zifferblatt und reibst dir
die Augen. Es ist noch Zeit …

Nüchterne Zeilen voller Beklemmung.
Bei der ersten Begegnung erscheinen Elena Salibras Gedichte spröde und fremd. Doch beim wiederholten Lesen werden aus den zweidimensionalen Zeilen lebendige, körperliche, unmittelbare Szenen, kleine Dramen, die berühren und ergreifen.

Elisabeth Schawerda, Österreichischer Schriftsteller/innenverband Austrian Writers Association, 2024

 

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin + Instagram
Fakten und Vermutungen zur Autorin

 

Elena Salibra im Interview anlässlich des Kunstfestivals 2011 auf dem Polo Porta Nuova in Pisa.

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