– Zu Günter Eichs Gedicht „Herrenchiemsee“ aus Günter Eich: Botschaften des Regens. –
GÜNTER EICH
Herrenchiemsee
All ihr herbstlich Fliegenden
Vogelwind, Vogelblätter –
Weinlese ist gehalten,
in den Bergen fällt Schnee.
Ludwig wollte nicht, daß man ihn essen sah.
Zu unsichtbaren Kerkern gerinnt der Föhn,
wie leicht aber erklärte sich alles
aus den Wirbeln des fallenden Eschenblatts!
Vom Wald her beginnt der Regen,
der zur Tafel des Königs kommt,
vom Rohr her die Glocke der weidenden Kühe,
daß er die Ohren mit Wachs verstopft.
Hinter den Schlüssellöchern lachen die Diener.
All ihr herbstlich Fliegenden,
schwarze Blätter zur Dämmerung,
wenn die ersten Fenster hell werden
mit verzweifeltem Licht,
wenn ich mein Kind lachen höre
und die Augen hinter den Händen verberge.
Alles hat es darauf angelegt, daß man den Verstand verliert. Es fängt an mit dem Verlust des Sommers, ein sich einschleichender Verlust. Wie genau wir das kennen. Herbst hängt die Blätter ab, öffnet den Vogelpferch, daß sie entfliehen dorthin, wo Süden ist. Noch ein paar säuberlich kreiselnde Schleifen über der Landschaft, von der wir ein Teil sind. Wie sichtbar gewordener Wind, der im Begriff ist, eine härtere Flugart einzuschlagen. Die Drohung liegt, bereits wahrgemacht, unschuldsweiß in den Bergen. Nun aber unterbricht sich der Autor und verweist auf einen hoffnungslosen Fall. Ein Bild, das den Wahnsinn anzeigt.
Wer aber ertrüge auch in solchen Abschiedszeiten das Dröhnen der Glocken, das Lachen der Diener, sich selbst. Die Türen müssen verschlossen sein, wer weiß denn schon, was da kommen mag. Doch nicht gar so fürchterlich verschlossen dürfen die Türen sein wie im Schloß des Königs Stanislaw zu Nancy. Nein, der Fall hier liegt anders, doch nicht allzu anders. Ludwig braucht keine Erklärungen, er weiß ja, hat durch die Gitterstäbe hindurch nicht nur die fallenden Eschenblätter gezählt, auch die Wirbel eines jeden einzelnen, bevor es zu dieser sanften Art der Landung ansetzt, ein Blatt über dem anderen, bis der Wald durchschaubar geworden ist.
Der Autor kann zwar allwissend mit Ludwig umgehen, hat auch einiges über ihn gelesen, ebendies, er wolle nicht, daß man ihn essen sieht. Übrigens, seitdem ich das Gedicht „Herrenchiemsee“ zum erstenmal gelesen habe, das sind vierzig Jahre her, habe ich immer wieder meine Bedenken, wenn ich, wo es auch sei, Leute essen sehe. Das Öffnen, das Schließen des Mundes, die Bewegungen der Mundwinkel, der Kiefer, feierlich oder faul bei jenen, die sich satt an den Tisch setzen; hungrig und hastig bei denen, die wissen, daß sie auch diesmal nicht satt werden. Und dieses angestrengte Schlucken, so angestrengt, daß sich auch die obere Gesichtshälfte panisch verzieht. Er hatte recht, dieser König: Essen ist ein indiskreter Vorgang.
Wo aber, so frage ich mich erschrocken, bliebe dann das fröhliche Speisen unter Sommerbäumen im grünen Gras am langen hölzernen Tisch, wo blieben die Gläser, die rotgefüllten Karaffen, die Teller und Terrinen, die unwiderstehlichen leinenen Servietten, diese köstlich duftende Erfindung des Brotes mit der berstenden Kruste. Der Autor aber will es anders. Er hat das äußere und innere Bild des traurig endenden Dramas entworfen, hat sich einbezogen, ein Kumpan des Königs, eine Heilung steht nicht an, machtlos sind Licht und das Lachen des Kindes.
Das Gedicht ist dem 1955 erstmals erschienenen Band Botschaften des Regens entnommen. Diese Angabe ist nicht bibliographisch zu verstehen. Die Verbreitung von Botschaften gilt nicht nur dem gleichnamigen Gedicht, nicht nur für „Herrenchiemsee“. In dem Buch geht die Mahnung um, zu hören und zu sehen. Gleich auf der dem Gedicht „Herrenchiemsee“ gegenüberliegenden Buchseite entfalten sich (auch hier) Vogelzüge, der Autor versteht sie zu lesen, „das Gerüst des trigonometrischen Punkts“, sagt er, vorstellbares Dreieck, und mit ihm fliegt die „güldene Heiterkeit“ davon, spurlos. Also ist zu Recht vom „Schilf der Verzweiflung“ zu lesen, vom „Beginn der Einsamkeit“. Er hat das Auge erkannt, „das man ein zweites Mal nicht ertrüge“.
Eine klaustrophobische Jahreszeit, ein ebensolches Gedicht, ein Buch, ein König, und einer, der ihn dennoch sieht. Günter Eich starb 1972, fünfundsechzigjährig. Er hat die schönsten und gefahrvollsten Träume dieses Jahrhunderts geträumt – wissen wir’s noch?
Elisabeth Borchers, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996
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