– Zu Jesse Thoors Gedicht „Adventrede“ aus Jesse Thoor: Gedichte. –
JESSE THOOR
Adventrede
Und die Bewegtheit des Herrn ist ohne Groll und von großer Dauer.
Und seine Gerechtigkeit hört nicht auf, und seine Güte bleibt ewig.
Und darum entfernen wir gern die Bitterkeit, wie ein enges Gewand.
Und die Trauer legen wir ab, wie einen Mantel im Frühling.
Und mit viel Sorgfalt nehmen wir die Einsamkeit von unserer Stirn.
Und wir weisen unsere Aufmerksamkeit hin zu den einfachen Dingen.
Und wir verlassen uns auf das Dach, das keinen Regen durchläßt.
Und wir vertrauen dem Stuhl, der fest steht, und der uns trägt.
Und es kommen wieder zu uns die täglichen Wiesen und die Sonntage.
Und die Salamander mit den seidenen Strümpfen und goldenen Hemden.
Und auch die Lämmer und die Zicklein… meine gnädigen Freunde.
Und die Lieder der Hirten… und die Gebete der erwachenden Frauen.
Und es brechen die Tore auf… und es treten hervor die Erkennbaren.
Und sie stehen makellos da… und sie breiten ihre Flügel aus.
Es ist nicht das erste und einzige Gedicht, das Jesse Thoor mit einem Und beginnen läßt (mit Und beginnen zum Beispiel auch die „Rufe für den kranken Nachbarn“, die „Rede von der Anschauung“). Dieser Und-Beginn hat nichts – man könnte den Verdacht schöpfen – Modernistisches, er ist folgerichtig. Wie beim Seilchenspringen springt man in eine Litanei hinein, die nicht erst gestern, sondern vor Jahrhunderten begonnen hat, damals, als der Welt ein Licht aufging, das besagt: die Bewegtheit des Herrn sei ohne Groll. Dieses Und, mitsamt seiner Ansammlung von Stichworten (Dauer, Gerechtigkeit, Güte) ist ein zunächst schnelles, erinnerndes Resümee, um dann zu einem anderen Wesentlichen zu kommen: Wie denn unsereins, die wir nicht von Dauer sind, auf so viel Dauer reagiert.
Sehr viel traut uns Jesse Thoor nicht zu. Er weiß zwar, daß wir mit den Begriffen Bitterkeit, Trauer, Einsamkeit handfest umgehen – Phänomene, die er im Laufe seines Lebens gründlich zu studieren hatte –, er weiß aber nicht, ob wir wissen, was diese Begriffe bewirken. Also übersetzt er ins Anschauliche: Bitterkeit sei wie ein enges Gewand. Ein enges Gewand ist unerträglich, es ist nicht nach Maß gemacht, es schnürt ein. Warum also ein enges Gewand tragen, wenn es sich entfernen läßt? Einfach nur entfernen. Wie auch den Mantel, wenn es allenthalben Frühling wird. Wer wird im Frühling einen Mantel tragen wollen, der schwer, der niederdrückend ist? Es braucht nicht viel; wir legen ihn ab.
Und mit einem Mal wissen wir, woher dieser dumpfe Kopfschmerz kommt, dieser Reif um die Stirn, um den Schädel, das war die Einsamkeit; wir nehmen sie jetzt ab. Weil sie uns ein kostbarer Schmerz war, tun wir es mit Sorgfalt. Und wir werden entlohnt: Plötzlich werden wir uns der Haltbarkeit des Stuhls bewußt, ohne den wir, bedenkt man es genau, nicht zur Ruhe kämen. Und wir sehen das Haus mit dem Dach, das uns ernst nimmt in unserer Sucht nach Schutz, nach Geborgenheit. Und aus Tagen werden Sonntage, mit Wiesen, Feuersalamandern und, wie in den allerschönsten Friedenszeiten unserer Kindheit, mit Lämmlein und Zicklein. Nicht genug, Jesse Thoor erhöht das Glück der Befreiung, er nimmt Lieder und Gebete mit hinein und die Engel, die auf Weihnachten zu erkennbar werden. So einfach ist das.
Jesse Thoors „fromme Utopie“ muß wohl das Fazit eines Lebens sein, das alles andere als ein glückseliges war, vielmehr alles besaß, was man sich nicht wünscht: Armut und Elend, Furcht und Händel, Krankheit und Kränkung; er emigrierte, er wurde denunziert und interniert und deklassiert. Somatisch soll er Paracelsus ähnlich gewesen sein, dieser des Staunens fähige Bruder des Franz von Assisi. Ein Mystiker war er, ein Tischler, ein Goldschmied und vieles andere mehr.
Er, dem der Zufall Berlin als Geburtsort beschert hat (es war 1905), kehrte gerade noch rechtzeitig nach Österreich zurück; dann starb er am 15. August 1952. „Ist es so auf Erden?“, heißt ein spätes Gedicht; und es endet:
Was soll nun werden? Werde nach Hause wandern, und barfuß ankommen.
Es bedurfte wohl eines maßlosen Unterwegsseins, um so erwartungsvoll, wie Jesse Thoor es tat, in den Advent hineinzureden.
Elisabeth Borchers, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991
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