– Zu Hilde Domins Gedicht „Bitte“ aus Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. –
HILDE DOMIN
Bitte
Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,
wir werden durchnäßt
bis auf die Herzhaut.
Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht,
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht.
Es taugt die Bitte,
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Daß die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
daß noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden.
Und daß wir aus der Flut,
daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.
Wo sind wir? Wir sehen in die Zukunft. Die Prüfungen liegen noch vor uns. Wir werden eingetaucht, durchnäßt, wir werden in die Löwengrube gestoßen werden, in den feurigen Ofen. So weit sieht das Gedicht in die Zukunft, daß die Dichterin selbst es nicht erkannte. Wahrscheinlich hielt sie es für einen Blick in die Vergangenheit, kein Wunder bei einer Vergangenheit, die erst wenige Jahre hinter ihr lag, als dieses Gedicht entstand, wahrscheinlich 1957 in Spanien in der „VERDAD“ bei Malaga. Im April 1959 erschien es im Hochland. In ihre erste Gedichtsammlung im Herbst 1959 Nur eine Rose als Stütze schloß sie es nicht ein und in keine der folgenden, bis es endlich in die Gesammelten Gedichte zu ihrem 75. Geburtstag 1987 von ihr aufgenommen wurde. Da war diese Zukunft schon so nahe herangerückt, daß sie es plötzlich erkannte und als Weihnachtskarte 1990 verschickte und erschrocken handschriftlich hinzusetzte:
Wie entsetzlich aktuell…
Die Katastrophen sind nicht vorbei, wie so viele denken. Gerade darum muß man dieses Gedicht jetzt auswendig lernen, um es immer bei sich zu führen und sich aufsagen zu können, wenn man Hilfe braucht.
Die erste Strophe enthält die Weissagung: Wir werden, wir werden… wir werden eingetaucht, gewaschen, durchnäßt bis auf die Herzhaut. Wir werden überwältigt von der Katastrophe. Die passive Form legt sich über uns, wir müssen es erleiden. Was soll man tun, wie verhält man sich? Die Dichterin antwortet aus der Erfahrung eines Leidensweges durch unser Jahrhundert. Die zweite und dritte Strophe sprechen von Wünschen und von Bitten. Streng ist der Tonfall. Wir werden belehrt. Aber selbst im Strengen noch anmutig, poetisch:
Der Wunsch nach der Landschaft diesseits der Tränengrenze taugt nicht…
Die Bequemlichkeit, die Feigheit, der Opportunismus, das Mitmachen, die Gleichgültigkeit, die Hoffnung, verschont zu bleiben – sie werden gegeißelt, mitten im Poetischen. Der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten, sich der Katastrophe zu verweigern, wird verworfen. Aber noch mehr: er taugt auch nicht. Auf diesem Weg findet man keine Hilfe.
Die dritte Strophe sagt: Man muß bitten. Vor unserem inneren Auge steigt auf das Bild der Arche Noah. Sie wird nicht benannt, aber wir selbst stehen auf der Arche Noah und sehen bei Sonnenaufgang die Taube, die den Zweig vom Ölbaum bringt. Wie werden wir diese Zukunft erleben? So stark, daß die Frucht so bunt wie die Blüte ist, die wir fahrenlassen mußten mit dem Blütenfrühling? Werden wir erleben, daß noch die Blätter der Rose am Boden eine leuchtende Krone bilden, ein Zeichen des Sieges, des Triumphes?
Die vierte Strophe führt uns zum zweiten Mal durch die Erfahrung der „weißen schwärze“ (Stefan George, zitiert in einem Aufsatz von Ulla Hahn über Hilde Domin). Noch einmal die Prüfungen in der Sprache des Alten Testaments. Wir erkennen, daß die Bitte ein Gebet ist, ein Gebet in der Löwengrube, im feurigen Ofen. Ein Gebet um Gnade; denn auch wenn wir versuchen, alle Prüfungen zu bestehen, tapfer zu sein, das Training in Wahrhaftigkeit auf uns nehmen, die Meinung der Dichterin bedenken: „Der Mensch muß solidarisch sein mit seinem Schicksal“ – so ist es ja keineswegs ausgemacht, daß auch für uns gilt: versehrter werden – heiler werden. Es ist eine Hoffnung, aber die einzige, die es gibt: stets von neuem zu uns selbst entlassen zu werden.
Elisabeth Noelle-Neumann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993
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