DIE KÜCHE
Der erste Satz ist: die Ente schwimmt auf dem Teich.
Der zweite Satz ist: die Ente brät in der Pfanne.
Der dritte Satz ist: die Schafgarbe wächst die Wege
entlang.
Der vierte Satz ist: mein zweijähriger Sohn trinkt
am Küchenschrank Schafgarbentee.
Den Zusammenhang des ersten und dritten Satzes
nenne ich: draußen.
Den Zusammenhang des zweiten und vierten: die
Küche
Gasflamme, Ente und Bratfett hängen Gerüche
in die vom Architekten der Ausbeuter eng gestaltete
Küche.
Den gedachten Dingen wohnt inne ein Streben,
als wollten sie miteinander leben.
Berlin-Mitte, Rheinsberger Str. Nr…., Hth., links.
Traumprosa, Kopflangereien aus der DDR. Sie handeln von den Gleichgewichtsstörungen in der Welt, den größeren Absichten in den kleineren Sachen. In ihnen kommen Leute vor, die den Ernst des Spiels nicht für Spiel halten und rufen „Nicht!“.
Verlag Klaus Wagenbach, Klappentext, 1976
Unter dem Titel Gutachten erschien 1975 in der DDR ein erster Band mit Lyrik und Prosa von Elke Erb, die, 1938 in der Eifel geboren, seit 1949 in der DDR lebt. Im Titeltext dieses Buches heißt es von gewissen Schriftstellern:
Wissen sie nicht, daß man im literarischen Handel nur mit selbstgeprägten Münzen zu Reichtum kommt und alles andere Falschgeld ist?
Das ist eine Maxime, die vor allem den verpflichtet, der sie formulierte. Daß Elke Erb bestrebt ist, dem selbstgesetzten hohen Anspruch gerecht zu werden, kann der westliche Leser nun anhand des Bändchens Einer schreit: Nicht! überprüfen. Der Band folgt der in der DDR erschienenen Ausgabe Gutachten und erweitert sie um neuentstandene Texte. Selbstgeprägte Münzen – das heißt für Elke Erb, daß sie das als Material ansieht, was ihr Alltag und unmittelbare Umwelt zutragen. Ihre Texte haben die Form von Tagebuchnotizen, Beobachtungen, Träumen. Nichts, das schon vom Stoff her exorbitant wäre. Das Prosastück „Unterholz“ etwa berichtet von einem Spaziergang im Wald von Pankow, „welcher im nackten Winter überall Bilder der finsteren Wirrnis zeigt“. Ein solcher Relativsatz genügt, um alles Kommende in einen symbolischen Zusammenhang zu rücken.
Kinder werden gezeigt, die Krieg spielen, immer ein Schütze und ein Opfer. Doch von dem fünften, dem überzähligen Jungen, heißt es, daß er „quer durch den Wald zu ihnen hinrannte und schrie: ,Nicht!‘“. Jede weitere Begründung oder Motivation versagt sich die Autorin, sie setzt den dringlichen Schrei an den Schluß, als könne in einer Welt verketteter Aggressionen ein einzelner den fatalen Zirkel unterbrechen. Der Text meint den Zustand der Welt und ihre finstere Wirrnis überhaupt.
Anders als in Kunzes Wunderbaren Jahren sind die aktuellen Bezüge sekundär. Daß es in der DDR kriegsspielende Kinder gibt, muß nicht besonders pointiert werden. Elke Erbs Engagement ist primär sprachlicher Natur. Das macht ihre Texte eigentümlich reell. Selbst Beiläufiges gewinnt durch die Sorgfalt der Fügung Gewicht und Bedeutung. Wer etwa Fühmanns Schilderung eines Dampfbades aus seinem ungarischen Tagebuch im Gedächtnis hat, wird Elke Erbs „Römisch-irisches Bad“ als Transposition des Themas ins strengere Medium des Prosagedichts mit besonderem Interesse lesen.
Die Kadenzen dieser Prosa sind bis auf die Silbe kalkuliert, zu genau, zu kunstvoll fast:
Das über den grünen Kacheln des Beckens wabernde kalte Wasser, Nummer zwei in verdorbener Reih, erlöste den im Nebel dumm gewordenen bloßen Körper von seiner Dummheit: die Person wird nachher gehn, geheilt, erhoben, geblümt; im kalten Wasser aufgeblüht.
Den Nachsatz möchte man aufgreifen.
Die Prosagedichte der Elke Erb sind Dinge, an denen lange gekünstelt wurde. Nicht alle wurden dabei zum Schluß natürlich.
Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.3.1977
Peter von Becker: Lyrische Prosa aus der DDR
Süddeutsche Zeitung, 9.10.1976
Thomas Rothschild: Es gibt keine private Privatheit
Frankfurter Rundschau, 24./25.12.1976
Harald Hartung: Im kalten Wasser aufgeblüht
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.3.1977
Norbert Schachtsiek-Freitag: Kopflangereien
Deutschland Archiv, Heft 5, 1977
Jürgen Beckelmann: Skepsis, Wehmut und Schmerz
Nürnberger Nachrichten, 29.7.1977
Gisela Huwe: Prosa und Lyrik der Schriftstellerin Elke Erb. Sprache voller Rätsel und Geheimnisse
Die Welt, 19.5.1980
1980 bis 1984: Apokalyptik und Verweigerung
Elke Erb (*1938) war mit elf Jahren aus der Eifel in die eben gegründete DDR gekommen. Es folgte ein Musterlebenslauf: Studium (frei von sinnlicher Begabung), freiwilliger Einsatz im FDJ-Objekt Wische (s. V. Braun!), Verlagsredakteurin, freischaffende Schriftstellerin, Ehe mit A. Endler. 1968 kam sie in Jentzschs Auswahl, u.a. mit „Das Flachland vor Leipzig“:
Ich war mal in Tüschen, dort sah
mich still eine Gans an, die in Reihe ging, weiß…
Links, sah mich an, links, und ihr wißt, das Auge
ist starr…1
Das waren für 1968, mitten im Ideologiegefecht gegen den Bazillus von Prag, ungenable und ungehörige Töne. Sie hatten nichts vom protegierten marxistischen Positivismus. Auch ihre demonstrative Prosa war voller Trotz und las sich direkt wie ein Klartext. Im gleichen Jahr gehörte sie zu den 17 Autoren der ideologisch verrissenen Saison für Lyrik. In die Anthologie Lyrik der DDR (1972) wurde sie gar nicht mehr aufgenommen. Erst 1975 ihr erster Gedichtband: Gutachten, zu dem S. Kirsch in einem Nachsatz umständlich vermerkte:
Ich kann dieses Buch den Lesern nur empfehlen und ihnen versichern, daß sie eines erworben haben, das berühmt werden wird.2
Und im Band selbst „Acht Träume vom Sommer und Herbst des Jahres 1968“. Noch immer ging es E. Erb um das gescheiterte Prager Experiment. Doch sie erzählte scheinbar unbekümmert Traumhaft-Narratives, das sich jedoch rasch als hintersinniges Parabol erwies.
Im Biermann-Jahr 1976 – sie hatte gemeinsam mit A. Endler in einem Brief an den Kulturminister Hoffmann gegen Biermanns Ausbürgerung protestiert – dann ihr zweiter Band: in Westberlin (einer schreit: nicht). Noch war sie in Phantasie und Gestus einer S. Kirsch nah, doch in der lyrischen Kurzprosa kündigte sich bereits jene flächige Struktur an, mit der sie fortan weiterexperimentierte. Man bescheinigte ihr „drüben“ Phantasie und Sensibilität, doch begriff man ihre Codierungen nur als subjektive Verliebtheit in Verschlüsselungen. Dabei war das der Anfang einer trutzigen Gegen-Sprache gegen den sozialistischen Korruptionsrealismus. Später – radikaler geworden – fand sie selbst diese Texte noch kindisch, weil noch zu sehr dem Leser geschuldet. Im Faden der Geduld hatte sie dann alle diesbezügliche Rücksicht aufgegeben, und fortan lieferte sie Roh- und Materialtexte in formelhafter Verkürzung, ungefällig, kaum noch durchschaubar. Sie wollte das Dich, dich, dich, dich… behaupten,… sterblich mit einem Wort.3 Nicht länger wollte sie folgen, glauben, verführbar sein, und sie schwor ab allen Dogmenverheißungen. Arglos angreifen, kompromißlos eigensinnig sein, ein unbefangenes Risiko – und dann schrieb sie los:
MEINE LETTERATUR
Ach, Abraham-Aach, Ammenbrust-B,
Oh lala! C-Dur-C, Dehnungs-D, edles E
Und eifaules Fund, eia, Gag-G…
Und Volksmund-V und mein Herzweh-W, dann das Ex-X,
Xylophon-V und Zyklop-Y vor des Zwergs Z…
Wer, Menschenskinder, geht hin
Und schlägt euch aus dem Sinn?4
Ein Sprachding, scheinbar spontan Bewußtes und Unterbewußtes vermengend, auch ein bißchen ein Wahnsinnstext, ein bißchen Dada-Dalberei und ein bißchen Non-Sense, aber mit Trotz im Spiel. Affekte ja, Emotionen nein. Die meisten Texte ohne Hoffnungsschimmer. Ich brauche keine Hoffnung. Rigorismus um jeden Preis, um der gestanzten Sprache des politischen Alltags Irritation entgegenzusetzen: Konterpropaganda.
1980 bekam sie Kontakt zur Prenzlauer-Berg-Szene, und sie begann sie anzuheizen: voller Wut über das land,… das sich seine Dichter verschweigt, und sie ermunterte, förderte, beriet die Autoren, die das System einfach nicht mehr akzeptieren konnten, nicht seine Gebote und Verbote, nicht die von ihm reglementierte Realität, nicht… seine falsche Sprache.
Da war sie selbst schon ganz bei der konkreten Poesie angekommen, bei H. Arp, H. Heißenbüttel und F. Mon, die sie durchspielte und auf ihr genehme Weise weiterführte. Prozessuales Schreiben nannte sie es, und voraussetzungslos naiv setzte sie ihre Wortfelder hin, aber immer Provokation im Hinterkopf. Vexier-Bilder, Verrätselungen voller Abersinn und Quersinn und Gegensinn und Widersinn und Freisinn, auch mit einem Schuß Wahn-Sinn.
Der Tor mit seiner Mutter ist im Wald. Sie wird ihr
Haar flechten. Die glänzenden Reiter kommen. Ver
lust des Sohnes. Wo wir uns halten wie jeder Stamm
seine Äste – verweslich vor und zurück der Ellenbogen
winkel, des Gebeins Haarsonne strählend: der herange
rittene Schmerz glänzt von geraubtem Licht, schnaubt
vor Kindlichkeit. Das Haar wird in Zöpfe geflochten.
Mit der Zeit wird es grau. Wo ist die Mutter? Sie trägt
es als Kranz um den Kopf.5
Es folgte die Produktion auf dem Blatt verteilter Wort-&-Sinn-Gruppen; den linearen Textchen, den Resultat-Texten, sagte sie endgültig ade; sie ging in die Opposition gegen den Anspruch auf Zusammenhang und verlegte sich streitwütig und schrill… die staatsamtliche Anmaßung sprengend, auf Winkelzüge. Die Texte wurden zu Grafiken, zu Wort-Verbunden, zu Dar-Stellungen, zu Er-Örterungen. Orte überschreiten. Ihre Devise:
Grenzen leben ist offen leben!
Mit ihr war die DDR-Lyrik vollends ins Freie getreten, in ein nunmehr geöffnetes und sich weiter öffnendes Feld.
1988 erhielt sie ausgerechnet den westdeutschen Peter-Huchel-Preis, von dessen konventioneller Poetik sie sich inzwischen weitweit entfernt hatte. 1990 dann den Heinrich-Mann-Preis der Ost-Akademie der Künste, gewiß auch ihrem Eintreten für die Flip-out-Lyriker des Prenzelbergs geschuldet.
(…)
Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995
Gerhard Wolf: Die selbsterlittene Geschichte mit dem Lob. Laudatio für Elke Erb und Adolf Endler zum Heinrich-Mann-Preis 1990.
Elke Erbs Dankesrede zur Verleihung des Roswitha-Preises 2012.
Im Juni 1997 trafen sich in der Literaturwerkstatt Berlin zwei der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Elke Erb und Friederike Mayröcker.
Klassiker der Gegenwartslyrik: Elke Erb liest und diskutiert am 19.11.2013 in der literaturWERKstatt berlin mit Steffen Popp.
Lesung von Elke Erb zur Buchmesse 2014
ELKE ERB
im zittergebirge
im haus daneben
schaut einer aus
dem fenster.
Spielt zitter
im zitterwaldtal
mutter bäckt den
kuchen hoffnungsfroh
und ohne rotkäppchen
bleibt die szene ländlich
keiner wird sich
blamieren
einen wolfsexperten
gar antelefonieren
Peter Wawerzinek
Gedichtverdachte: Zum Werk Elke Erbs. Im Rahmen der Ausstellungseröffnung In den Vordergrund sprechen Hendrik Jackson, Steffen Popp, Monika Rinck und Saskia Warzecha über Elke Erbs Werk.
Franz Hofner: Hinter der Scheibe. Notizen zu Elke Erb
Elke Erb: Die irdische Seele (Ein schriftlich geführtes Interview)
Elke Erbs Dankesrede zur Verleihung des Roswitha-Preises 2012.
Im Juni 1997 trafen sich in der Literaturwerkstatt Berlin zwei der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Elke Erb und Friederike Mayröcker.
Klassiker der Gegenwartslyrik: Elke Erb liest und diskutiert am 19.11.2013 in der literaturWERKstatt berlin mit Steffen Popp.
Lesung von Elke Erb zur Buchmesse 2014
Steffen Popp: Elke Erb zum Siebzigsten Geburtstag
literaturkritik.de
Waltraud Schwab: Mit den Gedanken fliegen
taz, 10.2.2018
Olga Martynova: Kastanienallee 30, nachmittags halb fünf
Süddeutsche Zeitung, 15.2.2018
Michael Braun: Da kamen Kram-Gedanken
Badische Zeitung, 17.2.2018
Michael Braun: Die Königin des poetischen Eigensinns
Die Zeit, 18.2.2018
Karin Großmann: Und ich sitze und halte still
Sächsische Zeitung, 17.2.2018
Christian Eger: Dichterin aus Halle – Wie Literatur und Sprache Lebensimpulse für Elke Erb wurden
Mitteldeutsche Zeitung, 17.2.2018
Ilma Rakusa: Mensch sein, im Wort sein
Neue Zürcher Zeitung, 18.2.2018
Oleg Jurjew: Elke Erb: Bis die Sprache ihr Okay gibt
Die Furche, 8.3.2018
Annett Gröschner: Gebt Elke Erb endlich den Georg-Büchner-Preis!
piqd.de, 27.6.2017
Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2020 an Elke Erb am 31.10.2020 im Staatstheater Darmstadt.
Im Universum von Elke Erb. Beitrag aus dem JUNIVERS-Kollektiv für die Gedenkmatinée in der Volksbühne am 25.2.2024 mit: Verica Tričković, Carmen Gómez García, Shane Anderson, Riikka Johanna Uhlig, Gonzalo Vélez, Dong Li, Namita Khare, Nicholas Grindell, Shane Anderson, Aurélie Maurin, Bela Chekurishvili, Iryna Herasimovich, Brane Čop, Douglas Pompeu. Film/Schnitt: Christian Filips
Zur Erinnerung an Elke Erb und Helga Paris. Lesung mit Steffen Popp, Brigitte Struzyk, Joachim Hildebrandt und Peter Wawerzinek am 6.7.2024 im Salon von Ekke Maaß, Berlin. Martin Schmidt: Improvisationen am Klavier
Elke Erb liest auf dem XVII. International Poetry Festival von Medellín 2007.
Elke Erb liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.
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