Elke Erb: Nachts, halb zwei, zu Hause

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Elke Erb: Nachts, halb zwei, zu Hause

Erb-Nachts, halb zwei, zu Hause

UM IHREN ATEM RINGT SIE

Um ihren Atem ringt sie und ums Tageslicht.
Das ist ein Glück! wenn abgebrochene Äste
zurück zum Baum sich noch schwingen an die
aaaaaBruchstellen,
wie alten Mund auf Zellen setzend ihre Zellen,
schön blühn, des Blutbaums Äste. Dies zu sehen,
ringt sie um Atem.

 

 

 

Nachwort

Langer Brief im Mantel am Küchentisch nach dem täglichen Fischzug

Liebe Elke,
vor mir liegt eine Emaille-Schaufel, eben gekauft, Eifel-Grau-Braun mit eingetroffenen Hagelkörnern. Die Schaufel selbst.
Sie hat einen Schwung in die Tiefe, eine Kerbe im Rücken, die zu einer Mulde im Stiel ausläuft. Der Stiel hat am Rücken eine Naht – Nath wollte ich schreiben, so sieht sie aus. Sie endet in einem Oval, das auf die Spitze getrieben ist. Ich sehe durch die Öffnung in der Vorderseite des Zylinderstiels ein kreisrundes Loch – dieses Ende ist von einer Schönheit! Du kennst doch diese Tropfen aus der Urmasse, von Hans Arp, die einem das Herz höher schlagen lassen … Und auf dem Rhein fahren die Ausflugsdampfer auf und ab – ich weiß nicht, was soll es bedeuten; schließlich steht im Zentrum dieser Dichtung auch ein Kamm.
Die Schaufel vom Stielende her gesehen: sie liegt auf dem hohlen Bauch, dieser Hungerwölbung, sie breitet die Flügel. Sie tragen geraden Weges zu Dir.
Das mit den Füßen immer fortgestoßene Sägemehl stieg an unter dem Bock...“ So mußt Du mich bei der Arbeit sehen.
Welcher Pfad, der das Glück hat, einen Fluß zu begleiten, wird sich ernsthaft und endgültig davon ablenken lassen, mit ihm in das betörende Märchen seiner ferneren Täler zu ziehen?
Die erste Entdeckung, die ich machte, als ich mich an diese Auswahl setzte, war Dein erster Band Gutachten. Ich habe Dir davon erzählt. Daß ich sicher war, diesen Band zu besitzen, daß ich mir aber „kein Bild mehr machen konnte“, er muß mich wohl links liegen gelassen haben. Ich wühlte in meinen Bücherbergen, traf dieses und jenes, blieb bei Zwetajewa hängen und genoß Deine Nachdichtungen – „Bahndammlaken, Schieneneisenbett“ – und war betroffen von:

Die Adern geöffnet – nicht aufzuhalten,
Unheilbar sprudelt es: Leben.
Teller stellt, Schüsseln nur unter, lachhaft:
Jeder Teller wird – ein flacher.
Eure Schüsseln sind Platten.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaÜbermaß, daneben.
Die Binsen zu nähren, die Schwarzerde färbts.
Unwiederbringlich, nicht aufzuhalten.
Unheilbar sprudelt es: Vers.

Vom 6. Januar 1934. Heute ist der 6. Januar 1989.
Ich fand Auswahl 68, sah Dein Bild – und da lichtete sich das Erinnerungsgrau – es verhielt sich entgegengesetzt. Ich hatte im Radio eine Lesung von Gutachten gehört, den gleichnamigen Text des Bandes, war regelrecht erschrocken, denn mir war eine ähnliche Geschichte passiert, und ich fühlte mich geröntgt, fand die Art, nüchtern zu sprechen, beunruhigend.
Ich räume jetzt erst mal das Salz ein – „Dem Meersalz ähnlich, streufähig und preisgünstig“, frage mich, was ist es denn wirklich, wenn es ähnlich ist, erfahre bei einer Drehung der Tüte: „Ist eine für den Haushalt brauchbare Nachbildung des Meersalzes und enthält –“, es folgen Prozente hiervon, davon, darunter ein kleiner roter Würfel. Man möchte meinen, basta. Nein, als Ziersaum eine dreifache Nachbildung einer Meereswelle. In meinem Ohr raunt das Schwarze Meer, und ich sehe Dich, den Kopf wieder und wieder gesenkt, in den Muscheln wühlen und Deine unvergleichlichen Freudeseufzer – staunende Kreatur: – ausstoßen. Eine Drehung der Tüte um 180 Grad ergibt: „vollautomatisch aufbereitet und verpackt im VEB Kali- und Steinsalzbetrieb – Saale −“: Darüber und darunter die ziersäumenden Nachbildungen von Meereswellen.
Ich denke mir Dich an der Saale, denke an Deine „im Steinsalz“ der Stundenpläne verbrachte Zeit, an Deine Schwester, die dort unverwandt Biologie lehrt. Lese „Werk Bernburg“ – stammt aus dieser Ecke nicht Sarah Kirsch, hat sie dort nicht durchs Mikroskop gestarrt?
Und unter all diesen Gedankenflügen zieht ein Rabe seine Bahn.
In der Sprache wird alles ausgetragen“ (Wittgenstein). Sowohl, was diese Salzverpackung sagt, als auch die darunterliegende Zeitung: „Sozialistische Demokratie wird weiter ausgebaut“ – und ich sehe meinen Nachbarn seine Batterie aus der geöffneten Kühlerhaube herausholen … Man kann das auch ganz anders sehen.
Was mich verblüffte, als ich das Suchen endlich aufgab: ich hatte mich diesem Band Gutachten verweigert. Wie doch so oft, war die Sendung lange vor dem Erscheinen des Bandes gekommen, und ich war gewarnt – die Sache, die da so prägnant beschrieben war, die wollte ich für mich behalten, die war so offen noch, so wund und windig, daß ich kein Licht in die Verhältnisse wünschte. So schützte ich mich – vergebens. Und kaufte Deinen Band nicht. Und las vereinzelt Gedichte, mal da, mal dort. Eins lernte ich auswendig. „Ein Lamm weidete.“ (Ich hatte damals Bölls Billard um halb zehn gelesen.) Wie dort das Lamm auftaucht. Ich habe nur wenig aufgeschrieben, wenn mir etwas im Kopf herumging. Erst recht selten wiedergefunden. Aber unter dem 10. November 1975 (alter Taschenkalender) steht „Ein Lamm weidete. Sogar der Dschungel der Grammatik wird beleuchtet, der Glanz geht von so schlichten Dingen aus, verschiedene Stufen der Vergangenheit. Aber was heißt das: in dem Text werden verschiedene Stufen (verschieden auch gleich eingegangene, abgelebte) der Vergangenheit betreten, um die Gegenwart – den kleinen Augenblick Gegenwart – eine Frau bei der Arbeit – zu erhellen.

Ich sitze am Schreibtisch, ich stell
meine Füße darauf.

Was heißt eigentlich Vergangenheitsbewältigung? Das Rad dreht sich, ein Lamm steckt in den Speichen. Von Anfang an.“
Der Schluß meiner Überlegung ist kurz, hat noch mit Böll zu tun. Ich denke jetzt, eine solche Bewegung macht Dein Text nicht. Er legt die Sprache frei.
Die eigentliche Entdeckung aber war: du bist in jedem der Texte, wenige, die den Pfad verlasen – wobei mir bei den wenigen noch auffällt, daß sie einen Umweg beschreiben.
Damit begann mein Dilemma – das der Auswahl. Nicht ein Text dabei, der einen fremden Gang nachahmt, nicht einer, der sich auf Kosten anderer amüsiert…
Ich unterbreche, Jonny kommt aus der Schule und spielt mit Streichhölzern. „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst…“, diesen Dualismus fand ich schon immer …, lieber dann schon „die Schwarzen weiß Redenden, die Weißen schwarz Redenden“. Da gehst du durch den Wortwald, bringst Licht in die Verhältnisse. Neulich las ich die Sätze: „Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache, gleichsam erste Annäherung ohne Berücksichtigung der Reibung und des Luftwiderstandes. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit der Unähnlichkeit Licht in die Verhältnisse unserer Sprache werfen sollen. (Eike von Savigny)
Werk der Natur ist, daß die Menschen sprechen. An allen Orten dieser Erde. In Berlin-Mitte oder in Wuischke entsteht der Satz: „Alles nagt, was nagen kann in Effeff an den ungestalten Steinen nunmehr, sie verwittern.“ Und im Bundesstatt Borno der Bundesrepublik Nigeria antwortet ein Gwoza: „Du kannst gar Brei aus Steinen trinken, wenn es dir an Geduld nicht fehlt.“ Wer spinnt hier welchen Faden? Dein Text steht in Faden der Geduld, der andere stammt aus der Sprache Lamang. Lamang heißt „die Unsrige“.
In unregelmäßigen Zeilen fließt das Gedicht hin, natürlich ohne Reim. Soviel ich sehe, sind die Rhythmen von denen der Prosa verschieden…“, schreibt ein Forscher über Eingeborenen-Dichtung in Afrika. Phänomen, Zufall?
Du sagst vom Zufall: „Zufall ist ein Geschehen in einem System. Zufälligkeit ist ein Schimpfwort eines herrschenden Systems gegen das unterdrückte.
Ich will dir ein paar Lamang-Sätze aufschreiben:
Schüchternheit ist’s, was mir das Haupt gewetzt, sagt der Frosch.“
Sogar ein Huhn weiß, was es tut; womit es großzieht seine Brut.“
Erst mußt du Wasser um dich sprenkeln, auf daß du feuchten Grund betrittst.
Wer immer einen Hasen ißt – das Laufen muß er mitessen.“
Der letzte Satz blitzte immer wieder auf, als ich mich erneut mit Kastanienallee befaßte. Wie kommt es zur Sprache?
Wer immer einen Hasen ißt, das Laufen muß er mitessen.
Erinnerst Du Dich, wie wir in Plovdiv (hingeraten waren wir auch durch den „Dienst an der Sprache“, auf den Flügeln des Gesangs von Jaworow reisten wir) in unseren Gemächern saßen, auf einem der drei Berge in dem Lamartine-Haus; wie wir uns gegenseitig „besuchten“ – es waren Gemächer fürstlichen Zuschnitts. Ein Blick aus dem Fenster: Und am Abend die Überraschung, ein belebtes Amphitheater, getanzte Lorca-Verse. Wie wir unbedingt wissen mußten, wer die waren, die da getanzt hatten, die die Sprache zum Tanzen, die das Tanzen zur Sprache brachten, ganz direkt. (Es war Antonio Gardes, später entdeckten wir das Plakat an einer Bretterwand.) Das alles brachte uns auf die Sprache, auf den Umstand, daß jeder Mensch zunächst sein eigene Sprache hat, die er früher oder später einstellt auf die gemeinsame.
Kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders als mit Hilfe der allgemeinen formen unserer Sinnlichkeit (dick unterstrichen) geschehen; nur in jenen können wir es auffasen und gleichsam festhalten. Die sinnliche Bezeichnung der Einheiten nun, zu welchen gewisse Portionen des Denkens vereinigt werden, heißt im weitesten Verstande des Wortes: Sprache … Die schneidendsten unter allen Veränderungen in der Zeit sind diejenigen, welche die Stimme hervorbringt. Sie sind zugleich die kürzesten und aus dem Menschen selbst mit dem hauche, der ihn belebt, hervorgehend, und augenblicklich verhallend, bei weitem die lebendigsten und erweckendsten.“ (Wilhelm von Humboldt)
Was haben die Menschen einander angetan, daß sie so sinn-los ihr Eigenes vergeuden? Was steckt in ihnen, daß immer wieder Quellen sprudeln?
Mir fällt die Passage aus Deinen Winkelzügen ein, Prosa mit Versen. „Du hast kein reines Gewissen…“ Auf die erste Zeile kommt es mir an.

Du empfindest, daß du geprägt wirst,
wenn du mit etwas in eine Verbindung gerätst,
die dich nicht spürbar fördert.

Heute morgen ist Willi krank. Der Stecker der Waschmaschne ist durchgeschmort. Dunkelmänner erkundigen sich im Neonlicht der Amtsstube, was man von mir zu halten haben und ob mein Sohn Peter zur „Mitarbeit“ zu gewinnen wäre. Ich hatte eine schlimmen Moment und die obszöne Lust, diese Herren mit ihm bekannt zu machen. Wir hätten uns am Grab verabredet – können sie schweigen? −, und ich bin sicher, sie wären gekommen. So versucht man sich zu schützen, mit bösen Gedanken – ich war aber trotzdem eine Woche mindestens blockiert. Du mußt wissen, daß dieser Sohn an der Bürokratie gestorben ist. Laut Gesetz war er eine Normalgeburt (er war so groß, er war so schwer, er war so / schön), mein Wissen um seine Entstehungsstunde, meine Sorge, daß er als Achtmonatskind noch bei der Entwicklung seiner Atemwege Hilfe braucht, wurden vom Tisch gewischt mit Frozzeleien wie „… wer erinnert sich schon ganz genau an eine schwache Stunde…“. Am nächsten Morgen war er tot. Atemstörungen, Hirnschlag. Und wie sich mich danach behandelt haben, als ich meine Milch nicht loswerden konnte …
Ich denke daran, wie Du zur Welt gekommen bist. Du hast gesagt, daß Dir eine Erfahrung fehlt; als Achtmonatskind fehlte dir der Weg, die Beteiligung an diesem Vorgang. In „Auskunft nachts“ spielt diese Erfahrungslosigkeit eine Rolle – ich denke an den georgischen Traum:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAls ich aus Georgien zurück war, im Mai,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
flog ich im Traum durch ein Ahnenhaus.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
Ich flog oben, aufsteigend hinter jeder Tür,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
als ein Drache durch die Räume,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
in welchen Drachen wohnten, gespreizte
aaaaaaaaa
deren Geister ich bändigte, indem ich an ihnen vorüberflog.
aaaaaaaaaaaaaaa
In jedem Raum einer, der stärker war als der vorige.

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDas war ein sehr hochfliegender Traum,
aaaaaaaaaaaaaaaa
eine Prüfung der geheimen Fähigkeiten legte ich ab,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
die endlich aufgerufen waren, endgültig.
aaaa
Ich spürte, was zu lernen war, nämlich daß mein Drachenkörper
im Flug Stromlinienform mit den bereiten Kräften gewann und genoß.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
Ich flog ins Freie, da war ein Garten … Aus.

Dem will ich noch einen Text hinzufügen aus Vexierbild, in Stücken:

Ich verstehe schnell, im Fluge beflügle, was ich verstehe, sehe es, kurzweilig, fliegen, bleibe zurück. Ich verstehe schnell, aus Mangel an Geduld.
Steht es mir denn zu, das Wort Zustand zu gebrauchen? Ich fluche mit ihm, wie die Leute …

Ich erinnere mich, wie wir begannen uns in Sofia zu orientieren. Du warst nicht bereit dazu. Als Du doch eines Tages eine Stelle wiedererkanntest und den Weg wußtest, hast Du geflucht: „Eine Aussicht ist keine Aussicht, wenn man weiß was kommt.“ In einer Arbeit über Erich Arendt zitierst Du Carlfriedrich Claus, die „integrale poetische Prozeßwirklichkeit“ – und damit bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt, dem Dilemma der Auswahl. Sicher habe ich noch nie ein Werk so genau verfolgt, daß es mir zukäme zu sagen, noch nie habe ich Vergleichbares gefunden, aber, geht man von dem Gelände aus, das ich schon betreten haben, kenne ich derartige Erfahrungen vom Wachsen eines Werkes nicht. Wieder und wieder habe ich versucht, eine Auswahlstruktur zu finden, die diesem Fluß der Texte gerecht würde. Motivisches – Kreis, Oval, Boot, Weg usw., Biografisches, Örtliches, Zeitliches (Chronologie). Und während ich ordne, äfften mich solche Texte wie „Wo ist die Elle?“

Wo bleibe ich, wenn sich meine Assoziationen (Benennungen) von selbst einholen? Halte ich sie auf, damit sie nicht zu Kurzschlüssen zerfallen? Werden sie mich mir nicht zurück-, sondern weitergeben?“

Ich möchte nicht mit „groben Fängen“ packen – und doch, die Spannung ist da zwischen den Sätzen:

Du empfindest, daß du geprägt wirst, wenn du mit etwas in eine Verbindung gerätst, die dich nicht spürbar fördert –

Und:

Die Vorstellung, daß einmal eine erfüllte Menschlichkeit diese Rede trage, scheint zunächst auf eine nichts als sachliche Behandlung beschränkt.

Von Band zu Band wirst Du von einer Gewißheit getragen, und daran tun Gehstörungen, Muskellähmungen, Tränenausbrüche keinen Abbruch, daß Du durchkommen wirst, daß Du es auf den Punkt bringen wirst. Poesie sind alle Sachverhalte, die sich nicht verwalten lassen – ich weiß, wie sehr Dich das Verwalten kränken kann, wie Dich vergeudete Energien ärgern. Wir werden in Deinen Lebenslinien solche Knoten finden …
„Wegen der Vielfalt der Beziehungen hat das Schreiben einen unbewußten Gang. Es betreibt dabei ein Studium seiner Möglichkeiten im Interesse und der Richtung des außersprachlichen Verlaufs (Werdegangs). Diesen Werdegang führend oder von ihm geführt, ordnet ihm das Schreiben, was es erreicht hat, zu, indem es die wahrgenommenen Möglichkeiten in Voraussetzungen, das heißt in zu überschreitende Grenzen verwandelt.
So erhält es seine eigene Geschichte, in der, wie das Glück im Schicksal, die Figur seines Werdens liegt.
Mit seinem Schicksal und der Figur seines Werdens gleicht es nicht nur anderen Abläufen im Leben und dem Menschenleben überhaupt, sondern ist – in einem vielgestaltigen und wechselseitigen Verhältnis der Entsprechungen – auch identisch mit ihnen und wie sie identisch mit dem Ganzen.“
So ist es mit Dir, so sollte es sein – und so ist es immer bei gelungener Arbeit. Nicht selten ist es geschehn, daß solche, die mit Dir geredet haben, erstaunt feststellten, daß Du ja auch so sprichst, wie Du schreibst, und so handelst, wie Du denkst (Im Rahmen der gegebenen Un- und Möglichkeiten).
Am Anfang das Drehen nach dem Kreis, er wird zum Oval: das Kampfoval, die Brennpunkte, der Weg.

Wenn nur die Enden so zusammenkämen:
Triebverzicht nicht Verzicht, sondern Aufschub,
um die Trieberfüllung zu sichern −
du bliebst dir deiner selbst sicher.

Aber die Enden waren wohl nie zusammengekommen,
das Gebot/Verbot war heilig, konzentrierte
die Erinnerung an Notwendiges, konservierte
das „heiligste Gut“, den „Erfahrungsschatz“,
sicherte – sich.
(…)
Du hast kein reines Gewissen,
wenn du das Gefühl hast, dich zu vergeuden.

In der Perspektive: dich zu verlieren.

Ein Unterlegenheitsgefühl
in der Enge einer Unterforderung, die du erfüllst.

Reinheit erfährst du nur aus dem Verderben,
Freiheit nur aus der Gefangenschaft.

Als was siehst du sie an?
Als das, was vor dem Verderben war?

Als ich einmal, nach einem Lebensabschnitt (?!:),
sagte:
Ich möchte dieses Leben nicht gelebt haben,
war in diesem entschiedenen Gefühl
keine Spur von einer Sehnsucht
zurück nach dem Leben vor dem.

Freilich setzt die Sprache vor das Verdorbene
das Unverdorbene. Das Unberührte.

Wo ein Verdorbenes ist, muß ein Unverdorbenes gewesen sein.

Ich muß nun ständig unterbrechen. Willies Erkrankung hat sich verschlimmert – wir sind mit einem Handwagen zum Arzt gefahren. Ich hatte ihn schön ausgepolstert – so eine Art Häwelmanntransport. Ich möchte aber nicht den Faden verlieren, ich möchte einmal eine Arbeit bis zum Ende, ununterbrochen, machen. Innerhalb des Geheges? Ich sehe Dir, Deine Texte lesend, dabei zu, wie Du das Gehege verläßt, wie Du einen Schritt in die Freiheit tust, der meist nur mit einem Pferdefuß gelingt und das Leben hinken macht. Du aber machst dem Leben Beine. Du siehst Dir das Gehege genau an – genau heißt auch gerecht. Das Gehege hat viel mit Dir zu tun. Und es befördert – paradoxerweise – die Lust an der Arbeit.
Arbeit: Hände hoch! Woher rührt dieser Effekt? Aus der Lustlosigkeit, mit der man sich in die Vorgänge fügt – da ist schon einer vor gegangen, das ist ja gar nicht mein eigener Weg, mir ist die Lust vergangen?
Deine Poesie: das Beharren auf eigener Arbeit, auf sozialem Dasein. Das führt zu Selbstbewußtsein, das DU in Deinem Gedichtband Kastanienallee regelrecht herstellst, und nebenher wird klar dabei, daß Selbstbewußtseins und Selbstsicherheit unbedingt unterschieden werden müssen.
Was Du mit den Kommentaren in diesem Buch geleistet hast, ist zunächst einmal ein Akt enormer Energieeinberufung. Wenn Du einen Weg durch den Urwald bahnst, dann floriert er erneut auf dem Werkzeug – die Kommentare wachsen als poetische Texte nach.
Da war ich wieder bei dem Lamang-Satz: „Wer den Hasen essen will, muß das Laufen mitessen.“ Deine Arbeit in Kastanienallee verfolgt den Weg.
Hilde Domin: Der Autor, der sich mit seinem – fertigen oder länger schon fertigen – Gedicht befaßt, steht dazu in einem grundsätzlich anderen Nähe/Ferneverhältnis als jeder Dritte, nicht in einem Bezug auf Annäherung, wie der Interpret, sondern der Distanzierung. Wenn der Interpret etwas über die ‚Sache‘ des Gedichts lernt, so lernt der Dichter etwas über sich selbst und sein handwerkliches Vorgehen. Rückblickend bekommt er eine genaue Vorstellung über den eigenen Schaffensprozeß und die eigenen Selektionsprinzipien. Der Abstand, aus dem der Autor das Gedicht betrachtet, klappt ihm nicht plötzlich zusammen, er identifiziert sich nicht. Seine Neugier, falls er welche hat, geht auf die Machart und den ‚Sinn‘ nur als das mit solchen oder solchen Mitteln Realisierte … Der Autor untersucht also den Ausdruck auf seine Tauglichkeit im Hinblick auf den Bedeutungsgehalt, das Wortgefüge im Hinblick auf das Sinngefüge. Er relativiert sich und seinen Text, sieht das Fertige, das realisierte und so oder so ins Ziel Gebrachte als Möglichkeit an, die gleichsam noch zur Diskussion stünde. Wo er, im Verlauf seiner Untersuchungen, ‚Wortloses‘, das ihm selber bisher unbekannt war, aufspürt, also auch über die ‚Sache‘ etwas zusätzliches erfährt, verbindet er es nach der ersten Überraschung sogleich mit dem Sprachgefüge, und es ist ihm besonders wichtig, festzustellen, wie es in diesem Sprachgefüge sich vor ihm verbergen konnte.“
Ich blicke auf die Gefüge dieses Textes und füge hinzu: „Man muß ja nicht auf den Weizen säen“, dennoch habe ich Hilde Domins Wegbeschreibung für Dich gern gefunden. Und ich schenke Dir noch etwas:
„Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an eines der Gespräche in Jerewan, die jetzt, rund ein Jahr später, bereits gealtert durch die Gewißheit der persönlichen Erfahrung, ihre Echtheit besitzen und uns helfen, uns selber in einer Tradition zu fühlen.
Wir kamen auf die Theorie des embryonalen Feldes zu sprechen, die von Professor Gurwitsch begründet worden war.
Im Keimzustand hat das Blatt der Kapuzinerkresse die Form einer Hellebarde oder eines zweigeteilten, länglichen Beutelchens, das in eine kleine Zunge übergeht. Es sieht auch einer paläolithischen Pfeilspitze aus Feuerstein ähnlich. Wird jedoch der Spannungszustand im Umkreis des Blattes entfesselt, verwandelt es sich zunächst in eine Figur mit fünf Segmenten. Die Linien des gehöhlten Endstücks dehnen sich bogenartig aus.
Nehmt einen beliebigen Punkt und verbindet ihn durch Strahlenbündel mit einer Geraden. Dann verlängert ihr diese Strahlen, welche die Geraden unter verschiedenen Winkeln schneiden, um einen Abschnitt in gleicher Länge und verbindet die Endpunkte miteinander – so ergibt sich die Wölbung!
Doch im weiteren verändert das Kraftfeld jäh sein Spiel und jagt die Form hin zum geometrischen Extrem, zum Viereck.
Die Pflanze ist ein Klang, hervorgelockt vom Stäbchen des Termenvox, das in einer von Wellenprozessen gesättigten Sphäre girrt. Sie ist eine Abgesandte des lebendigen Gewitters, das permanent im Weltgebäude tobt – im selben Grad mit dem Stein und mit dem Blitz verwandt! Die Pflanze in der Welt: Ereignis, Vorfall, Pfeil, und nicht etwa eine langweilige, bärtige Entwicklung!“ (Ossip Mandelstam, Die Reise nach Armenien)
Dieses Wachstum in Deinem Werk – das soll die Auswahl zeigen. Bekräftigt hat mich Kastanienallee. Als ich darüber nachdachte, wie die Darbietung typografisch zu lösen sei auf den kleinen Reclamseiten kam mir die Möglichkeit vor Augen, den Fluß zu begleiten, die Bündelung seiner Energien von der Mündung zu empfangen, zurückzugehen an die Quelle und ihn erneut fließen zu lassen. So folge ich Dir und keinen von außen herangeholten Ordnungsprinzipien. Deine Linien sind von einer solchen Klarheit, daß man sie „nur“ erscheinen lassen muß. Dieser Brief geht jetzt los, Du sollst wissen, was los ist. Die Auswahl schreibe ich als Nächstes ab, und dann können wir miteinander reden. Das Reden mit Dir fehlt mir sehr.
Ich umarme dich, und wenn Du mich fragst, wie es mir geht, so antworte ich Dir, ich lebe noch!

Deine Brigitte

Brigitte Struzyk, Nachwort, Berlin-Pankow, Februar 1989

 

Beiträge zu diesem Buch:

Hannes Krauss: 9. November – zwei Jahre danach
Freitag, 8.11.1991

Alexander von Bormann: Der jähe Zugriff auf Innerste / Lyrik im Herbst. Eine Umschau in der Andeutungssprache der Poesie
Der Tagesspiegel, Berlin, 8.12.1991

Horst H. Lehmann: Ein sanfter Wahnsinn
Neues Deutschland, 3.1.1992

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Instagram +Facebook +
KLG + Kalliope
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Brigitte Struzykk

 

Gedichtverdachte: Zum Werk Elke Erbs. Im Rahmen der Ausstellungseröffnung In den Vordergrund sprechen Hendrik Jackson, Steffen Popp, Monika Rinck und Saskia Warzecha über Elke Erbs Werk.

 

Franz Hofner: Hinter der Scheibe. Notizen zu Elke Erb

Olga Martynova: Elkes ABC

Elke Erb: Die irdische Seele (Ein schriftlich geführtes Interview)

Elke Erbs Dankesrede zur Verleihung des Roswitha-Preises 2012.

Im Juni 1997 trafen sich in der Literaturwerkstatt Berlin zwei der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Elke Erb und Friederike Mayröcker.

 

 

Klassiker der Gegenwartslyrik: Elke Erb liest und diskutiert am 19.11.2013 in der literaturWERKstatt berlin mit Steffen Popp.

 

Lesung von Elke Erb zur Buchmesse 2014

 

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Steffen Popp: Elke Erb zum Siebzigsten Geburtstag
literaturkritik.de

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Waltraud Schwab: Mit den Gedanken fliegen
taz, 10.2.2018

Olga Martynova: Kastanienallee 30, nachmittags halb fünf
Süddeutsche Zeitung, 15.2.2018

Michael Braun: Da kamen Kram-Gedanken
Badische Zeitung, 17.2.2018

Michael Braun: Die Königin des poetischen Eigensinns
Die Zeit, 18.2.2018

Karin Großmann: Und ich sitze und halte still
Sächsische Zeitung, 17.2.2018

Christian Eger: Dichterin aus Halle – Wie Literatur und Sprache Lebensimpulse für Elke Erb wurden
Mitteldeutsche Zeitung, 17.2.2018

Ilma Rakusa: Mensch sein, im Wort sein
Neue Zürcher Zeitung, 18.2.2018

Oleg Jurjew: Elke Erb: Bis die Sprache ihr Okay gibt
Die Furche, 8.3.2018

 

Annett Gröschner: Gebt Elke Erb endlich den Georg-Büchner-Preis!
piqd.de, 27.6.2017

Zum Georg-Büchner-Preis an Elke Erb: FR 1 & 2 + MOZStZSZ +
EchoWelt + WAZ + BR24 + TTB + MAZ + FAZ 1 & 2 + TS + DP +
rbb +taz 1 & 2 + NZZ +mdr 1 & 2 + Zeit + JW + SZ 1 & 2 +

 

 

Zur Georg-Büchner-Preis-Verleihung an Elke Erb: BaZBZStZ +
AZ + FAZ + SZ

 

Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2020 an Elke Erb am 31.10.2020 im Staatstheater Darmstadt.

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + InstagramKLGIMDb +
Archiv + PIA + weiteres  1, 23 +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Susanne Schleyer + Dirk Skiba Autorenporträts +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + Galerie Foto Gezett 1, 23 +
deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Elke Erb: FAZ ✝︎ BZ 1 + 2 ✝︎ Tagesspiegel 1 +2 ✝︎ taz ✝︎ MZ ✝︎
nd ✝︎ SZ ✝︎ Die Zeit ✝︎ signaturen ✝︎ Facebook 1, 2 + 3 ✝︎ literaturkritik ✝︎
mdr ✝︎ LiteraturLand ✝︎ junge Welt ✝︎ faustkultur ✝︎ tagtigall ✝︎
Volksbühne ✝︎ Bundespräsident ✝︎ Sinn und Form ✝︎

 

 

 

 

Im Universum von Elke Erb. Beitrag aus dem JUNIVERS-Kollektiv für die Gedenkmatinée in der Volksbühne am 25.2.2024 mit: Verica Tričković, Carmen Gómez García, Shane Anderson, Riikka Johanna Uhlig, Gonzalo Vélez, Dong Li, Namita Khare, Nicholas Grindell, Shane Anderson, Aurélie Maurin, Bela Chekurishvili, Iryna Herasimovich, Brane Čop, Douglas Pompeu. Film/Schnitt: Christian Filips

 

Zur Erinnerung an Elke Erb und Helga Paris. Lesung mit Steffen Popp, Brigitte Struzyk, Joachim Hildebrandt und Peter Wawerzinek am 6.7.2024 im Salon von Ekke Maaß, Berlin. Martin Schmidt: Improvisationen am Klavier

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die Elkeerb“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Elke Erb

 

Elke Erb liest auf dem XVII. International Poetry Festival von Medellín 2007.

 

Elke Erb liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00