SCHULD SIND DIE
Wenn ich öffentlich auf der Straße sage: „Hühnerei!“
Und infolgedessen folgerichtig geschnappt werde,
Schuld sind die,
Daß sie kein selbständiges Ei,
Kein ständiges Ei,
Kein Ei,
Selbst kein Ei mehr dulden können,
Es ist eine Katastrophe!
Schuld sind die!
Trost, aber kein Trostpflaster. Hier wird nicht abgespeist, die Sache ist auch nicht im Handumdrehn zu erledigen, eine Vakanz muß man haben, offene Türen. Über Qual und Pech gelangen wir weiter ihn zu gewinnen. Es ist alles ganz einfach, weltbekannter Alltagskram, Schwindelgefühl auf der Leiter, Friedhofsgespräche efeufingriger Frauen, pflastergeborene trippelnde Tauben. Oder wer bringt das Kind in die Krippe, wenn man selber nach einem Streit dem Geliebten nahbleiben muß. Morgens wird die Empfindung erschossen, der Tag kommt an, fordert Loblieder wie ein totalitärer Staat. Eine Fülle von Bildern erschaffen wir uns, üppige und karge Zeiten, Apfelbäume, vom Hochwasser weggetragene Brücken: die Monate, zwölf gestaffelte Engel, an der Spitze der November, da kann es nur besser werden, als Ikone gemalt. Die Heiligenscheine wie ein waagerechter Stoß Teller. Es gilt, sich wenig oder gar nicht zu wundern und dem Weißen Kaninchen mit der Taschenuhr in der Westentasche beherzt zu folgen. Ohne Mühe hat der Bauer keine Kühe, sagte die Bäuerin und ließ den Abdecker rufen. Wenn die Kuh aber durchkommt, ein Text sich erschließt, schlägt das Glück ein. Man muß trainieren in seiner Innenwelt, erst kleine Wege ums Haus, später die langen Expeditionen, und wird auf Jahre verschüttete Schluchten noch finden, ruhige algenverstrickte Ströme, Aussichten und Überblicke, Wetterstürze im Gebirge, stinkendes Wasser, Schafwolle im Dornbusch, sanfte gefährliche Gärten. Selbstverständlich bevölkert, einerlei ob tot oder lebendig, herbeigewünscht oder verflucht. Das Buch Trost macht Kino im Kopf, führt durch Mauern und Grenzen. Zwischen den Seiten steckt mehr Meskalin, als unsere Schulweisheit zugeben kann. Die Erde ist schön und schrecklich und doch begehbar. Es gibt Gedichte darauf, die Bibliotheken zusammenfassen. Eins davon ist „Auskunft nachts“, an einem 23. Dezember geschrieben. Wenn wir uns selbst verstehn, verstehn wir die Dichter.
Sarah Kirsch, Vorwort, Februar 1982
Der Umfang des neuen Buches von Elke Erb ist gering, nur 77 Textseiten, Gedichte und Prosa – ganz kurze Prosa und meist auch kurze Gedichte, nur das letzte, besonders wichtige ist länger. Sarah Kirsch hat die Gedichte ausgewählt und mit wenigen sehr dichten Sätzen eingeleitet. Ihr letzter Satz lautet:
Wenn wir uns selbst verstehn, verstehn wir die Dichter.
Die ersten Worte ihrer Einleitung sind:
Trost, aber kein Trostpflaster.
Beide Feststellungen sind bei diesen Texten genau, beängstigend genau, am rechten Ort.
Ob die Prosa Prosa ist, ob die Gedichte Gedichte sind, bleibt oft fraglich. Das ist aber hier höchstens von Vorteil. Keiner dieser Texte, der auch nur vielleicht überflüssig wäre, keiner, der um eine Silbe zu lang ist. Und keiner, der literarisch oder literatenhaft anmutet. Dichten soll ja keine literarische Angelegenheit sein, soll aber gleichzeitig nicht unter das Niveau dessen fallen, was in ähnlichen Formen oder in der Auseinandersetzung mit ähnlichen Themen schon geleistet wurde. Alle diese Bedingungen erfüllt dieser kleine Band so sehr, daß er wahrscheinlich für viele Leser so unvergeßlich sein wird, wie für mich.
Möglich, daß die Verfasserin lange an einer Psychoneurose zu leiden hatte. Wichtig für den Inhalt dieser Gedichte, dieser Prosafindlinge, deren Wert dadurch nur noch steigen könnte. Man denkt beim Lesen oft an Hölderlin, wie er in seinen Texten um sein geistiges und seelisches Überleben kämpfte. Und von William Blake, über dessen Geisteszustand immer noch diskutiert wird, schrieb vor etwa vierzig Jahren ein englischer Dichter: „And was Blake mad, a sweeter tongue / No madman ever gave to song.“ („Und war Blake irr, gab süßem Klang / Kein Irrer jemals dem Gesang.“) Jedenfalls lehren uns Elke Erbs Texte auch psychische Grenzzustände besser verstehen und auch die sogenannten Irren ernst nehmen – und (wie Sarah Kirsch schon gesagt hat) uns selber verstehen. Natürlich, nur wenn wir wollen. Leicht und unbeschwert liest man sich durch dieses Bändchen nicht durch. Es hebt die Trennung zwischen Dichtung und Wahrheit ganz und gar auf, läßt dem Leser daher keine Rückzugswege.
Es ist aber nicht so, daß Elke Erb etwa nur viel zu sagen hätte, aber keine eigene Form hat. Nein, nur ist diese Form weder einer literarischen Mode noch der Gegenwehr gegen solche Moden zu verdanken, sondern sie hat sich – so wirkt es wenigstens – als Quintessenz aller durchlaufenden Phasen dessen gebildet, um das es der Verfasserin je ging und geht. Deshalb ist eigentlich der Versuch einer Rezension, einer Kritik schon irgendwie Anmaßung. Man müßte in seiner eigenen Arbeit mehr durchgemacht haben als die Verfasserin, und ich weiß nicht, ob das menschenmöglich ist.
Elke Erb kommt, ebenso wie Sarah Kirsch, aus der DDR, wo sie heute noch lebt. Das merkt man vielen ihrer Texte an. Von den in der DDR herangewachsenen Autoren gibt es einige, die ihre Konflikte noch gründlicher durchlebt haben als die meisten im Westen Schreibenden, auch wenn sie jetzt schon seit Jahren selbst im Westen leben. Aber, gleichviel, wo sie leben, sie verstehen einander. Einer von Elke Erbs Texten trägt den Vermerk für Heiner Müller. Müller lebt nach wie vor in der DDR und gehört auch zu jenen Schriftstellern oder Dichtern, die sich nichts ersparen und bei deren Lektüre einem manchmal fast das Herz stehenbleibt. Und doch, und gerade deshalb, ebenso wie dieses Buch von Elke Erb, Pflichtlektüre: Es hilft, wenn man sich gleich am Anfang dieser Lektüre von vielen Vorstellungen, was und wie Gedichte oder Prosatexte sein sollten, frei macht. In einem Gedicht mit dem Titel: REKAPITULATION oder ICH ZÄHLE BIS 3 schreibt Elke Erb:
Meine besten alten Filme waren:
Da kommt Brot von allein auf den Tisch.
Da kommt Wurst von allein auf den Tisch.
Und ein Messer kommt
und zerschneidet das alles.
Es sind nicht hochgestochene Texte, eher tiefgestochene, tief stechende. Auf der Buchseite gegenüber diesem Gedicht steht ein Prosastück:
Kinderstube: In meinem Zimmer stand das Fenster so hoch, daß man nur den Himmel in ihm sah. Ich dachte, daß dort das Weltende sei. Bis eines Tages unsere Haushaltshilfe zu mir sagte: Wenn das nicht aufhört, erfährt es die Mutter! Denn was ich nicht brauchte, das warf ich zum Fenster hinaus. Ich dachte, dort ist die Welt ja zu Ende, es stört keinen. Die Nachbarn beschwerten sich.
Es ist gut, daß Elke Erb immer noch schreibt. Das könnte einem fast Hoffnung geben, fast Trost. Zwar, viele werden das, was sie sagt, statisch und negativ finden, viele werden auch kein Ohr dafür haben. Eines ihrer Gedichte endet mit den Zeilen:
Wie an Puttenmünder, viele, die Posaunen
Man in Stein gemeißelt hat für taube Ohren.
Konrad Franke: Endgültig aufschreiben. Lyrik und Prosa von Elke Erb
Süddeutsche Zeitung, 10.11.1982
Karl Krolow: Die kleinen Dinge liegen rund ums Haus. Eine Schriftstellerin trainiert in ihrer Innenwelt
Stuttgarter Zeitung, 10.11.1982 (und an anderer stelle)
mlr: Aus der DDR: Lyrischer Blick in den Alltag
Fuldaer Zeitung, 25. 9. 1982
Dominik Jost: Natur als Erlebnisraum der Dichtung
Neue Zürcher Zeitung, 4. 11. 1982
Wolfgang Minaty: Die rettende Insel suchen… Alltag, Endzeit, Märchen, Alptraum, Trost: Neue deutsche Lyrik dieses Jahres
Die Welt, 25. 11. 1982
Ute Stempel: Und dennoch…
Frankfurter Rundschau, 24./25. 12. 1982
Barbara Meyer: Der Alltag im Kaleidoskop
Neue Zürcher Zeitung. 28. 1. 1983
Jürgen P. Wallmann: Vexierbilder aus Worten
Der Tagesspiegel, 13. 3. 1983
SELBSTBILDNIS
Für Elke Erb
ich kann lesen, ich kann
schreiben ich kann nieseln
meine Zungenklemme meine
Zungensperre meine Maulschraube
meine Augenkrume aus Salz und
Zucker, mein Traumzuckerchen
ich kann sitzen, meine persönlichen
Flöhe, meine Sitzhöcker
meine Mundart, balzend
meine Schluckaufe meine Vielstimmerei
mein Glühen mein Emporholen mein
Schwadronieren mein Ritt auf dem Delphin
mein Untertauchen mein Hervorschnellen
Ruth Johanna Benrath
Jens Jessen: Versteckte Aggressivität
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.1995
Jürgen P. Wallmann: Verspielte Vision
Rheinische Post, 14.4.2000
Heinz Ludwig Arnold: Ein paar Abgründe überwinden
Frankfurter Rundschau, 15.4.2000
Peter Mohr: Meine schönsten Akwareller sint weck
General-Anzeiger, Bonn, 15./16.4.2000
Jürgen Israel: Das Herz hat einen Riss
Unsere Kirche, 16.4.2000
Horst H. Lehmann: Bibliophile Werkausgabe auf Büttenpapier
Neues Deutschland, 17.4.2000
Hans Joachim Schädlich: Sarah. Ein Geburtstagsgruß
Neue Rundschau, Heft 3, 2000
Marion Poschmann/ Iris Radisch: Man muss demütig und einfach sein. Gespräch
Die Zeit, 14.4.2005
Michael Braun: Landschaften mit Endzeit-Boten
Basler Zeitung, 15.4.2005
Unter dem Titel Idyllische Apokalypse
Stuttgarter Zeitung, 15.4.2005
Helmut Böttiger: Hier ist das Versmaß elegisch
Badische Zeitung, 16.4.2005
Michael Braun: Die Schmerzzeitlose
Der Tagesspiegel, 16.4.2005
Johann Holzner: Das Leben verlängern
Die Furche, 14.4.2005
Christian Eger: Unter dem Flug des Bussards
Mitteldeutsche Zeitung, 16.4.2005
Alexander Kluy: Den Himmel vergleichen
Frankfurter Rundschau, 16.4.2005
Dorothea von Törne: Schütteln und weiterleben
Literarische Welt, 16.4.2005
Gunnar Decker: Fisch, der am Grund lebt
Neues Deutschland, 16./17.4.2005
Samuel Moser: Verse vom Rand der Welt
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.4.2005
Hans-Herbert Räkel: Ein Elefant muss über die Alpen
Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2005
Sabine Rohlf: Läuse bei Mäusen in der Umgebung von Halle
Berliner Zeitung, 16./17.4.2005
Andrea Marggraf: „Bevor ich stürze, bin ich weiter“
Deutschlandradio Kultur, 13.4.2010
Erich Malezke: Natürliche Distanz zur Außenwelt
SHZ, 15.4.2010
Jürgen Verdofsky: Remmidemmi in Tielenhemmi
Frankfurter Rundschau, 15.4.2010
Wilfried F. Schoeller: Hier bin ich gern und immerdar
Der Tagesspiegel, 15.4.2010
Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
Thüringer Allgemeine, 16.4.2010
Rebekka Haubold: Sarah Kirsch feiert 75. Geburtstag
Radio für Kopfhörer, 16.4.2010
Gunnar Decker: Pirol unter Krähen
Neues Deutschland, 16.4.2010
Brita Janssen: Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
BZ, 16.4.2010
Peter Mohr: Meine Naivität war mein Glück
literaturkritik.de, Mai 2010
Michael Braun: „Alles ist auffindbar in meinen Spuren“
Konrad Adenauer Stiftung, April 2010
Heidelore Kneffel: 1997 bei Sarah Kirsch in Tielenhemme
nnz, 5.5.2018
Karin Kisker: Zum zehnten Todestag der Dichterin Sarah Kirsch
Neue Nordhäuser Zeitung, 5.5.2023
Wulf Kirsten: Rede auf Sarah Kirsch zur Verleihung der Ehrengabe der Heine-Gesellschaft 1992.
Gedichtverdachte: Zum Werk Elke Erbs. Im Rahmen der Ausstellungseröffnung In den Vordergrund sprechen Hendrik Jackson, Steffen Popp, Monika Rinck und Saskia Warzecha über Elke Erbs Werk.
Gerhard Wolf: Die selbsterlittene Geschichte mit dem Lob. Laudatio für Elke Erb und Adolf Endler zum Heinrich-Mann-Preis 1990.
Franz Hofner: Hinter der Scheibe. Notizen zu Elke Erb
Elke Erb: Die irdische Seele (Ein schriftlich geführtes Interview)
Elke Erbs Dankesrede zur Verleihung des Roswitha-Preises 2012.
Im Juni 1997 trafen sich in der Literaturwerkstatt Berlin zwei der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Elke Erb und Friederike Mayröcker.
Klassiker der Gegenwartslyrik: Elke Erb liest und diskutiert am 19.11.2013 in der literaturWERKstatt berlin mit Steffen Popp.
Lesung von Elke Erb zur Buchmesse 2014
Steffen Popp: Elke Erb zum Siebzigsten Geburtstag
literaturkritik.de
Waltraud Schwab: Mit den Gedanken fliegen
taz, 10.2.2018
Olga Martynova: Kastanienallee 30, nachmittags halb fünf
Süddeutsche Zeitung, 15.2.2018
Michael Braun: Da kamen Kram-Gedanken
Badische Zeitung, 17.2.2018
Michael Braun: Die Königin des poetischen Eigensinns
Die Zeit, 18.2.2018
Karin Großmann: Und ich sitze und halte still
Sächsische Zeitung, 17.2.2018
Christian Eger: Dichterin aus Halle – Wie Literatur und Sprache Lebensimpulse für Elke Erb wurden
Mitteldeutsche Zeitung, 17.2.2018
Ilma Rakusa: Mensch sein, im Wort sein
Neue Zürcher Zeitung, 18.2.2018
Oleg Jurjew: Elke Erb: Bis die Sprache ihr Okay gibt
Die Furche, 8.3.2018
Annett Gröschner: Gebt Elke Erb endlich den Georg-Büchner-Preis!
piqd.de, 27.6.2017
Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2020 an Elke Erb am 31.10.2020 im Staatstheater Darmstadt.
Im Universum von Elke Erb. Beitrag aus dem JUNIVERS-Kollektiv für die Gedenkmatinée in der Volksbühne am 25.2.2024 mit: Verica Tričković, Carmen Gómez García, Shane Anderson, Riikka Johanna Uhlig, Gonzalo Vélez, Dong Li, Namita Khare, Nicholas Grindell, Shane Anderson, Aurélie Maurin, Bela Chekurishvili, Iryna Herasimovich, Brane Čop, Douglas Pompeu. Film/Schnitt: Christian Filips
Zur Erinnerung an Elke Erb und Helga Paris. Lesung mit Steffen Popp, Brigitte Struzyk, Joachim Hildebrandt und Peter Wawerzinek am 6.7.2024 im Salon von Ekke Maaß, Berlin. Martin Schmidt: Improvisationen am Klavier
Elke Erb liest auf dem XVII. International Poetry Festival von Medellín 2007.
Elke Erb liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.
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