DIE FÄHRE
unterwegs über den fluß
stunde um stunde bis in die nacht
fahrgäste, fahrzeuge von ufer zu ufer,
dirigiert von zwei stakenden männern
die fähre, eines wintermorgens,
nebelverhangen, bei eisgang,
abgängig, ketten ausgeschert,
weit hinunter abgetrieben, hinüber
zur flußinsel, von saatkrähen
zerkrächzt und gefleckt
das winterquartier, unwirsch
umflogen langsam gealterte baumgruppe
mitten im nebelwallenden wasser,
knirschend aufgefahren, morgenmüd
schlotternd die pendler, vom frost
eingennommen, auf niemandsland
verfrachtet, murrend und krächzend
gleich dem pulk schreiender krähen
im winterbild, rufe aus den baumkronen
und von der kiesbank hinüber
zum festland, der strom voller treibeis,
das nicht strandet, des winters grind
fährt zu grunde, flutwelle flutet
die insel im fluß.
Wulf Kirsten
UNTERWEGS ÜBER DEN FLUSS
Mit meinen Augen gelesen ist unterwegs, unterwegs sein: nicht hier und nicht dort sein: Da ich ankomme bei diesem Gedicht von 1998 im Buch Wettersturz, von den anderen Gedichten herkomme und zu den folgenden Gedichten hinwill, und vermutlich auch selbst schon den Sinn auf die Bewegung gerichtet halte, bin ich in meinem Sinn und mit dem ersten Wort so prompt und so ausschließlich unterwegs, daß ich mir nicht Zeit nehme, zu bemerken, unterwegs heiße doch: nicht mehr hier und noch nicht dort. Und ich überrenne auch jetzt, daß diese Formel: nicht mehr hier und noch nicht dort – zu einer Parabel dienen könne – samt der im Gedicht folgenden Begebenheit – zu einer Parabel dienen könne für den Wechsel von einer Gesellschaft in die andere, den mißglückenden Wechsel.
Mag es so lesen, wer will – flüchtig erwäge ich es selbst von fern, nebenher, und leide schon an geistiger Unterforderung, an Langweile, an dem mir oder dem Gedicht mit solcher – vielleicht frohlockenden – Einseitigkeit zugefügtem Unrecht, – soll er gelten, dieser Aspekt, aber nicht als Fazit, nicht ohne daß alle seine übrigen Aspekte auch wahrgenommen werden, – ständig ist man auf der Hut, ständig bereit zu verteidigen, nie genügt eine angebotene Bleibe zu einem Ja, so, wie sie auch immer mehr verdient als ein Nein…
Die Worte unterwegs über den fluß – überlese ich also flugs, lese sie so, als ginge es ins Unendliche, nie hier und nie dort sein, immer nur unterwegs. Ich korrigiere den Text, rücke ihn zurecht: um in meinem Sinn unterwegs zu sein, muß es heißen: unterwegs auf dem Fluß: verteidige mich sofort: ja, es ist eine Fähre, ja, sie fährt hin und her, nur von einem Ufer zum andern, immer nur. Sehe sie nur auf dem Fluß, immer zwischen den Ufern, ewig unterwegs, jetzt, in diesem Augenblick, jetzt gerade immer unterwegs, aktualisiert und verewigt. Wie das Leben zwischen Anfang und Ende immer unterwegs ist, nein, wie es seine Bewegung wiederholt. Da es Funktionen erfüllt, da es nur Funktionen erfüllt, möchte ich es so sehen:
Unterwegs ist sein Ort, Der Weg ist alles, nichts das Ziel, heißt der Code. Mein Code. Der dem Text in meinen lesenden Augen begegnende Code. Ertrage auch nicht, aus Gutherzigkeit, eilfertiger, will nicht wahrhaben, daß es da nicht weitergeht, weiterkommt, daß es da nur Fähre ist. Und verwandle die klassische Formel „Der Weg ist alles, nichts das Ziel“ in die romantische: „Fahre zu, ich will nicht fragen, wo die Fahrt zu Ende geht.“ Das verewigte Fahren, das seinen Zweck in sich selbst erfüllende Fahren. Das Unterwegssein als das Selbst – gesehn, erwünscht, ersehnt. Nicht enden müssen, durch das Stranden hindurch nicht enden. Ein unaufhörlicher Anfang, der kein Ende kennt. Diesem Sinn gehorchend, stelle ich beim ersten Lesen also die Worte um, mit Bleistift, am Rand:
stunde um stunde über den fluß
bis in die nacht unterwegs
So kann ich das Wort über (statt „auf“) stehenlassen, die nacht, ins Symbolische verschoben, ist gleich (=) unendlich. Die Nacht löst zumindest die Grenzen auf. – Der Wille des Sinns formt die Sicht, wirtschaftet eigensüchtig, – und munkelt auch die Fähre um, das Signal „Fähre“, das dem Lesen wider den Strich geht:
(…) die fähre,
die am wintermorgen, nebel,
bei eisgang, entkettet, weit
Die Nacht löst die Grenzen auf. Das Eis ist unterwegs. Das an Ketten Geführte entkettet. Es soll weit sein, das Wort weit entkette ich aus dem Text in meiner täuschenden Folge und ergänze.
(…) die fähre,
die am wintermorgen, nebel,
bei eisgang, entkettet, weit
abtrieb, hinunter, hinüber
Mitliest aber mit dem Willen, neben ihm, ein Unterwegsgewesensein in den Gedichten, die voraufgegangen waren, jetzt, beim Wiederlesen und beim vorigen Lesen in den beiden letzten Gedichtbänden Wulf Kirstens, und mitliest die immer gegenwärtige unmittelbare Bereitschaft (als läse man neu), Bereitschaft und Fähigkeit, in ein Gedicht hineinzugehen, mich zu schicken in es (wozu läse ich sonst): Wie heißt der Eisgang? – Fähre.
Mit der unendlichen Fahrt zugleich, zusammen mit dem unbeendlichen Unterwegs – ist zu lesen das Immer-wieder, die Wiederholung, das Einerlei das immer-in-Funktionen-sich-Bewegens – es ist kein Ort, es bindet uns nicht; so soll es gleich sich lösen, gut oder nicht, und als Fahrt gesehen sein. Nicht hadern, nicht, sich selbst geraubt von der Funktion, in ihr begraben sein, nicht nichts weiter als das und begraben auch noch unter der Last, dem Schutt eines vergeblichen Haderns…
Elke Erb
Der Text dieser Rede entstand für die Vortragsreihe „Dichter erklären Dichter‟ veranstaltet von der Badischen Zeitung in Freiburg im Jahr 2001. Erschienen zum 18. Februar 2003 in 300 Exemplaren.
Verlag Ulrich Keicher, Klappentext, 2003
Franz Hofner: Hinter der Scheibe. Notizen zu Elke Erb
Elke Erb: Die irdische Seele (Ein schriftlich geführtes Interview)
Elke Erbs Dankesrede zur Verleihung des Roswitha-Preises 2012.
Im Juni 1997 trafen sich in der Literaturwerkstatt Berlin zwei der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Elke Erb und Friederike Mayröcker.
Klassiker der Gegenwartslyrik: Elke Erb liest und diskutiert am 19.11.2013 in der literaturWERKstatt berlin mit Steffen Popp.
Lesung von Elke Erb zur Buchmesse 2014
Steffen Popp: Elke Erb zum Siebzigsten Geburtstag
literaturkritik.de
Waltraud Schwab: Mit den Gedanken fliegen
taz, 10.2.2018
Olga Martynova: Kastanienallee 30, nachmittags halb fünf
Süddeutsche Zeitung, 15.2.2018
Michael Braun: Da kamen Kram-Gedanken
Badische Zeitung, 17.2.2018
Michael Braun: Die Königin des poetischen Eigensinns
Die Zeit, 18.2.2018
Karin Großmann: Und ich sitze und halte still
Sächsische Zeitung, 17.2.2018
Christian Eger: Dichterin aus Halle – Wie Literatur und Sprache Lebensimpulse für Elke Erb wurden
Mitteldeutsche Zeitung, 17.2.2018
Ilma Rakusa: Mensch sein, im Wort sein
Neue Zürcher Zeitung, 18.2.2018
Oleg Jurjew: Elke Erb: Bis die Sprache ihr Okay gibt
Die Furche, 8.3.2018
Annett Gröschner: Gebt Elke Erb endlich den Georg-Büchner-Preis!
piqd.de, 27.6.2017
Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2020 an Elke Erb am 31.10.2020 im Staatstheater Darmstadt.
Im Universum von Elke Erb. Beitrag aus dem JUNIVERS-Kollektiv für die Gedenkmatinée in der Volksbühne am 25.2.2024 mit: Verica Tričković, Carmen Gómez García, Shane Anderson, Riikka Johanna Uhlig, Gonzalo Vélez, Dong Li, Namita Khare, Nicholas Grindell, Shane Anderson, Aurélie Maurin, Bela Chekurishvili, Iryna Herasimovich, Brane Čop, Douglas Pompeu. Film/Schnitt: Christian Filips
Zur Erinnerung an Elke Erb und Helga Paris. Lesung mit Steffen Popp, Brigitte Struzyk, Joachim Hildebrandt und Peter Wawerzinek am 6.7.2024 im Salon von Ekke Maaß, Berlin. Martin Schmidt: Improvisationen am Klavier
Elke Erb liest auf dem XVII. International Poetry Festival von Medellín 2007.
Elke Erb liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.
Ein Vergnügen, Gedicht und Impressionen der Seite zu folgen.
Fähr’t