– Zu Paul Flemings Gedicht „Gedancken / über der Zeit.“ aus dem Band Ich bin ein schwaches Both ans große Schiff gehangen. –
PAUL FLEMING
Gedancken / über der Zeit.
Ihr lebet in der Zeit / und kennt doch keine Zeit /
So wisst Ihr Menschen nicht von / und in was Ihr seyd.
Diß wisst Ihr / daß ihr seyd in einer Zeit gebohren.
Und daß ihr werdet auch in einer Zeit verlohren.
Was aber war die Zeit / die euch in sich gebracht?
Und was wird diese seyn / die euch zu nichts mehr macht?
Die Zeit ist was / und nichts. Der Mensch in gleichem Falle.
Doch was dasselbe was / und nichts sey / zweifeln alle.
Die Zeit die stirbt in sich / und zeucht sich auch aus sich.
Diß kömmt aus mir und dir / von dem du bist und ich.
Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen.
Doch aber muß der Mensch / wenn sie noch bleibet / weichen.
Die Zeit ist / was ihr seyd / und ihr seyd / was die Zeit /
Nur daß ihr Wenger noch / als was die Zeit ist / seyd.
Ach daß doch jene Zeit / die ohne Zeit ist kähme /
Und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme.
Und aus uns selbsten uns / daß wir gleich köndten seyn /
Wie der itzt / jener Zeit / die keine Zeit geht ein!
heißt das Gedicht, von dem ich sprechen möchte. Es ist das Gedicht eines Zweiundzwanzigjährigen. Eines aber noch und noch im Reden und schriftlichen Reden geschulten, im Abfassen vor allem beredsamer lateinischer Verse geübten Zwanzigjährigen. Paul Fleming (1609–1640) steht vor der Prüfung zu seinem ersten akademischen Grad.
Nach der Lateinschule in Mittweida war er 1622 an die Thomasschule in Leipzig gekommen, eine Armen-Schule. Mit dem Entgelt für die Auftritte der Knabenchöre beglich der Rat der Stadt die Kosten. Die Ausbildung in Musik stand wohl der in den anderen Fächern in nichts nach, Grammatik, Rhetorik, Poetik, Vergil, Terenz, Ciceros ,Paradoxa stoicorum‘. Auswendiglernen, Argumentieren, loci-communis-Hefte, Gemeinplatzhefte anlegen, also Zitate sammeln. Der Student stieg dann auf zu Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie und Medizin. Zur Musik unter diesen Fächern als zu einem Sonderfall der mathematischen Verhältnislehre. Das Studium glich seinem Vorlauf, Schülerbravour wird auch die Dichtung oder, umgekehrt, die Dichtung die Schülerbravour meistern.
Das Gedicht sei, schreibt Heinz Entner in seinem Buch über Fleming (Reclam, Leipzig 1989), ursprünglich geschrieben auf das Begräbnis einer Anna Bach, Leipzig, 21. Februar 1632.
Es mag ja, was es sagt, nur Schulweisheit sein, von der antiken und der lateinischen Tradition der Humanisten mehrfach durchgeturnt, philosophisch, und liest man dergleichen philosophisch, blickt man z.B. in den Augustinus, wundert man sich, daß es kein Ende nehmen will mit den Gedanken über der Zeit. Quid est tempus? fragt Melanchthons Physiklehrbuch. Da ist die Zeit von Gott erschaffen, die Ewigkeit aber Gott selbst. Die Zeit selbst ist kein Ding, sondern – ja, da sondere du – das Maß für die Bewegung und Veränderung körperlicher Dinge nach dem Verhältnis eines ,Vorher‘ zu einem ,Nachher‘. Auch soll sie aber fließen, ein Kontinuum sein. Die Ewigkeit aber ist nicht gottgeschaffen, sondern selbst göttlich, sie ist alles in einem, ohne Vorher und Nachher, unverlierbar, unveränderlich, nur gegenwärtig.
Johann Rist, geboren 1607, betritt die gemeinplätzige Tänzeltenne mit einer ,Ernstlichen Betrachtung / Der unendlichen Ewigkeit‘, die so beginnt:
O Ewigkeit du Donnerwort /
O Schwerdt das durch die Seele bohrt /
O Anfang sonder Ende /
O Ewigkeit Zeit ohne Zeit /
Ich weis für grosser Traurigkeit /
nicht wo ich hin mich wende / […]
Und für die mystische Deutung zitiert Entner den gewitzten Angelus Silesius:
Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,
So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.
Ich dachte ja, ich hätte noch die Wahl, welches Gedicht von Fleming ich mir vornehmen werde, da hatte mich dieses schon festgehalten. Seine Formelteile, so nacheinander aufgeführt, scheinen sich in einem eigenen Klang zu finden, der sie, indem er klingt, zugleich auch stillt. Vielleicht ist es diese Stille, die mich hält. Nährt sie sich aus der ,grossen Traurigkeit‘ in Rists Gedicht, aus einer in dem Krieg gereiften Bereitschaft, das Leben zu lassen? Vor keinem halben Jahr sahen die Leipziger Augen 15.000 Tote und Verwundete auf dem Schlachtfeld bei Breitenfeld. ,Ach, was ist das Leben doch / in dem nichts als Sterben lebet‘. Fleming 1633. Oder stillt die Gedanken die junge Stimme Fleming, die das Einmaleins neuspricht? Oder unsere wiederum noch junge deutsche Sprache, der sie die Ehre gegeben haben heraus aus dem Latein und den Zeitläuften, Weckherlin, Opitz, Fleming, der Holsteiner Rist, Scheffel-Silesius und die anderen Dichter? Oder ist es das junge, schlanke, neue deutsche Gedicht hier vor mir? Wie leicht laufen die Verse, wie friedfertig schwingen sie.
Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen.
Doch aber muß der Mensch / wenn sie noch bleibet / weichen.
Die Zeit ist / was ihr seyd / und ihr seyd / was die Zeit /
Könnte es sein, die fließende Sprache läßt die Gedichtzeit selbst zur erfüllten Zeit, zur ersehnten Ewigkeit werden?
Die Unebenheiten auch halten Ton wie Sinn in Fluß. Niemals wieder – oder? – bringt jemand von uns solche satt nach Erde duftenden schwebenden Akzente fertig, die meine ganze Wonne sind:
so wißt ihr Menschen nicht von / und in was ihr seyd.
Da muß die Stimme das ,und‘ betonen, ohne dem ,von‘ und dem ,in‘ etwas wegzunehmen. Da kann sie zeigen, daß sie sich nicht festnageln läßt. Da darf sie mal so sein, wie menschlich und füllig sie ist bei sich, hinter dem normalisierten Vordergrund! Und dann hier:
Die Zeit ist was / und nichts.
Gehen wir die vier Jahrhunderte zurück, dann treffen wir das ,was‘ noch außerhalb der ihm nun zugewiesenen Reservate, dem Fragepronomen und der Konjunktion, da schneiden wir das Kettenglied ,et‘ souverän ab und setzen den Alexandriner triumphierend fort:
Die Zeit ist was / und nichts, der Mensch in gleichem Falle.
Und ein solcher Triumph nach dem andern. Von Silbe zu Silbe, wie ein wirkliches Gehen, erreicht es der Sprechende, sich in der frühen hochdeutschen Sprache wörtlich-prompt-örtlich deutlich zu machen.
Eine dritte Neid erregende Unbestimmtheit und mit ihr gewonnene Expressivität erfreut im Umgang mit den Pronomen, wenn es Ende 1632 etwa heißt: Unterdessen sey der Deine! worauf sich dann reimt: labe dich mit altem Weine. Oder: Tugend ist mein Leben / der hab’ ich ergeben / den gantzen mich / (Oden 1, 8). Hier im Gedicht begnügen wir uns mit dem schlichten: aus uns selbsten uns:
Ach daß doch jene Zeit / die ohne Zeit ist kähme /
Und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme.
Und aus uns selbsten uns.
Ein wenig mechanisch wirkt die Verwendung, nicht wahr? Und umso aufrichtiger. Eine besondere Besonderheit birgt aber noch der Schluß.
Ach daß doch jene Zeit / die ohne Zeit ist kähme /
Und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme.
Und aus uns selbsten uns / daß wir gleich köndten seyn /
Wie der itzt / jener Zeit / die keine Zeit geht ein!
Also: daß wir gleich sein könnten wie ihr, nämlich der Gestorbenen, also Sterblichen, so auch jener Zeit, die keine Zeit ist. Das ist, meine ich, der Sinn am Ende. Oder: daß wir gleich könnten seyn der, die in keine Zeit eintritt, wie sie jetzt jener Zeit gleicht, die keine ist. Im Dienst dieser Auslegung setzt Entner ein Komma im letzten Vers anders, als es in Volker Meids Reclam-Ausgabe der Gedichte steht. Die Schlußpointe ist syntaktisch zwittrig gebildet, und es will durchaus nicht gelingen, die überzwerch gelegten Glieder auseinander zu bekommen. Die Gliederklarheit ist so verloren, wie auch wir dahin sein werden. Und eben daher gewinnt das Gedicht seinen sieghaft sinnvollen Schluß, der Mechanikerverstand, den die Epoche zu Macht und Pracht bringen wird, erreicht ihn nicht, das Gefühl oder das, was man als Einheit meint, wenn man sagt ,Sinn und Verstand‘, hat ihn längst inne.
Elke Erb, aus Ich bin ein schwaches Both ans große Schiff gehangen. Die Lebensreise des Paul Fleming in seinen schönsten Gedichten. Herausgegeben von Richard Pietraß unter Mitarbeit von Peter Gosse, Projekte-Verlag Cornelius, 2009
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