ZUM STAND DER FORSCHUNG
Den Stand der Forschung charakterisierten Durzak/Steinecke in ihrem Vorwort zu dem 1992 erschienenen Sammelband Günter Kunert, Beiträge zu seinem Werk folgendermaßen:
Die Zahl der Kritiken über Kunerts Werk geht in die Hunderte, aber aus bekannten Gründen ist die Tageskritik besonders ungeeignet, lyrischen Werken gerecht zu werden. Ihre Ansätze und punktuellen Einsichten wurden bereits früh von der Literaturwissenschaft aufgegriffen, diskutiert, erweitert oder verworfen. Allerdings dominiert dabei der Typus des kürzeren, entweder auf ein Werk oder auf eine Perspektive beschränkten Aufsatzes bei weitem; Studien, die einen größeren Ausschnitt des Werkes untersuchen, auf Entwicklungen und Zusammenhänge eingehen, sind hingegen noch selten.1
Diese Aussage hat auch heute noch Gültigkeit. Von den existierenden Ansätzen zur Deutung von Kunerts Lyrik sollen im weiteren die methodologisch richtungsweisenden und diejenigen, die für die Rezeption paradigmatischen Stellenwert haben, vorgestellt werden.
Zu Kunerts erstem Gedichtband Wegschilder und Mauerinschriften (1950), für dessen Drucklegung beim Aufbau-Verlag der damalige Kulturminister Johannes R. Becher gesorgt hatte,2 meldeten sich prominente Kritiker zu Wort. Die Eintragungen in Bechers Tagebuch Auf andere Art so große Hoffnung zeugen von dem großen Eindruck, den Kunerts erste Gedichte auf ihn machten. Er nennt Kunert einen „junge[n], begabte[n] deutsche[n] Dichter“,3 doch der Hauptakzent seines Lobs liegt darauf, daß dieser Lyriker „[a]us unserer neuen Wirklichkeit“ hervorgegangen ist. Gleichzeitig stilisiert er den Dichter zu einem neuen Priester, dessen „Gedichte […] unser Tun und Trachten“ segnen. Wie groß das sakrale Ambiente ist, das Becher der Dichtung verleiht, macht die Aufzeichnung vom 20.1.1950 deutlich, wo sich eine Abschrift von Kunerts Gedicht „Erst dann“ findet:
ERST DANN
Erst wenn du,
Maurer,
sagen kannst;
Dieses Haus habe ich gebaut;
es ist nicht mehr zu zerstören –
hast du
deine Arbeit abgeschlossen.
Erst wenn du,
Dreher,
sagen kannst:
Dieses Gewehr habe ich gemacht:
es wird keine Kinder mehr treffen –
hast du
deine Arbeit recht geschafft. (Wegschilder und Mauerinschriften, S. 16)
Andächtig schreibe ich das Gedicht ab und besonders sorgfältig, mit recht deutlicher Handschrift. Wie schreiben mir Kinder über die Nationalhymne: sie möchten sie schön abschreiben. Schön schreibe ich das Gedicht dieses jungen deutschen Menschen nieder – eine heilige Handlung. Und eine zerschlissene Fahne neigt sich, der Dichter in mir neigt sich, vor einem neuen Wehen.4
Die Begeisterung Bechers teilt Georg Maurer nicht. Er kritisiert Kunerts Gedicht5 „Abends gehe ich“, das ebenfalls von Aufbaupathos und Zukunftsoptimismus geprägt ist. Für Maurer reimt die Aufbaulyrik lediglich die tagespolitischen Losungen.
Ich möchte damit sagen, daß Sinnesnotierungen durch einen optimistischen oder pessimistischen Anhang noch nicht zum Gedicht werden. […]. Vor den Jungen Lyrikern, die sich der liedhaften politischen Aussage verschrieben haben, steht die Gefahr des bloßen Versifizierens der neuen Inhalte.6
Eine Einschätzung, die Kunert rückblickend teilt, wenn er schreibt, „statt Tinte floß schierer Optimismus aus meiner Feder“.7
Hans Mayer zitiert in seiner Rezension vom 17.12.1950 die letzte Strophe des Gedichts „Erst dann“ und hebt wie Becher Kunerts „unentbehrliche und seltene Fähigkeit“ hervor, „die Gegenwart nicht bloß als eine Summe von Tatsachen, sondern als eine Aufgabe zu zu immer neuer produktiver Umgestaltung im Sinne eines neuen Humanismus zu schildern.“8 Dieses humanistische Potential erkennt Eduard Zak paradoxerweise darin, daß sich der Dichter als „Kampfgefährte“ mit „blanken Worten“ verstehe, „mit de[nen] sich der Dichter den neuen Boden erkämpft hat, […] auch hier blitzt die Waffe“.9
Doch gerade mit dem Gedicht „Während des großen S-Bahn-Streikes (Mai 1949)“ (Wegschilder und Mauerinschriften, S. 38f.), das aus aktuellem Anlaß geschrieben wurde und den S-Bahn-Streik im Mai 1949 vor dem Hintergrund der Pariser Außenministerkonferenz, in deren Mittelpunkt die Deutschlandfrage stand, zu seinem Thema macht, handelt sich Kunert ersten Ärger ein. Dieses ganz in einer perfiden Sprache der Ideologie des Kalten Krieges verhaftete Gedicht denunziert die Westmächte als Erben des Nationalsozialismus. Das Gedicht wird im Sinne Eduard Zaks zur Waffe im Kampf gegen den politischen Gegner. Obwohl es tagespolitisch aktuell ist, fand Kunert keine Publikationsmöglichkeit für dieses Gedicht, aber nicht, wie man denken könnte, wegen seiner abstoßenden Terminologie.
Kunert schickte das Gedicht dem Feuilleton-Redakteur des Neuen Deutschland Heinz Lüdecke, der es mit der Begründung zurückwies, es sei „formalistisch“.10 Den Vorwurf des Formalismus nimmt Leonore Krenzlin in ihrem Aufsatz „Theoretische Diskussionen und praktisches Bemühen um die Neubestimmung der Funktion der Literatur an der Wende der fünfziger Jahre“11 auf. Für Krenzlin prangert das vorliegende Gedicht zu Recht den überlebenden Nazismus in den Westzonen an. Es verstehe sich zwar als parteiliche Auseinandersetzung mit den aktuellen Ereignissen, trotzdem unterscheide es sich, so Krenzlin, von einem tagespolitischen Agitations-Gedicht. Den Formalismusvorwurf erklärt Krenzlin hauptsächlich mit der Abstraktheit des Kunertschen Gedichts: es referiere nicht wie ein Gelegenheitsgedicht den tagespolitischen Vorfall, sondern nehme diesen zum Anlaß für eine politische Reflexion in „stark verfremdenden poetischen Bilder[n]“, die „das Gedicht zum damaligen Zeitpunkt gewiß als ein ungewöhnliches Formexperiment erscheinen“12 ließen.
Wolfgang Krenek stellt Kunerts gestalterische Fähigkeit, die „gedankliche[] Konzeption“ seiner Gedichte und nicht zuletzt den Aufbau des Gedichtbands insgesamt in Frage,13 doch der Bonus der positiven Becher-Kritik hält lange vor, zumal sie vom zweiten großen Doyen der ostdeutschen Kulturszene bestätigt wird. Weit weniger emotional als Johannes R. Becher, aber ebenso positiv beurteile Bertolt Brecht Kunert in einem Brief an den polnischen Regisseur Leon Schiller vom 25. April 1952 als „einen der begabtesten unserer jungen Lyriker“. So bleibt dann eine Standardfrage von Rezensenten und Literaturwissenschaftlern, „inwieweit nun Günter Kunert die Hoffnungen Johannes R. Bechers erfüllt“.14
Sobald allerdings in Kunerts Gedichten der Optimismus hinsichtlich (der Entwicklung der Gesellschaft nicht mehr gewahrt blieb, wurde die Kritik harsch. Der „Gesang für die im Zwielicht lebten“ aus dem Gedichtband Tagwerke von 1961 beschreibt in sechzehn Strophen das Leben eines Arbeiters, „der sich nicht gegen den Faschismus erhoben hat, nicht gegen den Krieg, und der den größten Teil seines Lebens hinter sich hatte, als die Grenzscheide Kapitalismus-Sozialismus erreicht war“.15 Der alte Arbeiter wird in diesem Gedicht aufgefordert, seine Situation und damit sich selbst zu erkennen. Als Interpretationshilfe wird ihm das Bild eines Baums, der durch die Unbilden des Wetters verkrüppelt wurde, entgegengehalten.16 Es ist ein Gedicht aus der Perspektive des ,Zuspätgekommenen‘:
9
Es schmerzt, daß du
Zu früh kamst und zu spät gleichermaßen.
Zu spät, um nicht von der zweiten Erschaffung
Der Erde durch Menschen zu hören.
Zu früh, um es noch zu erleben.
Entzweigeschnitten innerlich und geteilt
In Vergangenheit und Zukunft
Gleichst du dem Lande, dem du entstammst.
Diese Strophe erinnert an eine Tagebucheintragung Bechers, der sich selbst an die „Grenzlinie“ seines Lebens gekommen sieht. Er ist geprägt von dem „großen Mangel“, einen beträchtlichen Teil seines Lebens in einer „elenden Vergangenheit“17 verbracht zu haben, und von der Trauer, daß die „eigentliche Gestaltung der Zukunft“ jetzt „anderen vorbehalten“18 bliebe.
Hans Koch verurteile apodiktisch in seiner Rezension „Sicher auf dem neuen Ufer. Wahrheit und Qualität in der Literatur“ das in diesen Versen zum Ausdruck kommende „unwahre Lebensgefühl“, wobei er gerade die 9. Strophe aus Kunerts „Gesang für die im Zwielicht leben“19 (sic!) im Sonntag zitiert:
Diese Lebenshaltung steht in tiefem Gegensatz zur Wahrheit. Zur historischen konkreten Wahrheit unserer Epoche, des neuen Zeitalters, das auch in Deutschland bereits begonnen hat. Zur Wahrheit und Ethik des sozialistischen Kampfes überhaupt. […] Der Held unserer Zeit ist nicht der vom Kapitalismus geschlagene Krüppel, „verrenkt“, „verbogen“, „verzogen“, „gerädert und gedehnt“, „mühsam und zagend“, „mit geneigtem Kopf“, für den andere Revolution machten und der nur noch tauge, im Frühlicht zu säen, damit – dereinst – andere ernten können.
Koch rekurriert dann auf den VI. Parteitag der SED, wo man sowohl Positionen zur „Praxis des Heldentums, der Arbeit und des Lebensgefühls von Arbeitern“ als auch zur „Konstituierung eines wirklichen neuen Nationalgefühls“ formulierte, die Kunert, so Koch, fremd zu sein scheinen:
Das gedrückte, zerrissene und unwahre Lebensgefühl gibt sich bei Kunert „gleichst du dem Land, dem du entstammst“ – als „Nationalgefühl“, als die traurige Misere des „gestörten Verhältnisses zur Nation“.20
In einer Replik macht Kunert die Redaktion des Sonntag auf Kochs Lesefehler, der die Grundlage für seine falsche Interpretation bildete, aufmerksam. Zudem berichtet er von der Entstehungsgeschichte des Gedichtbands Tagwerke, dessen Gedichte zwischen 1953 und 1957 geschrieben wurden, die dann noch zwei Jahre beim Mitteldeutschen Verlag auf ihre Veröffentlichung warten mußten: „Der ,Gesang‘“, schrieb Kunert am 25.2.1963, „mag sieben, acht Jahre alt sein. Ihn so zu interpretieren, als wäre er gestern entstanden, scheint mir zumindest gewagt“.21 Es erfolgte keine Richtigstellung im Sonntag.
Mit der Koch’schen Kritik war der Bann gebrochen. Ideologisch ausgerichtete Dissertationen, die am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED verfaßt wurden, wie diejenigen von Erika Hinckel22 oder Armin Zeißler,23 schlagen in die von Koch markierte Kerbe. Hinckel kritisiert an Kunerts drittem Gedichtband das Fehlen des „Parteistandpunkts“,24 der den bloßen ,Widerspruch an sich‘, wie ihn Kunerts Gedichte zeigten, in dialektisches Denken umschlagen ließe. Für sie liege dem von Koch zitierten Gedicht eine „undialektische, objektivistische Auffassung vom Widerspruch“25 zugrunde, der konsequent „zur undialektischen und damit falschen Darstellung des Menschen unserer Zeit“26 führe.
An diese Ergebnis schließt die Arbeit von Armin Zeißler an. Er untersucht in seiner Dissertation „die Perspektivgestaltung in der Lyrik der Deutschen Demokratischen Republik“. Vorformuliert findet er dieses Thema bei der 30. Tagung des Zentralkomitees der SED von 1957 beziehungsweise dem V. Parteitag des Jahres 1958, wo „das Problem der Perspektive […] in den Mittelpunkt der ideologisch-kulturellen Arbeit“27 gestellt wurde. Die Auffassung, die dem Begriff der Perspektivgestaltung als einem „äußerst wichtige[n] politische[n] und ästhetische[n] Moment“ zugrunde liegt, wird durch die Prinzipien der sowjetischen Literaturwissenschaft28 geprägt. Nach Zeißler eignet sich der in den fünfziger Jahren entstandene Lyrikband Tagwerke besonders, „Entwicklungstendenzen der Perspektivgestaltung im lyrischen Schaffen Günter Kunerts zu untersuchen und einige Ursachen für die Widersprüchlichkeit in seiner Dichtung aufzudecken“.29 Doch das literaturtheoretische Erkenntnisinteresse wirkt vorgeschoben, wenn Zeißler Gedichte als Medien begreife, die „die geistige Position des Lyrikers in den Jahren nach 1958 widerspiegeln“.30
Im „Gesang für die im Zwielicht lebten“ z.B. (geschrieben in den Jahren 1958/59) reflektiert der Lyriker die Wirklichkeit in einer Weise, die den sich objektiv vollziehenden historischen Prozessen in der modernen Epoche zuwiderläuft. Die Aussage dieses Gedichts läßt vor allem das Unvermögen Kunerts sichtbar werden, zu erkennen, „wie die Widersprüche durch den Kampf unserer Partei und des Volkes gelöst werden“.31
Kunerts Dichtung mangelt es, nach Zeißler, an Parteilichkeit, ihr ästhetisches Scheitern sei somit ideologisch begründet: Zwischen der Perspektivgestaltung und dem ästhetischen Gehalt sowie der parteilich eindeutigen Wirkung von Gedichten bestehe ein dialektischer Zusammenhang.
Einen weiteren wichtigen Aspekt für die literaturwissenschaftliche Kritik bildet die Brechtrezeption in den frühen Gedichtbänden Günter Kunerts. Schuhmann gilt die parteiliche Lyrik Brechts in seiner Studie von 1977 als vorbildlich, da in ihr das zentrale Thema der „literarische[n] Gestaltung der neuen Wirklichkeit“32 aus eindeutig klassenkämpferischer Perspektive bereits Gestalt angenommen habe.
Vor diesem Hintergrund verstehe sich auch Schuhmanns positive Einschätzung von Kunerts Gedicht „Traum von der Erneuerung“ (WM, S. 64f.), das er als einen „neue[n] Gesellschaftsentwurf“ interpretiert, „der zeigen soll, wie die Welt eingerichtet werden könnte, wenn die Menschheit geheilt wäre“.33 Denn die angesprochenen Krankheiten seien keine klinischen, sondern die Folge der „Verheerungen des zweiten Weltkriegs“ und der „faschistischen Herrschaft“.34 Auch Kunerts Nähe zu den Buckower Elegien in seinem Gedichtband Unter diesem Himmel wird von Schuhmann positiv vermerkt, während er die Tendenz, die sich in den 1961 erschienenen Gedichtbänden Das kreuzbrave Liederbuch und Tagwerke abzeichnet, ablehnt. Hier übersehe Kunert bei seinen satirischen Angriffen auf die Gesellschaft, daß „in dem Maße, wie das historische Beispiel die Gegenwart im Gleichnis umschreibe, […] die vom Autor intendierte Kritik hinter der Wirklichkeit“ zurückbleibe. Schuhmanns Vorbehalte gipfeln in dem Vorwurf:
Statt Poesie entstand politische Agitation. Das Mißverhältnis zwischen Poesie und Politik war offensichtlich.35
Für Schuhmann war Kunerts Konzept zu diesem Zeitpunkt nicht mehr tragfähig, da er den Konsens mit der Gesellschaft nur „vortäuschte“.36 In den sechziger Jahren finde sich in Kunerts Lyrik, so Schuhmann, eine „neue[] Positionsbestimmung“, deren Folge eine „modifizierte Brechtrezeption“ und eine neue poetische Potenz sei. Die Gedichte der sechziger Jahre erscheinen „wirklichkeitsträchtiger“,37 allein Kunerts rezeptionästhetische Reflexionen führten in eine Sackgasse. Sie opferten den gesellschaftlichen Auftrag einer „moralische[n] Selbstprüfung und Läuterung“38 des Lesers. Für diese „,sentimentalische‘ Dichtung“, wie Schuhmann sie nennt, könnte „die Dimension des Politischen nur noch die Ausnahme sein“,39 und damit falle sie hinter die dichtungstheoretische Position Brechts zurück.
In seinem Aufsatz „Zur Brecht-Rezeption bei Günter Kunert und Hans Magnus Enzensberger“,40 der 1968 im Brecht-Sonderheft der Weimarer Beiträge erschien, und in seiner ein Jahr später publizierten Dissertation41 konstatiert Klaus Werner bei Kunert trotz einer inhaltlichen und formalen Nähe eine „falsch verstandene[] Brechtnachfolge“.42 Obwohl Kunert anstrebe, Brechts dichtungstheoretische Prämissen einzulösen, blieben seine Gedichte, so Werner, eigentümlich abstrakt und erreichten „keinesfalls die komplizierte Struktur der neuen Wirklichkeit“.43 Daraus resultiere die bei Kunert im Gegensatz zu Brecht „undifferenziert konsequente und hypertrophierte“ Überbewertung der faschistischen Vergangenheit. Kunerts Fehleinschätzung liege darin, daß er nicht zwischen den konträren Staatssystemen unterscheide.
Charakteristisches Zeichen ist auch für Walfried Hartinger, dessen Dissertation über „Geschichte und Theorie des Zyklus in der Dichtung der DDR“ im gleichen Jahr erscheint, in Kunerts jüngsten Lyriksammlungen die Abkehr vom Glauben an die „Veränderbarkeit der Welt“ hin zu der Überzeugung, daß faschistische Restbestände auch in der sozialistischen Gesellschaft überwintert hätten.44 Mängel in der sich etablierenden neuen Gesellschaft bewerte Kunert, so Hartinger, nicht als momentane, zu behebende Defizite, sondern sie würden „vorrangig aus ungenügender, heuchlerischer Bewältigung der Vergangenheit erklärt“, so werde für ihn „das Noch-Nicht-Erreichte […] das Noch-Nicht-Überwundene“.45
1969 beschäftigt sich Michael Franz im dritten Teil seiner Geschichte der DDR-Lyrik46 mit der epigrammatischen Dichtung in der Nachfolge Brechts. Er nennt Kunert den „bedeutendsten Vertreter“47 dieser Gattung, dessen Epigramme „Brechtsche Schärfe“ besäßen. Der Überblick über Kunerts lyrisches Werk ist überwiegend positiv, den Wendepunkt macht Franz 1965 mit dem Gedichtband Der ungebetene Gast fest, in dem Kunert „die epigrammatische Dichtung in dialektisch entfalteten Großgedichten zu einem Individualstil auszuprägen“48 versuchte. Franz konstatiert eine „irreführende[] Abstraktheit“, besonders das in den Gedichten zum Ausdruck kommende Menschenbild, das nicht mehr auf der „Wissenschaft der Klassiker“49 fuße, sei einem „mechanischen Materialismus“ zuzuschreiben. Kunerts dichtungstheoretischer Begriff der Paradoxie fällt für Franz hinter den logischen Begriff der Dialektik zurück und indiziere Kunerts Verabschiedung von der marxistischen Weltsicht. Trotz aller Vorbehalte versucht Franz Kunerts Gedichte wie zum Beispiel „Wie ich ein Fisch wurde“ zu retten, indem er sie für den Westen als Kritik an „kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung“50 liest, sie aber im Kontext der DDR-Gesellschaft als Satire auffaßt.51 Zudem hält Franz diese Phase Ende der sechziger Jahre für überwunden, die Gedichte „Nachlaßlager“ und „Berliner Nachmittag“ zeigten Kunert „wieder auf der Höhe seiner konkret-gegenständlichen Epigrammatik“. 52
In der Zeitschrift des Schriftstellerverbands der DDR Neue deutsche Literatur werden als Reaktion auf Vorveröffentlichungen aus Kunerts damals noch unpubliziertem Gedichtband Der ungebetene Gast als auch dem westdeutschen Gedichtband Erinnerung an einen Planeten (1963) die offiziellen Kritikpunkte im Umkreis des VI. Parteitages der SED dokumentiert. In diesem Artikel wird die Kritik vorformuliert, die dann in der Folgezeit gegen Kunert pauschal erhoben wird. Auffällig an Kunerts Dichtung der frühen sechziger Jahre sei eine „eigenartige Konzentrierung auf Probleme der Klassengesellschaft bzw. ihrer Überreste in unserem Leben“.53 Hinzu komme eine obsessive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Aufspüren von faschistischen Strukturen, die in der DDR überlebt haben sollen. Grundsätzliche Bedeutung hat der Vorwurf, Kunerts Gedichte arbeiteten an einer Mystifizierung der Geschichte, der am Beispiel der Gedichte „Interfragmentarium (Zu Franz K.s Werk)“ und „Wie ich ein Fisch wurde“ erläutert wird. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros, verstand diese Gedichte als kaum verhohlenen Affront gegen die DDR und attestierte Kunert zudem noch eine „Atomkriegspsychose“, die sich von einer nihilistischen Weltanschauung herschreibe und nicht dem „Zeitbewußtsein des modernen sozialistischen Menschen“54 entspreche. Auch die Redaktion der NDL bemängelt, daß in Kunerts Gedichten die „drohende Vernichtung der Menschheit“ durch einen Atomkrieg wie eine Naturkatastrophe und damit unabänderlich erscheine. Silvia Schlenstedt versucht in ihrem Aufsatz „Weltbezüge sozialistischer Lyrik“55 diese Vorwürfe zu relativieren, indem sie den Begriff „Warngedicht“ auch auf Kunerts kritisierte Gedichte angewendet wissen will. Schlenstedt begreift Kunerts Warngedichte als eine „Reaktion auf die Weltsituation“ „in nüchtern-sachlichem Ton“.56 Ohne emotional oder irrational zu werden, steigerten sie die Beunruhigung des Rezipienten ins Produktive. Auch der Vorwurf, daß Kunert den Atomkrieg als „unabänderliches Naturgesetz“ in seinen Gedichten vorführe und damit Pessimismus erzeuge, wird zurückgewiesen, da die „gesellschaftlichen Quellen und damit die Richtung möglicher und nötiger Aktivitäten“57 benannt werden.
Kunerts kritische Haltung zur Technik und ihrem negativen Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft, die er 1966 in der Zeitschrift Forum im Rahmen einer Lyrikdebatte zum Thema ,Schriftsteller und neue Technologie‘ formuliert, beeinflußt die Rezeption seiner Lyrik in der DDR nachhaltig. Für Horst Haase schätzt Kunert den Mißbrauch von Wissenschaft und Technik im Kapitalismus richtig ein, doch
[p]roblematisch wird es, wenn diese Kritik von den historischen Bedingungen losgelöst ist und dadurch auch auf den Sozialismus angewandt werden kann. Und der sozialistische Dichter, der zu diesen Fragen Stellung nimmt, darf diese Tatsachen und diese ideologischen Kämpfe nicht ignorieren.58
Die Gedichtbände der siebziger Jahre werden in der DDR im Feuilleton wie in wissenschaftlichen Publikationen mit Zurückhaltung behandelt. 1974 erscheinen in den Weimarer Beiträgen ein Interview mit Kunert und ein ausführlicher Aufsatz von Hans Richter. Obwohl sich die dichtungstheoretischen Positionen Kunerts Anfang der siebziger Jahre grundsätzlich geändert haben, hebt Richter heraus, „daß sich der Dichter als ein gesellschaftliches Wesen begreift, bewährt, verwirklicht“59 und sich so doch von den Anfängen seiner Dichtung nicht weit entfernt habe. Diesen Eindruck vermittelten Kunerts Gedichte bis Mitte der sechziger Jahre. Die Entwicklung des Sozialismus, die Kunert in seinen frühen Gedichten gar nicht schnell genug gehen konnte, stagniere:
An die Stelle hoffnungsvoller Beschwörung tritt hier die hoffnungslose Fehlanzeige.60
Die in diesem Umfeld entstandene Lyrik sei eine „poetische Geschichtsbilanz“ voller Aussichtslosigkeit, einem Sozialisten unangemessen, zumal sie „auf ein Unterscheiden der kapitalistischen von der sozialistischen Welt wie auf etwas Unnötiges und Unwichtiges verzichtet“.61 Nach dieser Kritik weist Richter jedoch auf „Mittel und Wege, Spannungen poetisch produktiv zu machen“, die bei Kunert „in erfreulicher Fülle“62 vorhanden seien, doch die These im Sinne eines sozialistischen Literaturverständnisses uneingeschränkt an Kunerts neueren Gedichten zu belegen, fällt Richter schwer. Kunerts wenn auch nur „vorsichtige Skepsis“, seine Ersetzung der „Kommunikation“ durch „Kommunion“ lassen eine eindeutige Beurteilung für Richter nicht zu.63
Die Rezeption der frühen Gedichtbände Kunerts wirft ein bezeichnendes Licht auf den Stellenwert der literarischen Kritik in der DDR. Die öffentliche und wissenschaftliche Literaturkritik dient in erster Linie der ideologischen Selbstverständigung. Das ist zwangsläufig in einem Staatssystem, das, wie Hans Mayer64 definiert, die Literatur als geistigen Überbau seiner Gesellschaftsordnung versteht, deren weltanschauliche Prämissen mit denen der Partei übereinstimmen müssen. Nonkonformistische Literatur gerät so automatisch zur offenen Kritik an Staat und Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist dann auch die unverhohlene Attacke Alexander Abuschs zu verstehen, der Kunerts Gedichte als politische Aussagen begreift:
Ich frage Günter Kunert von der Tribüne der Konferenz: Wollen Sie noch ein Dichter unserer Republik und gar ein Dichter unserer Partei sein? Wissen Sie eigentlich, wo der geistige Verrat an der Partei und an der Republik, an unserem Volk, das den Sozialismus aufbaut, beginnt, der Verrat auch an unserer weltverändernden und weltbefreienden Ideologie?65
Doch auch die frühe bundesdeutsche Literaturkritik setzt eindeutig ideologische Prioritäten. Übereinstimmend mit Karl Robert Mandelkow66 kann festgestellt werden, daß von einer systemimmanenten Aufbaulyrik so gut wie nichts im Westen bekannt geworden ist. Dazu schreibt Hedwig Walwei-Wiegelmann:
Bis heute war es mir z.B. nicht möglich, die beiden frühen Gedichtbände Kunerts Wegschilder und Mauerinschriften (1950) und Unter diesem Himmel (1955), die beide nur in der DDR erschienen sind, zu bekommen. Nur wenige Gedichte daraus sind in die erste westdeutsche Ausgabe Erinnerung an einen Planeten (1963) aufgenommen worden.67
Heinz Ludwig Arnold zeigt in seiner Analyse „DDR-Literatur und BRD-Kritik“68 auf, daß Schriftsteller und hier auch wieder erst in zweiter Linie deren literarische Erzeugnisse interessant werden,
deren in der DDR oder in der BRD publizierte Werke in der DDR oft ablehnend kritisiert wurden, die aber gleichwohl überzeugte Anhänger des Kommunismus sind. Wo sie […] Kritik quasi im eigenen Hause üben, ohne sein Fundament zu verlassen, zeigt die hiesige Kritik ein besonderes Interesse.69
Arnold nennt diese Strategie ,Umarmungskritik‘, „die die hausinterne DDR-Kritik gern für die eigenen antikommunistischen Implikationen fruchtbar zu machen versteht“.70 Michael Schneider formuliert diesen Sachverhalt noch radikaler, wenn er schreibt, daß der Schriftsteller „vornehmlich als Stellvertreter im ideologischen Abgrenzungskrieg und Grabenkampf“71 mißbraucht oder als „literarischer Kronzeuge“ gegen sein Land benutzt werde.72
Diese Thesen haben für die frühe westdeutsche Rezeption des lyrischen Werks Günter Kunerts ihre Berechtigung. Lothar von Balluseck charakterisiert Kunert als „eine der stärksten dichterischen Potenzen in Mitteldeutschland“73 und hebt hervor, daß Kunert zu den „Rebellen“ gehörte, „die auf dem ,Kongreß junger Künstler‘ 1956 in Chemnitz gegen die Kulturpolitik der Ulbricht-Funktionäre Front machten“.74 Denselben Anlaß benutzt Peter Jokostra in seinem Artikel „Kein Zweifel, wem sein Herz gehört“,75 wenn er Günter Kunert dem bundesdeutschen Publikum vorstellt. Auch hier wird Kunerts staatskonforme Dichtung als „ideologischen Klischees“ verhaftet abgewertet, während er nach der Chemnitz-Episode zum „jungen Rebellen und Zeitkritiker[]“ wird, der die „prinzipientreuen Wortführer des sogenannten ,sozialistischen Realismus‘ mit einer ,surrealen Bildvision‘“ provoziere. Nach „13 Jahren bitterer Erfahrung“ sei Kunerts Dichtung „[f]ern von jeder Besserwisserei und Dogmatik“ zu einer moralischen Instanz geworden: „So ist Kunerts Dichtung d e u t s c h e L y r i k im Sinne einer unkündbaren Einheit unserer Sprache“.
Ende der sechziger und im Verlauf der siebziger Jahre gibt es einige Überblicke über das Frühwerk, die wie Walwei-Wiegelmann, Flores76 und Brettschneider77 neben einer kurzen Beschreibung der einzelnen Lyrikbände den Brecht-Einfluß auf Kunerts Gedichte aufzeigen. Gregor Laschen wendet 1971 in seiner Studie „Lyrik in der DDR“ den von Kunert selbst geprägten Begriff des „schwarzen Lehrgedichts“78 für das Verständnis des Frühwerks an. Da die direkte Belehrung „unmöglich“ geworden sei, würde durch „internes, verdecktes Sprechen“ eine neue Form realistischer Dichtung und damit eine quasi negative Fortführung der Brechtschen Didaxe bei Kunert ermögliche.
Nachdem Kunert 1972 als Associate Professor in Austin/Texas Lyrik-Seminare veranstaltet hatte, entstehen in den USA mehrere Aufsätze und eine Dissertation zum lyrischen Werk.
Hofacker geht in seinem Aufsatz „Günter Kunert and the East German Image of Man“79 von der These aus, daß Anfang der siebziger Jahre die Lyrik Kunerts nach der konstatierten „dehumanization“ einen neuen Schwerpunkt erhält. Da die materialistischen Gesellschaften den Menschen mit seinen metaphysischen Fragen alleine ließen, würden sie zu Themen der Poesie. In seinem zweiten Aufsatz „Günter Kunert’s Geschichte“ Man’s Struggle with History“80 wird gezeigt, daß Kunerts Konzept einer Dichtung „als Widersinn zum Sinn der Gesellschaft“ bereits den Kern des Gedichts „Geschichte“ (1966) bilde, das dann in Kunerts Essays „Das Bewußtsein des Gedichts“ und „Paradoxie als Prinzip“ seinen theoretischen Niederschlag finde. Ausgangspunkt für die Dissertation The Poetry of Günter Kunert von Wallace C. Kenyon ist der Umstand, daß die DDR quasi eine Art „terra incognita“81 für die USA darstelle. Sein Hauptaugenmerk richtet er dann auch im behandelten Zeitraum von 1950–1970 auf die Entwicklung der Kulturpolitik der DDR, ihren Einfluß auf die Literatur und die Publikationsbedingungen. Kenyon ist der erste Literaturwissenschaftler, der Bechers in der „Verteidigung der Poesie“ entwickelten emphatischen Auffassung vom Dichter in ihrer Bedeutung für „Kunert’s principle of poetry as self-actualization of the poet“ nachgeht. Kenyon kommt zu dem Ergebnis, „that one might speak of Becher as the ultimate origin of Kunert’s poetic credo“.82 Ein Überblick über die frühe DDR-Rezeption zeige, daß Kunert nach seinen Publikationen im Westen nicht mehr „in a purely East German context“ betrachtet werden könne.
Bis zu Theodore Fiedlers Aufsatz „The Reception of a Socialist Classic: Kunert und Biermann Read Brecht“83 ist in der westlichen Forschungsliteratur immer nur von einer affirmativen Brecht-Rezeption bei Kunert ausgegangen worden. Fiedler weist in seiner Interpretation des Prosatexts „Einige Überlegungen zu den Teppich-Webern“ nach, daß ein „consequent misreading of the poem appear to be due not to opportunism but to an aversion to Brecht’s didacticism in both theory and practice“.84 Diese veränderte Einstellung zu Brecht führt Fiedler an dem Gedicht „Alexander Cumming der Große“ vor, ein „certainly parodistic poem modeled on Brecht’s chronicles.“85
Jay Rosellini zeigt in seinem Aufsatz „Kunert’s langer Abschied von Brecht“ an einer exemplarischen Auswahl von Gedichten aus dem Frühwerk produktive Anleihen und epigonale Reproduktionen aus dem Brechtschen Œuvre auf. In den siebziger Jahren werde Kunerts Einstellung zu Brecht ambivalent, neben kritischen Texten wie „Erinnerung an Bertolt B.“ gebe es das begeisterte Vorwort „Einige Worte zu Brechts Liedern“. Eine Brecht-Animosität konstatiert Rosellini in den achtziger Jahren, deren unversöhnlicher Ton darauf hindeute, „daß die Angriffe auf den toten Mentor zumindest zum Teil als – mehr oder minder verschleierte – Selbstkritik aufgefaßt werden müssen.“86
1985 skizziert Marieluise de Waijer-Wilke die Entwicklung des Genres „Warngedicht“ bei Kunert. Da de Waijer-Wilke jedoch von der irrigen These ausgeht, Kunert schriebe immer noch „political poetry“, kommt sie zu folgendem Ergebnis:
The reader is here witnessing the Warngedicht reduced to its ultimate limits; it seems to have reached a point at which it cancels itself our.87
Für de Waijer-Wilke ziehe das Scheitern des Warngedichts die Konsequenz nach sich, daß gerade Poesie solange ihr Einverständnis mit der Katastrophe ausdrücke, bis sie eine adäquate ,Ästhetik des Widerstands‘ entwickelt habe.
In den achtziger Jahren steht die Rezeption ganz unter dem Stichwort der Apokalypse. Koebner wendet sich gegen die Verurteilung von Kunerts pessimistischem Blick auf die Gegenwart als „Gegenaufklärung“. Seine Gedichte entfalteten in katastrophischen Bildern archetypische Verheerungen, die „diese Endzeit“ historisch mit „anderen Endzeiten“88 verbinden. Koebner sieht die Ursache von Kunerts Pessimismus in seiner Enttäuschung von der „sozialistischen Verheißung“,89 die eine radikale „Umwertung der Werte von gestern“ zur Folge habe. Da Kunert bei diesem Prozeß niemals seine individuellen Verletzungen vergesse, liest Koebner seine Gedichte über die Katastrophe als „Konfession einer Erfahrungsspur“.90 Ein Jahr später greift Koebner dieses Thema noch einmal unter der Überschrift „Apokalypse trotz Sozialismus“ auf. An dem Gedichtband Unterwegs nach Utopia (1977) macht Koebner seine These vom Abschied von „amtlichen Weltbilder[n]“91 fest. In Abtötungsverfahren (1980) zeige sich der Verlust der Utopie „im Bild der Erstarrung der Verhältnisse“.92 In Stilleben (1983) bediene sich Kunert im „(nicht nur) imaginären Museum der Untergangsschilderungen“.93 Die „überlieferten[] Denkbilder der klassischen Unheilsprophetie“ ließen unterschiedliche Interpretationen zu: Kunert übernehme die Rolle des Unheilpropheten als Spiel mit vorgegebenen Mustern, die zum Teil wieder paradox gewendet würden. Trotzdem habe sich Kunert – so Koebner – mir der radikalen Verabschiedung der gesellschaftlichen Utopie sein „Lebenszentrum wegamputiert“.94 Da es in Kunerts Denken keine Hoffnung für die ,Nachgeborenen‘ gebe, berge seine Dichtung „keinen Trost“ für den Schreibenden oder Lesenden.95 Walter Hinderer gehe in seinem Vortrag von 199196 zu Kunerts frühem Gedicht „Geschichte“ zurück, in dem er die Basis für Kunerts Geschichtspessimismus und das heutige Endzeitdenken sieht. Spätestens seitdem die Vernunft das Epitheton „instrumentell“ zu ihrer näheren Charakterisierung trägt, habe sie ihre Position als moralische Instanz für Kunert eingebüßt. Im Rekurs auf Benjamins Interpretation des „Angelus Novus“ begreife auch Kunert Geschichte als Anwachsen von Trümmerhaufen. Hinderer versteht Kunerts Lyrik heute als „Selbstaussprache“ und „Menetekel“.97 Die Endzeiterfahrung provoziere „eine Art absurdes Kunstwerk“,98 dessen paradoxe Prinzipien einer ,scharfsichtigen Gleichgültigkeit‘ und eines Sich-Selber-Fremdbleibens schon bei Camus vorformuliert und Kunerts Gedichten eingeschrieben seien.
Alo Allkemper befaßte sich bereits 1987 in seinem Aufsatz „Paradox“ mit diesem konstitutiven Prinzip von Kunerts Poesie. In der Anfang der siebziger Jahre artikulierten „Absage an jede außerästhetisch heteronome Zweckbestimmung“99 von Gedichten, begreift Allkemper diese als nutzlose Identität mit sich selber. Sie bewahrten also einen „utopischen Zustand“ jenseits aller Zweckgerichtetheit der heutigen Gesellschaft. Autonome Kunst ist nach Allkemper verpflichtet, will sie nicht „als epitheton ornans zur Verharmlosung der herrschenden Katastrophe“100 beitragen, die Strategien ihrer Verweigerung in ihrer Struktur und ihren Inhalten selbst zu entwickeln. Im Begriff der Paradoxie hielte sie negativ fest, „was sie dementier[e]“.101 Thematisiere ein autonomes Gedicht zum Beispiel die Verheerung der Welt und des Menschen, erscheine das Gedicht selber als zerstörtes Fragment. Kommentierend zeichnet Allkemper 1992 die einzelnen Stationen von Kunerts Frankfurter Poetik-Vorlesungen und die Entwicklung von Kunerts dichtungstheoretischen Positionen nach. Die Gedichte der achtziger Jahre stünden poetologisch im Zeichen der Apokalypse, doch das heilsgeschichtliche Versprechen des Gedichts als Arche Noah werde bei Kunert nur als zeitweilige Rettung eingelöst. In der ästhetischen Aufhebung der apokalyptischen Bilder im Gedicht, banne der Dichter nach Kunert nur den Untergang, solange er schreibe.102
Allkempers Deutungsansatz eignet sich in zweifacher Weise als Ausgangspunkt einer produktiven Fortsetzung der Analyse von Kunerts lyrischem Werk. Zum einen rückt er konsequent den Begriff der ,Paradoxie‘ ins Zentrum der Rekonstruktion von Kunerts dichtungstheoretischem Denken und lyrischer Praxis, wie sie sich seit den späten sechziger Jahren entwickelten. Zum anderen wählt er den methodologischen Weg einer parallelen Lektüre von Kunerts Gedichten und Essays, die zur wechselseitigen Erhellung beiträgt. Die folgende Darstellung beschreitet ebenfalls den Weg dieser Engführung, versucht allerdings zugleich, die immanenten Tendenzen mit dem gesellschaftlichen und literaturgeschichtlichen Kontext – wie es etwa bei Hofacker und Rosellini im Zusammenhang der Brecht-Rezeption praktiziert wurde – zu vermitteln.
(…)
AUSBLICK
Heimatlosigkeit bleibt das bestimmende Thema der Gedichte Kunerts auch nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989. Die anstehende Vereinigung der beiden Deutschland im Oktober 1990 löst bei Kunert keine Euphorie aus: er bleibt seiner Skepsis gegenüber ,Vaterländern‘ treu.
Trotz der unterschiedlichen ökonomischen Systeme, die die trennende Grenze zwischen Ost und West so scharf zogen, beharrte Kunert immer auch auf Gemeinsamkeiten zwischen DDR und Bundesrepublik. In einem Interview anläßlich seiner Übersiedlung führte er aus:
Wie unterschiedlich die Systeme in Ost und West auch sein mögen, so ist doch das Bestimmendere daran, daß die Geschichte, die Tradition, die Kultur eine noch tragfähige Basis bilden. Die Mentalität der Deutschen in Ost und West ist ja nicht per Zufall entstanden, sondern sie ist ein Produkt einer langen Geschichte. Und das ändere sich nicht in dreißig Jahren. Der große, alte Raum der deutschen Kultur, im Positiven wie im Negativen, ist keine Fiktion, sondern er existiert.103
„Völlige Fremdheit“ besteht also nicht. Es bleibt die gemeinsame historische Basis und von Kunert positiv gewichtet die gemeinsame Kultur- und Literaturgeschichte, sie „sind vielleicht das letzte, das noch eine Identität verbürgt.“104
Obwohl Kunert von seinen Kritikern oft als der ,Dichter beider Deutschland‘ apostrophiert wurde, besteht er auf der subjektiven Komponente seiner Erfahrungen, aus der sich dann vielleicht das Generelle destillieren ließe:
Sie (meine Art, d.V.) resultiert eben daraus, daß mein Erfahrungsfilter bestimmte Züge der Realität betont, die auch die Situation in anderen Gesellschaften kennzeichnet.105
Kunert besteht trotz seines Selbstverständnisses, wie Heinrich Heine „ein deutscher Dichter zu sein“,106 auf Distanz. Der Titel des Gedichtbands Fremd daheim107 trägt diesem Umstand Rechnung. Der Zyklus „Herbstanbruch in Arkadien“, der mit Kunerts neuer Heimat, dem ländlichen Itzehoe, einsetzt, und der Zyklus „Aus dem Steinreich“, der Berlin-Gedichte enthält, zeigen „die beiden geographischen Pole, zwischen denen das ,Fremd‘ und ,Daheim‘ pendeln, wobei verunklart bleibt, welche Vokabel zu welchem Topos gehört.108 In seiner aufmerksamen Rezension weist Gerrit-Jan Berendse auch auf das Frontispiz des Gedichtbands hin. Es ist Alfred Kubins Zeichnung „Der verlorene Sohn“ von 1920. Das Bild zeigt den Sohn, der in melancholischer Haltung über die Möglichkeiten des Zurückkehrens nachdenkt. Er befindet sich in einem „Zwischenstadium des Weggehens und Wiederkommens.109
Diese Situation der Unzugehörigkeit ist symptomatisch für Kunerts Empfinden eines existientiellen Exilliertseins. Die entscheidenden Quellen, aus denen sich dies Distanz speist, sind zum einen sein Judentum und zum zweiten seine Kindheit während des Nationalsozialismus. Hinzu tritt nicht zuletzt die unselige Erfahrung, sich einmal einem politischen System angedient zu haben.
Für Kunerts literarische Entwicklung und für die Veränderung seines poetologischen Denkens war die Erkenntnis der eigenen ideologischen Verführbarkeit ausschlaggebend. Gerade ein solcher Dichter, dem es gelingt, die heteronome Bestimmung seines Schreibens zu durchschauen und sich ihrer in einem schmerzhaften Prozeß zu entledigen, wird mit aller Bewußtheit die Loslösung der Literatur von jeder gesellschaftlichen Zweckgebundenheit ins Zentrum seiner Dichtungstheorie rücken. Dabei hat Kunert aus dieser Erfahrung keineswegs die Konsequenz gezogen, sein Schreiben von allen gesellschaftlichen und historischen Bezügen abkoppeln zu wollen und in einem weltabgewandten Reich einer scheinbar unverführbaren neuen Kunst anzusiedeln. Im Gegenteil hat ja seine Sensibilität für gesellschaftliche Phänomene dazu beigetragen, ihn die Haltlosigkeit der ideologischen Zurichtung von Wirklichkeit erkennen zu lassen. So hat sich sein Werk gerade durch die Entpflichtung von einer gesellschaftlichen Wirkungsintention vorurteilslos allen Problemen der gegenwärtigen Welt und allen moralischen und intellektuellen Problemen des Individuums öffnen können. Das Apriori seiner Dichtung ist dabei in Negation zu ihrer einstigen Zweckbestimmtheit nun ihre notwendige Zwecklosigkeit.
Allerdings hat die radikale Autonomisierung, der Kunst dazu geführt, daß Kunerts Dichtung von einer konservativen Öffentlichkeit vereinnahmt werden konnte. Sie fühlte sich durch seinen demonstrativen Verzicht auf gesellschaftliche Wirkungsabsichten berechtigt, Kunerts Haltung in ein Einverständnis mit dem Status Quo umdeuten zu können.
Tatsächlich steckt in der Abkoppelung der Literatur von aller Zweckbindung die Gefahr einer Selbsttäuschung, da sich Dichtung nicht in einem gesellschaftsfreien Raum befindet. Ihre vermeintliche Unabhängigkeit enthält das Risiko einer vom Autor selbst nicht durchschauten Disponibilität und Instrumentalisierbarkeit. Allerdings muß hier ein klarer Trennungsstrich zwischen einer politisch interessierten feuilletonistischen Rezeption und Kunerts differenzierter weltanschaulicher Position gezogen werden. Die Tatsache, daß sein Denken vom gescheiterten Projekt des Sozialismus geprägt ist, hat ihn keineswegs zu einem Renegaten der Aufklärung als dem unvollendeten Projekt der Moderne werden lassen. Seine Haltung ist diejenige des skeptischen Aufklärers, der in der Traditionslinie von Montaigne über Heine bis Anders steht und der als gebranntes Kind den immer möglichen dialektischen Umschlag von utopischen Glücksversprechen in staatlichen Gesinnungsterror nüchtern konstatiert. Aus dieser Perspektive ist Kunerts Idee vom Gedicht als Refugium von Freiheit und Individualität folgerichtig: Lieber geht er das Risiko ein, mißverstanden zu werden, als dasjenige, seinerseits gesellschaftliche Entwürfe, die doch nur Maskierungen politischen Machtstrebens sind, als vermeintlichen Fortschritt mißzuverstehen und ihnen seine Stimme zu leihen.
Nur die radikale Freisetzung des Gedichts eröffnet ihm die Chance, auf paradoxe Weise doch noch Sinn zu machen. In einem Prosatext aus dem Jahr 1964 hat Kunert diesen Umschlag einer der Wirklichkeit abgesehenen Metapher eingeschrieben, ohne sich vielleicht ihres geradezu emblematischen Charakters für die Entwicklung seines poetologischen Denkens bewußt zu sein. Ich denke dabei an die Schlußpassage des Textes „Karyatiden“:
[…] Daß ihr strammer Nacken nichts stütze, redete man ihnen nach, und daß sich unter keiner Bürde ihre prallen Arme spannten.
Als jedoch wenig später infolge eines der letzten Weltuntergänge die Häuser abbrannten bis in die Keller, fielen die mürben Fassaden in Schutt zusammen. Die Ziegel bröckelten weg, und was blieb, war hier und da eine jener Figuren, einsam ragend, die feuergeschwärzten Schultern plötzlich beladen mit einer Last, welche keine andere Stütze mehr hatte als sie, die unverhofft aus einem dekorativen Dasein zu antikem Auftrag gelangten: Den Himmel zu tragen.110
Auch das Gedicht scheint so zwecklos und bloß ornamental, wie die als funktionsloser Schmuck verpönten Gebälkträgerinnen, und so soll es auch sein. Aber den katastrophischen Zeitläuften gegenüber zeigt es seinen widerständigen Charakter, der nicht seinem Zweck, sondern seinem Dasein geschuldet ist. Das zwecklose Kunstwerk trägt die Utopie, ja, es trägt die Utopie in sich. Für Kunerts Poetologie folgert daraus, daß sich der utopische Impetus, der vormals in die sozialistische Perspektive mündete und darin sein historisches Substrat hatte, nun in den ästhetischen Produktionsprozeß und sein künstlerisches Resultat zurückgezogen hat. Nicht Geschichte, sondern die Entfaltung individueller Kreativität in der Produktion von Kunst wird zum Hort der Utopie. Die ,Botschaft‘ des Gedichts kann nicht mehr zukunftsgewiß sein, nicht sein Inhalt ist seine Utopie, sondern seine Existenz.
Der 1929 in Berlin geborene Günter Kunert zählt spätestens seit Ende der siebziger Jahre, als ihn die Mitunterzeichnung der Biermann-Petition 1976 und der langwierige Loslösungsprozeß von der DDR, der in seine Übersiedlung 1979 in die Bundesrepublik mündete, über die Grenzen einer im engeren Sinne literarischen Öffentlichkeit hinaus bekannt machten, zu den meistbeachteten und vieldiskutierten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Als ein gesamtdeutscher Autor darf Kunert wohl schon seit Mitte der sechziger Jahre gelten, als ihm einerseits bei der Forum-Lyrik-Debatte in der DDR eine zentrale Bedeutung zukam, die im Westen ebenfalls aufmerksame Beobachter fand, und zum anderen die erste selbständige Publikation in einem westdeutschen Verlag erfolgte.
Wie sein schriftstellerisches Debüt Wegschilder und Mauerinschriften 1950 in der DDR, so war auch sein Debütband im Westen Erinnerung an einen Planeten (1963) ein Lyrikband. Bis heute bildet die Lyrik den Schwerpunkt von Kunerts literarischem Schaffen, das Ende 1990 nicht weniger als 109 selbständige Titel umfaßte.111 Auch wenn bei der äußerst komplizierten Textlage, wie sie für Autoren, die über Jahrzehnte in beiden Teilen Deutschlands veröffentlichten, durchaus symptomatisch ist, eine vielfache Überschneidung der Textcorpora von Parallelausgaben, Auswahl- oder Sammelbänden zu verzeichnen ist,112 stellt der Umfang von Kunerts lyrischem Werk für diese Gattung schon heute eine Ausnahme dar, erst recht im Vergleich zu den bedeutendsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts, wie ein Blick auf die Werkausgaben etwa von Paul Celan oder Gottfried Benn zeigen kann.
Unter diesen Voraussetzungen und auf dem Hintergrund einer Forschungssituation, die erst wenige Ansätze zu einer systematischen und synthetisierenden Analyse von Kunerts lyrischem Werk liefert (Kap. II), konnte es für die vorliegende Monographie keine andere Aufgabe geben, als primär auf der Grundlage der selbständig erschienenen Gedichtbände die formalen und inhaltlichen Entwicklungstendenzen von Kunerts Lyrik zu rekonstruieren und den Wandel oder das Hinzutreten theoretischer und motivischer Akzentsetzungen zu entfalten. Der Gang der Untersuchung folge dabei im wesentlichen der Chronologie des Werks und versuche durch exemplarische Einzeldeutungen den spezifischen Charakter der jeweiligen Gedichtbände sichtbar zu machen. Insonderheit bei der Behandlung des Frühwerks, das noch ganz im Zeichen der Aufbauliteratur und der antifaschistischen Bewußtseinsbildung stehe, empfahl sich eine summarische Vorgehensweise, da hier eine große sprachliche und inhaltliche Stabilität – man könnte sagen: Einförmigkeit – zu konstatieren ist. Während das Werk ab Mitte der sechziger und in den siebziger Jahren als Phase einer ,kopernikanischen Wende‘ in Kunerts Entwicklung erscheint, das heißt als einschneidender Paradigmawechsel seiner weltanschaulichen und literaturtheoretischen beziehungsweise produktionsästhetischen Positionen, lassen sich die Gedichtbände der achtziger Jahre eher als Variationen und Radikalisierung einmal gewonnener Sicht- und Schreibweisen begreifen. Entsprechend legt die Interpretation der mittleren Werkphase ihr Hauptaugenmerk auf den im Gefolge der Forum-Lyrik-Debatte sich herauskristallisierenden Geschichtsskeptizismus und die parallellaufende Aufwertung der Dingwelt als Auskunftgeber über gesellschaftliche Zustände. Man könnte diesen Umschlag als Wechsel vom ideologischen zum morphologischen Blick bezeichnen. Die Interpretation der späten Gedichtbände läßt sich vor allem durch die von ihren programmatischen Titeln signalisierte Perspektive leiten, wobei sich der Befund eines ihnen gemeinsamen Fluchtpunktes in der Diagnose und poetologischen Reflexion einer als Verfallsgeschichte empfundenen historischen Entwicklung ergeben wird. Dieser Aspekt, die eigene Schreibsituation als eine geschichtlich vermittelte zu begreifen, wird sich als der eigentliche und vielleicht einzige rote Faden in Kunerts lyrischem Werk erweisen.
Im folgenden sei in kursorischer Form der Gang der Untersuchung in seinen einzelnen Schritten skizziert.
Im Kapitel III wird Kunerts lyrisches Schaffen von 1950 bis 1966 dargestellt, wobei sich zwei Phasen innerhalb des Frühwerks unterscheiden lassen. Bis in das Jahr des Mauerbaus erscheint sein lyrisches Werk eingebettet in den allgemeineren Entwicklungsverlauf der DDR-Literatur. Unter den kulturpolitischen und ideologischen Rahmenbedingungen, wie sie von den SED-Parteitagen vorgegeben wurden, sucht Kunert dem Auftrag nachzukommen, als Schriftsteller aktiv am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken und aus einer antifaschistischen Haltung heraus ein spezifisches Nationalbewußtsein des Staates DDR mitzugestalten. Die Gegenwart scheint dabei durchweg als Übergangsphase zu einer besseren und gewissen Zukunft. Kunert erweist sich in seinem Frühwerk zugleich als Schüler Bechers wie auch Brechts, der ihm vor allem in Form und Gestus als Vorbild dient. Erste Wiedersprüche treten in dem Moment auf, wo Kunert an einer kritischen Reflexion auf die Vergangenheit festhält, als die Parteiführung den Akzent auf ein gegenwartsbezogenes Bewußtsein vom ,anderen Deutschland‘, das mit dem Erbe des NS-Staats nicht behaftet sei, verschoben hat. Kunerts Kritik an dieser Selbstapologie äußert sich zunächst in einer ,Sklavensprache‘ (H. Mayer), die ihre Gesellschaftskritik zunächst parabolisch oder indirekt formuliert. In diese Phase gehört das Gedicht „Interfragmentarium (Zu Franz K.s Werk)“ von 1962, dessen subtile Kritik gleichwohl deutlich genug war, um die Hüter der Staatsordnung in den Reihen der Literaturkritiker auf den Plan zu rufen. Die Tendenz von Kunerts Abweichung liegt in einer Universalisierung der Kafkas Werk abgelesenen Entfremdungskritik, das heißt ihrer Anwendbarkeit auch auf die Staaten des real existierenden Sozialismus. Kunerts Position bei der Forum-Lyrik-Debatte 1966, die einen Paradigmawechsel seines Denkens markiert, läßt sich als Konsequenz dieser Universalisierung beschreiben. Indem ihm der technologische Fortschritt auch in einer sozialistischen Gesellschaft nicht mehr als Garant historischer Höherentwicklung erscheint, sondern jenseits aller Systemfragen als daseins-, weil weltbedrohendes Vernichtungspotential, erweitert er die Verantwortung des Schriftstellers auf die Erde als ganze. Er kündigt die ideologische Präokkupation und vollzieht eine ,kopernikanische Wende‘ (Wolf) in seinem Denken. Da technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt im Sozialismus seit je in eins gedacht wurden – erinnert sei an Lenins Diktum: Sozialismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung –, fällt damit die Geschichtskonzeption des historischen Materialismus dieser Wende zum Opfer. In dem umfangreichen Gedicht „Geschichte“ nimmt Kunert von seinem teleologischen Denken Abschied und akzentuiert die strukturellen Ähnlichkeiten im Geschichtsprozeß.
Diese Wende, führt in der Folgezeit zur Herausbildung neuer zentraler Themen in Kunerts Lyrik. Da Geschichte sich ihrer ideologischen Konstruierbarkeit entzieht, richtet sich der an historischer Selbstreflexion festhaltende Blick auf die Dingwelt; man könnte pointiert sagen: der historische Materialismus wird vom Kopf auf die Füße gestellt. Kunert entwickelt einen morphologischen Blick, – so der Titel von Kapitel IV.1. –, der vor allem der steinernen Physiognomie der Berliner Häuser die in ihnen sedimentierte Geschichte des 20. Jahrhunderts ablesen soll. Auch die aus aller utilitaristischen Zweckrationalität entlassenen Gegenstände wie Spielzeug und Trödel gelten dem sammelnden Flaneur Kunert als prädestinierte Zeugen einer unverfälschten ,authentischen‘ Überlieferung. In dieser Werkphase erscheint Kunert die Natur als Verbündete bei der Entzifferung der verborgenen Chiffrenschrift, und so wird seine lyrische Reise nach Bomarzo in den Parco dei Mostri zugleich eine Reise in die Vergangenheit. Hier allerdings weitet sich der Blick nicht mehr bloß in historische, sondern in anthropologische Tiefendimensionen. Die Universalisierung des Blicks bringt Kunerts Denken in die Nähe von Benns Geschichtsskeptizismus. Indiz für die Umorientierung ist Kunerts Umgang mit der Ikarus-Gestalt, die er in verschiedenen Werkphasen lyrisch gestaltet. Jetzt in den siebziger Jahren übt er an ihrem Schicksal eine radikale Utopie-Kritik aus dem Geist einer veränderten Antike-Rezeption. Der Verlust der Utopie entbindet das Gedicht von seinem gesellschaftlichen Auftrag. Am Ende dieser Phase steht daher der poetologische Entwurf des Gedichts als ,Kommunion mit sich selbst‘, womit Kunert sich auch auf der theoretischen Ebene Benns Positionen annähert.
Das lyrische Werk der achtziger Jahre wird seines ästhetischen Gewichts und seiner thematischen Breite wegen in drei Kapiteln behandelt, wobei Kapitel V und VI sich die Titel der Gedichtbände als methodische Orientierungen zu eigen machen. Mit Abtötungsverfahren wird nämlich auch das poetische Verfahren der Texte benannt, die damit die individuelle Erfahrung des observierten und als Autor abgetöteten Schriftstellers Kunert in der Endphase seines DDR-Daseins in eine Schreibart transformieren. Die Erstarrung kommt dabei in dem formalen Rückgriff auf den Reim und rein sprachlich in der weitgehenden Austilgung von Bewegungsverben zum Ausdruck. Auch damit übernimmt Kunerts Lyrik Eigenarten der Poesie Benns. Der Blick auf Geschichte korrespondiert diesen Formprinzipien. Der historische Prozeß geht in Statik und Vereisung über, er zeigt seine endzeitlichen Züge, die Kunert mit den tradierten Mitteln apokalyptischer Metaphorik ins Bild setzt. Mit diesen ,schwarzen‘ Visionen wird Kunerts lyrisches Werk zum Paradigma einer von der Wochenzeitung Die Zeit ausgelösten Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Lyrik und Gesellschaft beziehungsweise von lyrischem Ich und Welt.
Benannte der Titel Abtötungsverfahren einen Prozeß, so hält der Titel des folgenden Gedichtbands Stilleben dessen Resultat fest. In der ,nature morte‘, der sich die Gedichte nun annähern, geht die einstige Trostfunktion der Natur verloren, der morphologische Blick führt nicht mehr zum rettenden Bewahren, er liest stattdessen überall die Spuren der Vergängnis. Vergeblichkeit wird zum Schlüsselwort einer Seinserfahrung, die sich nun auch anderer Traditionslinien versichert. Neben Benn gewinnt hier ,Bruder Kleist‘ eine identitätsstiftende Funktion, dessen Zerbrechen am preußischen Staat Kunert in einen überscharfen Gegensatz zu Brechts sacrificium intellectus gegenüber dem neupreußischen SED-Staat rückt. Das Zurückgeworfensein auf die von allem Gesellschaftlichen entpflichtete reine Existenz führe Kunert zu einer weiteren Präzisierung seines poetologischen Denkens. In dialektischer Manier versucht er dem Gedicht als Auskunftgeber über das individuelle Dasein eine quasi gattungsmäßige Aussagequalität zuzuweisen. Er schreibt dem Gedicht dabei explizit einen Grad an Allgemeinheit zu, wie ihn das Gebet besitze oder zumindest reklamiere.
Im Kapitel VII „Melancholische Topographie“ stehen der Gedichtband Berlin beizeiten und der Berlin-Zyklus aus Stilleben im Mittelpunkt. Hier tritt die geistige Physiognomie des Melancholikers, dessen gorgonischer Blick abtötet und der die Welt in ein Stilleben verwandele, in der Wahrnehmung Berlins als Todeslandschaft deutlich zutage. Das lyrische Ich erfährt sich hier als Verstoßener, dem die Diagnose universalen und unaufhaltsamen Verfalls keine Kontaktnahme mehr ermöglicht. Die Chiffrenschrift konvergiert gewissermaßen in einem omnipräsenten ,Umsonst‘. Das auf sich selbst zurückgeworfene lyrische Ich kann diesem Befund gegenüber nur die reine Kreativität als Refugium von Widerständigkeit und letzte poetische Bastion verteidigen. Der produktive Akt des Schreibens ist seine einzige Legitimation und Zufluchtsstätte von Utopie. In Berlin beizeiten fälle auch das Reisefieber des Melancholikers unter das Verdikt der Vergeblichkeit. Die Erfahrung, die das Unterwegssein vermittele, löst das Gefühl von Fremdheit und Selbstentfremdung nicht mehr dialektisch in einer Selbstwahrnehmung aus der Distanz auf. Mit der Empfindung einer unaufhebbaren existentiellen Exilsituation markiert Berlin beizeiten bereits den Übergang zum Leitthema von Kunerts bislang letztem Gedichtband Fremd daheim.
Elke Kasper, Vorwort
I. Einleitung
II. Zum Stand der Forschung
III. Das Frühwerk
1. Die erste Phase: 1950–1961
2. Die zweite Phase: 1962–1966
aaaa. Interfragmentarium (Zu Franz K.s Werk)
aaab. Der Paradigmawechsel
aaac. Die Forum-Lyrik-Debatte 1966
IV. Die Dichtungstheorie der späten sechziger und der siebziger Jahre
1. Der morphologische Blick
2. Metamorphosen
3. Mythos: Annäherung an Benn
V. Abtötungsverfahren (1980)
1. Dichten im Angesicht der Katastrophe
2. Exkurs: Die Lyrikdebatte in Die Zeit 1982 und ihre Folgen
3. Schreiben im Exil?
VI. Stilleben (1983)
1. Demontagen
2. Am Rande des Scheiterns – Antifaustische Reflexion
VII. Melancholische Topographie: Berlin als Todeslandschaft
1. Kaddisch
2. Melancholische Ikonographie
VIII. Ausblick
IX. Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Interviews
3. Bibliographien
4. Lexika
5. Sekundärliteratur
zählt spätestens seit Ende der siebziger Jahre zu den meistbeachteten und vieldiskutierten deutschsprachigen Autoren. Trotz der breiten Resonanz ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem lyrischen Werk Kunerts bislang vernachlässigt worden.
Nach einem Forschungsüberblick wird zunächst Kunerts lyrisches Schaffen von 1950 bis 1966 dargestellt. Bis zum Mauerbau 1961 sucht Kunert dem Auftrag nachzukommen, als Schriftsteller aktiv am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken. Er erweist sich in seinem Frühwerk zugleich als Schüler Bechers wie auch Brechts. Kunerts Umdenken erfolgt bei der Forum-Lyrik-Debatte 1966 mit einer radikalen Technikkritik. Da technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt im Sozialismus seit je in eins gedacht wurden, fällt auch die dazugehörige Geschichtskonzeption dieser Wende zum Opfer. Kunert entwickelt einen morphologischen Blick, der in der Nachfolge Benjamins und Kracauers vor allem der steinernen Physiognomie der Berliner Häuser die in ihnen sedimentierte Geschichte des 20. Jahrhunderts ablesen soll. Der Verlust einer gesellschaftlichen Utopie entbindet bereits hier das Gedicht von seinem gesellschaftlichen Auftrag. Es wird in Anlehnung an die ästhetische Konzeption Gottfried Benns zur ,Kommunion mit sich selbst‘. Mit dem 1980 erschienenen Gedichtband Abtötungsverfahren wird ein poetisches Verfahren benannt, das die individuelle Erfahrung des observierten und als Autor abgetöteten Schriftstellers Kunert in der Endphase seines DDR-Daseins in eine Schreibart transformiert. Der historische Prozeß geht in Statik und Vereisung über und zeigt endzeitliche Züge, die Kunert mit den tradierten Mitteln apokalyptischer Metaphorik ins Bild setzt. Die Gedichtbände Stilleben (1983) und Berlin beizeiten (1987) stehen im Zeichen der Melancholie. Das lyrische Ich erfährt sich hier als exiliertes, dem die Diagnose des universalen und unaufhaltsamen Verfalls keine Kontaktnahme mehr ermöglicht. Einzig der produktive Akt des Schreibens ist die Legitimation und Zufluchtstätte von Utopie.
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STANZE
GK
Was uns bewegt: ein kalter Wind, ein Regen
Ein fernes Lied, ein Licht, ein Bogenstrich
Bevor wir uns in unsre Gräber legen
Den Mund voll Sand und unabänderlich
Ist unser Schweigen – komm, laß uns reden
Von unsrer Liebe, der die Kälte wich
So ist der Dichter groß als Kind im Manne
Ich widme diese Stanze – wem? Marianne
Volker von Törne
Armin Zeissler: Notizen über Günter Kunert, Sinn und Form Heft 3, 1970
Thomas Combrink: Sich den Bewegungen der eigenen Hand überlassen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.2025
Cornelia Geissler: Die Welt ertragen
Berliner Zeitung, 6.3.2009
Fred Viebahn: Ein unbequemer Dichter wird heute 80
ExilPEN, 6.3.2009
Reinhard Klimmt: Günter Kunert
ExilPEN, 6.4.2009
Hannes Hansen: Ein heiterer Melancholiker
Kieler Nachrichten, 5.3.2009
Renatus Deckert: „Ich bin immer noch naiv. Gott sei Dank!“
Der Tagesspiegel, 6.3.2009
Hubert Witt: Schreiben als Paradoxie
Ostragehege, Heft 53, 2009
Peter Mohr: Die Worte verführten mich
lokalkompass.de, 3.3.2014
Schreiben als Selbstvergewisserung – Dichter Günter Kunert wird 85
Tiroler Tageszeitung, 4.3.2014
Wolf Scheller: Die Poesie des Melancholikers
Jüdische Allgemeine, 6.3.2014
Reinhard Tschapke: Der fröhlichste deutsche Pessimist
Nordwest Zeitung, 2.3.2019
Günter Kunert im Interview: „Die Ideale sind schlafen gegangen“
Thüringer Allgemeine, 4.3.2019
Günter Kunert im Interview: „Die Westler waren doch alle nur naiv“
Göttinger Tageblatt, 5.3.2019
Katrin Hillgruber: Ironie in der Zone
Der Tagesspiegel, 5.3.2019
Benedikt Stubendorff: Günter Kunert – 90 Jahre und kein bisschen leise
NDR.de, 6.3.2019
Matthias Hoenig: „So schlecht ist das gar nicht“
Die Welt, 6.3.2019
Tilman Krause: „Ich bin ein entheimateter Mensch“
Die Welt, 6.3.2019
Günter Kunert – Schreiben als Gymnastik
mdr.de, 6.3.2019
Peter Mohr: Heimat in der Kunst
titel-kulturmagazin.net, 6.3.2019
Knud Cordsen: Der „kreuzfidele Pessimist“ Günter Kunert wird 90
br.de, 6.3.2019
Studio LCB mit Günter Kunert am 1.4.1993
Lesung: Günter Kunert
Moderation: Hajo Steinert
Gesprächspartner: Ulrich Horstmann, Walther Petri
Beim 1. Internationalen Literaturfestival in Berlin, am Samstag, den 16. Juni 2001, lesen im Festsaal der Sophiensäle in Berlin-Mitte die Lyriker Rita Dove (USA), Günter Kunert (Deutschland) und Inger Christensen (Dänemark), gefolgt von einer Podiumsdiskussion und Fragen aus dem Publikum (moderiert von Iso Camartin).
Günter Kunert bei www.erlesen.tv.
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