Elsbeth Wolffheim: Wladimir Majakowskij und Sergej Eisenstein

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Elsbeth Wolffheim: Wladimir Majakowskij und Sergej Eisenstein

Wolffheim-Wladimir Majakowskij und Sergej Eisenstein

WLADIMIR MAJAKOWSKIJ 

Der Anfang dieses ungestümen Lebens ließ sich eher gemütlich an. Am 19. Juli 1893 – nach dem neuen Kalender – in einem kleinen georgischen Dorf geboren, verbrachte Majakowskij seine Kindheit inmitten einer grandiosen Gebirgslandschaft. Der Vater, von Beruf Forstaufseher, nahm den Sohn öfters zu Pferd mit in die Wälder, was ihn sehr beeindruckte. Das Dorf Bagdadi (heute heißt es Majakowskij) liegt an der Grenzscheide zwischen Europa und Asien und ist umgeben von Felsen, undurchdringlichen Wäldern, Weinbergen und wilden Gewässern. Hier durfte er mit seinen Spielkameraden unbeaufsichtigt herumstreunen. Die Erfahrungen in dieser zerklüfteten Natur haben seine Kindheit entscheidend geprägt, allerdings nur die Kindheit. Schon im Jünglingsalter verliert er das Interesse an Landschaft und Natur fast gänzlich und wird zum ausgeprägten Urbanisten.
Die Familie – zu ihr gehören zwei ältere Schwestern, Ljuda und Olja1 – führt ein geselliges Leben. Darüber berichtet Majakowskij in seiner eher skizzenhaften Autobiographie unter dem Titel Ich selber lakonisch:

Sommer. Ungeheure Mengen von Gästen. […] Vater prahlt mit meinem Gedächtnis. Zu allen Namenstagen muß ich Gedichte auswendig lernen. Weiß noch: speziell für Papas Namenstag.

Lesen scheint er ziemlich früh gelernt zu haben, jedoch nicht in einer Schule, sondern bei der Mutter und einigen Cousinen. Die Majakowskijs waren Russen, im Umfeld von Bagdadi indes lebten hauptsächlich Georgier. Der Sohn sollte aber in der Muttersprache unterrichtet werden, und das war in dem Dorf nicht möglich. Mit sieben Jahren zieht er mit der Mutter in die nächstgelegene Kreisstadt Kutaisi, wo es eine russische Schule gibt. In der Vorbereitungsklasse für das Gymnasium brilliert er als Primus und liest nebenher Jules Verne und allerlei „Phantastisches“. Den Hang zu phantastischer Literatur behält er sein Leben lang und nicht nur als Leser, sondern auch als Produzent. In Kutaisi erhält er überdies – unentgeltlich – Unterricht im Zeichnen und glaubt sogar eine ganze Weile, daß er es auf dem Gebiet der Malerei zu etwas bringen wird.
Früh schon wird er politisiert. Die älteste Schwester studiert in Moskau; und wenn sie in den Ferien nach Hause kommt, bringt sie antizaristische Texte mit, die sie dem Bruder heimlich zusteckt.

Das war Revolution. Das waren Gedichte. Gedichte und Revolution verschmolzen mir im Kopf irgendwie in eins.

Im Jahre 1906 stirbt der Vater an einer Blutvergiftung. Die Familie ist über Nacht mittellos, und so übersiedelt man nach Moskau. Hier schlägt sich die Mutter mühsam mit Zimmer-Vermietung an Studenten durch, aber auch die Kinder müssen zum Lebensunterhalt beitragen. Wladimir bemalt Ostereier, die er für zehn Kopeken das Stück selber verkauft.

Seitdem hege ich einen maßlosen Haß gegen […] den ,russischen Stil‘.

Ein ungemein produktiver Haß, wie man im nachhinein feststellen kann.
Unter den Kostgängern der Mutter gibt es auch einen richtigen Bolschewiken. Ob er es war, der den erst Fünfzehnjährigen zum Eintritt in die SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiter-Partei Rußlands) anstachelte, ist ungewiß. Jedenfalls wird das junge Parteimitglied sogleich zur Arbeit als „Propagandist“ in verschiedenen Moskauer Bezirken eingesetzt. Daß seine schulischen Leistungen am Gymnasium daneben reichlich kümmerlich ausfielen, versteht sich von selbst. Bereits im März 1908 wird er zum ersten Mal verhaftet, in einer illegalen Druckerei, gegen eine Bürgschaft jedoch schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. Er kommentiert das so:

Freigekommen. Etwa ein Jahr lang Parteiarbeit. Dann wieder kurzfristig eingelocht.

Er verliert in seiner Autobiographie kein Wort darüber, wie die Mutter diese Aktivitäten ihres Sprößlings aufnahm, wie er überhaupt in diesem Text familiäre Konflikte beiseite läßt. Ein Jahr später wird er erneut verhaftet, und dieses Mal wird er ins Gefängnis eingeliefert. Im berüchtigten Butyrka-Gefängnis verbringt er elf Monate in Einzelhaft, eine – wie er resümiert – „überaus wichtige Zeit für mich“. Er liest und liest hauptsächlich zeitgenössische Autoren. Und schreibt Gedichte, „geschraubt und trübselig“; sie werden zu seinem Glück vom Gefängniswärter konfisziert. Nach der Entlassung wird er unter Polizeiaufsicht gestellt; dazu kommt, er darf nicht zurück aufs Gymnasium.
Die einzige Lehranstalt, die ihm offen steht, ist die Hochschule für Malerei und Architektur. Das war nur ein Notbehelf, denn obschon er „gut arbeitete“, stört ihn, daß „Nachahmer verhätschelt, selbständige Naturen hinausgeekelt“ werden. Ein Gutes aber hat der Besuch der Lehranstalt, hier lernt er den Futuristen David Burljuk kennen. Der ernennt ihn, nachdem er ein einziges seiner Gedichte gelesen hat, im Beisein von Zuhörern, zum „genialen Dichter“. Majakowskijs Protest quittiert Burljuk angeblich mit dem strikten Befehl:

Jetzt schreiben Sie! Sonst bringen Sie mich in eine saudumme Situation.

Das klingt ein bißchen nach effektvoller Anekdote.
Gleichwohl: Die Begegnung mit Burljuk wird zur Geburtsstunde des Dichters. Er tut ein übriges und bringt das junge Genie mit den Futuristen in Kontakt, mit den „Sängern der Zukunft“, wie sie sich selber titulieren. Das war die Avantgarde der russischen Kunst im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, keine fest zusammengeschweißte Gruppe, auch keine Künstlerkolonie, sondern eine Kooperative von Künstlern der verschiedensten Sparten: Dichter, Maler, Bühnenbildner, Musiker. Sie alle waren Bilderstürmer, die den tradierten Künsten den Kampf ansagten. Und zwar mit reichlich martialischem Duktus. Das berühmteste, von Musikern, Malern und Dichtern verfaßte Manifest von 1912 trägt den Titel „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“. Da finden sich Proklamationen wie diese:

Es ist an der Zeit, die Museen und Bibliotheken mit Kugeln zu durchlöchern.

Oder:

Puschkin, Dostojewskij, Tolstoj usw. usw. sind vom Dampfer der Gegenwart zu werfen.

– Aber nicht nur radikal mit der Vergangenheit aufräumen wollten die Futuristen, sie machten sich anheischig, die Gesellschaft zu revolutionieren.
So verkündete der Maler Larionow:

Der Genius unserer Zeit sind Hosen, Jacken, Busse, Flugzeuge, Eisenbahnen, herrliche Schiffe – welch ein Zauber – welch unvergleichlich große Epoche der Weltgeschichte.

Mit Parolen wie dieser huldigte man nicht nur einem ausgeprägten Modernismus, sondern auch dem Urbanismus, der die Aktivitäten der Futuristen insgesamt kennzeichnet. Aber es kam noch schriller:

Wascht Eure Hände, die den schmutzigen Schleim der von diesen zahllosen Leonid Andrejews geschriebenen Bücher berührt haben!

Ähnlich verachtungsvoll wurden alle zeitgenössischen Schriftsteller abgekanzelt, wenn man sie überhaupt der Erwähnung für wert hielt. Noch lieber ignorierte man sie. Denn:

Nur WIR sind das GESICHT UNSERER Zeit. Das Horn der Zeit dröhnt durch uns in der Wortkunst.

Solch Sendungsbewußtsein, oft zum Glück mit ein bißchen Selbstironie untermischt, schockierte natürlich sowohl die als „Dekorateure und Schneider“ verunglimpften Schriftsteller als auch deren Leserschaft, die sich durchaus nicht mit der neuen Wortkunst abfinden mochte. Genau das aber entzückte die Futuristen, denn das wollten sie ja: um jeden Preis provozieren, „inmitten eines Meeres von Pfiffen und Entrüstung stehen“.
Allem Wortgeklingel der Manifeste und allem Getöse der Futuristen-Auftritte zum Trotz muß man zugeben, daß die neuen Wilden ihre innovativen Energien nicht verplemperten. Die künstlerischen Resultate in Wort und Bild und Bühnengestaltung faszinieren noch heute. Zu Recht hat der italienische Slawist Angelo Maria Ripellino vor einigen Jahren konstatiert:

Der Futurismus war die schönste Jahreszeit der russischen Kunst und Literatur in diesem Jahrhundert.

Und Majakowskij mischt hier kräftig mit. Er propagiert – wie seine Mitstreiter – das „WETTERLEUCHTEN der NEUEN VORWÄRTSSCHREITENDEN Schönheit des Wortes, das sich selbst Ziel ist.

Aber für ihn ist das Wort nie nur Selbstzweck, reines Klanggebilde. In seinen eigenen Schreibprozeß wirkt der stürmische Aufbruch der neuen Wortkunst nur partiell hinein. Und das heißt: So sehr er Rückhalt sucht, emotionalen und geistigen, bei seinen Gefährten: Er ist in erster Linie Ich (so der Titel seines ersten Gedichtbandes), ist Wladimir Majakowskij und nicht lyrisches Sprachrohr einer wie locker auch immer gefügten Gruppe. Eines seiner frühen Gedichte mit dem Titel „Tja, könnten Sie…?“ lautet: 

Ich wischt’ über des Werktags Karte,
Farbspritzer aus dem Becher flogen;
ich wies auf kalter Schüsselschwarte
des Ozeans Kinnbacken-Wogen.
Blechfisch, – von seinen Schuppen treten
Aufrufe neuer Lippen vor.
Tja,
könnten Sie
ein Nachtlied flöten
auf einem Wasserleitungsrohr?

Spieltrieb und der Wunsch zu brüskieren kommen hier ebenso zum Ausdruck wie sein Hang zur Selbstinszenierung.
Und auch das ist offenkundig: Er ist weder purer Wortfetischist wie manche seiner Futuristenfreunde, noch thematisiert er ausschließlich die neu entdeckte Dingwelt, Technik und Urbanismus, wie sie in dem Ausspruch des Malers Larionow beschworen wird. Majakowskijs Werk ist, fast von Anfang an, unverwechselbar und herausragend durch seine Sprachkraft. Wichtig ist vorderhand die Entrümpelung des gängigen lyrischen Kanons, der in Rußlands ,Silbernem Zeitalter‘ die Poesie beherrschte. Beim Aufräumen bleibt auch Majakowskij ganz im Fahrwasser der befreundeten „Zukunftsmenschen“. Und den anarchischen Impetus wird er – von einigen kleinen Knicken in den zwanziger Jahren abgesehen – nie verleugnen. Aber in der neuen Ausdruckswelt behält sein Ego einen festen Platz, es wird nie ausgeklammert.
Ja, er kokettiert sogar mit seinen Emotionen. Zum Beispiel so:

Auf dem Pflaster
meiner Seelenbeulen
donnern im Taumel
die Fersen starrer Verse.

Seine Seele ist gelegentlich „ein zerrissener Wolkenfetzen“; und so könnte man noch und noch Proben seiner egomanischen Melancholie herbeizitieren.
Von der breiten Leserschaft, vor allem aber von der tonangebenden Literaturkritik wurde Majakowskij, natürlich, totgeschwiegen; den Kritikern war seine aggressive Lyrik kein Wort wert. Leider auch nicht den Verlegern. Sein erster Gedichtband Ich erscheint im Selbstverlag, dreihundert Exemplare, auf miesem Papier gedruckt, dafür aber von zwei Freunden illustriert. Das geschieht im Jahr 1913.
Im selben Jahr kommt auch sein erstes Bühnenstück heraus. Der Titel, an dem zuvor hin- und hergebastelt wurde, vielleicht auch nur angeblich, spricht jedenfalls für sich:
Wladimir Majakowskij heißt das Stück in unüberhörbarer Schlichtheit. Im „Prolog“ klingt bereits die ästhetische Programmatik des Dichters an, aber auch sein unverhülltes Sendungsbewußtsein.
Hier ein Auszug:

Wie sollt ihr begreifen,
weshalb ich,
geruhsam, wo Lachen gewittert,
die Seele zur Mahlzeit kommender Jahre
hintrage
auf schwankem Tablett.
Als unnütze Träne abrinnend
von struppiger Backe städtischer Plätze
bin ich,
erschüttert,
vielleicht
der letzte Poet.
[…]
Ihr, die das Schweigen brachet,
kommt zu mir aus berstender Ruhe –
die ihr heultet,
weil die Schlingen der Mittage sich strammten.
Ich offenbare euch
mit Worten,
einfach wie ein Gemuhe,
unsre neuen Seelen,
welche tönen
wie die Kohle der Bogenlampen.
Meine Fingerspitzen brauchen nur
euern Scheitel zu berühren –
und euch wachsen Lippen für
verschwenderische Küsse
und Zungen,
die euch zu allen Völkern führen.

Wie gesagt, in diesem „Prolog“ ist schon nahezu alles enthalten, was Majakowskij ausmacht: Eine messianische Attitüde, ein bißchen Wehleidigkeit, heftige Emotionen, kühne Metaphern, die bisweilen an den deutschen Expressionismus erinnern, und die Tendenz zur direkten Hinwendung zum Publikum. Er spricht mit dem Publikum, wie er es übrigens auch in vielen Gedichten tut. Bisweilen mit einem appellativen Gestus: Der spätere Volkstribun kündigt sich bereits am Schluß des Prologs an.
Bei der Aufführung übernimmt der Autor die Hauptrolle, und es wird ihm nachgesagt, daß er vorzüglich spielte. Sich hier zu profilieren, war allerdings kein gar so großes Verdienst, denn die übrigen Akteure, Studenten und Laienschauspieler, waren nicht überwältigend. Das Petersburger Publikum scheint nach Aussage eines Augenzeugen irritiert gewesen zu sein.

Aus den Kulissen traten eine nach der anderen die handelnden Figuren: lebendige Pappmarionetten. Das Publikum wollte schon lachen, aber das Lachen zerbrach, denn all dies war nicht lächerlich, sondern grauenhaft; man spürte, daß es ergriffen, unangenehm erschüttert war.

Immerhin wird jetzt die Kritik auf den jungen Künstler aufmerksam: Er überragt auch optisch seine Mitspieler: Krüppel im Halbdunkel: Männer, denen ein Arm, ein Ohr oder ein Bein fehlt, dazu ein Greis mit lebenden Katzen im Schlepptau –, das hat es im bürgerlichen Theater der Zarenzeit nicht gegeben. Dieser verheißungsvolle Beginn des experimentellen Theaters bekam selbstverständlich bald nach der Konsolidierung der Sowjetmacht gewaltige Dämpfer, aber Majakowskij hat sein ganzes kurzes Leben hindurch von der Bühne nicht gelassen.
Für Eisenstein ist sie sogar für viele Jahre der zentrale Schauplatz seiner künstlerischen Aktivitäten, allerdings erst nach der Oktober-Revolution. In die Geschichte eingegangen aber ist er als einer der bedeutendsten Filmregisseure des 20. Jahrhunderts, nicht als Erneuerer des russischen Theaters.
Wie auch immer: Beide drängt es ins Rampenlicht, und beide gelüstet es heftig nach Ruhm. Für den um fünf Jahre älteren Majakowskij bahnt er sich bereits im Jahr 1913 an. Ein Jahr darauf, vom Dezember bis März 1914, geht er mit David Burljuk, seinem Entdecker, und mit dem Futuristen Wasilij Kamenskij auf Tournee in den Süden: über Charkow ans Schwarze Meer und weiter von Saratow bis nach Tiflis in den Kaukasus. Sie lesen aus ihren Werken und halten Lichtbildervorträge. Wo sie gehn und stehn, greifen sie das „dickarschige Spießbürgertum“ an und provozieren die Örtliche Polizei, die bisweilen ihren Vortrag „mitten im Wort“ unterbricht. Was Majakowskij in seiner knappen Autobiographie ausspart: In Odessa verliebt er sich in eine junge Frau namens Maria, die ihm derart den Kopf verdreht, daß er ihretwegen aus dem Trio ausscheren will. Sie aber läßt ihn abblitzen, und so setzt er die Tournee mit den Freunden fort, ein bißchen muffelig zunächst, aber bald fängt er sich wieder und deklamiert lustvoll seine Verse vor den meist ziemlich befremdeten Auditorien. Die Lust an der Selbstdarstellung kompensiert den Liebesentzug mit Getöse:

Ich bin ein Flegel, der kein höheres Vergnügen kennt, als die gelbe Jacke über den Rumpf gestülpt, eine Ansammlung von Menschen aufs Korn zu nehmen, die unter ihren wohlanständigen Gehröcken, Fräcken und Sakkos ehrliebend die Bescheidenheit und das gute Benehmen wahren.
Ich bin ein Zyniker, dessen bloßer Blick auf den Anzügen der ins Auge Gefaßten Fettflecke hinterläßt, ungefähr so groß wie ein Dessertteller.
Ich bin ein Reklamesüchtiger, der tagtäglich fieberhaft jede Zeitung durchblättert in der einzigen Hoffnung, seinen Namen darin zu finden.

Man muß Majakowskij wohl zugute halten, daß er das nicht ganz ernst gemeint hat. Aber ein Narziß war er doch, und zwar von beträchtlichem Kaliber. Und auch die Streitlust war ihm angeboren. Hinzu kommt, daß er mit seiner Statur durchaus einschüchternd wirkte. „Athletisches Format“ wird ihm von Zeitgenossen attestiert, ja man überbietet sich in den kühnsten Epitheta, die häufig der Bibel entlehnt sind. Einer nennt ihn den „Jesajas mit der Apachenmaske“, ein anderer „den störrischen Samson“, und für Marina Zwetajewa ist er ein „Erzengel und Fuhrmann“. Sie alle wollen mit ihren Attributen hoch hinaus, was ihm nicht wenig geschmeichelt haben wird. Eine Besucherin bei einem seiner diversen Auftritte behauptete gar, die Gläser auf den Tischen hätten geklirrt, wenn er die Stentorstimme erhob.
Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 kommentiert Majakowskij lapidar:

Erste Schlacht. Dicht vor mir das Kriegsentsetzen. Krieg ist abscheulich. Hinterland noch abscheulicher. Um vom Krieg reden zu dürfen, muß man ihn sehen. Melde mich als Freiwilliger. Abgewiesen. Kein Führungszeugnis.

Das Führungszeugnis bekommt er nicht, weil er seine politische Unzuverlässigkeit als Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei hinlänglich bewiesen hat. Auch wenn er sich nach der Haftentlassung nicht mehr parteipolitisch betätigt hat: Das Stigma bleibt.
Eine Weile zieht er sich aufs Land, in die Nähe von Petersburg, zurück. Dort lernt er die Tochter eines Moskauer Anwalts, Elsa Kagan, kennen, die spätere Ehefrau von Louis Aragon. Sie führt ihn bei ihrer älteren Schwester Lilja ein, und diese Begegnung bezeichnet Majakowskij als das „erfreulichste Datum“. Das ist eine leichte Untertreibung, denn Lilja, verheiratet mit dem Linguisten Osip Brik, wird die große Liebe seines Lebens.
Anfangs scheint die Liebe noch eingleisig, denn Lilja Brik findet den Dichter, als er eines Abends in ihrer Petersburger Wohnung auftaucht, reichlich arrogant. Sagt er ihr doch glatt ins Gesicht:

Sie verstehen meine Verse nicht und können sie vermutlich nicht einmal lesen.

Das war ziemlich ungehobelt, zumal Lilja eine sehr belesene Frau war, die sich in der zeitgenössischen Literatur auskannte und auch selber schrieb. Und dann sein Aufzug! Wie ein Stutzer mit Zylinder und Frack angetan – zugegeben eine Secondhand-Erwerbung – macht er auf sie den Eindruck eines ungezogenen Krakeelers. Aber er darf wiederkommen. Er bringt ein Manuskript mit, Teile aus seinem Poem Wolke in Hosen, das damals noch nicht abgeschlossen ist, und liest daraus Elsa und dem Ehepaar Brik vor, und diesmal macht er sogleich Furore, wie Lilja in ihren Erinnerungen festhält:

Aus Platzmangel hatten wir die Tür zwischen beiden Zimmern ausgehoben. Majakowskij lehnte sich an den Türsturz, zog ein Heft aus dem Jackett, warf einen Blick hinein und steckte es wieder weg. Er überlegte einen Moment. Dann ließ er die Augen umherschweifen, als hätte er einen weiten Hörsaal vor sich, sprach den Prolog und fragte lässig, mit leiser, mir unvergeßlicher Stimme: „Ihr meint wohl: Malaria? Fieberdelirien? O nein: das ist in Odessa geschehen.“
Wir hoben den Kopf wie gebannt, ließen bis zum Schluß kein Auge von ihm.
Er stand aufgerichtet, ohne ein einziges Mal die Haltung zu wechseln. Sah niemanden an. Ging in dem, was er sprach, ganz auf. Klagte, wetterte, spottete, forderte, eiferte, raste. Zwischen den Kapiteln machte er eine kleine Atempause.
[…] Brik fand als erster die Sprache wieder. […] In der ganzen Poesie kenne er nichts Besseres. […] Ich brachte kein Wort heraus. Majakowskij nahm Brik das Heft weg, schlug es auf, fragte mich:
„Darf ich es Ihnen widmen?“
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Er darf, obschon es eigentlich der Maria aus Odessa gewidmet ist, aber das wischt er weg mit dem Bemerken, als er das Poem schrieb, sei er in mehrere Frauen zugleich verliebt gewesen –. Und nun gehört es der einen Einzigen, die seine Muse wird. Osip Brik zahlt ihm einen Vorschuß für die Druckerei, und nachdem die Zensur heftig darin herumgefuhrwerkt hat, darf es erscheinen, als „Flaumwolke“, wie der Autor bekümmert feststellt. 1918 erscheint es dann ohne Striche und erweist sich als eines seiner Meisterwerke. Im Vorwort der neuen Ausgabe schreibt Majakowskij dazu:

Halte es für einen Katechismus der heutigen Kunst. „Weg mit eurer Liebe“, „weg mit eurer Kunst“, „weg mit eurer Ordnung“, „weg mit eurer Religion“ – dies sind die vier Aufschreie seiner vier Teile.

Das ist ganz nach dem Geschmack von Osip und Lilja Brik.
Fortan sind die beiden seine leidenschaftlichsten Apologeten.
Und überdies keimt nun auch fleischliche Leidenschaft in Lilja auf, für die der Ehemann volles Verständnis hat. Er bittet nur dringend darum, daß er bleiben darf. Das darf er natürlich, denn – so behauptet Lilja viel später – geliebt habe sie eigentlich nur Osip. Da er aber schon ein Jahr nicht mehr mit ihr geschlafen hat, fühlt sie sich „frei“ für die Beziehung mit dem Dichter. Überhaupt scheint das Liebesleben des Ehepaars recht ungezwungen gewesen zu sein; Lilja werden allerlei Amouren nachgesagt,3 und auch Osip war kein Asket. Doch Tisch und Dach blieben gemeinsames Refugium, auch während der nächsten Ehe Liljas, die sie ein Jahr nach Majakowskijs Freitod, 1931, mit einem General der Roten Armee einging. Man kann sich ausmalen, wie die sowjetische Literaturgeschichtsschreibung an diesem Lotterleben zu knacken hatte. Die staatlich verordnete Prüderie wußte sich gar nicht zu fassen. Totschweigen war noch das Einfachste. Wohl wegen der Gerüchte und vielleicht auch, weil es tatsächlich stimmte, hat Lilja versichert, sie hätten keine Ménage à trois geführt. Ihr lag sehr daran, daß der geliebte Poet nicht nur als Wüstling in die Geschichte einging. Auf die Liebesbeziehung der beiden, die bis 1925 gedauert haben soll, muß ich später ausführlicher eingehen.
Noch aber haben wir Krieg, und jetzt, im zweiten Kriegsjahr, ist das Einberufungsamt plötzlich nicht mehr zimperlich. Majakowskij, der 1915 nach Petersburg übergesiedelt ist, erhält den Stellungsbefehl. Das kommt ihm nun, im ersten Liebestaumel, gar nicht zupaß. „Will jetzt nicht an die Front“, knurrt er, gibt vor, er sei technischer Zeichner, macht einen Kursus bei einem Ingenieur und arbeitet in einer Autowerkstatt. Da bleibt er bis zum Oktober 1917. Obwohl er diese Jahre als „hundsmiserabelste Zeit“ bezeichnet, hat sich der Konstruktionszeichner des Zaren vermutlich nicht verausgabt.
Er macht, um sich „zu drücken“, Portraits seiner Vorgesetzten und veranstaltet sogar hin und wieder private Vortragsabende. An Liljas Schwester schreibt er im Oktober 1916:

Ich rauche. Damit ist meine gesellschaftliche und private Betätigung erschöpft.

Ganz so kaltschnäuzig indes wird er den großen Krieg nicht aufgenommen haben. Es gibt einige höchst zwiespältige Reaktionen darüber. 1914 verfaßt er einen Prosatext, in dem er einen verwundeten Schauspieler zitiert:

Er erzählte, wie die Granaten einschlugen, wie man ihm, als er nach drei Tagen pausenlosen Einsatzes auf dem Verbandsplatz zusammenbrach, einen Krug blutigen Wassers aus der Weichsel hinstellte… Kein Wort von Todesangst. […] Der Tod wirft sich auf die gesamte Masse, […] und so bleibt der gemeinsame Leib erhalten; dort, auf dem Schlachtfeld, vereinen alle ihren Atem, und darum waltet dort Unsterblichkeit… So ist dem Seelendasein des neuen Menschen das Bewußtsein entsprossen, daß der Krieg nicht sinnloses Morden, sondern ein Poem ist von der befreiten und zur Größe erhobenen Seele.

War das wirklich die ersehnte Antwort auf den Schrei nach Revolte und Aufbruch, den die „reckenhaften Zukünftler“ vor Ausbruch des Krieges unermüdlich von ihren Podien brüllten? Auf dem Schlachtfeld sollte sich das Wir-Gefühl einstellen? Makaber genug, daß Majakowskij es ausgerechnet aus diesem Kontext heraushören will, ein Wir-Gefühl aus zweiter Hand nämlich. Mehr noch: Die, die da hingemetzelt werden, das sind die Neuen Menschen? Aus der Rückschau klingt das abscheulich. Man kann Majakowskij aber nicht als Einzelperson anklagen. Die Zeitstimmung war damals so diffus, nicht nur in Rußland, sondern auch im übrigen Europa. Wie martialisch haben selbst die linken deutschen Schriftsteller getönt, vor Ausbruch des Krieges jedenfalls, in einer Zeit also, für die Alfred Döblin die Diagnose fand:

eine Gärung ohne Richtung.

Der Zerfall der bürgerlichen Ordnung schrie förmlich nach Reformen, nach Umwälzungen. Um sie zu erreichen, wollte man sogar den Krieg in Kauf nehmen. Im Tagebuch des Lyrikers Georg Heym findet sich aus dem Jahr 1910 die Eintragung:

Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne […]. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig.

Vom Neuen Menschen ist auch in den Texten der westeuropäischen Linken oft die Rede, und Majakowskij war nicht der einzige, der ihn – 1914 zumindest noch – von den Schlachtfeldern auferstehen sah. Daß der – im Osten wie im Westen – ein Phantom blieb oder gar zu einem Zerrbild übelster Machart pervertierte, konnte er so wenig voraussehen wie die „Sturmmacher“4 an der Gegenfront. Die Idee vom Neuen Menschen beflügelt noch bis in die Mitte der zwanziger Jahre die literarischen Projekte Majakowskijs. Die Taktik des Klassenkampfes sieht allerdings ein bißchen anders aus. Und auch über die Realität des Krieges wird der Dichter bald eines anderen belehrt. Davon legt das Ende 1915 begonnene Poem „Krieg und Welt“ Zeugnis ab (man kann auch übersetzen „Krieg und Frieden“, denn das russische Wort „mir“ bedeutet beides). Hier zwei Ausschnitte:

Hingemordet –
und einerlei,
war ich oder er war
der Täter.
Im Abgrund des Herzens
setz ich sie bei:
dort dunkeln mir Massengräber;
dort werden mir Millionen
(sich regend, wenn Würmer sie heben)
in ihrer Verwesung wohnen
und weiterleben.

Und einige Strophen weiter:

Blut!
o könnte man deinem Strömen
einen einzigen Tropfen entnehmen,
den nicht ich verbrach!

Das sind die merkwürdigen Selbstbezichtigungen, die jeder politischen Grundlage entbehren. Sie deuten aber auf eine starke psychische Verunsicherung hin, die so gar nicht zu der Großspurigkeit paßt, mit der Majakowskij seine öffentlichen Auftritte zelebriert. Sein Charakter gibt viele Rätsel auf. Wenn bisher vornehmlich dessen Schauseite vorgeführt wurde, so ist es an der Zeit, auch die Brüche und Überempfindlichkeiten ins Auge zu fassen, die ihn schließlich in den Freitod trieben.
Das wesentliche Dilemma besteht für Majakowskij darin, daß er sich einerseits einem Kollektiv zugehörig fühlen will, anderseits aber der Prototyp des Individualisten ist.
Sein soziales Gewissen, geschärft durch die Erfahrung der Armut nach dem Tod des Vaters, befiehlt ihm Solidarität mit den sozial Schwachen. Also tritt er bereits im Jünglingsalter der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei bei. In dem Moment jedoch, als sich abzeichnet, daß ihn die illegale Parteiarbeit allzu sehr absorbiert, entscheidet er sich fürs „Lernen“, für die Kunsthochschule.
Bald darauf entdeckt David Burljuk Majakowskijs poetisches „Genie“; er wird zum Hätschelkind der Futuristen, genießt die Nestwärme in der Gruppe bei diversen Auftritten und bei den mehr privaten Treffen. Aber er wird nie der „neuen Wortkunst“, wie sie am kompromißlosesten der geniale Mitstreiter Welimir Chlebnikow definiert, gänzlich hörig. Allein der Klangwirkung der Sprache, den „Zauberkräften des Wortes, sogar des unverständlichen“ vertrauen, das reicht Majakowskij nicht. Für ihn ist ein kommunikatives Moment unabdingbar. Zumindest glaubt er nicht, daß man den Neuen Menschen mit den „Zauberkräften des Wortes“ aus dem Boden stampfen könne. Da war er pragmatischer als so manche seiner Futuristenfreunde. Ja, er versteigt sich sogar einmal zu der flotten Formel: „Hauptsache Menschen, Kunst wird sich finden“, während für die orthodoxen Futuristen eher umgekehrt ein Schuh daraus wurde. Jedoch: Bei aller Absage an einen ästhetischen Fundamentalismus –, allzu nah durften ihm die Menschen nicht kommen. Denn – auch das gehört zu den Aporien seines Charakters – er litt sichtlich unter Berührungsangst, zumindest unter Waschzwang. Zu viele Hände drücken ohne das pieksaubere Handtüchlein in der Reservetasche (sogar fremden Tüchern mißtraute er), das ertrug er nicht. Und so wurde er zerrissen zwischen dem Hang zu einem diffusen Wir-Gefühl, das er gern hochgemut verkündete, und seinem liebsten Retiro: dem eigenen Ich.
Bei Eisenstein zeigt sich übrigens eine ähnliche Charakterstruktur. Die Begeisterung für Massenaufgebote, für geballte revolutionäre Energien, die war bei beiden nicht aufgesetzt oder vorgeschoben. Man muß sich nur einmal in Erinnerung rufen, wie lustvoll Eisenstein im Panzerkreuzer Potjomkin die verschiedenen Szenen des Matrosen- und Volksaufstandes gestaltet.
Sich aber so richtig gemein machen mit Krethi und Plethi das konnten sie beide nicht. Und wollten es auch nicht.
Jedoch gibt es in jeder Epoche Phasen, wo der Künstler sich seiner Ich-Bezogenheit genieren zu müssen glaubt. Das war so – in Ost und West – bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und es wiederholte sich in Rußland während der Revolution.
Das ist vermutlich der Grund für Majakowskijs Selbstbezichtigungen in seinem Poem „Krieg und Welt“. Er wollte dazugehören, und weil er nicht durfte, klagt er sich an.
Der Eine und die Vielen, das war sein Dauerkonflikt, und er bewältigte ihn mal besser, mal schlechter. Seine Labilität indes überwand er nie. Die, die ihn näher kannten, wußten ein Lied davon zu singen. So berichtet Lilja Brik in ihren Erinnerungen, denen man allerdings eine gewisse Patina zugestehen muß, daß er oft weinte und nicht selten ziemlich wehleidig war. Aber auch regelrecht verzweifelt. Bereits 1916 plante er, nach Lilja Briks Aussage, einen ersten Selbstmordversuch. Er besaß mehrere Revolver und spielte angeblich gerne damit herum. Übrigens war er Linkshänder, „schoß aber bemerkenswert gut“, so Lilja, und dann weiter:

Eines frühen Morgens 1916 riß mich das Telefon aus dem Schlaf. Majakowskijs dumpfe leise Stimme: „Ich erschieße mich. Leb wohl, Lilchen.“ Ich schrie auf, rief: „Warte auf mich, ich komme zu dir!“, warf mir den Mantel über den Morgenrock, rannte die Treppe hinunter, beschwor den Droschkenkutscher, schneller zu fahren, hämmerte mit den Fäusten auf seinen Rücken. Majakowskij öffnete mir. Auf dem Tisch im Zimmer lag ein Revolver. Er sagte: „Ich habe abgedrückt – Ladehemmung. Noch mal hab ichs nicht versucht, wollte auf dich warten.“ 

Wieviel Dramatisierung auch in der Nacherzählung stecken mag, gelegentliche Anwandlungen zur Selbstzerstörung lassen sich nicht gänzlich bestreiten. Und schon gar nicht darf man folgern – was die sowjetische Literaturgeschichtsschreibung beflissen praktizierte –, Maiakowskijs definitiver Freitod sei eine Kurzschlußhandlung gewesen. Anders ließ sich die Schande nicht wegdisputieren.

 

 

 

Wenn es noch einer Rechtfertigung bedarf,

warum der Dichter Wladimir Majakowskij und der Filmemacher Sergej Eisenstein in einer Duographie zusammengespannt werden, hier ist sie.
Sie stammt aus der Feder des russischen Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Viktor Schklowskij, der über beide Biographien verfaßt hat. In der über Eisenstein erinnert er daran, daß Plutarch „Parallelbiographien“ geschrieben hat, „in denen er die Helden Roms und Griechenlands miteinander verglich“. Schklowskijs Verfahren ist dem Plutarchs vergleichbar, das bekräftigt er in seiner Eisenstein-Biographie mit den Worten:

Ich rede nicht zufällig von Plutarch. Wie dieser Schicksale einander gegenüberstellt, um die Menschen und ihre Zeit zu begreifen, so vergleichen auch wir Biographien, die die Geschichte selber zusammenrückt, um die Künstler und ihre Wege zu begreifen. In diesem Buch begegnen sich später Eisenstein und Chaplin flüchtig in Hollywood. Aber ihr Schicksal lief bis dahin parallel.
Ich versuche, dies genau zu verfolgen.
Neben dem Haupthelden werden hier auch Majakowskij, Block und Meyerhold auftreten – durch ihre Biographien werden wir die Biographie Eisensteins und die Arbeit der Zeit verstehen, die diese Menschen geformt hat, die sich gegenseitig beeinflußten
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Nur einer der hier erwähnten russischen Künstler starb eines natürlichen Todes: Der Dichter Alexander Block, der 1921 mit vierzig Jahren einem Herzversagen erlag. Wladimir Majakowskij hat sich im Alter von siebenunddreißig Jahren umgebracht, durch einen Pistolenschuß ins Herz. Der kühnste Regisseur des russischen Theaters, Wsewolod Meyerhold, wurde 1940 erschossen, und Sergej Eisenstein, der dem sowjetischen Film durch seinen Panzerkreuzer Potjomkin zu Weltruhm verhalf, hat sich selber umgebracht durch einen Suizid in Raten: Er hat sich buchstäblich zu Tode gearbeitet, und das war, wie man seiner Autobiographie entnehmen kann, sein unumstößlicher Vorsatz. Er war wegen eines Herzinfarktes in ein Moskauer Krankenhaus eingeliefert worden, und hier arbeitete er, entgegen dem Verbot der Ärzte, wie ein Besessener an seinen biographischen Aufzeichnungen. Im Kreml-Krankenhaus las er „wieder einmal den Roman Der Idiot von Dostojewskij und zwar wegen der Szene des mißglückten Selbstmordversuchs Ippolits. […] Ich beschloß, ebenfalls Selbstmord zu begehen, nicht durch Aufhängen, nicht, indem ich Dynamit rauchte, nicht durch Essen verbotener Speisen, nicht mit Pistole oder Gift. Ich beschloß, mich zu Tode zu arbeiten.6 Das ist ihm gelungen, wenige Wochen nach seinem 50. Geburtstag stirbt er an Angina pectoris.
Was war der Grund für die Selbstauslöschung dieser beiden zeitweilig wie Standbilder verehrten russischen Künstler? „Gemeinheiten und Niederträchtigkeiten“, so Eisenstein, „Gezank und Gekeife“, so Majakowskij. Auch das gehörte zum „Wirken der Zeit“, das Schklowskij so euphemistisch beschwört, war seine Kehrseite, und die wurde immer unerträglicher, je stärker die stalinistische Kulturpolitik in das Leben beider eingriff.
Ich muß, ehe ich auf die „Parallelbiographien“ der beiden Künstler näher eingehe, eine Bemerkung vorausschicken, die ihre Selbstaussagen und das Urteil von Zeitgenossen betrifft. Sie sind allesamt, von wem auch immer sie stammen, durch Selbstzensur entstellt. Das ist das Schicksal aller Publikationen, die unter Staatsterror verfaßt werden. Auf sie zu verzichten, ist gleichwohl unmöglich; und überdies enthüllt Selbstzensur letztlich auch ein Psychogramm. Was die gedruckten Dokumente der Zeitzeugen angeht, so stammt der überwiegende Teil aus der Zeit vor der Perestroika, und selbst wenn sie vieles bemänteln, so haben sie doch den Vorzug der Unmittelbarkeit.
Anders steht es mit der sogenannten Sekundärliteratur, da wurde wacker verfälscht und manipuliert. So wurde in den Anmerkungen zu einer zweibändigen Majakowskij-Ausgabe von 1937 sein Freitod überhaupt nicht erwähnt. Suizid war ein Tabuthema im geheiligten Zentrum der Weltrevolution.
Außerdem: In der offiziellen Bewertung ist keine einförmige Linie auszumachen; es gab staatlich verordnete Stimmungsumschwünge zuhauf, so daß die Rezeptionsgeschichte der beiden an eine Slalomfahrt erinnert. So hat man Majakowskij unmittelbar nach seinem Freitod total in der Versenkung verschwinden lassen, bis dann 1935 Stalin ein Machtwort sprach und verkündete:

Majakowskij ist und bleibt der beste und begabteste Dichter unserer Sowjetunion.

Fortan begann man, sich intensiv mit seinem Werk zu beschäftigen. Für Jahrzehnte war er dann neben Puschkin der meistgelesene Dichter des sowjetischen Imperiums. Es bleibt dabei: Anhand der gedruckten Dokumente ist ihrer beider Lebensgeschichte nicht leicht zu entschlüsseln. Man muß die Texte der Zeitzeugen und „Wissenschaftler“ gegeneinander halten, um den Wahrheitskern herauszufiltern. Ein Beispiel für die dennoch verbleibenden Widersprüche Majakowskij hat im Jahre 1919 begonnen, für die Russische Telegrafen-Agentur (abgekürzt ROSTA) Plakate zu entwerfen, die die überwiegend analphabetische Bevölkerung politisch aufklären sollten. Er selber behauptet in seinen Aufzeichnungen, er habe sich mit Feuereifer in diese Aufgabe gestürzt, was auch seine Freunde bestätigen. Der Linguist Roman Jakobson, der damals in engem Kontakt mit Majakowskij war, will hingegen wissen, der habe diese Arbeit ziemlich lustlos absolviert. Des Rätsels Lösung: Jakobson hat Rußland bereits Anfang der zwanziger Jahre verlassen, er ging zunächst nach Prag und übernahm später einen Lehrstuhl in Harvard. Er mußte also nicht, wie alle, die in der Sowjetunion ausharrten, den gesellschaftlichen Nutzen von Majakowskijs Aktivitäten dick herausstreichen. Jakobson ist übrigens einer der ersten, der in einem Essay von 1931 mit dem Titel „Über eine Generation, die ihre Dichter vergeudet hat“ die Motive für Majakowskijs Freitod schonungslos analysiert.
Gleichwohl bleibt das Selbstbild Majakowskijs voller Dissonanzen. Tagebücher kennen wir nicht, vermutlich hat er nie welche geschrieben. Das hat zum Glück Sergej Eisenstein getan. Sie blieben über Jahrzehnte hin unter Verschluß und sind erst seit kurzem zur Einsicht freigegeben. Oksana Bulgakowa, die eine umfangreiche und sehr offenherzige Biographie Eisensteins7 verfaßt hat, zitiert sie ausgiebig und dazu auch – ungedruckte – Briefexzerpte, die im Vergleich zu den Tagebüchern allerdings weniger auskunftsfreudig sind. Aber es läßt sich auch aus ihnen einiges herauslesen, was man vor der Perestroika mit Fleiß unterdrückt hat. Vor allem finden sich in diesen Texten ungemein freimütige Bemerkungen über seine homosexuellen Neigungen und noch diese und jene Obszönität. Im stillen Kämmerlein hat er sich nämlich gerne zum Homme fatal stilisiert. Ein Beleg: Als er 1942 aus den USA eine dort publizierte Sammlung eigener Aufsätze unter dem Titel The Film Sense zugesandt bekommt, notiert er zufrieden:

Besser kann man es nicht machen. Sogar der Schutzumschlag ist so, wie ich ihn mir wünschte, gelb und schwarz, wie der Umschlag eines Krimis. Darauf mein Gesicht mit einem absolut unanständigen Schlafzimmerblick und einem Mona-Lisa-Lächeln.

Majakowskij dagegen gab sich sehr viel keuscher. So war er – nach Aussage von Roman Jakobson – stolz darauf, daß er keine schlüpfrigen Gedichte verfaßt hat, von ein paar Ausrutschern abgesehen. Seine Devise, nach 1928 in einem Gedicht verkündet:

Begier ist wie Masern, fällt ab mit dem Schorf.

Aber herumgekommen um die Masern ist er auch nicht. Man hat es akkurat nachgezählt: Dreimal8 in seinem Leben wurde Majakowskij von heftiger Liebe befallen; eine der drei Frauen, Lilja Brik, war übrigens verheiratet. Lange Zeit wohnte der Dichter mit dem Ehepaar in ein und derselben Wohnung. Aber – damit schwächt Lilja Brik selber das leicht Anrüchige dieser Kommunalka-Situation ab: Eine Ménage à trois habe es nie gegeben.
Schade? Zumindest schade, daß man darüber nichts Genaues weiß.
Aus Majakowskijs überschwenglichen Liebesbriefen an Lilja kann man sich keinen Reim darauf machen. Immerhin durfte der Ehemann Osip Brik sie begutachten und behauptete später lakonisch, sie seien „eine einzige Banalität“. Hat er auch den Satz gelesen: „Mit der lyrischen Tollwut eines Knaben klammere ich mich an Dein Schreiben“?
Vermutlich ja. Aber unter Eifersucht scheint er nicht gelitten zu haben. Peinlich war für ihn offenbar nur, daß der stramme Barde der Revolution sich solche Rückfälle ins vorsintflutliche Gefühlsleben leistete. Denn nach dem „Roten Oktober“ war Sexualität ein gesellschaftspolitisches must wie Essen und Arbeiten, oder – wie Ilja Ehrenburg sich mokiert – „der gerade Produktionsprozeß von zwei Kleingewerbetreibenden“.
Allerdings nur auf dem Papier, und zwar auf dem Papier von einigen Ausgeflippten wie z.B. der markigen Frauenrechtlerin Alexandra Kollontai.
Majakowskij indes bekam die Masern, und weil man es doch schon bald für anrüchig hielt, daß eine verheiratete Frau ihn infiziert hatte, wurde nach seinem Tod auf einem ganz unverfänglichen Foto im Grünen die neben Majakowskij posierende Lilja Brik kurzerhand wegretuschiert.
Eisenstein mußte sehr viel mehr retuschieren, nämlich seine Homosexualität, die im Sowjetreich selbstredend verpönt war, wie in allen Diktaturen, wovon auch die Deutschen ein Lied singen können. Ab 1934 wurde diese „Perversion“ sogar mit harten Strafen belegt, bis zu acht Jahren Gulag konnte man dafür bekommen. Eisenstein selber hat sich als „bisexuell“ bezeichnet und vorsichtshalber sogar zweimal geheiratet.
Aber er hatte auch einige kleine Liebesaffären mit Frauen und lernte unter anderem daraus, daß das weibliche Geschlecht nicht als solches nymphoman ist. Über erotische Vergnügungen schweigt er sich jedoch aus, er hielt sich schadlos mit ausschweifenden Phantasien, und die notierte er in seinem Tagebuch, allerdings nicht auf Russisch.
Von der Charakterstruktur her waren beide – nicht nur in puncto Erotik – grundverschieden. So ist es auch kein Wunder, daß sie nie Freunde wurden. Der Altersunterschied von bloß fünf Jahren – Majakowskij wurde 1893, Eisenstein 1898 geboren – hätte da nichts ausgemacht. Es war vielmehr ihre Egomanie, die dem im Wege stand. Jeder war für sich ein Unikat innerhalb der russischen Kunstszene, und da neigt man nicht gerade zur Verbrüderung. Zudem war ihrer beider Sozialisation grundverschieden: Majakowskij, der ältere, kam aus kleinen Verhältnissen, Eisenstein aber war im großbürgerlichen Ambiente aufgewachsen. Majakowskij war, was seine geistig-künstlerische Entwicklung angeht, ein Selfmademan, Eisenstein dagegen wurde schon früh zum Musterschüler gedrillt. Er beherrschte drei Fremdsprachen – Englisch, Deutsch und Französisch – einigermaßen perfekt, war ungemein belesen und von unersättlicher geistiger Neugier. Hierin konnte ihm Majakowskij keineswegs das Wasser reichen. Aber an Selbstbewußtsein stand er ihm nicht nach, war er doch bereits vor der Oktober-Revolution die Nummer eins innerhalb der Avantgarde. Beide haben sie – zeitversetzt – die russische Kunst revolutioniert.
In einem zentralen Bereich, dem Theater, überschnitten sich ihrer beider Interessen zeitweilig; sie hatten begriffen, daß die so dringlich geforderte Neue Kunst auf der Bühne zuallererst realisiert werden konnte. Bereits vor der Revolution hatte es wichtige Anstöße zur Reform des russischen Theaters gegeben, initiiert von dem abtrünnigen Stanislawskij-Schüler Wsewolod Meyerhold, mit dem beide später zusammenarbeiteten. Die radikale Umkrempelung der Bühnenkunst aber wurde erst nach der Revolution möglich, und das geschah mit Aplomb.
Dreitausend über das ganze Land verstreute Gruppen setzten den „Theateroktober“ in Gang mit z.T. schrillen Innovationen. Am prägnantesten hat Ilja Ehrenburg den revolutionären Umbruch der russischen Theaterlandschaft beschrieben, und zwar in dem 1922 publizierten Essay-Band Und sie bewegt sich doch: 

UNABLÄSSIGE BEWEGUNG. Eine Sekunde Unterbruch ist der Tod.
ALLES NACH AUSSEN GEKEHRT. Keinerlei innere Regungen. Onkel Wanja und all ihr Schwestern, bleibt zuhause! Lieber Akrobaten!
Ein Sprung: Ekstase, ein Sprung: Tragik. Gemütsbewegungen: faules Zeug.
Neben Tairow gibt es die Inszenierungen Meyerholds, mißlungen in der Ausführung, großartig in der Absicht. Es geht bereits nicht mehr darum, die Theatralität zu erhalten, sondern sie aufzulösen durch Niederreißen der Rampe und Vermengen der Schauspieler mit den Zuschauern.
[…] Ich formuliere das Gemeinsame:
Nur Reines. Weg mit den Zwitterformen wie psychologisches Drama, Sittenkomödie u.ä.
[…]. WEG MIT DEM AUTOR! Das Theater darf nicht im stillen Kämmerlein verfaßt, sondern muß auf der Bühne konstruiert werden. Nur dort sind die Proportionen sichtbar, denn die Geste stützt das Wort. […]
Schluß mit den allabendlichen Gastspielen. Das Spiel des einzelnen Darstellers, und sei er auch erzberühmt, ist nicht Selbstzweck, sondern Material. Aus dem Spiel wird die ganze Handlung geformt.
[…] DER REGISSEUR ist Architekt, Ingenieur, EISENBAHNDIREKTOR.9

An einem Beispiel, Majakowskijs am 7. November 1918 uraufgeführtem Mysterium buffo, läßt sich Ilja Ehrenburgs betont hektische Beschreibung nachvollziehen. Der Autor hatte bei seiner Stückvorlage gewaltig ausgeholt, Himmel und Hölle, ja den Kosmos selbst in Bewegung gesetzt. In Anlehnung an Mysterienspiele – bis in das Vokabular hinein – läßt er die Figuren zwischen realer Szenerie und außerirdischen Gefilden hin und her irrlichtern. – Den teilweise ins Phantastische entrückten Schauplätzen kommt die Wahl des Aufführungsortes entgegen. Man spielt in einem ausrangierten Zirkus. Majakowskij selber tritt in mehreren Rollen auf, zum einen, weil er es liebt, sich auf der Bühne zu produzieren, zum andern in Ermangelung professioneller Schauspieler. Die konventionellen Theater hatten sich sämtlich geweigert, diesem Stück ihre Tore zu öffnen, und so verfiel man auf Laiendarsteller. Das war damals allgemein üblich beim „Theateroktober“.
Ein wichtiger Impuls war, sich von den „Kopisten der Natur“ radikal abzusetzen; die Bühne sollte nicht mehr die gängige Illusionsmaschinerie präsentieren, sondern zum multifunktionalen Mitspieler werden. Dementsprechend wurden auch Gegenstände zu Handlungsträgern, man redete sie sogar mit dem Ehrentitel „Genosse“ an.
Alles natürlich zum Zweck der „Errichtung der Weltkommune“. Darunter machte Majakowskij es zu dieser Zeit, unmittelbar nach der Oktober-Revolution, nicht. Und das war keine bloße Dekoration, um den Genossen einen Gefallen zu tun. Damals glaubte er wirklich noch an die Weltrevolution, aber ebenso fest war er überzeugt, daß sie durch die Innovation der Künste zustande käme. Denn die Kunst war – auch wenn er öfters Gegenteiliges verlautbarte – das einzige, was ihn im Grunde interessierte. Damit steht er nicht allein in der Tradition der russischen Geistesgeschichte, die den Künstlern, allen voran den Dichtern, eine besondere Rolle zuwies: Dichter sind keine normalen Menschen, sondern schweben irgendwo zwischen den Antipoden Mensch und Gott, sind gleichsam das Nationalheiligtum aller Russen. Zum andern bewegt Majakowskij sich hier noch ganz und gar in den Bahnen der vorrevolutionären futuristischen Manifeste und Proklamationen, zum Beispiel dieser:

Trainiert die Künstler für die Belagerung der Städte, für die Teilnahme am Wiederaufbau der Welt!

Ja, sie verstanden sich sogar als die einzigen Erbauer der Zukunft und mokierten sich zugleich über die Animateure des italienischen Futurismus, die sie kurzerhand als „Piepvögel“ abtaten.

Was immer man auch an niederschmetternden Ergebnissen der gescheiterten Weltrevolution bilanzieren mag: Zumindest die erste Hälfte der zwanziger Jahre war eine der aufregendsten und produktivsten Epochen der russischen Kunst. Auch Eisenstein schwärmt von der „großartigen schöpferischen Intensität der zwanziger Jahre“. Zu Recht: Er konnte daran zwar erst später partizipieren, denn er mußte zunächst auf Anordnung seines Vaters ein Ingenieur-Studium absolvieren (das er dann freilich zugunsten des Theaters abbrach). Eisenstein also startete seine Theaterlaufbahn erst Anfang der zwanziger Jahre bei Meyerhold, gab sie aber einige Jahre später auf und wurde bald zu einem der prominentesten Filmemacher der Sowjetunion. Doch die Tätigkeit als Bühnenbildner und Regisseur hat auch seine Filmarbeit geprägt. Um noch mal auf den eingangs zitierten Viktor Schklowskij und seine Bemerkung über die „Parallelbiographien“ zurückzukommen, so ist die aufregendste Parallele in Majakowskijs und Eisensteins Künstlerexistenz, daß beide entscheidenden Anteil hatten an der überschäumenden Atmosphäre unter den „Kunstwerkern“ der frühen zwanziger Jahre. Sie war auch darum so faszinierend, weil – wie schon im Futurismus – die Vertreter der einzelnen Kunstgattungen intensiv zusammenarbeiteten. Diese Interaktion kam vornehmlich dem Theater zugute. Zwar mußte man jetzt – anders als im Futurismus – den „sozialen Auftrag“ im Hinterkopf behalten, aber offenbar wurde der von den Adressaten, dem Volk im Zuschauerraum, nicht recht wahrgenommen. Majakowskijs Mysterium buffo zum Beispiel wurde bei der Uraufführung im Jahre 1918 ausgepfiffen, und die Kritiker mäkelten, dieses Stück sei für das Proletariat unverständlich. Nun ist populäre Verständnislosigkeit gegenüber jeder Avantgarde normal, sie ertönt weltweit wie das Amen in der Kirche. Doch in der Sowjetunion, selbst in ihren Anfängen, mußte man wissen, daß man ein riskantes Spiel trieb, wenn man die Rezeption der breiten Masse außer acht ließ.
Wußten die Künstler das? Oder scherten sie sich nicht darum?
Majakowskij jedenfalls befand sich in einem Dilemma hatte er doch vor dem Ersten Weltkrieg lauthals verkündet:

Kunst ist Leben, Leben ist Kunst.

Seine aggressive Verachtung für das falsche Leben da draußen – außerhalb seiner geliebten Futuristenzunft – hatte ihm den Blick dafür verstellt, daß das neue, das nachrevolutionäre Draußen sehr viel unnachsichtiger war als die einst verhöhnten Spießer der Vorkriegszeit.
Eisenstein, zwar ebenfalls Künstler mit Haut und Haar war vom Naturell her konzessionsfreudiger; er hat später sogar des öfteren Selbstkritik geübt, öffentlich. Das wäre Majakowskij nie in den Sinn gekommen. Doch in seinen Anfängen beim Theater ignorierte auch er den populären Geschmack, war verliebt in seine zirzensischen Spiele und tobte sich hier geradezu aus.
Indes, die Schieflage, in der sich die avantgardistischen Künstler schon bald befanden, die hatte auch er rasch erfaßt. So resümiert er später in seinen „Memoiren“ die Aufbruchperiode mit den Sätzen:

Hier verläuft die Demarkationslinie zwischen der Linken und der ,Linken‘. Zwischen den revolutionären Linken und den letzten Grimassen der ästhetischen ,Linken‘. Und hier tut sich die unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen auf.

Die wirklichen Linken streben eine „zielgerichtete Expressivität“ an, nicht l’art-pour-l’art, die man seinen schrillen Theater-Experimenten unterstellte, aber auch nicht die frohe Botschaft pur. Daß ihn die allein seligmachende Vulgata des Kommunismus im tiefsten Innern kaum interessierte, behielt er klüglich für sich. Majakowskij, der Gläubigere, wollte jedoch den Kampf gegen die Bonzen im Theaterbetrieb nicht verloren geben, während Eisenstein das künstlerische Terrain wechselte. Er ging zum Film, und zwar unmittelbar, nachdem man ihm das Bühnenhandwerk gelegt hatte.
Daß er in seinem neuen Betätigungsfeld viel stärkeren Restriktionen ausgesetzt sein würde als am Theater, ahnte er damals nicht. Dafür hatte er bald die Genugtuung, zu den „ersten Botschaftern unserer sowjetischen Kultur zu gehören“, wie er rückblickend in einem Traktat von 1935 vermerkt, um dann fortzufahren:

Lange bevor wir in der Welt de jure und facto anerkannt wurden, räumte unsere Filmkunst in so vielen Staaten mit so manchem Vorurteil über das Land der ,Kulturbarbaren‘ gründlich auf.

Das ist richtig, und daran hat Eisenstein, vor allem mit seinem Panzerkreuzer Potjomkin, gewaltigen Anteil. Trotzdem: Als er diese Sätze schrieb, war er bereits zu einem gefährlichen Nischendasein verurteilt, wie es ihm Majakowskij gegen Ende seines Lebens vormachen mußte.
Im Grunde hat Eisenstein mit seinem Absprung in die Film-Regie das verwirklicht, was Majakowskij bereits 1913 formuliert hatte: daß nämlich der „Kinematograph“ die „logische Folge der heutigen Theaterkunst“ sei. Er sagte voraus, daß der Film die Bühne revolutionieren werde, darin liege seine „kulturelle Bestimmung“. Nun gab es bereits im ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts eine Reihe beachtlicher russischer Stummfilme, die zumindest formal als Anknüpfungspunkt dienen konnten. Majakowskij hat selber Drehbücher geschrieben, irgendwann sogar angekündigt, er werde mindestens zweihundert Szenarien verfassen; aber ganz so viele wurden es dann doch nicht. Die oberste Film-Instanz mit der schönen Bezeichnung Sowkino bremste seinen Eifer, indem sie zum Beispiel vor ein Lieblings-Projekt mit dem Titel „Wie geht’s Ihnen“ einen Riegel schob. Majakowskij kämpfte verbissen um die Realisierung –, ohne Erfolg. Übrigens hat er auch in einigen Filmen als Darsteller mitgewirkt, er war gierig nach Selbstinszenierung, ob auf dem Rednerpult, auf der Bühne oder vor der Kamera. Eisensteins Produktionen hat er zumeist positiv beurteilt, aber explizit rezensiert hat er sie nicht, wie es überhaupt nur sehr wenige schriftliche Äußerungen von ihm über seinen Mitstreiter gibt.
Auf der Gegenseite finden sich da schon ein paar mehr Auslassungen. Eisenstein nennt den Dichter einen „feurigen Tribun“, streicht immer wieder heraus, wie sehr ihm dessen Anrempeleien und bissige Attacken gegen Spießer und Schwätzer imponieren, und überhaupt fallen ihm zu Majakowskij nur hochgetürmte Vergleiche ein wie das Empire State Building oder die Cheopspyramide. Zu den nach der Revolution entstandenen Gedichten und Stücken gibt es nur verhaltene Lobsprüche, das Frühwerk hingegen hat es ihm angetan, wohl weil da die „Oktobersonne“ noch nicht so grell durchschimmert. Er hat auch einen längeren Artikel über den Dichter geplant, doch der blieb Fragment, wie so vieles aus Eisensteins Feder.
Ungemein beeindruckend beschreibt er mehrere Begegnungen mit Majakowskij in seinen „Memoiren“. Die erste kam bei den Proben zu Mysterium buffo zustande. Eisenstein hatte sich mit einem Kollegen heimlich in den Probenraum geschlichen und beobachtete fasziniert den berühmten Meyerhold bei der Arbeit:

Zum Regisseur hin stürmt ein Riese mit wehenden Mantelschößen. Zwischen Kragen und Mütze ein gewaltiges quadratisches Kinn. Dazu noch Lippe und Zigarette, hauptsächlich aber ein Sturzbach gesalzener Flüche. Das ist der Verfasser. Das ist Majakowskij. Er ist mit irgend etwas nicht zufrieden. Der Anfang einer dräuenden Tirade. Doch da packt uns jemand am Genick.

Kurzerhand werden die beiden Voyeure nach draußen befördert. Später schreibt er:

Die weiteren Erinnerungen an Majakowskij fließen ineinander zu einer unendlichen Kette von Auftritten im Polytechnischen Museum, im Saal des Konservatoriums. Von Brandreden gegen… Isadora Duncan, die mit ihren verblaßten Reizen angekränkelten Feinschmeckern das Herz höher schlagen läßt. Von Verrissen der Dichterlinge aus dem ,Pegasusstall‘ und dergleichen. […] Bis heute unvergeßlich: Die laute Stimme. Klar und prägnant die Diktion. Klar und prägnant die Gedanken. Und alles erleuchtet vom Licht des Oktober.

Dann eine letzte Bemerkung. Eisenstein dreht in Mexiko und erhält dort per Post einen Bericht aus Moskau über die Vorführung seines umstrittenen Films Das Alte und das Neue. Majakowskij sei – so ist es in dem Brief zu lesen – „der Vorführung mit ungeheurer Anteilnahme gefolgt und hält den Film für den besten, den er je gesehen hat.
Wollte mir sogar ein Telegramm über den Ozean schicken. Das Telegramm blieb aus: Majakowskij war nicht mehr.“
Zehn Jahre später schreibt er diese Sätze über Majakowskijs Freitod, die – und das deutet auf seine durch eigenen Leidensdruck verschärfte Hellsicht – durchblicken lassen, daß der Dichter geradezu in den Tod getrieben worden sei:

[…] er stand als unüberwindbarer Felsblock des Widerstands gegen alle, die den hehren Kommunismus anzutasten wagten. Man mußte ihn beseitigen, und man beseitigte ihn. Einen Menschen mit dessen eigener Hand töten, das ist die schrecklichste Mordtat, die verwerflichste und grausamste. Und als er durch die Hände von Mördern die Majakowskijs Hand mit dem Schuß ins Herz lenkten, starb, wußte er, daß er auf vorgeschobenem Posten umkommt. Die Bescheidenheit eines wahren Helden ließ ihn nicht offen darüber sprechen. Aber schweigen vor den Jahrhunderten konnte er auch nicht. Deshalb […] die verschlüsselte Anrede an die Nachwelt: […] Genosse Regierung.

JA UND YO 

Mit diesen zwei mal zwei Buchstaben haben Majakowskij und Eisenstein ihre autobiographischen Texte überschrieben.10 Majakowskijs „Ja“ ist das russische Wort „Ich“, Eisensteins „YO“ das spanische „Ich“, womit er betonen wollte, daß er sich als „Westler“ verstand. Aber vielleicht sollte noch anderes damit verschleiert werden. Wie auch immer: Beide wollen mit ihren Titeln provozieren, den Wir-Sagern in ihrem Land eins auswischen. Allerdings ist dann in den Autobiographien – in der äußerst knappen von Majakowskij ebenso wie in dem riesigen Konvolut von Eisenstein – weniger vom Ego die Rede als von historischen Ereignissen und Begegnungen mit Zeitgenossen. Trotzdem merkt man den Texten an: Sie hatten sich selbst gewaltig lieb, die beiden Pioniere der sowjetischen Kunst.
Und geliebt wurden sie auch von ihrem Publikum. Der Skandalpoet war der Mittelpunkt bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, und er war es auch bei den privaten Treffen mit Freunden und Mitstreitern. Schon früh – bereits in seinen futuristischen Anfängen – demonstrierte er ausgesprochenes Sendungsbewußtsein. Nur daß ihm das die Genossen dann allmählich auszutreiben versuchten. Das ist seine Tragödie.
Die Tragödie Eisensteins verlief nach ähnlichem Muster, hatte aber mehr Höhen und Tiefen, weil er immer wieder versuchte sich anzupassen. Ebenso war die Taktik der Funktionäre, ihn zu domestizieren, komplexer: mal primitiv, mal subtil.
Aber er bäumte sich nicht auf wie Majakowskij, sondern suchte jeden Skandal zu vermeiden. Vielleicht bildete er sich ein, er sei durch seinen Weltruhm gegen die Vernichtung gefeit. Es fällt auf, daß er in seinen „Memoiren“ kräftig Name-dropping betreibt. Ob Charlie Chaplin, James Joyce, Stefan Zweig oder prominente Psychoanalytiker – er hat sie alle getroffen, und alle mochten ihn. Er mochte sich auch, mit Einschränkungen. Denn er wußte um seine seelische Labilität.
Seine „Memoiren“ befolgen keineswegs strikte Chronologie, gehorchen eher dem Stream of consciousness. Aber natürlich sind sie nicht nur formal stilisiert, sondern auch in bezug auf die Selbstdarstellung. Das ist schließlich nichts Besonderes: Jede Autobiographie ist in gewisser Weise zurechtfrisiert. Bei Eisenstein wie auch bei Majakowskij kommt hinzu, daß beide unter einer Diktatur sozialisiert wurden und mit der Schere im Kopf schreiben mußten. Aber beide, wenn auch nie Parteimitglieder, bekannten sich bis zu ihrem Tod zur Oktober-Revolution. Beide indes wurden in ihren künstlerischen Aktivitäten zumindest phasenweise durch die bornierte sowjetische Kulturpolitik eingeengt, schließlich sogar kaltgestellt. Beide reagierten darauf mit der rigidesten Absage ans System: mit Freitod. Der aber war im Sowjetimperium ein Sakrileg. Und wurde verschwiegen. Bei Eisenstein ging das leichter, weil es, wie gesagt, ein Selbstmord in Raten war. Bei Majakowskij hingegen war das viel peinlicher, und also druckste man herum.
Boris Pasternak, für eine Weile der, wenngleich nicht paßgenaue, Gefährte in den frühen Zeiten der LEF,11 hat ein Gedicht „Auf den Tod Majakowskijs“ geschrieben, mit den bemerkenswerten Schlußzeilen:

Dein Schuß war mächtig wie der Ätna –
Im Reich der Feigheit ein Vulkan.

Im „Reich der Feigheit“ hat man versucht, den Selbstmord zu vertuschen. Was hätte man auch antworten sollen auf die Frage nach dem Motiv? Man hätte – und das wäre nur die halbe Wahrheit – nicht einmal auf die unglückliche Liebe zu Lilja Brik verweisen können, denn auch damit hätte man sich bloßgestellt. Erstens stirbt ein Sowjetbürger nicht an Liebeskummer, zweitens war das eine unsittliche Beziehung, weil Lilja verheiratet war, und zu allem Überfluß war ihr Ehemann Osip Brik Mitglied der Tscheka (so hieß der damalige Geheimdienst).12 Majakowskijs anschwellenden Haß auf den ganzen ideologischen Quark hätte man erst recht nicht aufs Tapet bringen können. Denn die „Invasion des Alltags“, gegen die er sich aufgebäumt hat, die hatten die Bonzen selber zu verantworten.
Befreundete Zeitgenossen hüteten sich wohlweislich, ihre Kenntnisse über die Abdankung der beiden – wenn sie überhaupt welche hatten – in der Öffentlichkeit zu lancieren, aus Angst vor der Zensur. Und was ist mit den eigenen Texten? Gibt es da Andeutungen? Es gibt sie ganz unverblümt bei Eisenstein im Tagebuch und auch in „YO“, und es gibt sie bei Majakowskij – im Werk! Und keineswegs verklausuliert. In seinem Anfang 1917 verfaßten Poem „Ein Mensch“, mit der typischen Mischung aus Großspurigkeit und Verzagtheit, findet sich ein deutlicher Hinweis. Und zwar in einer Szene, in der ein Passant das lyrische Ich nach einem bestimmten Straßennamen fragt. Er bekommt zur Antwort:

Die Straße?… Majakowskijstraße
seit tausend Jahren. Haben Sie nie von seinem Selbstmord erfahren?
Hier erschoß er sich, vor der Tür seiner Geliebten.

Nun gut, das ist eine Projektion in die Zukunft, in der man den berühmten Dichter feiert, woran er übrigens felsenfest glaubte; aber spielerisch ist hier ebenfalls vorweggenommen, daß er sich schon früh mit dem Gedanken an Selbstmord vertraut gemacht hatte. Einmal vertraut – immer vertraut mit der Pistole, wie es dann auch geschah. Sogar das Motiv – ein zentrales jedenfalls – wird hier antizipiert: die Verzweiflung über seine unglückliche Liebe zu Lilja Brik. Dabei war ihre Beziehung zu der Zeit, als er das Poem schrieb, noch ziemlich lose; sie jedenfalls gab sich damals noch sehr zurückhaltend.
Bei ihm hatte die Liebe aber offenbar eingeschlagen wie ein Blitz. Er verirrt sich dabei sogar in religiöse Metaphorik. Eine kurze Probe aus dem fast gleichzeitig entstandenen Poem „Wirbelsäulenflöte“:

Wer ahnte, daß Gott aus der Hölle hübe
solch Eine, vor der sogar Berge beben;
die zog er hervor und befahl mir:
– „jetzt liebe!“

Das grenzt schon an Schicksalsgläubigkeit. Liebe als Heimsuchung – wie reimt sich das mit seinem Bild in der Öffentlichkeit als Skandalpoet und Bürgerschreck zusammen?
Er war eben nicht der Kraftmeier, als den er sich inszenierte, sondern in tiefstem Innern eine Mimose. Und: Er kuschte vor Lilja, die seine Laster unter Kontrolle zu halten suchte.
Darunter war auch ein höchst unsowjetisches Laster, nämlich eine furiose Spielleidenschaft. Er spielte, neben Billard und Poker, auch um den puren Mammon, wie einst Dostojewskij und Puschkin. Majakowskijs Sucht war hier noch stärker als seine Angst vor Lilja, und das will viel heißen.
Man sieht, es ist höchste Zeit, das überlieferte Bild des Dichters zu revidieren. Woran nicht zu rütteln ist: Er neigte zu heftigen Ausbrüchen, sogar gegenüber Freunden, und konnte dabei durchaus verletzend werden. Ilja Ehrenburg charakterisiert ihn ungemein treffend:

Groß, mit einem schweren Unterkiefer, mit Augen, die zwischen Traurigkeit und Härte schillerten, laut, ungelenk, halb Träumer, halb Athlet, jederzeit bereit, in eine Rauferei einzugreifen, die Kreuzung aus einem mittelalterlichen Jongleur und einem fanatischen Ikonenstürmer.

Ohne Frage war er, was man einen schönen Mann nennt. Auch Eisenstein, obwohl kurzbeinig und zur Korpulenz neigend, war ein schöner Mann, wie sich den Fotos und Filmausschnitten entnehmen läßt. Aber er war viel gewinnender im Umgang. Ihm wird nachgesagt, daß die Bühnenarbeiter und Filmassistenten für ihn immer doppelt so schnell arbeiteten wie für die Kollegen, weil alle ihn liebten. Er ließ sich auch kaum je zu Grobheiten hinreißen, außer wenn ihn Verzweiflungsausbrüche übermannten.
Er war um einige Grade labiler als Majakowskij, und so ist das von ihm überlieferte Charakterbild auch viel schillernder, schon zu Lebzeiten. Zu revidieren ist aber auch bei ihm einiges, allein schon wegen seiner in der sowjetischen Gesellschaft verheimlichten Homosexualität.
Und nachträglich, in seinen „Memoiren“, analysiert er sein YO unnachsichtig, spricht gar von den Abrunden seiner Selbsterniedrigung. Stalin ließ ihn nach seiner Pfeife tanzen, und er tanzte. Das wäre Majakowskij nie in den Sinn gekommen, er hat sich dem Diktat der sowjetischen Kulturpolitik nicht gebeugt, hat auch kaum Gefälligkeitspoesie verfaßt. Wirklich nicht? Allenfalls solche, mit der er sich selber einen Gefallen tun wollte. Wenn man aus dem Abstand von sieben, acht Jahrzehnten seine Lyrik durchmustert, schüttelt man manches Mal den Kopf über die roten Sahnehäubchen auf dem „Linken Marsch“ oder auf der „Ode an die Revolution“; aber: Er glaubte daran, hat die Rolle des Apostels nicht gemimt. Allerdings weiß man nicht, wie er sich in den weitaus rigideren dreißiger oder vierziger Jahren, der schlimmsten Leidenszeit Eisensteins, verhalten hätte: Er hat sich vor den Schrecken des stalinistischen Terrors rechtzeitig davongemacht.
Doch bereits vor der Bleiernen Zeit der geistigen Stagnation war der Leidensdruck fühlbar, dem jeder ausgesetzt war, der die Aporie zwischen Ich und Wir nicht aushielt. Aller Gläubigkeit zum Trotz kam auch bei Majakowskij erst das Ich und dann die proletarische Moral. Was er vermutlich vorausahnte: Im Zweikampf zwischen dem Genie und der Staatsmacht ist immer das Genie der Verlierer.
Das bekam auch Eisenstein zu spüren, der zwar weniger bockig war als Majakowskij, aber auch er ließ sich zur Weißglut bringen von dem „Amtsschimmel, von dem das sowjetische Filmwesen“ durchsetzt war. Da begehrte er auf, schrieb Eingaben und Protestnoten und intrigierte auch bisweilen, manchmal sogar mit Erfolg. Wie viele Sowjetbürger zu der Zeit wiegte er sich in der Illusion, der große Kommunikator wisse rein gar nichts von den Einzelheiten der Machtkämpfe zwischen Funktionären und Künstlern. Sogar der kluge und weidlich schikanierte Bulgakow gab sich dieser Illusion hin. Aber sie alle wurden zermahlen von den Mühlen der Demagogie.
Bei Eisenstein und Majakowskij war das ein schleichender Prozeß. Stellvertretend für beider Schicksal sei hier eine Passage aus Majakowskijs Stück Das Schwitzbad von 1929 zitiert, in dem eine Genossin zögerliche Mitläufer folgendermaßen belehrt:

Früher war mal Enthusiasmus gefragt. Aber jetzt herrscht bei uns gottlob Materialismus, historischer, und kein Mensch hat das Recht, von Ihnen Enthusiasmus zu verlangen.

Genau das ist es, beiden wurde der Enthusiasmus ausgetrieben. Und letztlich mußten sie erkennen: Es war alles beim alten geblieben, der Mensch ist nicht veränderbar, der Neue Mensch bloß eine Chimäre. Noch einmal Majakowskij, dessen Analysen insgesamt scharfsichtiger sind als die emotional gefärbten Eisensteins:

Die unmittelbaren Plackereien im Ringen gegen den alten Plunder, die das Leben der revolutionären Schriftsteller vor der Revolution kennzeichneten, sind nun abgelöst worden durch das Erbe jenes alten Plunders: den ästhetischen Konservatismus.

Karl Marx hat einmal verkündet, Revolutionen seien die „Lokomotiven der Geschichte“. Offenbar hat er dabei nicht bedacht, daß auch die Lokomotivführer selber unter die Räder geraten würden. Übrigens geistert die Metapher von der Lokomotive in der technikgläubigen Sowjetunion in allerlei Spielarten durch die Köpfe der Kommentatoren. Eine besonders reizvolle Variante hat Boris Pasternak beigesteuert, die Eisenstein in seinen „Memoiren“ festhielt:

Wir sind irgendwo hoch über Moskau bei jemandem zu Besuch. Durch die nächtliche Luft klingen schrill und klagend die Lokomotivsignale. „Die Lokomotiven“, sagt seufzend Pasternak, „sind die einzigen ehrlichen Leute, sie haben es schwer, und sie machen keinen Hehl daraus“.

Nein, Ehrlichkeit ist nicht gefragt in einer Diktatur, und schon gar nicht wird sie Künstlern zugestanden. Das wollte Majakowskij nie begreifen, während Eisenstein die Lektion brav gelernt hat, was er in der Fortsetzung seiner Pasternak-Reminiszenz so zum Ausdruck bringt:

Dann guckt er mich lange mit seinen braunen Augen über den aufgeworfenen Zulu-Lippen an. „Eisenstein, Sie sehen aus wie eine unaufgeräumte Kirche“…

In jenen Jahren, den Jahren des ,Gegenplans‘ […], war meine Situation im Film wirklich so. Und wie ist sie jetzt? Die Kirchen sind restauriert und die Häupter der Kremlkathedralen werden vergoldet. […] Mir bleibt die Rolle Simeons, des Säulenheiligen.13

Eisenstein hat nicht ausgeharrt auf seiner Säule, so viel Standfestigkeit besaß er nicht. Im Abseits hocken, dazu verurteilt, seinen künstlerischen Elan, seine Intentionen zu verbiegen und zu verzerren, das ging allmählich über seine Kraft. Sein Selbstmord in Raten zog sich über zwei Jahre hin. Die Obduktion des Leichnams ergab, daß das Herz des eben Fünfzigjährigen verbraucht war wie das eines achtzigjährigen Greises. Ohne das Gehirn, das zu Forschungszwecken entnommen wurde, begrub man den genialen Filmemacher auf dem berühmten Friedhof beim Neu-Jungfrauen-Kloster, wo viele russische Künstler begraben sind. Auch Majakowskij liegt hier, am Ufer der Moskwa, inzwischen mit einem Ehrengrab in den russischen Parnaß erhoben. Bedenkt man, welche Kapriolen die Nomenklatura in all den Jahrzehnten der Sowjet-Diktatur schlug, um ihre Künstler auf- und abzuwerten, sie in den Himmel zu heben und bald danach in die Hölle zu verbannen, dann schaudert es einen über so viel Verlogenheit. Nur das eine blieb Eisenstein wie Majakowskij erspart: Der Gulag, dem zahllose große Künstler zum Opfer fielen. 

Elsbeth Wolffheim, Vorwort

 

Zwei große Künstler,

deren „Parallelbiographien von der Geschichte selbst zusammengebracht wurden“, wie der russische Schriftsteller Viktor Schlowskij bemerkte.
Der Dichter Wladimir Majakowskij und der Filmemacher Sergej Eisenstein haben die russische Kunst revolutioniert, Majakowskij mit seinen Versen und Dramen, Eisenstein mit seinem Film Panzerkreuzer Potjomkin, dem berühmtesten Film aller Zeiten.
Sie waren nie Mitglied der kommunistischen Partei, aber die Oktoberrevolution bejahten sie vorbehaltlos. Freunde wurden sie nicht, doch jeder hatte Respekt vor der Arbeit des anderen. In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurden sie weit über die Grenzen ihres Landes berühmt und hatten entscheidenden Anteil an der schöpferischen Aufbruchstimmung dieser Epoche.

Europäische Verlagsanstalt, Klappentext, 2000

 

 

MAJAKOWSKIS SCHUHE

Größe siebenundvierzig:
riesig wie Stiefel.
Für Majakowskis Schuhe
finden sich keine Füße.

Majakowskis Schuhe
schaffte keiner zu tragen.
Außerdem blieb
noch sein Mantel.

Außerdem blieb
uns sein Beispiel
Doch übermenschlich
ist seine Größe.

In der winzigen Wohnung
das winzige Museum:
Majakowskis Sachen,
die Bücher seiner Freunde.

Majakowskis Täßchen
stehen auf den Borden.
Wieviel Honig, Gift
klebt auf ihrem Boden?

Außerdem die Schuhe,
außerdem der Mantel.
Majakowskis Kelch
hat keiner geleert.

Boris Sluzki
Übersetzung Richard Pietraß

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wladimir Majakowski: Ich selbst

Lew Kassil: Majakowskij – persönlich!

Christine Gölz: Wladimir Majakowski

Hugo Huppert: Die Poetik Wladimir Majakowskis

Alexander Uschakow: Majakowski und Grosz – Zwei Schicksale

Zum 85. Geburtstag von Wladimir Majakowski:

Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978

Fakten und Vermutungen zu Wladimir Majakowski + Instagram +
IMDbErinnerungenTributePennsound +
Internet Archive 1 & 2Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.

Fakten und Vermutungen zur Autorin + IMDb +
Internet Archive 1 & 2
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Lilya Jurjewna Brik – Erinnerungen an den Dichter.

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