Else Lasker-Schüler: Poesiealbum 250

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Else Lasker-Schüler: Poesiealbum 250

Schüler/Schüler-Poesiealbum 250

MEIN HERZ RUHT MÜDE

Mein Herz ruht müde
Aus dem Samt der Nacht
Und Sterne legen sich auf meine Augenlide…

Ich fließe Silbertöne der Etüde – – –
Und bin nicht mehr und doch vertausendfacht.
Und breite über unsere Erde: Friede.

Ich habe meines Lebens Schlußakkord vollbracht –
Bin still verschieden – wie es Gott in mir erdacht:
Ein Psalm erlösender – damit die Welt ihn übe.

 

 

 

Nicht oft genug

kann diese taubstumme Zeit, die die wahren Originale begrinst, durch einen Hinweis Else Lasker-Schüler gereizt werden, die stärkste und unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen Deutschland…

Karl Kraus, Klappentext, Verlag Neues Leben, 1988

Der schwarze Schwan Israels,

eine Sappho, der die Welt entzweigegangen ist. Strahlt kindlich, ist urfinster. In ihres Haares Nacht wandert Winterschnee. Ihre Wangen feine Früchte, verbrannt vom Geiste.

Peter Hille, Klappentext, Verlag Neues Leben, 1988

 

Else Lasker-Schüler zum 50. Geburtstag

TRAUM

Der Schlaf entführte mich in deine Gärten,
In deinen Traum – die Nacht war wolkenschwarz umwunden –

Wie düstere Erden starrten deine Augenrunden,
Und deine Blicke waren Härten –

Und zwischen uns lag eine weite, steife
Tonlose Ebene…
Und meine Sehnsucht, hingegeben,
Küßt deinen Mund, die blassen Lippenstreife.

Was unsere Zeit an Bauwerken, Widerspiegelungen, Konstruktionen geleistet hat, sieht nicht selten verlegen und töricht aus neben dem Urphänomen solchen Träumens und solchen Wissens, wie es im Dichter vorkommt. Hier haben Zimmerleute das Loch lassen müssen, und durch dies starrt die Unendlichkeit unverwandt und strömt das Schicksal übermächtig herein. Manchmal scheint der Bau und die Tat als eine Form der Ablenkung, der Muse, des Schlafs gegenüber der einzigen Wachheit und Wahrheit des Liedes. In solch einem Lied wird das menschliche Schicksal erfaßt und bekannt, ist das uns Betreffende in kurzen Worten eingestanden. Diese Schicksalslieder sind Wahrträume, und die Wachzustände sind vor ihnen nur Schäume.
Von den Dichtern, die heute leben, hält Else, Lasker-Schüler die Wahrheit der Schicksalsunendlichkeit am Unabgelenktesten, am Urhaftesten, am Gewaltigsten fest. Sie ist so als Dichter und als Frau. Die Anarchie und das ewige Rätsel der Natur, das nicht Geheure und nicht Auflösbare, blüht und droht aus dieser Erscheinung, ob sie wie ein dunkles Einhorn mit zerrütteten Blumen um die Schläfe dahingaloppiert oder wie ein humorvoller Papagei den letzten Klatsch des Urwalds verbreitet. Sie hat etwas von der bunten Frömmigkeit der Märchen aus Tausendundeiner Nacht und etwas vom Zorn eines weiblichen Rübezahl.
Die Natur ist ja eine stärkere Realität als unsere Zivilisation. Was wir bauen, sind großtenteils Heimstätten für Menschen, die es gar nicht gibt. Es ist wie in einer amerikanischen Filmposse; alles funktioniert richtig im falschen Moment. Diese Possen sind nicht nur komisch, sie sind oft recht unheimlich.
Die Lasker-Schüler trägt das schon in früheren Zeiten schwere, in unserer Zeit fast selbstverständliche Los des Verkanntseins. Sie wissen, daß sie eine bedeutende Dichterin ist, aber sie haben keine Ahnung, was ein Dichter und wozu er da ist. Als die Dichterin vor kurzem eine Streitschrift gegen ihre Verleger veröffentlichte, hatte sie sicher im Sinne moderner Zivilisation unrecht aber das war um so schlimmer für diese Zivilisation. Auch diese Schrift von ihr war ja ein Schicksalslied, etwas Kanonisches.
Andere sind andere Dichter, aber keiner drückt so rein die Idee des Dichterischen aus und keine trägt so sichtbar das Los des Dichterischen und vielleicht auch des Weiblichen in dieser Zeit wie Else Lasker-Schüler. Ecce poeta!
Und für ihre bunten Schicksals- und Liebesworte, für ihre Frauen- und Menschenlieder gebührt ihr tausendundein Dank.

Ernst Blass 1926, aus: Else Lasker-Schüler: Ich suche allerlanden eine Stadt, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1988

Kalendernotiz:

50. Geburtstag Else Lasker-Schülers am 11. Februar. – Inzwischen hat sie ihn dementiert, sie sei am ersten Maitag 1883 geboren. Natürlich, irgend etwas kann in diesem Falle nicht stimmen. Das Zeitlose einer originellen Erscheinung lehnt sich gegen das private Datum auf. Unter den Dichtern, die leben, mag keiner so losgelöst sein von allem Zeitgemäßen wie die Lasker-Schüler; nicht nur von unserer Zeit, sondern von allen Zeiten. Sie lebt unter uns, und es ist ein singuläres Wunder. Ebensogut könnte die Lasker-Schüler in einer fernen Zukunft leben. Verbunden ist sie ja vor allem der Sphäre der Imagination. Es darf nur als eine gesteigerte Merkwürdigkeit gelten, daß sie eben in dieser Wirbelstadt Berlin, im Mansardenzimmer eines Hotels, leben muß.
Auf den ersten Blick schon erscheint das Schicksal dieses Fremdlings tragisch. In schnöde Jahresläufe mit Maschinenkriegen, Inflationen, Reparationen verschlagen zu werden, schutzlos und bald der Barmherzigkeit von Mäzenen, bald der Tüchtigkeit von Verlegern ausgeliefert, hindurchirrend durch weniger Glück als Elend mit glutvollen, großen Augen; wirrem Haar, versorgt an alte Einbildung sich klammernd, Tino von Bagdad, der Prinz von Theben zu sein, oft für eine berechnende Närrin gehalten – das ist freilich voll schmerzlichster Mißverständnisse. Während die Dichter sich verbürgerlichen, erinnert eine Erscheinung wie die Lasker-Schüler an den ewigen symbolischen Kampf des Künstlers gegen die zeitbestimmte Welt; die Leidenschaft, die Härte, der Grimm, mit denen sie ihren so heißen Kampf stündlich austrägt, bewahren sie vor falscher Romantik. Ihre Liebe zu Fahrigkeit und Pracht umkleidet unmittelbare menschliche Realität; sie brauchte nie ihr naturalistisches Wupperdrama geschrieben zu haben, ihre Prosaerinnerungen an Kindheit und Vaterhaus enthüllen ganz die Art ihrer Wirklichkeit. Gegenständlichkeit und Menschlichkeit büßen nichts ein, wenn das Stoffliche aus Gelebtem und Geträumtem sich mischt und ein Drittes entsteht, das seine lebendigen Gesetze von beiden bezieht. Eine innere Leuchtkraft, wie sie die mystischen Glasflüsse der Fenster in den französischen Kathedralen haben, bricht hervor und schafft eine Welt der Zauberei, die unzweifelhaft hohe Kunst, realistische, unsentimentale, elementare Kunst ist.
Auch von Verehrern wurde der Lasker-Schüler vorgeworfen, daß ihre Lyrik gleichsam nur Intonation sei, Vorstadium des Gedichtes, unfertige Kunst. Was ist da zu sagen? Ihre Verse sind wahrhaft flüchtig, schwebend. Sie sind alle auf der Flucht entstanden. Ruhelos verstreicht dieses Dasein, immer schon mehr ein Dortsein, und nur die Abgetrenntheit von der Zeit und der tiefe Zusammenhang mit dem Dort erklären es halbwegs, daß in manchen dieser lyrischen Improvisationen sich plötzlich die gewaltige Stille der vollkommenen Poesie ausbreiten kann, das gesammelte Schweigen zwischen den Silben, erhaben wie die Größe einer Sternennacht, ergreifend wie der Aufblick des Weisen an der Grenze des Wissens.
Es gibt eine persische Miniatur aus dem 17. Jahrhundert, die eine lesende Frau darstellt, ich glaube aber eine Dichterin. Die köstliche Miniatur ist vom Meister Scheikh Mohammed und „Das Gedicht“ betitelt. Die Dargestellte ähnelt der Lasker-Schüler. Meister Scheikh Mohammed gab ihr auch einen feinen spitzen Dolch mit. Es mag eine Huldigung sein, daß dies sein Werk nicht „Die Dichterin“ heißt, sondern „Das Gedicht“. Im Grunde sollte man die Lasker-Schüler auch so auffassen. Sie ist selbst ein Gedicht; ein Gedicht mit einem Dolch.

Camill Hoffmann 1926, aus: Else Lasker-Schüler: Ich suche allerlanden eine Stadt, Verlag Phlipp Reclam jun. Leipzig, 1988

Else Lasker-Schüler

Ungebrochen und abseitig eine Lebenslinie zu ziehen und sie vor sich hinzuleben, die schönsten und lockersten Strophen einer ganzen Literaturepoche zu schreiben und zwischen Leben und Dichtung unter keiner Umständen einen Unterschied zuzulassen: dessen ist Else Lasker-Schüler fähig. In einer Zeit wie der heutigen steht sie als Fremdling, als Seltsamkeit: als ein wirklicher Dichter. Darum wirkt sie wie die bewegte Welle selbst, auf und ab. Das Getriebene ihres Wesens meldet sich, wo immer sie weilt.
Aber was da ausbricht, ist das Urwesen des Dichters, nichts anderes. Klar verneinend, was ihrer Grundforderung nach wesentlichem Sein nicht Stand hält, schafft sie Gedichte, unvergängliche Gebilde der Liebe, der Gesichte, der Anbetung, der Zärtlichkeit, Gedichte voll zärtlich atmender, wach-weiser Sprachkraft, denen von der Lyrik ihrer Generationsgenossen nur wenige Dehmel-Strophen und George-Zyklen an Rang und Echtheit gleichkommen.

(…)

Es hat niemals Zeiten gegeben, die die echten Dichter ehrten. Man ließ sie bestenfalls gehen. Meist zerstörte man sie durch bissigen Widerstand, machte sie halb toll durch Gleichgültigkeit, trieb sie zum Verenden oder außer Landes. Von Villon über Christian Günther über Lenz, Hölderlin, Kleist, Lenau, Büchner, Heine, zu Shelley und Byron, zu Wedekind, Strindberg, Georg Heym, der nur zufällig ertrank, zu Georg Trakl, der sich tötete, weil er die Große Zeit, die jetzt wieder wie ein Alp vor uns aufsteht, nicht aushielt, geht ein Strang edler Herzen, die Fremdling im Alltag waren und auch so behandelt wurden.
Auch Else Lasker-Schüler wird nicht so geehrt, wie es sich gehörte, diese Frau, die in die Gesellschaft der erlauchtesten europäischen Lyriker zu zählen ist. Sie ist so unzeitlich wie die Worte, die einstmals morgenfrisch aus ihrer sprechenden Selle brachen – so unalternd wie die Quelle, von der auch niemand zu sagen vermag, vor wieviel Jahren sie aufbrach, eine Scholle zu tränken.

Arnold Zweig 1937, aus: Else Lasker-Schüler: Ich suche allerlanden eine Stadt, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1988

Die Lasker-Schüler

Hat ein neues Gedichtbüchlein, Mein blaues Klavier in einer Ausgabe von 300 Exemplaren veröffentlicht, ganz wundervoll, ganz groß. 30 Exemplare wurden verkauft. Sie erhielt 2 ½ ₤. Sie ist verrückt (ein bißchen bewußt verrückt), bösartig, gutherzig, komisch und göttlich. Mich haßt sie, aber sie ist ein Menschenwunder.

Louis Fürnberg 26.10.1944, aus Else Lasker-Schüler: Ich suche allerlanden eine Stadt, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1988

 

Zur Dichtung Else Lasker-Schülers

Gestalt und Dichtung der Else Lasker-Schüler sind gezeichnet durch die ruhelose Suche nach einer Wirklichkeit, die ihr im äußeren Leben nicht begegnen sollte; ihr Grundzug ist die Flucht. Ein jüdisches Schicksal in unserer Zeit, so könnte man sagen, sich manifestierend in Heimatlosigkeit und Emigration, zugleich das uralte echt jüdische Schicksal von Auserwähltheit und Ausgestoßensein. So steht das arme, zerquälte und verworrene Leben der Lasker in seltsamem Kontrast zu dem entrückten Traumbereich ihrer Dichtung, der bilderbunten Welt orientalisch-mystischer Wunder, das sich in ihr wie in ihrem bekannten Gedicht „Der Tibetteppich“ in Kostbarkeiten aneinanderknüpft und ausbreitet. Für Else Lasker-Schüler bedeutete Dichten Versenkung in diesen ihren inneren Raum, in den sie sich wie in goldene Fäden einspann. Die Begegnung mit der sie umgebenden Welt ist immer von Klage und Schmerz begleitet. „Ich sterbe am Leben und atme im Bilde wieder auf“, schrieb sie an Herwarth Walden, und eines ihrer Gedichte, das den bezeichnenden Titel „Weltflucht“ trägt, zeichnet diese Situation.

Ich will in das Grenzenlose
Zu mir zurück,
Schon blüht die Herbstzeitlose,
Vielleicht ists schon zu spät zurück.
O, ich sterbe unter euch!
Da ihr mich erstickt mit euch.
Fäden möchte ich um mich ziehen
Wirrwarr endend!
Beirrend,
Euch verwirrend,
Zu entfliehn
Meinwärts.

So ist ihre Dichtung keine Begegnung mit der Welt, sie ist eine reine Aussage ihrer selbst und zugleich eine Offenbarung uralter orientalischer Mythen, die in ihrem Blut lagen.
Wie die Außenwelt ihr nur durch das Medium ihrer inneren dichterischen Wirklichkeit begegnete, so suchte sie Dinge und Menschen ihrer Umgebung immer in ihren Traumbereich einzubeziehen und gab ihnen Namen wie Tristan, Ritter aus Gold, Laurencis, Prinz von Prag, Waldfürst, Messismaler der Tiere (Franz Marc). Sie selbst lief als Tino von Bagdad oder Prinz von Theben, oft mit phantastischen Gewändern angetan, herum und verwandelte alles ihr Begegnende mit dem Zauberstab ihrer wunderlichen Phantasie. Dies gab, wie man leicht denken kann, Anlaß zu allerlei tragischen, oft aber auch grotesken und komischen Situationen. Es existieren unzählige Anekdoten über ihre Auseinandersetzung mit der realen Welt, ihr ständiges Zerfallensein mit dem Konkreten, das sie nie begriff. Ihre Broschüre Ich räume auf, in der sie mit heiligem Zorn „die Händler aus dem Tempel der Kunst kehrt“, legt noch heute Zeugnis ab von ihrem don-quichotischen Kampf mit den Verlegern, die für sie eine Art Symbol für ihr Nicht-Zurechtkommen, für ihre ewigen Schulden und Geldnöte waren. Diese Schrift ist ein goteskes Durcheinander von konkret aufrückenden Zahlen, wuchtigem Schimpfen, Erzählungen aus ihrer Kindheit, aus ihrem armseligen Leben in den Cafés und engen Mansarden Berlins, ihren Nöten und Träumen. Doch immer wieder taucht sie „vom kühlen Strand ihrer Broschüre in die lockende Welle ihres Bluts“, und es finden sich, selbst in dieser Polemik, Abschnitte von berückender dichterischer Schönheit – aber auch Sätze, die von ihrer furchtbaren äußeren Not berichten:

In den Winternächten, wie oft habe ich im Dunkel des Zimmers meine Bettvorlage wie ein Dieb vom Fußboden aufgehoben und schob sie noch über die fremde dünne Decke. Ich begann vor Hunger tiefer zu atmen, trank die Luft und kaute ihren Balsam…

Im Berlin der zwanziger Jahre, zwischen den Künstlern und Literaten des Romanischen Cafés, war sie eine bekannte und bestimmende Erscheinung. Sie fand hier manchen verwandten Geist, fühlte sich jedoch auch hier nicht ganz zu Hause: „Imitierte Dichter, falsches Wortgeschmeide, Similigedanken, unmotivierter Zigarettendampf“, schreibt sie an ihren Gatten Herwarth Walden und spöttelt über Berlin:

Eine unumstößliche Uhr ist Berlin, sie wacht mit der Zeit, wir wissen, wieviel Uhr Kunst es immer ist.

Aber sie fand auch viele Freunde, so ihren Geistesbruder Georg Trakl, der ihr eines seiner bedeutendsten Gedichte „Abendland“ widmete, und den Tiermystiker Franz Marc (dessen Briefwechsel mit dem Prinzen Jussuf unlängst im Piper-Verlag erschienen ist), eine zauberhafte Begegnung zweier sich unmittelbar berührender innerer Bereiche.
Am besten ließe sich die dichterische Welt der Lasker-Schüler mit der Marc Chagalls vergleichen. In dessen Bildern findet sich das gleiche naiv-träumerische Nebeneinander von Menschen und Dingen, die dunkle lyrische Glut, die Eigenprägung der Welt aus Kindheit und jüdischen Mythen, wie sie auch den Bereich der Lasker-Schüler zeichnet. Nur daß Chagall mehr den ostjüdischen, Else Lasker mehr den orientalisch-jüdischen Raum vertritt.
Chagalls Kindheit war vom Ostjudentum bestimmt; deren Bilder durchziehen sein gesamtes Werk und tauchen immer wieder auf, in bunter Vermengung mit den Eindrücken seines späteren Lebens. Die Jugend der Lasker war abendländisch geprägt. Und der rheinisch-westfälische Boden, auf dem sie sich abspielt, bildet in ihrem Werk einen eigenen und von der jüdisch-orientalischen Welt ganz abgesonderten Bereich. In ihm wurzeln ihre zwei Schauspiele Die Wupper, die sie in einer Nacht niederschrieb und die Reinhardt 1919 im Deutschen Theater uraufführte – „aus dunkler Erinnerung gepreßt, eine böse Arbeitermär, die sich nie begeben hat, aber deren Wirklichkeit phantastisch ergreift“ – und Arthur Aronymus und seine Väter, eines der eigenartigsten und intimsten Schauspiele deutscher Sprache, von schwerer Voraussage jüdischen Schicksals, das in diesem Spiel „aus meines Vaters Kindheitstagen“, trotz des versöhnenden Schlusses, dunkel heraufklingt. Sonst taucht die Kindheit der Lasker nur in ihren verstreuten Erzählungen auf; in der Gestalt der Mutter und in der Vision des Elternhauses als einer verlorenen, schon ganz ins Transzendente erhobenen Heimat kehrt sie in der späten Lyrik zurück.
Ihr späteres „abendländisches“ Leben aber hat für ihre innere Welt keine eigentliche Bedeutung mehr gewonnen. „O wie arm diese Abendlande, hier wächst kein Paradies, kein Engel und kein Wunder“, klagt sie; „in der Nacht meiner tiefsten Not erhob ich mich zum Prinzen von Theben. Welchen Ahnen nachfolgte ich, welche Mumie salbte meine entschlossene Tat?…“ Und sie tauchte in das Land ihrer orientalisch biblischen Wunder, das für sie erst spät, in der harten Begegnung mit der palästinischen Wirklichkeit der Emigration, an Bedeutung verlor.
Else Lasker-Schüler war reine Lyrikerin. Auch ihre Dramen waren „schreitende Lyrik“, wie sie selbst sagte, und von derselben geheimnisvollen Bilderwelt erfüllt wie ihre Gedichte. Sogar die Prosa untersteht dieser phantastischen Bilderreihung, selten ist sie von wirklicher Handlung getragen.
Nicht alles, was die Lasker-Schüler schrieb, ist von gleicher Qualität. Sie selbst hat an ihren Dichtungen wohl nie geformt oder gefeilt. „Sie konnte dichten wie weinen, mit der Richtigkeit eines Naturvorganges“, schreibt Max Rychner, und so kam es, daß auch Schwächeres stehenblieb. Was an ihrem Werk von bleibendem Wert ist, hat ihr Freund Ernst Ginsberg in einem im Kösel-Verlag erschienenen Auswahlband Dichtungen und Dokumente zusammengestellt und ihr damit ein von innigem Verständnis getragenes Denkmal gesetzt. Den Hauptteil nimmt die Lyrik ein, in der sie ihr Wesentlichstes gab.
Die Thematik dieser Lyrik ist bestimmt durch Weltverlorensein. Weltverlorensein, das bedeutet hier Verlorenheit in der äußeren Welt, Verlorensein an ihren inneren Bereich. Die biblischen Gestalten der Könige und Auserwählten Gottes waren für Else Lasker-Schüler von einer brennenden inneren Wirklichkeit. Ihre „Hebräischen Balladen“ zeugen davon. Sie selbst fühlte sich in ihrer Dichtung als Auserwählte, und die Figur des dichtenden Königs David und des Träumers Joseph von Ägypten sind die Zentralgestalten ihres Lebens. Wenn sie sich „in der Nacht ihrer tiefsten Not“ zum Prinzen Jussuf von Theben erhob, so hat das für sie eine mythische Bedeutung. „Ich brauche nur meinen grauen Mantel abzulegen, um König zu sein“, schrieb sie, und in den vielen Selbstdarstellungen ihrer Zeichnungen trägt sie immer einen Stern auf der Wange, das Zeichen der Auserwähltheit, wie aus dem Gedicht „Jakob und Esau“ zu ersehen ist:

Rebekkas Magd ist eine himmlische Fremde,
Aus Rosenblättern trägt die Engelin ein Hemde
Und einen Stern im Angesicht.

Dies Zeichen der Auserwähltheit aber war zugleich eine schwere dunkle Last, die sie mit der Suche nach der Verwirklichung dieser inneren Wirklichkeit beauftragte:

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel…

Sie hat diese Stadt nicht gefunden. Das aber bedeutete für sie Verlorensein, und sie bricht in die düstere Klage aus:

Gott hör…

Um meine Augen zieht die Nacht sich
Wie ein Ring zusammen.
Mein Puls verwandelte das Blut in Flammen
Und doch war alles grau und kalt um mich.

O Gott, und bei lebendigem Tage
Träum ich vom Tod.
Im Wasser trink ich ihn und würge ihn im Brot.
Für meine Traurigkeit gibt es kein Maß auf deiner Waage.

Gott hör… In deiner blauen Lieblingsfarbe
Sang ich das Lied von deines Himmels Dach –
Und weckte doch in deinem ewigen Hauche nicht den Tag.
Mein Herz schämt sich vor dir fast seiner tauben Narbe.

Wo ende ich? – O Gott!! Denn in die Sterne,
Auch in den Mond sah ich, in alle deiner Früchte Tal.
Der rote Wein wird schon in seiner Beere schal…
Und überall – die Bitternis – in jedem Kerne.

Aus dieser leidenschaftlichen Schwermut rettete sie sich hinüber in bunte spielerische Phantasien, in eine vertrauende Kindlichkeit, für die, selbst in einer ungenügenden und zerrütteten Welt, die Dinge von ihrem Fundament her, das sie zu erspüren glaubte, am Platze blieben, wenn auch weggewendeten Angesichts. Sie sah

auch die Engel im Weinen,
Im Wind und im Schneeregen –

und dieses Licht vermochte sie noch in der dunkelsten Betrübnis der letzten Lebensjahre zu tragen.
Das Jahr 1933 brachte, wie vielen anderen, auch Else Lasker-Schüler die Emigration. Aber die Emigration war nur das von außen hinzugetretene Faktum, das ihre innere Heimatlosigkeit auch äußerlich sichtbar machte. Sie war immer schon eine Emigrantin auf der Suche nach dem fernen jüdischen Wunderland ihrer Väter, dessen Wirklichkeit sie sich im Traume hingab, und es war ihre besondere Tragik, daß sie dieses Land, das sie erwartete, auch bei ihrem Aufenthalt in Palästina nicht fand. Sie dichtete noch das Prosawerk „Das Hebräerland“ und projizierte ihre innere Sicht in die Schilderung des heiligen Landes, dann aber brach an der harten Wirklichkeit ihre morgenländische Welt zusammen. In ihrem letzten und schönsten Gedichtzyklus „Das blaue Klavier“ ist sie erloschen, und die völlige Heimatlosigkeit, die auch im Traume nicht mehr ihr Asyl findet, überschattet ihr Gedicht. Die Frage „Wo soll ich hin“ durchzieht Vers um Vers, und sie schrieb das „Lied der Emigrantin“

Es ist der Tag im Nebel völlig eingehüllt,
Entseelt begegnen alle Welten sich –
Kaum hingezeichnet wie auf einem Schattenbild.

Wie lange war kein Herz zu meinem mild…
Die Welt erkaltete, der Mensch verblich.
– Komm bete mit mir – denn Gott tröstet mich.

Wo weilt der Odem, der aus meinem Leben wich:
Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild
Durch bleiche Zeiten träumend – ja, ich liebte dich…

Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt?
Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich
Und ich vor deine Tür, ein Bündel Wegerich.

Bald haben Tränen alle Himmel weggespült,
An deren Kelchen Dichter ihren Durst gestillt
Auch du und ich.

In diesen letzten Gedichten klingen alle Trauer, alle Leidenschaften, alle Verlorenheit, die erlöschende Traumwelt, die hinsinkenden Orte ihrer inneren Geborgenheit in einem zugleich schmerzlichen und erlösenden Akkord aus. Es ist schwer, die lichte Transparenz dieser Verse anders zu benennen als in diesem Satz, den sie selbst schrieb und den man über ihr ganzes Leben setzen könnte:

Ein Stern malt mit buntem Licht das Bild Josephs auf die Leinwand der gelblichen Sanderde. Gelehnt an dieser Einfalt Träumerei, ruht meine Seele vom Tag aus.

Diese Besprechung bezieht sich u.a. auf den Band Dichtungen und Dokumente im Kösel Verlag 1956 erschienen.

Marianne Kesting, Akzente,  Heft 4, 1956

 

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

 

 

ABSAGE AN EINE LIEBE
Else Lasker-Schüler zugeeignet

im tränenschlamm der ebene begaNn
ich berge aufzuschütten wie
die häßliche im judenmantel einst
von vögeln fische schied
was mich an raya lubinetzki dauert
ohne den gefälschten paß gefunden
ist ein messernes ein kalte hölle spiel

Ulrich Zieger

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

 

Carl Stern: Erinnerungen an Else Lasker-Schüler

Wieland Herzfelde: Else Lasker-Schüler

Nadine A. Brügger: „Nie lernte ich so viele Menschen kennen mit Minderwertigkeitskomplexen und masslos dicker Arroganz“ – Else Lasker-Schüler liebte und hasste Zürich

Zum 60. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Vielleicht glaubt Gott an mich
Die Furche, 20.1.2005

Zum 70. Todestag der Autorin:

Burkhard Reinartz: „Meine Seele verglüht in den Abendfarben Jerusalems“
deutschlandfunk.de, 21.1.2015

Zum 150. Geburtstag der Autorin:

Else Lasker-Schüler 150 Jahre Meinwärts
els2019.de

Lutz Hagestedt: Das Herz der Avantgarde
literaturkritik.de, Februar 2019

Peter Mohr: „Bin ein tieftrauriger Mensch“
titel-kulturmagazin.net, 11.2.2019

Oliver vom Hove: Eine große Liebende im Porträt: Else Lasker-Schüler
Der Standart, 3.2.2019

Stefan Dege: Lyrikerin, Poetin, Zeichnerin: Else Lasker-Schüler zum 150. Geburtstag
Deutsche Welle, 8.2.2019

Ulf Heise: Der „schwarze Schwan Israels“
FreiePresse, 8.2.2019

Andreas Kilcher: Prinz Jussuf von Theben, die Dichterin aus Wuppertal
tachles.ch, 8.2.2019

Christian Lindner: Die Dichterin Else Lasker-Schüler
deutschlandfunk.de, 11.2.2019

Andreas Platthaus: Fernab der Stiefwelt
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.2.2019

Thomas Hartmann: Else Lasker-Schüler – die provokante Poetin
mdr.de, 11.2.2019

Ulrike Sárkány: Große Lyrikerin mit positivem Weltbild
ndr.de, 11.2.2019

Natascha Freundel: Am Grab von Else Lasker-Schüler
ndr.de, 7.2.2019

Marie Luise Knott: Blau vor Paradies
perlentaucher.de, 14.5.2019

 

Zum 75. Todestag der Autorin:

Nina Schmedding: Immer unbeirrbar sie selbst
domradio.de, 22.1.2020

 

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram 1 & 2IMDb +
Verzeichnis + Archiv 1, 23 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Else Lasker-Schülers Lebenszeichen aus Berlin im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00