Dichter geben Lampen Licht −
Sie selbst − verlöschen −
Dochten sie nur Funke sind
Wenn lebendig Licht
Ihnen eigen wie den Sonnen−
Linse wird dann jede Zeit
Rings ihre Strahlen
In den Umkreis streut −
ihre Gedichte voller Anmut und Eigensinn gehören zum Schönsten im Schatz der Weltpoesie. Unsere Ausgabe präsentiert eine Auswahl ihrer kürzeren Gedichte auf Amerikanisch und auf Deutsch in einer Übersetzung von Wolfgang Schlenker. Die 51 Gedichte sind Einladungen, Emily Dickinson in jedem Text neu zu entdecken. Das Spektrum ist groß (aber nicht beliebig), der Blick offen. Was man sieht, sieht man direkt. Oder in den Worten von Emily Dickinson: „Wenn ich ein Buch lese und es macht meinen ganzen Körper so kalt, dass kein Feuer jemals mich wärmen könnte, weiß ich, das ist Dichtung. Wenn ich es physisch spüren kann, dass meine Schädeldecke abgenommen wird, weiß ich, das ist Dichtung. Nur auf diese Art weiß ich es. Gibt es denn eine andere?“
Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2001
Emily Dickinson auf Deutsch – schon Paul Celan hat sich daran erprobt. Mit dem jungen Wolfgang Schlenker ist es nun ein weiterer, ein heutiger Dichter, der sich der Herausforderung stellt. Ein halbes Hundert kürzerer und kurzer Gedichte präsentiert er unter dem Titel Biene und Klee. Die kompakte Edition entsagt jedem Hinweis auf Auswahlkriterien wie auf das übersetzerische Konzept. Über Letzteres sich ein Bild zu machen erlauben die mitgegebenen amerikanischen Originaltexte. Schlenkers einigermassen rigoros umgesetzter Entscheid für eine mit wenigen (fast immer nachvollziehbaren) Ausnahmen strikt am Denotationsraum des Einzelworts orientierte Übertragung muss akzeptiert werden; sie hat ihre gewinnbringenden Seiten.
Emily Dickinson, 1830 in einer Kleinstadt in Massachusetts geboren, 1886 in ihrem zum „Haus der Möglichkeit“, sprich: zur Eremitage erkorenen Geburtshaus, einer Nierenkrankheit erlegen, gilt als bedeutendste, als die erste Dichterin der angloamerikanischen Moderne überhaupt. Gegen 1800 Gedichte entstanden in der mit einem monumentalen Briefwerk verteidigten Klausur eines ganz nach innen – oder vielleicht treffender: in ein innerstes Aussen – gewandten Lebens. Sieben Gedichte konnte sie zu Lebzeiten – anonym – zum Druck bringen. Gelesen wurde sie erst nach ihrem Tod, eine dann rasch weltweite Resonanz als verlässlichster und mysteriösester „Geheimtip“ fand sie noch einmal Jahrzehnte danach. Dass Dickinsons Exerzitium der Verborgenheit höchsten ästhetischen Rang beanspruchen darf, belegt Wolfgang Schlenkers Auswahl aufs Eindrücklichste. Die Krisenrapporte eines in seine eigene Unabwesenheit verstrickten Ichs, aus dem heraus die Gedichte zu sprechen scheinen, werden in „Biene und Klee“ zu einer zwischen Unorten zirkulierenden frenetischen Flaschenpost, auf der unser eigener wie jeder andere Name sowohl als Adresse wie auch, und darin liegt wohl die intersubjektive Verbindlichkeit dieser grossenteils eher brandschwarzen als nur „dunklen“ Gedichte, als Absender durchschimmert.
Als Jubelrufe aus einer wie von innen umzingelten, in ein hypertrophes Nichts unablässig weiter expandierenden Welt stellen sich die Gedichte dar. „Circumference“ ist das gern gebrauchte Schlüsselwort der negativen Mystikerin aus Amherst. Von Wolfgang Schlenker durchweg als „Umkreis“ übersetzt, könnte es als „Umfangenheit“ gelesen werden, als sich fortwährend in ein knapp punktartiges Gegenteil verdrehendes Eingekreistsein. Fassungslosigkeit im buchstäblichen, im bittersten und schönsten Sinn kommt darin zu ihrem jeden Raumbegriff sprengenden Bild. Mitgesprengt wird Gegenwart, in einer geradezu monströsen Inversion kristallisiert sie zur erst- und letztgültigen Unterbrechung, zur gleichsam absoluten Zäsur. „Aber zu leben, umfasst / Das Sterben mehrfach – ohne / Den Aufschub tot zu sein –.“ Zwischen „Urplötzlichkeit“ und „Unsterblichkeit“ lässt die Dichterin ihre ausgebrannten Epiphanien durch „Jahrhunderte des August gehen“, heimgehen in ein nur von Verlassenheit bezeugtes Zugegensein, das „Mittag heisst“.
„Klee“ und „Biene“ beleben den panischen Mittag als Namen für eine bedrängend Leere, dann wieder wie mechanisierte Natur, die gerade noch im somnambulen Tagtraum zu erfahren, zu leben ist:
To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do
If bees are few.
Schlenkers Übersetzungsarbeit nähert sich im Schlussgedicht einer ziemlich eigenwilligen Interpretation. Dickinsons „prairie“ wird ihm zur „Lichtung“, das Wort „Klee“ zurn Naturgegenstand Kleeblatt. Dickinsons Bild der Welt als Wüste, in der die Verlassenheit der Wörter von der Verlassenheit der Dinge nicht mehr bestätigt wird, gibt er mit allzu deutlich nachhallendem „Bienengesumm“ an eine fast schon trivialpoetisch zu nennende metaphorische Idylle preis.
Emily Dickinsons in einem alles umgreifenden inneren Exil sich überdauernder „Mittag“ verbildlicht einen Aufschub, der nicht zuletzt von einem offenbar selbst erfahrenen, man ist versucht zu sagen: authentischen Tod im Leben spricht. Die daran sich nährenden zahlreichen, an der Biographie nachhaltig entflammten psychoanalytischen Spekulationen sind insofern von minderem Interesse, als sie über letztenends Allzumenschliches nicht hinausgelangen. Die Dichterin selbst sah sich als „das einzige Känguruh in all dem Schönen“, stellte aber noch diese verstörende Definition von Schönheit unter das Verdikt einer „Trübsal des Vermutens“.
Auch die wohl unumgänglichen Einordnungen ihres Werks in Kontexte der spätromantischen, der transzendentalen, der imaginistischen oder gar einer präsurrealistischen Literatur sind über begriffliche Eintrübungen bislang nicht hinausgekommen. Dickinsons Singularität erweist sich auch in Schlenkers interlinear orientierter Übersetzung. Auch wenn die Dichterin selbst sich durchaus nicht sicher war, ob sie immer „wörtlich verstanden“ werden wollte, kommt die elliptische Sprödigkeit ihrer submetaphorischen Bild- und Gedankenkonzentrate im Deutschen zu einer ganz eigenen Qualität.
„Wörtlichkeit“ scheint darin als das von irgendwelchen Verstehensakten nicht korrumpierbare ureigentlich Fremde aller Dichtung bewahrt. Die Einbussen an vielerlei Effekten etwa von Klang und Rhythmus dagegen sind nicht zu übersehen. Insbesondere Dickinsons sentenziös, dann wieder seltsam liedhaft komprimierte Metrik bleibt häufig auf der Strecke, ansatzweise umgesetzt scheint ihre Vorliebe für Alliterationen. Auch für ihre grossartig schrägen Assonanzen und Halbreime hat Schlenker ein gutes Ohr.
Das Problem „Dickinson Deutsch“ bleibt; es ist, sämtliche diesbezüglichen Versuche sprechen davon, auch mit einer ambitionierten freien Nachdichtung ohne Verluste nicht zu lösen. Doch was heisst da lösen. Dass solche „Verluste“ als zentral produktiver Mangel in der Ursprungssprache wie in der Übersetzung jedes Dichtwerks – wenn nicht in Sprache als solcher – wirken, wird gerade bei Dickinson evident. Ihr „silbernes Prinzip“ eines gleichsam experimentalhysterisch schielenden Blicks dürfte ihrem Werk den Status als immer neu zu entdeckendes, nie aufzulösendes, „nur“ zu lesendes noch lange Zeit erhalten.
Dass es, wie alle Wortkunst, im Grunde unübersetzbar ist, schmälert die Bedeutung, den Wert von „Biene und Klee“ nicht. Das hoch einzuschätzende Verdienst von Wolfgang Schlenkers Arbeit liegt vorab darin, die betörende Fremdartigkeit dieser von einer sehr fernen Glossolalie gestreiften, zwischen Ekstase und Abwinken erschriebenen „Intervalle körperlichen Einklangs“ in wohlerwogener, oft luzider Diskretion weitergeleitet zu haben.
„Wenn ich ein Buch lese, und es macht meinen Körper so kalt, dass kein Feuer jemals mich wärmen könnte, weiß ich, das ist Dichtung. Wenn ich spüre, dass meine Schädeldecke abgenommen wird, weiß ich, das ist Dichtung.“
Diese schaurige poetologische Grundbestimmung stammt von der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830–1886). Aus streng puritanischer Familie stammend, distanzierte sich Dickinson von den moralischen und religiösen Rigorismen der Eltern – sie glaubte weder an Erbsünde noch an Gnade, die Bibel war ihr nur noch ein „antique Volume“. Ihr Schreiben bewegte sich dennoch ein Leben und mehr als tausend Gedichte lang in den Bahnen eines unvollständig säkularisierten Christentums. Eine explosive Mischung aus religiöser Ekstase und formaler Aggression. Daher rührt Dickinsons blutrünstiger Anspruch an Literatur, das macht die „Klausnerin aus Amhurst“ auch für zeitgenössische Interpreten wie Camille Paglia interessant. In deren „Masken der Sexualität“ wird die Dickinson unumwunden als die „größte aller Dichterinnen“ bezeichnet und als ein weiblicher Marquis de Sade der Innerlichkeit.
Aus dem umfangreichen Euvre – zu Dickinsons Lebzeiten wurden ganze sieben Gedichte veröffentlicht – hat der deutsche Lyriker Wolfgang Schlenker „51 shorter Poems“ übersetzt. Die Auswahl „Biene und Klee“ ist keine Spielwiese für literaturwissenschaftelnde Psychoanalytiker – Schlenker betont das explizit „Literarische“ mit einer Akzentsetzung auf dem sich jüngst wieder im Schwange befindlichen Naturgedicht.
To make a prairie it takes a clover and one
bee,
One clover, and a bee,
and revery.
The revery will do,
If bees are few.
In der Übersetzung:
Für eine Lichtung braucht\’s Klee und eine
Biene,
ein Kleeblatt, und Bienengesumm,
Und Träumerei.
Die Träumerei allein tut’s auch,
Falls Bienen rar.
Die Abfolge von höchstem und tiefstem Vokal, „i“ und „u“ in „bee-revery-do-few“ lässt den Bienenflug ansteigen – um im Verschwinden dem Traum das Feld zu überlassen, dem ironischen Nichts des Gedichts. Revery. Was heißt aber „rar“, und wozu die – für deutsche Ohren – pseudophilosophische „Lichtung“?
„Nichts heißt die Wucht / Zur Erneuerung der Welt.“ Dickinson schreibt aus dem Geist des Beinahe-Verschwindens, der äußersten Verknappung, um von einem Nullpunkt her Welt neu erstehen zu lassen, von einem Gedankenstrich aus. Sie geht dabei höchst ökonomisch vor und kommt ohne schwere Existenzialvokabel aus, auf Verzögerung folgt heftig beschleunigt:
How slow the Wind – how slow the Sea –
how late their Feathers be!
(Wie langsam der Wind – wie langsam das Meer –
wie spät wird ihr Gefieder!)
Aus!
Oder:
An Hour is a Sea
Beetween a few, and me –
With them would Harbour be –
(Eine Stunde ist ein Meer
Zwischen wenigen, und mir –
Mit denen Hafen wär –).
Der Vorteil der zweisprachigen Ausgabe: Nach einiger Zeit liest man nur noch den englischen Text und rätselt über syntaktische Verdrehungen und Kontraktionen zu Liebe, Tod oder Rätsel.
The Riddle that we guess
We speedily despise –
Not anything is stale so long
As Yesterday’s Surprise.
(Haben das Rätsel wir erst gelöst
Ist’s plötzlich ganz banal –
Rascher wird nichts von gestern sein
Als was Gestern Überraschung war.)
Ein Gedicht, nicht nur morgens zu lesen.
− Als Emily Dickinson Anfang 30 war, beschloss sie, nie mehr vor die Tür zu gehen. In ihrem Haus in Massachusetts schuf sie große Poesie. −
Wer als Schriftsteller heute was auf sich hält, der fährt nicht nur wochenlang als Lesereisender durch die Lande, der lebt auch an mindestens zwei Orten der Welt: Amsterdam und Mallorca, Zürich und Guatemala, Berlin und Wewelsfleth, Paris und New York , so steht es immer häufiger in den Kurzbiografien der Verlage.
Emily Dickinson ist einfach ihr Leben lang in Amherst geblieben, einem kleinen College-Städtchen in Massachusetts. 1830 wurde die Lyrikerin in dem vom Großvater erbauten Haus geboren, in dem sie vor 125 Jahren, am 15. Mai 1886, gestorben ist. Mit Anfang 30 beschloss sie, keinen Fuß mehr vors Gartentor zu setzen. In den letzten Jahren hat sie, von altem neuenglischen Adel – der Großvater hatte das bekannte Amherst College mitbegründet –, nicht mal mehr die Zimmertür weiter als einen Spalt geöffnet.
Und doch hat sie, mitten im 19. Jahrhundert, moderne Weltliteratur geschaffen. Paul Celan hat ihre Gedichte übersetzt, Carla Bruni hat sie gesungen, mit Gottfried Benn wurde sie verglichen. Donna Leon schwärmt für die „nie erreichte Eindringlichkeit und Kraft“ ihrer zur Essenz destillierten Sprache, in Salingers Fänger im Roggen erklärt eine der Figuren Emily Dickinson zur wichtigsten Kriegsdichterin Amerikas.
Dabei schrieb diese gar nicht über den Bürgerkrieg, der ihr Land zu jener Zeit so heftig erschütterte, dass es fast daran zerbrochen wäre. Ihr Schlachtfeld war die Seele. Zweifel und Verzweiflung, Abschied und Tod, Liebe und Einsamkeit gehören zu den wiederkehrenden Themen der Dichterin, die auch kühn, frech und ironisch sein konnte, deren Verse immer äußerst knapp, ohne erklärenden Titel und – anders waren. „Sag alles wahr, doch sag es schräg“, lautete ihr Motto.
Der Gedankenstrich, die Leerstelle par excellence, war ihr Markenzeichen, gehörte zu ihr „wie die Sommersprossen auf ihrem Busen“, wie die Übersetzerin Lola Gruenthal bemerkt. Gerade das Geheimnisvolle ihrer Literatur wie ihres Lebens forderte die Nachgeborenen heraus, die Lücken mit reichlich eigenen Spekulationen und Projektionen zu füllen. Waren die von ihr so leidenschaftlich adressierten Liebhaber zum Beispiel real oder der Fantasie entsprungen?
Gerade mal sieben ihrer 1775 Gedichte sind zu ihren Lebzeiten erschienen, und selbst die nicht in der von ihr vorgesehenen Form. Die einzigen Bücher, die es von ihr gab, waren die von ihr selbst genähten, die sie in die Truhe steckte; der einzige Preis, den sie je bekam, war einer fürs Brotbacken.
Heute füllt die Sekundärliteratur ganze Bibliotheken. Posthum wurden bei ihr Agoraphobie und Epilepsie diagnostiziert, von den einen wurde sie für lesbisch, von den anderen für psychotisch erklärt. Worauf sie selbst die beste Antwort mit einem ihrer Gedichte gab:
Wahnsinn ist oft der höchste Sinn –
Für den, der ihn versteht –
Und Sinn – der tollste Wahnsinn oft –
Nur die Mehrheit
Entscheidet hier wie überall –
Wer zustimmt – ist gesund –
Wer abweicht – ist gefährlich – und
Braucht Ketten wie ein Hund.
Emily Dickinson war, darüber zumindest herrscht Einigkeit, eine empfindsame Seele, aber auch ein selbstbewusstes Wesen. „Klein bin ich, wie’s Zaunkönige sind, meine Haare keck wie in ihrem Igel die Kastanie – und mein Auge wie der Rest Sherry, den der Gast im Glas läßt“, so schildert sie sich Thomas Wentworth Higginson, ihrem angehenden Freund und Förderer. Denn Emily Dickinson hatte sich durch ihren äußerlichen Rückzug keineswegs ganz von der Welt gelöst, sie kommunizierte eifrig mit ihr: mit hunderten Briefen, die sie wie ihre Gedichte polierte, in die sie oft Verse integrierte. Sie hielt sich die Menschen nur vom Leib.
Sie kannte sie auch so. Ihr Werk ist ein einziger Triumpf der Fantasie. Auch ohne je das Meer gesehen zu haben, erklärte sie, sie wisse, wie die Wogen gehen.
Das frühere Bild von Emily Dickinson – ein scheues, ängstliches Fräulein – ist heute weitgehend abgelöst von der Ansicht, dass ihr inneres Exil eher selbst gewählt war. Dass sie sich genommen hat, was Virginia Woolf Jahrzehnte später für die Frauen fordern sollte: einen Raum für sich allein. Gerade die äußere Beschränkung erlaubte ihr demnach, Grenzen zu überschreiten, die die puritanische Gesellschaft ihr als Frau zog.
Ich wohne in der Möglichkeit –
Ihr Haus ist im Vergleich
Viel schöner – tür- und fensterreich –
Als die Alltäglichkeit –.
Sie wollte frei wie eine Biene sein, schrieb sie ein andermal. In ihrem großen Schlafzimmer, wo sie vom Schreibtisch vor dem Fenster den geliebten Garten und das Leben auf der Hauptstraße im Blick hatte, war sie frei, zu denken und zu dichten, was sie wollte. Geist und Fantasie waren die Flügel, mit denen sie sich auch über Gott und die Kirche erhob, die die streng puritanische Gesellschaft Neuenglands beherrschte. Der religiösen Wiedererweckungswelle jener Zeit hat sie sich verweigert.
Ist Gott ein Arzt? Man redet
Von seiner Heilungskraft –
Doch gibt es keine Medizin,
Die Tote leben macht –
Ist Gott Finanzminister?
Man sagt, wir schulden viel –
Jedoch bei dieser Transaktion
Halt ich mich aus dem Spiel.
Als moderne Frau hatte sie ausgezeichnete Schulen besucht, und obwohl es für den strengen Vater nur ein Buch gab (die Bibel), hatte sie selber Shakespeare und Keats und Brontë verschlungen. Als junges Mädchen lebte sie ein geselliges Leben, nahm an Schlittenpartien und Scharaden teil. Erst als ihre Freundinnen anfingen zu heiraten, merkte sie offenbar, dass sie anders war. Als „einziges Känguru im Schönen“ beschrieb sie sich.
Aber sie war nicht allein. Nach dem Tod der offenbar nicht sehr warmherzigen Eltern teilte sie sich das große Haus, das heute Museum ist, mit der ebenfalls unverheirateten Schwester Lavinia. Gleich nebenan wohnte der geliebte Bruder Austin mit seiner Frau Susan, die ihre engste Freundin war und der sie zu Lebzeiten viele Gedichten schickte, in ihrem Anwesen „Evergreens“.
Da endete der Hausfrieden allerdings schon. Austin legte sich nämlich eine Geliebte zu, mit der er regelmäßig im Esszimmer der Schwestern schlief. Mabel Loomis Todd, die nach Emilys Tod deren Lyrik zum ersten Mal veröffentlichte, kannte die Poetin nur vom Hören: Bei ihren Unterhaltungen blieb Emily Dickinson hinter der verschlossenen Tür, ein Phantom, das zum Abschluss des Gesprächs dem Gast vom Dienstmädchen ein Glas Sherry, eine Blume oder ein Gedicht servieren ließ. Dickinson, so die Literaturwissenschaftlerin Diana Fuss, hatte einen feinen Sinn für Theatralisches. So trat sie vorzugsweise in weißem Kleid auf – weshalb sie in Amherst den Spitznamen „weiße Nonne“ trug.
Ihre Geschwister fanden ihren radikalen Rückzug nicht wunderlich. Jeder von ihnen habe seine Aufgabe, erklärte Schwester Lavinia, und Emilys Job war es zu denken. Auf ihrem Totenschein stand unter „Beruf“: Zuhause.
An Stoff mangelt es ihr dort nicht. Da ist der Blick aus dem Fenster: „Schauen Sie heut Nacht hinaus“, empfiehlt Emily einem Briefpartner, „Der Mond kutschiert wie ein Mädchen –/ durch eine Stadt aus Topas.“ Und das Interieur: Allein die Türen, die sich in den Versen ständig öffnen und schließen. Für Diana Fuss sind sie eine zentrale Metapher in der selbst gezimmerten Welt der Emily, für Einsamkeit, Abschied, Tod, aber auch für Erinnerungen, Abgeschiedenheit, Sicherheit. Die Türschwelle als „feine Linie zwischen dem Endlichen und Unendlichen, dem Sterblichen und Unsterblichen, dem Menschlichen und Göttlichen“, so Fuss. Als Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten.
I dwell in Possibility –
A fairer House than Prose –
Von tausendsiebenhundertfünfundsiebzig Gedichten, die sich in Emily Dickinsons Nachlaß fanden, wurden zu Lebzeiten der Lyrikerin sieben veröffentlicht. Zwar hielt die Autorin ihre Arbeiten nicht direkt verborgen, doch beschränkte sie sich darauf, einen Teil der auf lose Blätter geschriebenen, sodann päckchenweise verschnürten und in einer Truhe aufbewahrten Verse zu kopieren und – manchmal in variierenden Fassungen – an Bekannte zu schicken, an ungefähr dreißig Adressaten, von denen sie jedoch nur einen, Mr. Thomas Wentworth Higginson, literarisch ins Vertrauen zog. Mr. Higginson, ein Mann aus einem puritanischen Neuengland-Geschlecht, der bald darauf als Oberst in der Bürgerkriegsarmee kämpfte und verwundet wurde, hatte gerade im Atlantic Monthly einen Artikel veröffentlicht, der, unter dem Titel „Brief an einen jungen Mitarbeiter“, schreibenden Anfängern Ratschläge erteilte, als sich Emily Dickinson im April 1862 dazu entschloß, brieflich sein Urteil einzuholen: „Ich habe bisher keine Poeme verfaßt – nur ein oder zwei – bis zum letzten Winter – geehrter Herr –“ Diese Angabe, die die Dichterin über sich selbst machte, entsprach freilich keinesfalls den Tatsachen, denn zu jener Zeit existierten bereits (wie später eindeutig aus dem Nachlaß hervorgehen sollte) an die dreihundert Gedichte.
Emily Dickinson unternahm, als sie sich an Higginson wandte, den einzigen ernsthaften Versuch, mit ihrer Lyrik an die Öffentlichkeit zu gelangen. Doch entsprang das Motiv für ihr Handeln wohl weniger literarischem Ehrgeiz als einer psychologischen Notwendigkeit. Das geht aus einer Bemerkung hervor, mit der die sonst so scheue Dichterin dem fremden Higginson mitteilte, wie sehr sie litt und wie unumgänglich es für sie war, schreibend den Pegel ihres Unglücks zu senken:
Ich war vom Entsetzen gepackt – schon seit September – ich konnte mit niemandem darüber sprechen – und so singe ich jetzt wie ein Junge in der Nähe des Friedhofs – weil ich mich fürchte.
Dieser Satz, vorgetragen in der für die Dichterin so charakteristischen Art abrupten und durch Gedankenstriche zusammengehaltenen Sprechens, ist sieht man von programmatischen Äußerungen innerhalb des künstlerischen Werkes ab – das poetologische Credo Emily Dickinsons, die im übrigen von Mr. Higginson zwar manchen Zuspruch erfuhr, nicht aber die (insgeheim wohl ersehnte) Förderung.
Die Lyrikerin war 1830 in Amherst, Massachusetts, geboren worden, einer Kleinstadt von ausgesprochen kalvinistischem Gepräge. Der Vater, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, der eine Zeitlang sogar in Washington Kongreßmitglied war, richtete ihr Empfinden und Denken frühzeitig auf einen Ernst aus, den sein puritanischer Geist noch hinter den unscheinbarsten und alltäglichsten Dingen walten sah und der so umfassend, so beanspruchend war, daß Freude und Heiterkeit keinen Platz finden konnten, es sei denn, sie waren auf die majestätische Traurigkeit des Welthintergrundes bezogen und erfuhren von dessen absolutem Sein ihre Legitimation.
Emily Dickinson, die schon in ihrer Schulzeit blaß und nervös gewirkt hatte, entwickelte sich bald zu einem sehr eigentümlichen Menschen von großer Scheu und gelegentlichem Humor. Und nachdem sie im Alter von dreißig Jahren damit begann, sich ausschließlich weiß zu kleiden, bekamen auch die Freunde der Familie sie fast nie mehr zu sehen; ja, nach 1882 versteckte sie sich sogar dann in einem dunklen Nebenraum, wenn die Nachbarin, Mrs. Todd, ins Haus gekommen war, um Emily auf dem Klavier Scarlatti, Bach oder Beethoven vorzuspielen.
Obwohl die Dichterin, die sich – vermutlich wegen ihres wenig vorteilhaften Aussehens – seit der Kindheit nicht hatte photographieren lassen und die sich seit 1870 überhaupt nicht mehr aus der Obhut des heimischen Grundstücks begab (ihre weitesten Wege führten bis in den Garten), sehr bemüht war, die häusliche Fürsorglichkeit der ebenfalls jüngferlichen Schwester Lavinia ohne allzuviel Ironie zu ertragen, entwickelte sie doch gegen ihre Familie eine sanfte Resistenz, etwa, indem sie die Kirchenbesuche unterließ oder das bigotte Verhalten der Eltern tadelte:
Vater und Mutter sitzen im Feiertagsstaat im Wohnzimmer, und sie lesen natürlich nur Zeitungen, von denen sie genau wissen, daß in ihnen nichts Fleischliches steht.
Emily besaß also durchaus die Fähigkeit, die Ursachen der persönlichen Misere in der moralischen Engstirnigkeit des Milieus zu erkennen. Und ihr wacher Verstand erwies sich als recht nützlich, wenn es galt, der verletzten Sensibilität in boshaften Episteln Luft zu machen. „Sie meinen“, so schrieb sie beispielsweise an Higginson, kaum daß sie Kontakt mit ihm aufgenommen hatte, „ich bewege mich ,verkrampft‘ voran… Hätten Sie denn Zeit, jener ,Freund‘ zu sein, den ich Ihrer Ansicht nach benötige? Ich bin von Gestalt ziemlich klein, und auf Ihrem Schreibtisch würde ich bloß wenig Platz in Anspruch nehmen…“ In einem anderen Brief an Higginson finden sich die Worte, die ungewöhnlich schonungslos die Angehörigen charakterisieren:
Ich habe einen Bruder und eine Schwester. Meine Mutter hält nicht viel vom Denken, und mein Vater hat immerfort mit seinen Papieren zu tun, da kriegt er nicht mit, was wir machen. Zwar kauft er mir viele Bücher, doch legt er mir nahe, sie nicht zu lesen, denn er befürchtet, die Bücher könnten meinen Geist verwirren. Alle hier sind – von mir abgesehen fromm; und sie beten jeden Morgen zu einem unsichtbaren Wesen, das sie ,ihren Vater‘ nennen.
Mit Hilfe ihres Spottes gelang es Emily, die (frühzeitig ins Kosmische transponierte) Verzweiflung allmählich in einen erträglichen Dauerschmerz zu verwandeln; so daß sie wenigstens 1881 – also fünf Jahre vor ihrem Tod – mit sublimer Selbstironie zu sagen vermochte: „Mein Widersacher wurde alt – / Wir sind nun langsam quitt –“.
Als dann die ersten posthumen Auswahlbände erschienen, gab es fast augenblicklich Spekulationen über die Gründe, die dazu geführt haben mochten, daß die Dichterin unverheiratet geblieben war. Und heute, da die Legenden, die das Werk zu überwuchern drohten, als Phantastereien entlarvt worden sind, wissen wir von zwei Männern, die, zu verschiedenen Zeiten und jeder auf seine Weise, eine Rolle in Emily Dickinsons Leben gespielt haben. Der eine, Benjamin Franklin Newton, hatte als Jurastudent in dem Dickinsonschen Anwaltsbüro gearbeitet; und durch ihn wurde Emily mit den Arbeiten der Brontë-Schwestern wie auch mit der Poesie Emersons bekannt. Dennoch kam der große Schock, den die Dichterin erfuhr, wohl weder dadurch zustande, daß der Freund eine Ehe einging, noch dadurch, daß er bald starb. Vielmehr war es die Zuneigung zu einem anderen Mann, zu dem Reverend Charles Wadsworth von der presbyterianischen Kirche in Philadelphia, die Emily in ihre bräutlich-weiße Trauer trieb: „A solemn thing – it was – I said – / A Woman – white – to be –“. Charles Wadsworth, ein schon älterer verheirateter Mann und Vater, war, obwohl Emily ihm wahrscheinlich nur selten und kurz begegnet ist, seit 1854 immer mehr zur zentralen Figur allen Erlebens geworden. Und als Wadsworth 1861 einem Angebot folgte und nach San Francisco an die Calvary Church ging, begann jener Lebensabschnitt, in dem das Wort Calvary (= Golgatha, Schädelstätte) zu einer Schlüsselmetapher wurde. „At last, to be identified!“, „Endlich zu wissen, wer man ist!“ –:
Unverhofft fand die Dichterin ihre existentielle Bestimmung, nach der sie gesucht hatte, nun, als sie sich herausgefordert sah, die eigene Identitätslosigkeit zu bezeugen.
Die gestaute Lebenskraft, die sich künftig nicht einmal mehr auf illusionäre Art nutzen ließ, konnte nur noch mit Inbrunst auf ein Absolutes transzendiert werden, auf ein Absolutes, das freilich nicht mehr gleichgesetzt wurde mit dem Begriff eines heilen Jenseits. Denn Sentenzen wie
This World is not Conclusion.
A Species stands beyond –
Diese Welt ist nicht das Ende.
Ihr folgt noch etwas nach –
stehen Verse gegenüber, die vom Leben keine Zukunft und vom Tod keine Unsterblichkeit mehr erwarten:
Das Herz sucht Lust zuerst,
Und dann, Erlaß vom Leid,
Und dann, ein Stillungsmittel,
Das jeden Schmerz betäubt,
Und dann, zur Ruh zu gehn,
Und dann, in letzter Not,
So es sein Inquisitor will,
Das Anrecht auf den Tod.
Hineingewachsen in eine Tradition frustrierender Normen, brachte die Dichterin zwar die Energie auf, die zu einer asketischen Lebensweise nötig war; ihre Lyrik aber, der problematische Gewinn aus Verzicht und Abgeschiedenheit, konnte und kann lediglich mit Einschränkungen als religiös gelten. Ähnlich wie zwei Jahrhunderte zuvor die mexikanische Nonne Juana Inés de la Cruz, so war auch Emily Dickinson gezwungen, ihre christlichen Wertvorstellungen in Relation zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu setzen, mit dem Resultat, daß die Idee einer paternistischen Weltordnung an Bedeutung verlor und sich ein Verlangen nach Naturhaft-Bewußtseinslosem einstellte: „The Grass so little has to do / I wish I were a Hay –“, „So wenig hat das Gras zu tun / ich wünscht, ich wär ein Heu –“.
Emily Dickinson brachte in ihren Versen Stimmungs- und Bewußtseinslagen zum Ausdruck, die andere Poeten nur in konventioneller Sprache oder in theoretischer Terminologie formulieren konnten. Ob es sich darum handelte, die Unwahrheit tradierter Sprüche zu entlarven („Man sagt, ,die Zeit bringt Linderung‘ – / Die Zeit hat nie gelindert“); oder ob sie die Erde als ein relativierbares System kausaler und räumlicher Zuordnungen beschrieb („,Morgen‘ – heißt ,Melken‘ für den Farmer – / Für Teneriffa heißt es – Dämmerung“): stets gelangen ihr, die alle Erlebnisse tief in sich eindringen ließ, Verbalisierungen, die Umschmelzungen und Neuschöpfungen waren: „Es klang, als kämen die Straßen gelaufen / Und dann – standen die Straßen still –“ Oder: „Lustig – ein Jahrhundert zu sein – / Und zu sehn – wie die Leute passieren –“.
Diese Lyrikerin, die sich an der Bibel, an Shakespeare, an den englischen Metaphysikern sowie an Keats und an den Brownings geschult hatte, schrieb Gedichte, die, wenn sie (anders als die welthaltigen Poeme ihres Zeitgenossen und Landsmannes Walt Whitman) auch noch metrisch gebunden waren, dadurch bereits etwas extrem Modernes hatten, daß sie häufig mit einer frappanten Gnome beziehungsweise mit einer unkonventionellen Metapher zuzupacken verstanden: „Drowning is not so pitiful / As the attempt to rise.“ Oder: „The face I carry with me – last – / When I go out of Time –“ Oder: „Much Madness is divinest Sense – / To a discerning Eye –“. Anschließend an solche Formulierungen wurde dann der stoffliche Komplex meist nur noch abgewandelt. Doch stets erwiesen sich Ironie und Paradoxon als Mittel, die vor Rhetorik ebenso bewahrten wie vor Sentimentalität:
My life closed twice before its close;
It yet remains to see
If Immortality unveil
A third event to me,
So huge, so hopeless to conceive
As these that twice befel.
Parting is all we know of heaven,
And all we need of hell.
Schon zweimal schloß vor seinem Schluß
mein Leben, laßt nun sehen,
ob Ewigkeit zum dritten Mal
mir zuteilt solch Geschehen,
so unbegreiflich hoffnungslos
wie die zwei ersten Fälle.
Scheiden – das weiß man vom Himmel bloß –
und das reicht für die Hölle.
Emily Dickinson, die mit kritischer Vehemenz den Kommerzialismus Neuenglands anprangerte, wenn sie sagte „Ihr Reichen – lehrt mich – arm zu sein“, war sich, zumindest bis zu einem gewissen Grade, der gesellschaftlichen Besonderheit ihrer Lage bewußt. Doch wenn sie auch spürte, daß es ihre spezifischen Umstände waren, die sie zu Untätigkeit und zu femininer Wesenlosigkeit verurteilten, so erschöpfte sie sich keinesfalls in der Attitüde bloßen Protests. Dazu war sie seelisch zu stark in metaphysischen Vorstellungen gefangen:
Die Abdankung des Glaubens
Engt das Verhalten ein –
Besser einem Irrlicht folgen
Als im Finstern sein –
Diese Verse, vermutlich vier Jahre vor dem Tode geschrieben, lassen erkennen, daß die Dichterin letztlich eine elegisch-ironische Wartestellung zwischen christlicher Religiosität und naturwissenschaftlichem Erkenntnisdrang eingenommen hat. Emanzipationswille brachte für sie, die den Denkkategorien ihrer Zeit und den Bedingtheiten ihres Milieus nicht völlig Entwachsene, keine faktische Befreiung, sondern im Gegenteil ein intensiviertes Kerkererlebnis, zumal es ihr nicht möglich war, die sexuelle Komponente ihrer Situation schon so klar zu erkennen, wie das später etwa der junge Eliot oder – nach ihm – Robert Creeley vermochte, ein Lyriker, der sich dem Puritanismus bereits programmatisch widersetzen konnte.
Für die Dichterin aus Amherst gab es noch keinerlei Gelegenheit, die eigene Problematik im Gespräch, im kreativen Dialog mit einer größeren Öffentlichkeit oder auch nur einer eingeweihten Minderheit zu klären. Emily Dickinson war gezwungen, ihren Konflikt, mochte er noch so dynamisch nach außen drängen, zu verinnerlichen. Weil ihr jedoch die soziologisch-psychologischen Wechselwirkungen weitgehend unbewußt blieben, kam es zu einem immensen Affektstau, der sich in abrupter Bildhaftigkeit entlud. Der Raum, in den hinein die Dichterin projizierte, war eine pantheistische Region, die jedoch konkreter war als die (mehr intellektualistisch beschaffene) Bezugswelt der Transzendentalisten. Von Kindheit an mit den Erkenntnissen der Botanik, der Astronomie und der Chemie vertraut, ging es Emily Dickinson darum, die „einfachen Nachrichten der Natur“ einzufangen und mit einer Genauigkeit weiterzugeben, die ihrer Poesie trotz einer bestimmten konjunktivistischen Beschaffenheit die Qualität empirisch-sensualistischer Faßbarkeit verlieh:
Eine Wiese zu schaffen brauchts
Nur eines Klees und einer Biene.
Eines Klees und einer Biene sowie
Eines bißchen Träumerei,
Das Träumen allein schon reicht,
Falls es an Bienen mangelt.
Hans-Jürgen Heise, aus: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974
Obwohl die Dichterin in Natur und Liebe ein Erleben sieht, das dem des Todes entspricht, bleibt der Bereich, der sich damit öffnet, geheimnisvoll verborgen. Sicher ist für sie nur, daß sein Betreten wie bei dem Erleben des Außergewöhnlichen in Natur und Liebe mit dem Schmerz des Verzichtes und Verlustes verbunden ist. Dennoch bleibt – wie die große Zahl ihrer Gedichte, die das Thema des Todes umkreisen, zeigt – das Verlangen, über diese Grenze hinauszuschauen.
Solches Verlangen äußert sich, wie etwa in „I’ve seen a Dying Eye“ (S. 547), vermutlich aus dem Jahre 1862, auf die einfachste Weise in bloßer Neugier.
I’ve seen a Dying Eye
Run round and round a Room –
In search of Something – as it seemed –
Then Cloudier become –
And then – obscure with Fog –
And then – be soldered down
Without disclosing what it be
„Twere blessed to have seen –
Die Sprecherin der Zeilen verfolgte die Blicke eines Sterbenden. Bei aller Einfachheit des beobachteten Vorganges füllt sich dieser in der sprachlichen Gestaltung der Zeilen mit all der Ambiguität, die schon in der Mehrzahl der bereits besprochenen Gedichte das, was sich jenseits der greifbaren Wirklichkeit zu enthüllen scheint, bestimmte: Der Blick des Sterbenden sucht nach etwas, das sich ihm durch das Trüben und Schließen der Augen entzieht. Aber auch die Sprecherin sucht nach etwas, das ihr das beobachtete Auge nicht enthüllt. Die letzten beiden Zeilen greifen über das Suchen im Raume hinaus. In ihrer syntaktischen Unbestimmtheit bleibt aber offen, ob der Sterbende nach dem Schließen der Augen etwas sah, was ihn hätte glücklich machen können, oder ob nur der Sprecherin verhüllt blieb, was das geschlossene Auge sah und was sie hätte selig machen können. Das Erleben des Todes aus der beobachtenden Distanz wird zum Gegenteil des mystischen Innewerdens der Verbindung des Ich mit dem All und mit Gott, wie es Emerson in dem hier vergleichbaren Bilde des „transparent eye ball“ erfaßt.1 Während für Emerson sich im Auge Gott und alles Sein versammelt und während er Teil Gottes und des Alls wird, verschließt sich für Emily Dickinson das Auge. Mit der Schwere des dreimaligen „then“ senkt sich der Schatten auf das suchende Auge, und was sich ihm nach dem Schließen enthüllen mag, bleibt von dieser Schwere belastet.
Die gleiche Situation wie in „I’ve seen a Dying Eye“ umschreibt Emily Dickinson aus der Perspektive des Sterbenden in „I heard a Fly buzz – toben I died –“ (S. 465) aus dem gleichen Jahre:
I heard a Fly buzz – when I died –
The Stillness in the Room
Was like the Stillness in the Air –
Between the Heaves of Storm –
The Eyes around – had wrung them dry –
And Breaths were gathering firm
For that last Onset – when the King
Be witnessed – in the Room –
I willed my Keepsakes – Signed away
What portion of me be
Assignable – and then it was
There interposed a Fly –
With Blue – uncertain stumbling Buzz –
Between the light – and me –
And then the Windows failed – and then
I could not see to see –
Wenn bereits das Erleben des Außergewöhnlichen in Natur und Liebe in einem beachtlichen Teil der betrachteten Gedichte als Vorwegnahme des Erlebens verstanden werden konnte, in dem sich der Bereich der Unsterblichkeit jenseits des Todes öffnet, so verwundert es nicht, wenn die Dichterin hier – wie in einer ganzen Reihe weiterer Gedichte – in der Welt ihres Werkes ihr eigenes Sterben imaginär vorwegnimmt. Imaginäres Gestalten des Sterbens wird damit eine der Möglichkeiten, einen Ausblick auf die Unsterblichkeit zu erhalten.
Der Vorgang des Sterbens, der sich in dem zuvor betrachteten Gedicht in zwei Phasen vollzog, gliedert sich in „I heard a Fly buzz – when I died –“ in drei Abschnitte. Im ersten, der die Zeilen fünf bis elf umfaßt, nimmt die Sprecherin Abschied von der Welt. Während in dem anderen Gedicht sie es war, die den Sterbenden beobachtete, erwarten hier die im Raume Anwesenden ein Zeugnis dessen, was sich in ihrem Sterben vollzieht: „when the King / Be witnessed“. Die gewählte Ausdrucksweise kann dazu verleiten, die Erwartungen der Beobachter ironisch zu verstehen.2 Dann jedoch müßte die Sprecherin in „I’ve seen a Dying Eye“ sich auch dort von ihrem eigenen Bemühen ironisch distanzieren. Dies ist insofern denkbar, als sie es – obwohl sie es nicht aufgibt – als vergeblich betrachtet.
Der zweite Abschnitt des Sterbevorgangs, der in dem anderen Gedicht durch die zeugmatische Verklammerung der letzten Zeilen übergangen wird bzw. in der ersten Phase mit enthalten ist, besteht in dem Dazwischentreten der Fliege. Alle Möglichkeiten, die Bedeutung dieser Fliege zu bestimmen, scheinen durch die bisherige Kritik ausgeschöpft zu sein: Die einen sehen in ihr einen letzten „Kuß der Welt“, die die Sterbende verläßt,3 die anderen eine Belanglosigkeit, die sie daran hindert, sich auf das einzustellen, was sie im Sterben erwartet,4 wieder andere ein Bild für die bevorstehende Verwesung des Körpers, für den Zweifel5 oder für den Tod.6 Wie immer die Fliege verstanden werden mag, sie tritt – in Analogie zu dem Versagen des Schauens in dem anderen Gedicht – zwischen den Schauenden und das Licht, das ihm vor dem Schließen der Augen im Sterben zugänglich war. „The Windows failed“. Das vor dem Sterben wahrgenommene Licht vermag die Sprecherin nicht in den Tod hinüber zu geleiten. Sie steht damit in der gleichen Situation wie die Sprecherin in „My Life had stood – a Loaded Gun“, die fürchtet, ohne den Geliebten nicht sterben zu. können, d.h. ohne Vergegenwärtigung dessen, was ihr in diesem Leben Vorahnung jenseitigen Lebens bedeutete.
Die Umschreibung des dritten Abschnittes bleibt wie in „I’ve seen a D’ying Eye“ auf die letzte Zeile beschränkt. Wie in dem anderen Gedicht offen bleibt, ob das im Tode geschlossene Auge etwas zu sehen vermag, so bleibt in diesem offen, ob eine neue Art des Sehens das, was sich etwa auftun würde, erblicken könnte. Es heißt nicht, wovon die meisten Leser auszugehen scheinen: „and then / I could not see“,7 sondern „and then / I could not see to see“. Zweifellos handelt es sich in der von der Dichterin gewählten Formulierung wieder um ein vielleicht allzu künstliches Spiel mit der Sprache. Das Spiel trifft aber zentral das sie immer wieder beschäftigende Paradoxon der Erwartung einer Welt jenseits der sinnlich greifbaren Wirklichkeit, die nur als durch die Sinne vermittelt vorstellbar ist, jenseits dessen, was Robert Weisbuch als unser „experiential being“ bezeichnet.8 Das Sprachspiel der letzten Zeile besagt, daß da etwas ist oder zumindest sein kann („to see“), was aber nicht auf die für uns Lebenden allein mögliche Weise wahrgenommen werden kann.
Erfassen die beiden zuletzt herangezogenen Gedichte den Augenblick des Sterbens, in dem sich die Augen schließen, so versucht die Dichterin in den nächsten, die zur Betrachtung anstehen, in der Beschreibung des Begrabenwerdens einen Schritt weiter in den unbekannten Bereich jenseits des Lebens vorzudringen. In dem ersten dieser Gedichte (S. 280), das wahrscheinlich schon 1861 entstand, erscheint dieser Vorgang zunächst nur als Bild.
I felt a Funeral, in my Brain,
And Mourners to and fro
Kept treading – treading – till it seemed
That Sense was breaking through –
And when they all were seated,
A Service, like a Drum –
Kept beating – beating – till I thought
My Mind was going numb –
And then I heard them lift a Box
And creak across my Soul
With those same Boots of Lead, again,
Then Space – began to toll,
As all the Heavens were a Bell,
And Being, but an Ear,
And I, and Silence, some strange Race
Wrecked, solitary, here –
And then a Plank in Reason, broke,
And I dropped down, and down –
And hit a World, at every plunge,
And Finished knowing – then –
John Cody interpretiert die Zeilen in überzeugender Weise als eine „topography of a psychotic breakdown“.9 Im Nachzeichnen des psychotischen Zusammenbruchs im Bilde des Begrabenwerdens wird dieses Erleben selbst zur Begegnung mit der Welt, die sich nach dem Tode erschließen mag. D.h. jene andere Welt wird in der des seelischen Zusammenbruchs vorstellbar und im Wort erst darstellbar. Krankheits- und Todeserleben werden in diesem Sinne austauschbar bzw. identisch.
Es sei hier darauf verzichtet, den einzelnen Phasen des Zusammenbruchs bzw. Übergangs in den Bereich einer anderen Wirklichkeit nachzugehen. Nur zwei der Stadien auf diesem Wege seien aufgegriffen. Die Bewegung, die in den ersten Strophen umschrieben wird und deren Monotonie in der Wiederholung von „treading – treading“ und „beating – beating“ sinnfällig gemacht wird, führt zu einem völligen Erstarren der Sinne und des Geistes. Das Ich, das sich allen eigenen Tuns entäußert, füllt sich mit dem Raum, der es umgibt. Wird damit nicht, wie in Emersons Bilde von dem „transparent eyeball“,10 individuelles Sein aufgegeben zugunsten der Vereinigung mit dem „Universal Being“? Für Emerson wäre dies letzte Erfüllung. Doch das bei Emily Dickinson von dem Auge in Emersons Gedicht auf das Ohr übertragene Bild bleibt zweideutig. Der Klang, der das Ohr erfüllt und auszumachen scheint, bleibt im Wettlauf mit der Stille, der zur nächsten Phase des Vorganges, zu dem Sturz in die Tiefe, führt.
Die letzten drei Strophen erinnerten bereits Johnson an Poe. Tatsächlich liegt ein Vergleich der Glocken mit denjenigen in Poes „The Bells“ nahe. Dort verkünden diese den Tod.11 Was das Gedicht aber vor allem mit der Vorstellungswelt Poes gemeinsam hat, ist der Sturz in eine Welt jenseits unserer Vorstellung, wie er in „A Descent into the Maelström“ oder „The Pit and the Pendulum“ dargestellt ist.12 Am Grunde der Grube lauert bei Poe das scheinbare Nichts, in das der Held sich zu stürzen im Begriffe ist, als er aus seinem Kerker befreit wird. Durch seine Rückkehr in die Welt erhält er nie Gewißheit darüber, was in dem letzten Abgrund auf ihn wartete, wie die Sprecherin in Emily Dickinsons Gedicht in ihrem Sturze „mit ihrem Wissen zu Ende“ ist. Auch ihr bleibt die Enthüllung versagt. Der Grund wird nie erreicht. Der Geist „reaches no bottom“, sagt Ruth Miller hierzu treffend, „for the mortal mind can go no further, reason is useless, knowing is finished“.13 Und dennoch trifft sie bei jedem Sturz von Klippe zu Klippe eine neue Welt, „And hit a World, at every plunge“. Das „then“ am Schluß des Gedichtes ist von dem Rest der Zeile durch einen Gedankenstrich getrennt. Es signalisiert eine Phase, über die nichts mehr ausgesagt wird, weil nichts mehr über sie ausgesagt werden kann. Am Ende steht damit nicht das Nichts, sondern die Tatsache, daß nichts mehr mit den Mitteln gesagt werden kann, die dem zur Verfügung stehen, der der Wirklichkeit der Sinnenwelt verhaftet bleibt. Auf diese Weise verbindet das Gedicht zwar nicht das Versagen mit einem Triumph, wie George Monteiro meint,14 läßt jedoch die Möglichkeit einer Welt der Unsterblichkeit jenseits unseres Fassungsvermögens offen. Was an der Schwelle zu jener anderen Welt allein faßbar wird, ist – in Analogie zu dem Schrecken und Grauen Poes – der Schmerz des Verzichtes oder Verlustes.
Einen weiteren Schritt vollzieht die Dichterin in „Because I could not stop for Death –“ (S. 712) aus dem Jahre 1863.
Because I could not stop for Death –
He kindly stopped for me –
The Carriage held but just Ourselves –
And Immortality.
We slowly drove – He knew no haste
And I had put away
My labor and my leisure too,
For His Civility –
We passed the Scheel, where Children strove
At Recess – in the Ring –
We passed the Fields of Gazing Grain –
We passed the Setting Sun –
Or rather – He passed Us –
The Dews drew quivering and chill –
For only Gossamer, my Gown –
My Tippet – only Tulle –
We paused before a House that seemed
A swelling of the Ground –
The Roof was scarcely visible –
The Cornice – in the Ground –
Since then – ’tis Centuries – and yet
Feels shorter than a Day
I first surmised the Horses Heads
Were toward Eternity –
Obwohl das Gedicht von fast allen Kritikern zu den besten Emily Dickinsons gezählt wird und eine weite Verbreitung in Anthologien gefunden hat, besteht wenig Übereinstimmung in bezug auf seine Bedeutung.15 Zu den interessantesten Kommentaren gehört derjenige Yvor Winters’, nach dem das Gedicht, „however exquisitely […] ends in irresolution in the sense that it ends in a statement that is not offered seriously.“16 Die Aussage, die Winters als nicht ernst dargeboten sieht, besteht wohl darin, daß der Sprecherin das Erlebnis der Ewigkeit zuteil geworden ist, wenn seit ihrem Begräbnis Jahrhunderte vergangen sind, die sie kürzer als den Tag ihres Begräbnisses empfindet. Unverständlich bleibt an dem Kommentar, warum die vorhergehende Aussage ernsthafter sein soll als die Schlußaussage, in die sie konsequent einmündet. Dennoch hat Winters in dem, was er in seiner für ihn typischen Humorlosigkeit als unseriös betrachtet, etwas Wesentliches erkannt, insofern die letzten Zeilen das Erleben der Ewigkeit als einen Trick des sprachlichen Bildes enthüllen. Worin besteht dieser jedoch?
Aus Robert Brownings The Last Ride Together und einem anonymen Gedicht übernimmt die Dichterin die allegorische Vorstellung des Sterbens als einem letzten Ritt, zu dem der Tod einlädt und der zur Unsterblichkeit führt.17 Als Allegorie kann die im Gedicht dargestellte Fahrt als die des Leichenwagens verstanden werden, der die Verstorbene aus ihrem Haus hinaus vor die Stadt zum Friedhof führt. Die Fahrt endet am Grabe. Die verstorbene, im Grabe ruhende Sprecherin erinnert sich daran. So verstanden bedeutet der Tod in der Ausmalung des Vorganges durch die Folge von Bildern ein Abschiednehmen von den Gewohnheiten des alltäglichen Lebens („My labor and my leisure“), ein Heraustreten aus der menschlichen Gemeinschaft (Z. 9), ein Hintersichlassen der Natur (Z. 11), ein Verlassen schließlich der als Kosmos faßbaren Welt (Z. 12). Die Bewegung aus dem Leben und aus der vertrauten Wirklichkeit heraus kommt zum Stillstand, wenn in der – von den ersten Herausgebern unverständlicherweise ausgelassenen – vierten Strophe die Perspektive wechselt. Nicht mehr die Sterbende befindet sich alsdann in Bewegung, sondern die Dinge um sie herum, und fast unübertrefflich wird die Bewegungsumkehrung durch Umkehrung der Zeilenlängen am Anfang der vierten Strophe im Rhythmus der Sprache aufgefangen. An die Stelle des mehrfachen „passing“ tritt das einmalige „pausing“, in der lautlichen Ähnlichkeit die Kontinuität im Wandel aufrechterhaltend. Daß es sich um eine „civility“ handelte, wenn der Tod sie abholte, wird im weiteren Verlauf der Fahrt aufrechterhalten. Das einzige negative Element ist, daß es sie in ihrer Kleidung aus „Gossamer“ und „Tulle“ fröstelt. In der letzten Strophe enthüllt sich alsdann die beschriebene und lange zurückliegende Fahrt als ein Heraustreten aus der Zeitlichkeit. Die Jahrhunderte, die vergangen sind, erscheinen aus der Perspektive der Ewigkeit kürzer als ein Tag. In der Rückschau macht die Sprecherin sich bewußt, was für sie wie für den Leser in ihrer Beschreibung zuvor nur Ahnung war.
Läßt sich die Fahrt, zu der der Tod so freundlich einlädt, als allegorische Darstellung des Heraustretens aus der Sterblichkeit in die Unsterblichkeit interpretieren, so bleibt noch immer offen, ob dieses Sterben selbst nicht nur Bild für das Erahnen der Unsterblichkeit bereits im Erdendasein ist. In diesem Sinne versteht wohl Anderson das Gedicht, wenn es bei ihm heißt:
The poem does not in the last strive after the incomprehensible. It deals with the daily realization of the imminence of death, offset by man’s yearning for immortality. These are intensely felt, but only as ideas, as the abstractions of time and eternity, not as something experienced. Being essentially inexpressible, they are rendered as metaphors.18
Natürlich vermag Emily Dickinson das konkrete Eingehen in die Unsterblichkeit im Sterben nicht als eigene Erfahrung wiederzugeben. Durch die Konkretisierung der Vorstellung von Zeit und Ewigkeit in Metaphern jedoch verleiht sie ihr eine von ihr als real empfundene und für den Leser nachempfindbare ästhetische Wirklichkeit. Daß es sich nur um eine solche handelt, läßt verständlicherweise einem Kritiker wie Yvor Winters die Aussage der letzten Strophe (und damit eigentlich des ganzen Gedichtes) als unseriös erscheinen.
Anderson selbst gibt jedoch in seiner Interpretation einen Anhaltspunkt, diese ästhetische Wirklichkeit als Analogon zu wirklichem Erleben der Dichterin zu verstehen, wenn er „Gossamer“ und „Tulle“, das wir zunächst als die leichte Umhüllung der Verstorbenen zu verstehen geneigt sind, als Brautkleid identifiziert.19 Er selbst leitet daraus ab, daß sich die Sprecherin auch als „Bride-of-the-Lamb“ versteht.20 Der Tod kommt, als wäre er der Bräutigam, der die Braut heimführen möchte. Das Bild läßt sich jedoch auch umgekehrt verstehen: Die Begegnung mit dem Bräutigam wird zu einem Erleben, das aus der zeitlich bestimmten Wirklichkeit herausführt und die Unsterblichkeit erahnen läßt. Damit erschließt sich aber als konkrete Erlebnisbasis für das Gedicht, wie in den im vorhergehenden Abschnitt behandelten, die für sie unerfüllt bleibende Liebe. Nur wird das Erlebnis der Liebe, die zwar Verzicht bedeutet, aber gleichzeitig als Ahnung der Unsterblichkeit beglückt, nicht bloße Vorwegnahme der Transzendenz, sondern Erleben der Liebe und Erleben des Todes werden im Bilde identisch und erfahren allein im Bilde ihre Verwirklichung. Die Lösung, d.h. das Erleben der Unsterblichkeit, bleibt imaginär und ist nur im Bereich des Ästhetischen möglich. Hinter dieser „Lösung“ macht sich jedoch die beängstigende Problematik der paradoxalen Situation als Erlebnisbasis geltend.
Noch beklemmender erscheint das Erleben der Unsterblichkeit im Bilde des Erfrierens in „After great pain, a formal feeling comes“ (S. 341), dem Gedicht, das bereits Cleanth Brooks und Robert P. Warren beispielhaft interpretierten.21
After great pain, a formal feeling comes –
The Nerves sit ceremonious, like Tombs –
The stiff Heart questions „Was it He, that bore,“
And „Yesterday, or Centuries before?“
The Feet, mechanical, go round –
A Wooden way of Ground –
Or Air, or Ought – regardless grown,
A Quartz contentment, like a stone –
This is the Hour of Lead –
Remembered, if outlived,
As Freezing persons, recollect the Snow –
First – Chill – then Stupor – then the letting go –22
Thema ist nicht der Tod, sondern – wie es die erste Zeile definiert – das Empfinden nach großem Schmerz. Dieses wird jedoch im Bilde des Sterbens und des Todes vorstellbar gemacht. Gewinnt die Dichterin in dem Naturerleben oder in der Liebesbegegnung eine Vorstellung dessen, was für sie nach dem Tode Unsterblichkeit bedeuten könnte, so dient hier gewissermaßen umgekehrt die Vorstellung von dem Erleben nach dem Tode der Bestimmung ihres Empfindens nach großem Schmerz. Die Ambiguität des einen oder anderen Empfindens bleibt dabei wie in den entsprechenden oben interpretierten Gedichten aufrechterhalten.
Die Erstarrung, die nach dem Erleben großen Schmerzes die Nerven, das Herz und die Füße ergreift, entspricht derjenigen, die die Dichterin in „The Soul selects her own Society“ beschreibt. Wie in diesem Gedicht aus etwa der gleichen Zeit das Erstarren in der Verkürzung der jeweils zweiten und vierten Zeile sprachsymbolisch nachgezeichnet wird, um in dem den einzigen Akzent der letzten Zeile tragenden Bilde des Steins auszuklingen, wird in „After great pain, a formal feeling comes“ der nämliche Vorgang sprachlich in den auf Andeutungen reduzierten Einzelbildern und der elliptischen Syntax realisiert und findet seinen vorläufigen Abschluß mit dem gleichen Bilde: „like a stone“.
Das Gedicht kann sehr wohl als die klinisch exakte Beschreibung eines Anfalls von Spannungsirrsinn verstanden werden.23 Doch abgesehen von der biographischen Frage nach der Ursache dieser Krankheit, gewinnt diese durch ihre bildhafte Beschreibung eine über sie hinausgreifende Bedeutung, die durch die Analyse des klinischen Befundes noch nicht erschlossen ist. Die weitere Bedeutung liegt aber nun nicht allein darin, daß durch das Bild des Sterbens die Analogie von Krankheit- und Todeserleben Gestalt gewinnt. Darin läge gegebenenfalls nur eine Erhellung des einen klinischen Befundes durch einen zweiten. Zudem setzt die Beschreibung des Vorganges an dem Punkte aus, der, wenn er erreicht ist, den Bericht nicht mehr möglich zu machen scheint24 In der Verschränkung des Empfindens nach großem Schmerz mit der Erinnerung des Erfrorenen an den Schnee in der letzten Strophe wird jedoch – in gewissem Sinne wie in „Because I could not stop for Death“ durch einen Trick – die Grenze des der Erfahrung zugänglichen Bereiches in der Verbildlichung überschritten. Die Einschränkung durch das „if outlived“ ist dadurch aufgehoben, daß das Erinnerte von dem, der es erlebte, aufgezeichnet wird. Dies impliziert im Vergleich des Erfrierens, daß auch die Möglichkeit eines Erinnerns nach dem Tode angesetzt wird. Damit rückt aber der Erinnernde in eine Distanz, die der Zeitlichkeit enthoben ist, wobei der erinnerte Vorgang selbst Ursache der Entzeitlichung ist. Die Frage nach „yesterday, or Centuries before“ impliziert die nämliche Gleichsetzung von „Centuries“ und „the Day“ in „Because I could not stop for Death“. Wird dort der Übergang in die Unsterblichkeit zu einem Heimholen durch den Bräutigam, so in dem früheren Gedicht zu einer Passion, wenn in dem zweiten Teil der Frage, „Was it He that bore [?]“, der Schmerz der Sprecherin mit dem des Gekreuzigten assoziiert wird. Dieser Unterschied hebt sich chiastisch auf, wenn der Bräutigam als Tod erscheint und das Opfer die Erlösung – zumindest als Möglichkeit – impliziert. Die ästhetische Realisierung der Möglichkeit, die Unsterblichkeit zu erleben, erhält in der Assoziation mit der Kreuzigung ihre sakrale Weihe.
Wird die Ambiguität zwischen Erfüllung und Verlust nicht durch die so eindrucksvoll das Erfrieren darstellende letzte Zeile aufgehoben? Wie in „I’ve seen a Dying Eye“ das Erlöschen des Auges in drei Stufen durch das jeweilige „then“ als lastende Schwere spürbar gemacht wird, so hier durch die Folge von „First“ – „then“ – „then“ die Unausweichlichkeit des Auslöschens. Zweifellos erhält dadurch – und nicht nur dadurch – der Schmerz das stärkere Gewicht. Die Paradoxie liegt ja gerade darin, daß Unsterblichkeit im Schmerz erlebt wird. Isoliert betrachtet, könnte jedoch das Ausklingen des Gedichtes auf dem „letting go“ die Möglichkeit auch des Erlöschens aller Erinnerung zum Ausdruck bringen, d.h. an die Stelle des Überganges von der Zeitlichkeit in die Zeitlosigkeit der Unsterblichkeit könnte ein einfaches Auslaufen aller Zeit in ein Nichts treten. Diese Möglichkeit wird jedoch weitgehend aufgehoben, wenn in „The Heart asks Pleasure – first“ (S. 536) die Reihe noch fortgesetzt wird:
The Heart asks Pleasure – first –
And then – Excuse from Pain –
And then – those little Anodynes
That deaden suffering –
And then – to go to sleep –
And then – if it should be
The will of it’s Inquisitor
The privilege to die –
Deutlich werden hier Freude und Schmerz als einheitliches Erleben betrachtet. Dem „letting go“ entspricht „to go to sleep“: Der Schmerz weicht mit dem Einschlafen des Bewußtseins. Dieses ist aber noch nicht der Tod. Deutlich wird er hier als weitere Stufe genannt. Tod als solcher wird damit nicht notwendigerweise mit dem Auflösen allen Bewußtseins in Zusammenhang gebracht.
Bei allem Fragen nach der Unsterblichkeit bleibt für Emily Dickinson nur eines: daß jene nur in Verbindung mit dem Leiden oder dem Verzicht vorstellbar ist. Der Glaube, in dem sie aufwuchs, vermag ihr darüber hinaus keine Antwort zu geben. Das wird u.a. in „I read my sentence – steadily –“ (S. 412) sehr deutlich.
I read my sentence – steadily –
Reviewed it with my eyes,
To see that I made no mistake
In it’s extremest clause –
The Date, and manner, of the shame –
And than the Pious Form
That „God have mercy“ on the Soul
The Jury voted Him –
I made my soul familiar – with her extremity –
That at the last, it should not be a novel Agony –
But she, and Death, acquainted –
Meet tranquilly, as friends –
Salute, and pass, without a Hint –
And there, the Matter ends –
Mehrere Bedeutungsschichten verbergen sich in diesem Bilde, das die Dichterin dem juristischen Bereich entnimmt, der ihr durch den Beruf ihres Vaters vertraut war. Durch das Lesen des Todesurteils macht sie sich mit dem vertraut, was sie in der Begegnung mit dem Tode erwartet. Das Urteil steht damit nicht für die Begegnung mit diesem selbst, sondern mit einem Erleben, das ihr gleichkommt. Allein der Schmerz ist diesem Erleben und der bevorstehenden Begegnung gemein.
Über den Schmerz weist nur die fromme Formel hinaus, daß Gott der Seele gnädig ist. Die Geschworenen verurteilen sie zum Tode, bereiten ihr den Schmerz; ihr Gnade zu gewähren, überlassen sie Gott. Ironisch kommentiert die Dichterin in diesem Bilde, daß der Tod oder ein ihm vergleichbares Erlebnis innerhalb des menschlichen Erfahrungsbereiches nur Schmerz bedeuten kann. Die Gnade bleibt dem Menschen diesseits des Todes unerreichbar. Von der Ironie wird damit aber die ganze puritanische Glaubensvorstellung erfaßt, wie sie sich in den Predigten äußert, die die Höllenqualen ausmalten und die Gnade mehr oder weniger der Willkür Gottes überließen. Wenn Erfolg im Leben einziger Hinweis auf die Erwählung des Gläubigen zu sein vermochte, so kann der Sprecherin des Gedichtes der reichlich zugemessene Schmerz in diesem Leben nur das Ausbleiben solcher Gnade bedeuten. Durch die Verbildlichung des dem Tode gleichkommenden Schmerzes im Todesurteil und dessen von der Sprecherin ironisierter Trostformel erfolgt die einer Identifizierung gleichkommende Verzahnung des außergewöhnlichen Erlebens mit der Begegnung des Todes. Schmerz und Tod interpretieren sich gewissermaßen gegenseitig. Doch jenseits des Schmerzes vermag das Erlebnis einer die alltägliche Erfahrung übersteigenden Welt nichts mehr auszusagen: „And, there, the Matter ends –.“ Die bittere Ironie gegenüber dem falschen Trost wird durch die provozierend umgangssprachliche Abschlußzeile scherzhaft resignierend aufgehoben. Weiterem Fragen wird, wie es noch in dem späten „We never know we go when we are going“ (S. 1523) verdeutlich wird, ein Riegel vorgeschoben.
We never know we go when we are going –
We jest and shut the Door –
Fate – following – behind us bolts it –
And we accost no more –
Für den Tod gilt das Gleiche wie für die Natur: Beider Geheimnis bleibt verschlossen. Denjenigen, die glauben, es ergründen zu können, gelten nur Mitleid und Spott der Dichterin. In diesem Sinne dürfte nach Charles R. Andersons Interpretation25 auch „Safe in their Alabaster Chambers –“ (S. 216) verstanden werden.
Safe in their Alabaster Chambers –
Untouched by Morning
And untouched by Noon –
Slepp the meek members of the Resurrection –
Rafter of satin – and Roof of Stone!
Light laughs the breeze
In her Castle above them –
Babbles the Bee in a stolid Ear,
Pipe the sweet Birds in ignorant cadence –
Ah, what sagacity perished here!
Grand go the Years – in the Crescent – above them –
Worlds scoop their Ares –
And Firmaments – row –
Diadems – drop – and Doges – surrender –
Soundless as dots – on a Disc of Snow –26
Die Aussage des Gedichtes erschließt sich nicht leicht. Die Tatsache, daß Emily Dickinson es wohl selbst nicht als vollendet betrachtete, und die Unbekümmertheit über die Grenze der Ironie, die die Zeilen durchwaltet, erlauben keine eindeutige Auslegung. Was jedoch deutlich wird, ist das Erstarren im Tode, das auch in „The Soul selects her own Society“ oder in „After great pain, a formal feeling comes“ zum Ausdruck kommt. Wie in diesen anderen beiden Gedichten klingt die Umschreibung des Todes ans in dem Schlüsselwort „stone“. Angesichts dieses Erstarrens ist das fromme Wissen („sagacity“!) um die Auferstehung Hohn, ebenso wie die Gnade, die in der Trostformel Gott überlassen wird. Mit dem Bilde des Schnees dürfte das gleiche Erstarren gemeint sein wie mit dem des Steins, das die Bedeutung weltlicher Größe genauso wie die des Wissens um die letzten Dinge hinfällig machte. An die Stelle des Auferstehungsglaubens tritt nicht notwendigerweise die Auffassung, daß die Seele im Tode in einem „vast, indifferent universe“ aufgehe.27 Im Erstarren des Todes schließt sich die uns als Sterblichen verliehene Möglichkeit der Erfahrung. Emily Dickinson entscheidet sich weder für eine Wiederauferstehung noch für eine Auflösung,28 sondern stellt den Antworten des Puritanismus und des Transzendentalismus auf die Frage nach der Unsterblichkeit ihr verzweifeltes Nichtwissenkönnen entgegen.
In für sie seltener Deutlichkeit umschreibt die Dichterin die Begrenztheit ihrer Möglichkeit der Einsicht in „Behind Me – dips Eternity –“ (S. 721), das um 1863 entstand:
Behind Me – dips Eternity –
Before Me – Immortality –
Myself – the Term between –
Death but the Drift of Eastern Gray,
Dissolving into Dawn away,
Before the West begin –
’Tis Kingdoms – afterward – they say –
In perfect – pauseless Monarchy –
Whose Prince – is Son of None –
Himself – His Dateless Dynasty –
Himself – Himself diversify –
In Duplicate divine –29
’Tis Miracle before Me – then –
’Tis Miracle behind – between –
A Crescent in the Sea –
With Midnight to the North of Her –
And Midnight to the South of Her –
And Maelstrom – in the Sky –
Wie sich bereits in „The Love a Life can show Below“ hinter Morgen- und Abenddämmerung ein mögliches Paradies andeutet, so hier die unmittelbar angesprochene Unsterblichkeit. Tod ist nur der Schleier, der sich dazwischen schiebt. Was sich hinter ihm verbirgt, bleibt ein geheimnisvolles Wunder.
Innerhalb der Zeitlichkeit bleibt die Unsterblichkeit wie die Sonne zwischen Untergang und Aufgang nur im Abglanz des Mondes bzw. dessen Widerschein im Meere erkennbar. Der Abglanz ist bereits ein alles an sich reißender Strudel, doch sein Grund ist, wie wir von Poe wissen, nur im Tode erreichbar.
Von dem Paradies der Unsterblichkeit jenseits der uns so gesteckten Grenzen wissen wir nur vom Hörensagen. Voller Spott betrachtet die Dichterin in „This World is not Conclusion“ (S. 501) das Bemühen der Philosophie und der Theologie, die Welt jenseits unserer Erfahrung zu ergründen. Das Nichtwissen bleibt aber ein Schmerz, den sie selbst immer wieder zu stillen versucht. Doch vermag sie zuweilen auch mit Ironie auf ihr eigenes Bemühen darum zu blicken, wenn sie den bleibenden Schmerz als Zahnweh umschreibt, das an der Seele knabbert:
Narcotics cannot still the Tooth
That nibbles at the soul –
Daß diese Welt jedoch nicht das Ende bedeutet, besagt mit aller Bestimmtheit die erste Zeile des Gedichtes. Sie bleibt dabei
Invisible, as Music –
But positive, as Sound –
Diese Musik versucht die Dichterin zu erfassen in der bildhaften Gestaltung des Erlebens, in dem sie für sie hörbar wird. Ihr Leben als Dichterin wird dabei – um ihr eigenes Bild zu gebrauchen – ein Sterben für die Schönheit, und sie wird damit zum Bruder dessen, der für die Wahrheit starb.30
Den für sie so schmerzhaften Weg beging die Dichterin in aller Zurückgezogenheit. Ihr Suchen wandte sich nicht an die Welt. Die Welt, in der sie lebte, das puritanische Erbe, in dem sie aufwuchs, und das transzendentalistische Denken ihrer Zeitgenossen vermochten ihr keinen gültigen Aufschluß über das zu geben, was sie suchte. So blieb sie die sonderliche Einsiedlerin Amhersts bis zu ihrem Tode, und ihre Gedichte blieben jenseits des engeren Bekanntenkreises der Welt unbekannt. Ihr Leben war Tod im Leben, indem sie auf das, was ihr Erfüllung hätte bedeuten können, verzichtete und verzichten mußte. Der Tod im Leben verwies sie auf den Tod, der ihr Leben beenden sollte. Das Verlangen, die Sehnsucht der im Leben verweigerten Erfüllung jedoch blieb. Die Möglichkeit, sie nach dem auch zunächst durch Leid geprägten Tod in der Unsterblichkeit zu finden, wurde zur einzigen Hoffnung. Es war für sie eine sehr ungewisse Hoffnung auf eine für sie kaum vorstellbare Erfüllung. Aus dieser heraus beobachtete sie ihre Welt, um eine Vorstellung von jener anderen Welt für sich zu gewinnen. Und die Erfüllung, die ihr im Leben verweigert worden war, wurde zum Leitbild für das, was sie nach dem Tode erwartete. Die so gewonnene Vorstellung nahm in ihren Gedichten Gestalt an.31 Im Aufleuchten der Unsterblichkeit in der Sprache und in den Bildern ihrer Gedichte wurde für sie das, wonach sie suchte, vorstellbare Wirklichkeit, aber eben auch nur eine ästhetische Wirklichkeit, dessen war sie sich völlig bewußt. Die ästhetische Realisierung geriet dabei an die Grenze der Künstlichkeit oder wurde regelrecht zum Trick, der aber ästhetisch wiederum seine Rechtfertigung durch die ironische Distanz erfährt, die eine durch das Spiel mit der Sprache und dem Bild gewonnene, sich über den Schmerz erhebende Heiterkeit ermöglicht.
Emily Dickinson weiß um die Vorstellungen von Unsterblichkeit der christlichen Lehre. Sie vermögen ihr jedoch keine Gewißheit zu geben. Ihr eigenes Erleben oder ihre eigene Erlebnisfähigkeit werden für sie zum Prüfstein solcher Lehre. Da aber ihr eigenes Erleben in so hohem Maße von Verzicht und Unsicherheit geprägt ist, vermag sie weder für sich eine letzte Sinngebung daraus zu gewinnen, geschweige denn wie Emerson und Whitman zu einer Erkenntnis zu gelangen, die sie mit einem anderen Menschen teilen oder anderen verkünden könnte. Wie Poe versucht sie, das ihrer Erfahrung Verschlossene imaginativ zu realisieren. Wie jenem erschließt sich ihr dabei das Unheimliche jener anderen Welt. Doch im Unterschied zu Poe dokumentiert sich für sie nicht in dem Übergang in die Welt der Imagination der Horror ihrer Unmöglichkeit, sondern eine spielerische Möglichkeit für das, was dem Dichter auf andere Weise unerreichbar bleibt. Wie von Emerson und Whitman unterscheidet sie sich auch von Poe darin, daß ihr Versuch, imaginativ ihrer Welt Herr zu werden, Versuch bleibt und keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit erhebt.
Ihre Kunst tritt dabei keineswegs in den Bereich der Unverbindlichkeit. Das sie speisende Erleben ist echt, aber begrenzt, da es durch Verzicht und Opfer bestimmt ist, und zwar durch eine Art sakralen Opfers, das die Möglichkeiten einer Erfüllung und Realisierung aufscheinen läßt. In diesem Sinne wird ihr künstlerisches Bemühen zu einem Glaubensakt bzw. gewinnt ihr religiöses Ringen künstlerische Gestalt. Damit wird aber auch in der Entwicklung der amerikanischen Lyrik ein Schritt vollzogen, der über ihre bedeutenden Vorgänger hinausgreift. Nachdem das Vertrauen auf die von Gott geschaffene Ordnung längst aufgegeben war, Emerson und Whitman sich bemühten, diese Ordnung von dem Ich als deren sie enthaltenden Teil aus neu zu stiften, erfolgt bei Emily Dickinson ein Rückzug auf ein Ich, das keine universalen Ansprüche mehr erhebt, aber Möglichkeiten in einem sonst nicht erfaßbaren Bereich menschlicher Sinnbestimmung aufleuchten läßt. Dieses mit den Mitteln der sprachlichen Gestaltung versucht zu haben, stellt sie an die Seite Poes und verweist auf die Versuche derjenigen Dichtung unseres Jahrhunderts, die sich als Religionsersatz oder Möglichkeit ästhetischer Realisierung religiösen Erlebens versteht. Dabei bleibt ihr Bemühen – gegenüber demjenigen Poes und vieler moderner Dichter – von der Versuchung frei, den Versuch bereits dem Gesuchten gleichzusetzen. Kunst wird für sie nicht Glaube, doch beide vermögen sich gegenseitig zu helfen, um der Liebe, die sie speist, ihren Tribut darzubringen.
Franz H. Link, aus Franz H. Link: Zwei amerikanische Dichterinnen: Emily Dickinson und Hilda Doolittle, Duncker & Humblot, 1979
EMILY UND ICH
In ihrem zugigen Dachzimmer
schreiben wir gemeinsam unsere Briefe an die Welt.
Ihre Lampe flackert, das Licht schwach.
Im Fensterrahmen breitet sich das letzte Sonnenlicht
über die Häuser von Amherst.
Sie ließ mich ein, als ich prahlte ich sei niemand,
und schickt mich jetzt nach unten,
um mehr Papier zu stibitzen –
Briefumschläge, betont sie – Briefumschläge.
Ich krieche die knarrende Treppe hinunter.
Versuche lautlos die schwingende Küchentür zu öffnen.
Alle sind fort außer ihrem pfeifenrauchenden Vater,
der keinen Cent für Papier ausgeben mag.
Er sieht nicht, wie meine Hand die Holzkiste hebt,
in die er den Abfall wirft.
Ich siebe alle Briefumschläge heraus.
Bringe sie nach oben zu Emily,
und unser fieberhaftes Entfalten beginnt.
Wie sie zusammenzuckt, wenn ich den kleinsten Riss mache.
Dieser Teil braucht Zeit – das sorgfältige Lösen,
das Glätten.
Sie reicht mir eine Feder, ein Tintenfass.
Wir machen uns an die Arbeit.
Was ich nie vergessen werde
ist ihr Schatten an der Wand – ihre Hand,
und die Feder groß, schnell,
und ihr Haar – nicht straff gebunden,
sondern offen, frei – fast möcht ich sagen,
wild.
Pamela Porter
Übersetzung: Helmbrecht Breinig und Susanne Opfermann
Ute Woltron: Der Garten der Frau in Weiß
Kurt Oppens: Emily Dickinson: Überlieferung und Prophetie, Merkur, Heft 143, Januar 1960
Kerstin Fritzsche: Die große Liebe lebte nebenan
Kai Grehn: Mögen sie Emily Dickinson?
Werner von Koppenfels: Ruhm ist unstete Speise auf schwankendem Geschirr
Emily Dickinson: The Poet In Her Bedroom.
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