Emily Dickinson: Der Engel in Grau

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Emily Dickinson: Der Engel in Grau

Dickinson-Der Engel in Grau

36.

Die besten Freunde nenn’ ich die,
mit denen ich nie sprach;
zur Stadt gekomm’ne Harmonie
der Sterne sah mir’s nach,

daß ihrem Gruß aus Himmelslicht
mein Mund kein Echo trug,
die stete Ehrfurcht im Gesicht
war Höflichkeit genug.

 

 

 

Begleitwort zu den ausgewählten Gedichten

Auch die Gedichte Emily Dickinsons sind verhüllt, sie fallen nicht in die Augen und schmeicheln den Ohren nicht. Man meint, etwas Dürftiges, Graues husche vorbei – kaum sieht man sich danach um. Doch dieses Dürftige, Graue kehrt zu einem zurück mit seltsamem Anschmiegen, es dringt durch die Poren. Eine Flamme entzündet sich, brennt und brennt, verbreitet ihre Wärme, erlischt nicht mehr.
Da hat man die einfachen Rhythmen vergessen, das unvollkommene Reimwerk, das man zuerst so teilnahmlos, fast ablehnend betrachtete. Die Fülle der Bilder, geradezu bedrängend, das Daheimsein der Dichterin in jeder Falte der Natur, in jedem Stadium der Jahreszeiten, in der traumlosen Alltäglichkeit wie in den Gebieten des überirdischen geht unseren eigenen Schritten nach und zirkelt den magischen Kreis um uns. Blüten und Blätter, wählerisch-sorgsam gepflückt oder von hastiger Hand abgestreift, Orchideen und Gänseblümchen, zum Bukett gebunden oder blindlings in den Korb geworfen, alles ist hineingebannt in die Zauberformel, die ein echter Dichter sprach.
Wenn ich nun die von den frühen Kritikern der Emily Dickinson so sehr beanstandeten unvollkommenen Reime zu vervollkommnen trachtete, geschah es nicht um zu verbessern. Im Deutschen verlangen diese schlichten Formen den Gleichklang der Endsilben, denn die einfachen Worte, denen die englische Sprache durch dunkle Vokale ihren sonoren Klang verleiht, müßten in der Übertragung farblos bleiben, dem Gedicht wäre etwas Ursprüngliches genommen: die Leuchtkraft unter dem grauen Schleier.

 

Nur die gründliche philologische Vorarbeit

meines Mannes, des Dr. F. Ernst Schmid, machte es mir möglich, die verschlungenen Pfade der großen amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson nachzugehen, ohne über die Wurzelstrünke zu stolpern. Ein Gedicht ist ein von Schöpferhand ausgestreuter, aus dem Herzen des Dichters aufgeblühter Same; eine Nachdichtung aber erfordert nicht nur Bereitschaft, sondern auch geduldige Grabarbeit. Oft zerflattert die Rose unterm genauen Betrachten, und der Schmetterling entschwebt, derweil man sich bückt, um die Farben seiner Flügel festzustellen. Dafür, daß mein Mann sich um die Zusammenhänge und Aufhellungen bemühte, sei ihm auch an dieser Stelle herzlich gedankt.

Maria Mathi, Vorwort

 

Emily Dickinson, die „Nonne von Amherst“,

lebte in der Verhüllung. Einer Schmetterlingspuppe gleich, alle Farbmöglichkeiten unter dem unansehnlichen Panzer, harrte sie vergraben in einem Landstädtchen Neu-Englands, und erst nach ihrer Entfaltung, nach ihrem Hinüberschwirren ins Überirdische teilte sie ihre Gaben aus – ein Abendfalter, der um unsere Träume huscht, und der die vierzehn Engel in sich vereinigt, die in der Kindheit Wache hielten an unserem Lager.
Emily wurde am 10. Dezember 1830, zwischen dem älteren Bruder Austin und der nachfolgenden Schwester Lavinia, als Tochter des angesehenen Rechtsanwalts und Universitätsschatzmeisters Edward Dickinson in dem Städtchen Amherst geboren, im Tal des Connecticutflusses, etwa 150 km westlich von Boston gelegen.
Der Vater, seiner Familie in strenger Liebe zugetan, ein Mann des kategorischen Imperativs, als Puritaner sehr religiös und abhold dem sogenannten Leben, kannte das Lachen nicht, wenn er auch einem ihm freundlich zuredenden Photographen bei einer Aufnahme mit todernstem Gesicht erklärte:

I yam smiling!

Die Mutter, eine kleine sanfte Frau, verschwindend neben der gebietenden Erscheinung Edward Dickinsons, verlangte nicht über den Alltag ihres Hauswesens hinaus; in ihrer umständlichen Sorge um das Wohl der Familie und der Gäste vertrieb sie manches Mal die Gemütlichkeit, machte sie öfters ein tieferes Gespräch unmöglich. „Meine Mutter gibt nicht viel auf Gedanken“, sagte Emily einmal von ihr.
Bruder und Schwester hingen mit großer Liebe an Emily; vielleicht hatte der Bruder eine leise Ahnung von ihrem wirklichen Wesen, aber sein Studium führte ihn in den Jahren des Reifens von ihrer Seite weg. Lavinia erspürte den Geist nicht, sie überschüttete die Schwester nur mit ihrer menschlichen, ihrer animalischen Liebe – Emily und ihre eigenen Katzen, das waren die Geschöpfe, für die Lavinia, Vinnie gerufen, durchs Feuer gegangen wäre.
In dem schönen Herrenhaus, der „homestead“, das der Großvater Dickinson, der Gründer des Amherst College, erbaut hatte, saß also das heranwachsende Mädchen, wahrhaft und symbolisch allein in seinem Zimmerchen und „fing die Münze auf, die ständig niederfällt“.
Als nun am 12. November 1890 ein schmales Bändchen Gedichte von Emily Dickinson bei Roberts Brothers in Boston erschien, wußte außer den Nächstbeteiligten niemand etwas von der Verfasserin; aus dem Vorwort des Schriftstellers Higginson erfuhr man, daß es sich um eine posthume Veröffentlichung handelte: Emily Dickinson war vier Jahre zuvor gestorben. Schon im Dezember 1890 folgte eine zweite Auflage; allerdings hatte die erste nur 480 Exemplare betragen, und auch die zweite sowie die weiteren gingen in der Regel nicht über 500 Stück hinaus. Bis Juni 1894 waren 12.000 Bändchen abgesetzt und von der Zweiten Folge der Gedichte von Emily Dickinson bis zum gleichen Zeitpunkt rund 7.000, ein für die Ersterscheinungen einer Unbekannten zweifellos bedeutender Erfolg.
Zu Emily Dickinsons recht eigenartigen Versen bemerkt Higginson in seinem Vorwort, sie sähen aus wie mit den Wurzeln ausgerissen, an denen noch Regen, Tau und Erde hängen, wodurch ihnen eine Frische und ein Duft verliehen würde, der ihnen sonst nicht zu eigen wäre. In der amerikanischen Öffentlichkeit horchte man auf und bewunderte die Mannigfaltigkeit der Einfälle, die Kühnheit der Sprache und den Reichtum der Bilder in den Gedichten, man spürte trotz gewisser formaler Mängel den Hauch des Genius und bedauerte, daß man Emilys Werk und sie selbst nicht schon zu ihren Lebzeiten hatte kennenlernen dürfen. Man bemühte sich nun, auch über ihre Person Näheres zu erfahren, doch das war, sowie man über ihre wenig erregenden äußeren Lebensumstände hinauskam, nicht eben viel. Selbst heute noch ist Emily Dickinsons Dasein mehr oder weniger in den Mantel des Geheimnisvollen gehüllt, und so manches, das wir über sie wissen möchten, wird wohl für immer verschleiert bleiben.
Die Kinder Dickinson hatten gewiß eine schöne Jugendzeit in der weiträumigen „homestead“ und dem sie umgebenden großen Garten; die Strenge des Vaters entsprach der damaligen Zeit und galt nicht als Tyrannei. Emily verehrte ihren Vater sehr in all den Jahrzehnten, in denen sie zusammenwohnten. Als er, der zwei Jahre hindurch dem Kongreß angehört hatte, 1874 in Boston während einer Rede vor der gesetzgebenden Körperschaft plötzlich starb, traf sie sein Tod als sehr harter Schlag.
Ihren Kindern eine gute Erziehung zuteil werden zu lassen, war für die Eltern Dickinson selbstverständlich. Für die Mädchen gab es damals allerdings nur die „Institute“; es wird schon eine Ausnahme gewesen sein, daß Emily ihr 17. Lebensjahr im Mt. Holyoke Seminar in South Hadley verbrachte. Der Direktor des Mädcheninstituts in Amherst bemerkte von der zwölfjährigen Emily, sie sei ein sehr gewecktes, doch ziemlich zartes und gebrechlich aussehendes Mädchen gewesen. Als Schülerin vorzüglich und von vorbildlichem Betragen sei sie durch ihre Scheu und Nervosität aufgefallen. Große Beachtung bei Lehrern und Mitschülerinnen hätten ihre Aufsätze gefunden, die in Gedanken und Stil ihren Jahren weit vorausgeeilt seien. Ferner besitzen wir einen interessanten Bericht aus der Feder einer ehemaligen Schulfreundin Emilys, in dem es u.a. heißt:

Emily liebte nicht nur die großen Erscheinungen der Natur, sondern zeigte auch Interesse an ihren kleineren Einzelheiten. Unseren Wald kannte sie aufs genaueste und konnte die Fundstellen und Eigentümlichkeiten jeder wildwachsenden oder Gartenpflanze nennen. Gern und viel redete sie über sie interessierende Dinge, jedoch nie über ihre Gefährtinnen, ihre Familie und ihre persönlichen Gewohnheiten. (Zu dieser Zurückhaltung paßt ihre Bemerkung gut, „daß die meisten Leute beim Reden ihre Kleider auszögen“). Später fanden sich Gleichgesinnte zu Diskussionen über Bücher zusammen, schwärmten für die Gedichte Lowells, Longfellows und Whittiers, zerbrachen sich den Kopf über die philosophischen Gedanken Emersons und lachten mit und über Holmes. Eine Gruppe von acht Mädchen gründete eine kleine Zeitung, Waldblätter betitelt, in deren ,Lustiger Spalte‘ Emily, einer der geistreichsten Köpfe des Instituts, stets durch äußerst witzige Beiträge vertreten war. Diese Zeitung war natürlich handgeschrieben, die einzelnen Artikel trugen keine Verfassernamen, doch Emilys Arbeiten erkannte man leicht an ihrer schönen Schrift. Sogar einen Shakespeare-Club hatten die Mädchen gegründet, eine für damals seltene Sache, mit dem Ziel, Shakespeares Dichtungen kennenzulernen, die sie schließlich ,ungereinigt‘ studierten: Emily behauptete, in Shakespeares Werk stehe nichts Anstößiges. Selbstverständlich fehlte es nicht angelegentlichen Tänzchen, die gewöhnlich mit Kuchen und Limonade endeten. Einen Höhepunkt der Ausgelassenheit bildete der Valentinstag (der 14. Februar), an dem die Mädchen oft eine literarische Gesellschaft mit den üblichen Scherzen veranstalteten. Überall beteiligte sich Emily mit ganzem Herzen. Während der Schulpausen war sie stets von einer Gruppe Mädchen umringt, die ihren seltsamen und lustigen, aus dem Stegreif erfundenen Geschichten lauschten.

Die beiden heranwachsenden Schwestern wurden im Elternhaus sorgsam gehütet, ja geradezu überwacht; es wäre nicht gern gesehen worden, wenn sie allzu zeitig Freier gefunden hätten. Als Kind verehrte Emily zwei junge Lehrer, von denen der eine früh starb; es war das ihr erster, sie äußerst schmerzlich berührender Verlust.
Was weiß man nun über Emilys Äußeres? Eine Schönheit war sie von klein auf gerade nicht, doch verliehen ihr sanftblickende, dunkelbraune Augen und ebensolches Haar sowie eine gesunde Hautfarbe einen gewissen, wenn auch bescheidenen Reiz. Von dem Kind und jungen Mädchen sind nur ein Scherenschnitt und zwei Photographien bekannt; aus späteren Jahren gibt es kein Bild, da Emily eine unüberwindliche Abneigung dagegen hatte, sich photographieren zu lassen – „diese Dinge verlieren nach ein paar Tagen ihre Seele“, schrieb sie einmal an Higginson. Wahrscheinlich war sie sich ihrer Unansehnlichkeit bewußt, deshalb legte sie auch großen Wert darauf, sich stets sorgfältig und nett zu kleiden und sich mit Blumen zu schmücken.
Blumen hatten es ihr überhaupt angetan. Als sie nach ihrem Institutsjahr wieder im Elternhaus weilte – denn um 1850 gab es so gut wie keine Frauenberufe außerhalb der Häuslichkeit –, arbeitete sie mit Vorliebe morgens und abends im Garten. Sie hatte eine glückliche Hand: was sie anrührte, gedieh. In innigster Verbundenheit lebte sie mit der Natur, mit ihrem Garten, den Vögeln, den Schmetterlingen, den Bienen, dem Wind, den Jahreszeiten. Die üblichen weiblichen Fertigkeiten wie Nähen, Stricken usw. waren ihr geläufig. An der Hausarbeit fand sie keinen großen Gefallen; natürlich half sie ihrer Mutter und später der Schwester und der Magd Maggie. Auch hatte sie gelernt, sich in der Küche zu betätigen, wurde aber nie eine perfekte Köchin, was aus einem originellen Brief an ihre Freundin Abiah Strong in Philadelphia vom 7. Oktober 1850 hervorgeht:

… Ich habe schon tüchtig gearbeitet, die „Nahrung, die verdirbt“, zubereitet und den furchtsamen Staub gewischt. Vater und Austin schreien noch laut nach Essen, und ich füttere sie wie eine Märtyrerin. Möchtest Du mich nicht in diesen Banden großer Verzweiflung sehen, wie ich mich in meiner Küche ringsherum umschaue und um gütige Erlösung bete und beim Bart des Propheten erkläre, noch nie in einer solch bösen Patsche gewesen zu sein? Meine Küche, glaube ich, habe ich gesagt – bewahre mich der liebe Gott davor, daß es die meine ist oder je werden sollte – der liebe Gott bewahre mich vor allem, was man Haushalt nennt, ausgenommen jenen leuchtenden des Glaubens!

Die Mitglieder der Familie Dickinson scheinen mehr oder weniger eine Anlage zur Originalität gehabt zu haben – der Vater besaß seine Eigenheiten, die ungewöhnlich tiefe Baßstimme des Bruders Austin erschreckte Unbekannte, bei der Schwester Vinnie, ausgezeichnet durch eine scharfe, ihre Mitmenschen nicht schonende Zunge, wuchs sich die Originalität im Alter zur Schrulligkeit aus. So kleidete sie sich im Gegensatz zu ihrer Schwester wenig sorgfältig, ja geschmacklos, machte ihre Besuche erst nach Eintritt der Dunkelheit, damit die Nachbarn nicht sähen mit wem sie verkehre, und empfing ihre Besucher in der Küche, umgeben von einem Dutzend Katzen, die sie wie in einer Prozession in Keller und Garten begleiteten. Auch Emily war nicht frei von Eigentümlichkeiten: in ihren dreißiger Jahren fing sie an, sich ausschließlich in Weiß zu kleiden. Schon verhältnismäßig früh zeigte sie eine Neigung, sich abzusondern und für sich zu leben, ein Bestreben, das mit der Zeit immer stärker wurde.
Bereits um die Jahrhundertmitte kam es vor, daß sie gesellschaftliche Veranstaltungen mied; so sah sie der Feier zur Eröffnung der Bahnverbindung Amherst-Palmer, bei der ihr Vater eine führende Rolle spielte, aus der Ferne zu und schlich sich dann nach Hause „aus Angst, daß jemand sie sehen und nach ihrem Befinden fragen würde“. Ihren Angehörigen war Emilys Abneigung gegen Reisen bekannt, doch begab sich die Tochter dem Vater zuliebe mit der übrigen Familie im Frühjahr 1854 nach Washington; es war das ihre letzte größere Reise. Schon ein Jahr zuvor lehnte sie eine Einladung ihrer Freundin Abiah Strong zwar recht humorvoll, doch entschieden ab (siehe Briefe S. 48ff.).
Edward Dickinsons Tätigkeit an der Universität brachte es mit sich, daß er zu jedem Semesterbeginn für Studierende und gute Bekannte einen Empfang in der „homestead“ gab. Bei dieser Gelegenheit trat Emily aus ihrer gewohnten Zurückhaltung heraus und übernahm ihren Anteil an den Pflichten der Gastgeber, doch pflegte sie später diesen Veranstaltungen fernzubleiben. Wer von den Gästen sie dann sehen wollte, mußte sie in der Bibliothek aufsuchen, in die sie sich zurückgezogen hatte. Etwa seit dem 30. Lebensjahr fiel es ihr immer schwerer, an der üblichen Geselligkeit teilzunehmen, und diese Scheu nahm so zu, daß nach 1863 selbst gute Bekannte und Freunde der Familie bei ihren Besuchen Emily nicht zu Gesicht bekamen. Schließlich wurde Emily für die Welt ganz unsichtbar; es war, als ob sie in einem Kloster lebte. Seit 1870 verließ sie das väterliche Grundstück überhaupt nicht mehr: Rasen und Garten befriedigten ihr Verlangen nach Bewegung. Einer Freundin der Familie, Mrs. Todd, gelang es, in Emilys Zurückgezogenheit dank ihrer musikalischen Begabung einzudringen; doch beschränkten sich diese Begegnungen, die 1882 bis 1886 stattfanden, in der Hauptsache auf Gespräche von dem hell erleuchteten Empfangszimmer her, in dem Mrs. Todd saß, zur anstoßenden düsteren Diele, wo sich Emily bei diesen Gelegenheiten mit Vorliebe aufhielt. Mrs. Todd sang ihr eine Zeitlang vor und spielte dann Beethoven, Bach oder Scarlatti; Emily, die als Kind Klavier spielen gelernt hatte, schätzte diese Stunden außerordentlich.
Was mag Emily Dickinson zu dieser sonderbaren Lebensweise veranlaßt haben? Darüber wissen wir nichts Genaues. Ihrem Bruder Austin erschien diese Abkehr vom äußeren Leben keineswegs unnatürlich, er hielt Empfindlichkeit über ihr Aussehen für den Grund ihrer Zurückgezogenheit. Die Fernerstehenden ergingen sich in allerlei Vermutungen, und der Stadtklatsch schrieb dieses Klausnerinnenleben einer unglücklichen Liebe zu. Tatsächlich empfand Emily einmal eine große Leidenschaft für Charles Wadsworth, einen Studenten in Amherst, aber niemand erfuhr etwas von dieser Liebe, selbst Charles Wadsworth nicht. So kann man Emilys Liebesgedichte wohl nicht als reine Phantasiegebilde ansehen, das ihnen zugrunde liegende Gefühl ist erlebt und echt.
Vielleicht läßt sich das merkwürdige Verhalten folgendermaßen erklären: Emily lebte einfach sich selbst. Sagte sie doch zu T.W. Higginson bei dessen Besuch in Amherst:

Ich bin überaus entzückt über das Leben an sich, das bloße Gefühl zu leben, ist mir Freude genug.

Allerdings wußte Emilys Umgebung so gut wie nichts von ihrem überaus reichen Innenleben, in dem sich alle möglichen äußeren Vorgänge und Eindrücke zu lyrischen Gedanken verdichteten. Es war der Genius, der göttliche Funke in ihr, der sie so lebensfähig und lebensfreudig machte, wie sie das in einem Brief an Higginson andeutet:

Leben ist so überraschend und erschreckend, es läßt für eine andere Beschäftigung nur wenig Raum. (1871)

Für Emily bedeutete Leben vertrautester Umgang mit allen Wesen und Erscheinungen der Natur, den sie dichterisch gestaltete. Wie sonst könnte man sich die Fülle ihres Schaffens erklären das selbst ihren besten Freunden und nächsten Angehörigen verborgen blieb?
Außer der Natur gehörten zu Emilys Welt Bücher sowie ihre Freundschaften. Aus ihren Gedichten und Briefen geht eine große Belesenheit hervor, mit der zeitgenössischen amerikanischen und englischen Literatur war sie vertraut: Namen wie Hawthorne, Emerson, George Eliot, Jane und Emily Austen, Robert und Mrs. Browning und Tennyson tauchen immer wieder in ihren Briefen auf. Wie hoch sie Bücher schätzte, spricht sie im Herbst 1873 in einem Brief an ihre beiden Kusinen Norcross aus:

… Ich denke an Euer kleines Wohnzimmer, wie ehemals die Dichter an den Windermere-See dachten – Friede, Sonnenschein und Bücher.

Dann folgt ein Gedicht, das man sich gut als Auftakt zu unseren heutigen Buchwochen denken könnte:

Wo gibt’s ein Schiff, das wie ein Buch
in alle Welt uns trägt?
Wo ist der Renner, der die Wucht
bewegter Verse schlägt?
So kommt der Ärmste weit hinaus,
von keinem Zoll beschwert –
bescheiden sieht der Wagen aus,
in dem die Seele fährt.

Daneben führten erlesene Freundschaften zu einem umfangreichen Briefwechsel, über den Näheres in dem Begleitwort zu den ausgewählten Briefen gesagt ist.
Bei einem so innerlichen Menschen wie Emily Dickinson spielt die Frage nach den letzten Dingen eine große Rolle. Aus ihrem Werk läßt sich ihr Verhältnis zu Religion, Unsterblichkeit und Gott unschwer erkennen. In ihrer puritanischen Familie war Emily streng kirchlich erzogen worden; immer wieder liest man in ihren Briefen, daß Sabbath (Sonntag) und Besuch des Gottesdienstes zusammengehörige Begriffe waren, allerdings nur bis gegen 1860. Später scheint Emily, ähnlich wie sie gesellschaftliche Veranstaltungen mied sich mehr und mehr vom üblichen kirchlichen Leben ferngehalten zu haben. So schreibt sie am 26. April 1862 sehr offen an Higginson:

Außer mir ist meine Familie sehr religiös und betet jeden Morgen zu einem unsichtbaren Wesen, das sie ,ihren Vater‘ nennt.

Für überkommene Bräuche und Formen hatte Emily Dickinson nicht viel Verständnis. Für sie war Gott nicht eine ferne und zu fürchtende Macht, die man täglich anbeten mußte, sondern er war ihr nah und vertraut, war in ihr und um sie herum, sie fühlte ihn in allen Erscheinungen der Natur, von denen ihre Kirche nichts sagte. Sich von der Sonne abkehren und in eine kühle, düstere Kirche gehen bedeutete für sie, sich von Gott abschließen. So lebte sie in einem warmen pantheistischen Glauben und in der Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele; sie war kein kirchlicher, aber ein religiöser Mensch.
Schon mehrfach wurde Emilys Humor erwähnt; davon merkt man in ihrem lyrischen Werk naturgemäß nur selten etwas. Doch sind ein paar witzige „Valentines“ erhalten, von denen ein siebzehnstrophiges an William Howland sogar den Weg in den „Springfield Republican“ fand. Um Emilys Sinn für Humor kennenzulernen, müssen wir schon ihre Briefe zur Hand nehmen; einige wenige Zitate seien gestattet:

Eben haben wir großen Hausputz. Ich ziehe die Pest vor. Die ist klassischer und weniger grausam.

Vater und Mutter sitzen im Feiertagsstaat im Wohnzimmer und lesen nur solche Zeitungen, die nach ihrer festen Überzeugung nichts Fleischliches enthalten.

Die neue Eisenbahn floriert. Zum Semesterbeginn erwarte ich die Ankunft all unserer Großväter mit all ihren ländlichen Vettern und Basen und bezweifle nicht, daß in jener Woche die Bahnaktien um mehrere Prozent steigen.

Seit Samstag hat Mutter einen neuen Zahn, den ihr Dr. S. so lange schon versprochen hatte. Das ,Zahnen’ ist ihr aber nicht gut bekommen; am Sonntag blieb sie im Bett mit einem Gesicht, das auf jedem Viehmarkt des Landes prämiiert würde.

Abschließend ein Brief an die erkrankte Maggie Maher, die seit Jahrzehnten bei der Familie Dickinson tätige Hausgehilfin:

Herbst 1880.
Um das fehlende Gretchen trauern wir sehr, und ich bin dabei, mir schwarzen Stoff im nächsten Geschäft zu besorgen.
Alle sind sehr unartig, und ich bin am unartigsten von allen.
Die Kätzchen bekommen jetzt Sherry und Kolibrikoteletts als Mittagessen.
Das kränkliche Huhn aß mit mir zu Mittag, aber ein Huhn, das wie Dr. T.’s Pferd aussieht, trieb es bald weg. Ich lese fleißig Blumenstiele und Staubfäden auf, da die Malven ihre Kleider ringsum liegen lassen.
Was soll ich meinem müden Gretchen schicken? Kissen oder frische Bäche?
Ihre bekümmerte Herrin.

Soviel über die äußeren Lebensumstände und die Persönlichkeit Emily Dickinsons. Als sie nach kurzer Krankheit am 15. Mai 1886 die Augen für immer schloß, wußte niemand, daß mit ihr eine bedeutende Dichterin, genauer, eine große Lyrikerin ihre Sendung beendet hatte. Wohl war ihrem Kreis bekannt, daß sie ihren Briefen hin und wieder ein Gedicht beifügte, z.B. an die Hollands schon seit 1853, doch sie selbst verlegt den Anfang ihrer Lyrik in den Winter 1862, wenn sie an Higginson schreibt:

Außer einem oder zweien habe ich bis zu diesem Winter noch keine Gedichte gemacht.

Zu ihren Lebzeiten wurden nicht mehr als fünf Gedichte – und die anonym! – gedruckt. Es war ihr ganz persönliches Geheimnis, daß sie dauernd Verse schrieb, ein seltsames Verhalten, denn jede Knospe will ins Licht.
Merkwürdig berührt auch, daß sie keine letztwillige Anordnung traf, was mit ihrer lyrischen Hinterlassenschaft geschehen sollte. Hielt sie ihr Werk für zu unvollkommen? Oder war sie davon überzeugt, daß es nach ihrem Tod seinen Weg schon machen werde? Wir wissen es nicht. Vielleicht ist ihr erster Brief an Higginson dahin zu deuten, daß sie sich eine Bestätigung ihres dichterischen Talentes, einen Auftrieb holen wollte, der sie zu weiterem Schaffen anspornen sollte. Higginson hat die in Emily Dickinson schlummernde Begabung alsbald, wenn auch nicht in ihrem vollen Umfang erkannt; nach anfänglichen Versuchen ließ er davon ab, die offenbaren formalen Mängel ihrer Gedichte zu verbessern. Ihn verband schließlich nicht nur eine literarische Beziehung, sondern bis zu ihrem Tode ein schönes menschliches Verhältnis mit Emily, die er in ihrer Abgeschiedenheit auch aufsuchte.
Man kann sich die Überraschung Lavinia Dickinsons vorstellen, als sie in Emilys Hinterlassenschaft einen Kasten aus Kampferholz entdeckte, der weit über eintausend Manuskripte von Gedichten enthielt. Viele waren sauber auf Briefpapier geschrieben und in kleinen Bündeln zusammengeschnürt; offenbar wurden sie von Emily als fertig betrachtet. Eine weitere Anzahl, ebenfalls mit Tinte ins Reine geschrieben, steckte in numerierten Briefumschlägen. In der Hauptsache war die kleine Truhe aber mit Papierfetzen jeder Art vollgestopft, alle über und über mit Bleistift bekritzelt und beinahe unleserlich. Solche Entwürfe und oft auch nur wohl inmitten anderer Beschäftigung flüchtig hingeworfene Gedanken fanden sich auf alten Briefumschlägen, Rechnungen, Reklamezetteln, abgerissenen Zeitungsrändern und waren zuweilen kreuz und quer durcheinander geschrieben. Aber auch bei den fertigen Gedichten fehlte vielfach die Interpunktion; die Rechtschreibung wies mitunter große Selbstherrlichkeit auf, und oft war die Wahl bestimmter Wörter, ja selbst die Teilung in Verszeilen und Strophen einer späteren Zeit vorbehalten. Natürlich wußte Lavinia, als hausbackenes Wesen bar einer jeden dichterischen Inspiration, mit diesem Fund nichts anzufangen, nur das eine stand für sie fest, daß diese von Emily stammenden Sachen unbedingt gedruckt werden müßten. So wandte sie sich zunächst an ihre Schwägerin Susan, Austins Frau, mit der Bitte, ihr bei der Veröffentlichung behilflich zu sein. Doch Sue hielt Vinnie fast zwei Jahre lang hin und erklärte endlich, die Hinterlassenschaft Emilys eigne sich nicht zur Veröffentlichung. Nunmehr trat Vinnie mit der gleichen Bitte an Mrs. Mabel Loomis Todd als Freundin der Familie und Emilys heran. Mrs. Todd war die Gattin eines bekannten Astronomen an der Universität Amherst und als Schriftstellerin hervorgetreten. Nach einer flüchtigen Durchsicht der Manuskripte übernahm sie schließlich die schwierige Arbeit der Sichtung und Vorbereitung der Gedichte zum Druck. Daß sie, die ja außer ihrer eigenen literarischen Tätigkeit auch ihrem Gatten bei der Abfassung seiner Bücher oft behilflich war, rund drei Jahre geduldiger und zäher Arbeit auf das Abschreiben, Sichten und Ausmerzen offenbarer Irrtümer verwandte, erscheint nicht weiter verwunderlich. Denn Emilys Handschrift, in früheren Jahren vorbildlich schön und deutlich, veränderte sich im Laufe der Zeit ständig, so daß Mrs. Todd an Hand der jeweiligen Schrift die Entstehungszeiten der vielen Manuskripte ziemlich zuverlässig zu datieren in der Lage war.
Natürlich konnte keine Rede davon sein, möglichst viele von Emilys Gedichten in einem starken Band als Ersterscheinung zusammenzufassen. Immerhin wählte Mrs. Todd gegen zweihundert Gedichte aus, die ihr für eine erste Ausgabe geeignet erschienen. Um einen Verleger zu finden, nahm sie Verbindung mit T.W. Higginson auf, von dessen Freundschaft mit Emily sie wußte. Higginson war über die Fülle und den Gehalt der Gedichte überrascht; er stellte die vorgeschlagenen in Gruppen nach ihrem dichterischen Wert zusammen. Als Lektor für einige Verlage tätig versuchte er nun, das Manuskript unterzubringen. Doch der erste Verleger, den er darum anging, entschied sich sehr eindeutig dagegen:

Die Gedichte sind viel zu sonderbar, die Reime alle verkehrt.

Er hielt Higginson für verrückt, ihm solches Zeug zu empfehlen! Nach längerem Suchen zeigten sich Roberts Brothers in Boston nicht abgeneigt, einen Versuch mit einer kleineren Anzahl von Gedichten zu wagen. Interessant ist das Gutachten, das der zeitgenössische Dichter Arlo Bates als Lektor dem Verlag erstattete:

Kaum eins dieser Gedichte trägt nicht den Stempel eines ungewöhnlichen und bemerkenswerten Talentes, kaum eins ist darunter, das nicht durch eine außerordentliche künstlerische Unreife gekennzeichnet wäre. Die Autorin kam sehr nahe ans Geniale heran. Sie hat ihre Kunst jedoch niemals erlernt, und fortwährend muß man sich gleichzeitig über sie wundern und sie bemitleiden. Hätte sie schon einmal etwas veröffentlicht, oder wäre sie durch Ehrgeiz oder vielleicht durch die Notwendigkeit gezwungen gewesen, die technische Seite ihrer Kunst zu erlernen, dann hätte sie wohl an der Spitze der amerikanischen Sänger gestanden. Einige wenige Gedichte sind so einzig, und viele werden dem Begriff des Poetischen ungeheuer anregend und förderlich sein, daß es schade wäre, sie nicht wenigstens in einer kleinen Ausgabe herauszubringen. Ich glaube nicht, daß das Bändchen besonderes Aufsehen erregt, vielmehr daß es halbwegs einen Achtungserfolg hat.

Auf dieses Urteil hin entschloß sich der Leiter des Verlags, Mr. Nyles, zur Herausgabe eines Bändchens, das wenig mehr als einhundert Gedichte umfaßte; allerdings mußte sich Lavinia Dickinson zur Übernahme der Druckkosten verpflichten. Als Herausgeber zeichneten Mrs. Mabel Loomis Todd und T.W. Higginson. Beide waren von dem literarischen Wert der Gedichte fest überzeugt; für sie wogen die Gedankenfülle, die für die damalige Zeit unerhört kühne Sprache und die Melodie des Ausdrucks die formalen Mängel auf. Von vielen Kritikern wurden der unzulängliche oder häufig fehlende Reim sowie sonstige Verstöße gegen die Verslehre gerügt. Doch bald setzte sich die Auffassung durch, daß es sich bei dieser Neuerscheinung um die Offenbarung eines Genies handele; bereits nach vier Wochen war eine Neuauflage nötig, der viele weitere rasch folgten. Dadurch wurden Verlag und Herausgeber zu einer neuen Veröffentlichung veranlaßt: im November 1891 kamen Gedichte von Emily Dickinson, zweite Folge heraus, die den gleichen Beifall wie die ersterschienenen fanden.
Mehr als kühl war dagegen die Aufnahme in England, wo man im Victorianischen Zeitalter Verse ohne Reimbildung überhaupt nicht als Lyrik anerkannte. Der Kritiker der Londoner Daily News äußerte sich ungemein abfällig: er redete von einem wirren Durcheinander von ungebildeten und unerzogenem Gefühl, von Geschreibsel und fuhr fort:

Worte vermögen nicht auszudrücken, wie schlecht Gedichte sein können, wenn sie bar sind des Sinnes, der Musik, der Grammatik, des Reimes, kurz, der klaren und verständlichen Sprache… Die in den Vereinigten Staaten so angeschwärmten Verse bestehen offensichtlich aus den denkbar schlechtesten Worten, die Gedanken, soweit man Gedanken überhaupt entdecken kann, sind gewöhnlich Gemeinplätze oder widersprechen der Vernunft.

Diese Beurteilung, die in der gleichen Tonart weitergeht, schoß freilich über das Ziel hinaus; die Analyse einiger Verse durch den Kritiker beweist, daß er dem Neuen völlig verständnislos gegenüberstand. Auch zu dem zweiten Bändchen bemerkte derselbe Kritiker unter dem ironischen Stichwort „Eine amerikanische Sappho“ ähnlich:

.. Die Gedichte verachten Reim, Grammatik, Rhythmus und Sinn, zudem entbehren sie des lyrischen Gehalts .. Mr. Higginson hat zwar sofort begriffen, daß der Dame ein ganz neuer und origineller poetischer Genius eignet, und das amerikanische Publikum scheint derselben Meinung zu sein, doch ich möchte sehr hoffen, daß ihre Bewunderer nicht ihre Nachahmer werden.

Solche Fehlurteile sind für uns heute nur noch literarhistorisch interessant. Längst hat sich Emily Dickinson auch in England durchgesetzt und die ihr gebührende Anerkennung gefunden. Davon zeugt u.a., daß in dem bei Eyre and Spottiswoode/London 1952 herausgekommenen Sammelwerk Poets of the English Language Emily Dickinson in Band 5 (Tennyson to Yeats) mit nicht weniger als 33 Gedichten vertreten ist. Gewiß hätte es sich die heimlich Schaffende niemals träumen lassen, daß sie zusammen mit den von ihr so hochgeschätzten Dichtern Lowe, Holmes, Longfellow, Tennyson, Browning und Emily Brontë späteren Generationen als anerkannte und bedeutende Lyrikerin dargeboten würde. Allerdings kann man mit Arlo Bates nur bedauern, daß Emily nicht in die Lage versetzt wurde, sich in der Technik ihrer Kunst zu vervollkommnen; trotzdem hat sie als Lyrikerin in den Vereinigten Staaten zu ihrer Zeit nicht ihresgleichen. Verhielt sie sich auch allen überkommenen Regeln der Verslehre gegenüber merkwürdig gleichgültig, so besaß sie doch einen strengen eigenen literarischen Maßstab. Selbst in ihren fertigen Gedichtmanuskripten finden sich viele Änderungen, jedoch keine zur Verbesserung des Rhythmus oder Reims. Bei den Vorbereitungen für den Druck standen die Herausgeber oft vor der schwierigen Aufgabe, unter mehreren Varianten das eine gültige Wort auszuwählen. Ein Beispiel für viele: in dem Gedicht „Gedanken eines Knaben über die Bibel“ lautet die letzte Strophe im Manuskript:

Das Lied entbehrt vollendeten Erzähler,
sonst kämen alle Knaben –
des Orpheus’ Predigt fesselte,
verdammte aber nicht.

Für das Wort „vollendeten“ sind als Varianten angegeben: Schauer erregend, typisch, herzhaft, heiter, atemlos, weitschweifig, figürlich, schmetternd, feurig, freundlich, magisch, kurz und bündig, gewinnend – also nicht weniger als dreizehn! Das Suchen nach dem sinnvollen Wort, das so gern in seinem Versteck bleibt und allem Rufen nicht antwortet, sich dann aber unversehens einstellt, ist in folgendem Gedicht veranschaulicht:

Der Dichter sprach zum nahen Wort:
„Ich weiß nicht – nehm’ ich dich?
Wart’ bei den Kandidaten dort,
derweil besinn ich mich!“

So prüfte der Poet bedacht,
dann griff zur Schelle er,
daß ihm der Wartende gebracht –
da kam ein Fremdling her

und war das Wort, im rechten Licht
zu zeigen die Vision;
der Cherub wirft die Schleier nicht
hinweg um Ruf und Lohn.

Den Begriff des Dichterischen empfand Emily Dickinson rein gefühlsmäßig; so sagte sie zu Higginson während seines Besuchs in Amherst:

Wenn ich ein Buch lese, und es macht meinen ganzen Körper so kalt, daß kein Feuer mich erwärmen kann, dann weiß ich, das ist Poesie. Wenn ich mich körperlich so fühle, als wenn mir der Schädel abgerissen würde, dann weiß ich, das ist Poesie, Das sind die einzigen Mittel, an denen ich wirkliche Poesie erkenne. Gibt’s etwa noch ein anderes?

Wie es dem Wesen der Lyrik entspricht, nehmen in Emily Dickinsons Gedichten, die vielfach nur drei Strophen zählen, die Natur in ihren mannigfaltigen Erscheinungen sowie Gefühle und Stimmungen einen breiten Raum ein. Charakteristisch für die amerikanische Lyrikerin ist ferner, daß neben Gott das Geheimnis des Sterbens und des Todes sie beschäftigte, solange sie Verse schrieb. Außerdem sucht sie das Wesen der Schönheit, Wahrheit und Poesie zu ergründen, oder sie betrachtet das Leben von einem höheren, philosophischen Standpunkt aus – man sieht, welch ungewöhnliche Vielseitigkeit und Tiefe dieser heimlichen Dichterin zu eigen waren.
Eine Betrachtung über Emily Dickinson wäre unvollständig, wenn man nicht auf die eigenartige Geschichte der Veröffentlichung ihres Werkes einginge. Auf die bereits erwähnten beiden Gedichtbändchen und die Briefe folgte im September 1896 eine dritte Sammlung ausgewählter Gedichte, von Mrs. Mabel Loomis Todd alle in besorgt; noch im gleichen Jahr wurde davon das zweite Tausend aufgelegt. Aber auch hiermit war bloß ein Bruchteil der vorliegenden Manuskripte erschienen; trotz Ankündigung kamen weitere Bändchen jedoch nicht heraus. Erst im Jahr 1945 wurden der Öffentlichkeit gegen siebenhundert neue Gedichte Emilys in dem Band Bolts of Melody bekannt, herausgegeben von Mabel Loomis Todd und Millicent Todd Bingham. Wie ist das lange Stillschweigen zu erklären? Was war geschehen? Darüber wissen wir seit 1945 Näheres.
Um sich Mrs. Todd für ihre jahrelange uneigennützige Arbeit erkenntlich zu zeigen, wollte ihr Emilys Bruder Austin eine an das Dickinsonsche Grundstück anstoßende Wiese übereignen. Mit dieser Absicht war seine Schwester Lavinia zunächst nicht einverstanden, doch nach Austins plötzlichem Tod am 16. August 1896 unterzeichnete sie die Schenkungsurkunde. Ein paar Monate später strengte sie aber einen Prozeß gegen Mrs. Todd auf Herausgabe der Wiese mit der Begründung an, sie habe bei der Unterzeichnung des Dokuments nicht gewußt, daß es sich um die rechtsgültige Abtretung von Grund und Boden handelte. Tatsächlich gewann Lavinia den Prozeß in beiden Instanzen, starb aber bald darauf. Als Folge der Entzweiung stellte Mrs. Todd ihre Arbeit an Emilys Manuskripten ein. Erst dreißig Jahre später ließ sie sich auf Zureden ihrer Tochter dazu bewegen, die Vorarbeiten für neue Veröffentlichungen wiederaufzunehmen, die jedoch durch ihren plötzlichen Tod im Jahr 1930 unterbrochen wurden. So fiel die schwierige Aufgabe der weiteren Sichtung und Vorbereitung von Emilys literarischem Nachlaß für den Druck an Mrs. Todds Tochter, die Schriftstellerin Millicent Todd Bingham, die in ihrem Buch Ancestors’ Brocades, the Literary Début of Emily Dickinson u.a. ausführlich über die peinliche Entzweiung mit Lavinia berichtet. In jahrelanger Arbeit entzifferte Mrs. Todd Bingham die unzähligen Notizen und Verse auf den Papierfetzen in der Kampferholztruhe und fand darunter manch köstliches Gut. Gegen siebenhundert Gedichte faßte sie dann in dem Band Bolts of Melody zusammen, der in der amerikanischen literarischen Welt kein geringes Aufsehen erregte. Es ist durchaus möglich, daß auch damit Emily Dickinsons Werk noch nicht ausgeschöpft ist, und gern wollte man sich von weiteren Entdeckungen überraschen lassen.
Außerdem veröffentlichte in der Zeit von 1914 bis 1932 Emilys Nichte Martha Dickinson Bianchi die Tochter Austin und Susan Dickinsons die ebenfalls literarische Ambitionen hatte, drei Bändchen Gedichte sowie eine Biographie und Briefe Emily Dickinsons, alles aus dem Besitz ihrer Mutter stammend. Zumeist handelt es sich jedoch um Gedichte und Briefe, die aus den Arbeiten der Mrs. Todd und Mrs, Bingham bereits bekannt sind. Heute ist kein Mitglied der Familie Dickinson mehr am Leben; alle Erscheinungen früherer Jahre sind vergriffen und nur noch in den großen öffentlichen Bibliotheken zugänglich, so daß man die Neuauflage der Briefe und Werke wie Ancestors’ Brocades, besonders aber die Bolts of Melody dankbar begrüßt. Endlich darf man auf die von der Harvard University in Vorbereitung befindliche Gesamtausgabe von Emilys lyrischem Werk gespannt sein, die gewiß allerlei Neues bringen und manche Unrichtigkeit in den bisherigen Texten beseitigen wird.

Maria Mathi, Vorwort

 

Emily Dickinson

Emily Dickinson ist in der angelsächsischen Welt seit zwei Generationen berühmt, und ihr Ruhm wird weiter steigen, wenn demnächst die von der Havard University vorbereitete Gesamtausgabe ihrer Lyrik erscheint. Ihre Geschichte ist nicht eben amerikanisch, eher könnte man meinen, sie sei im bürgerlichen Europa des vorigen Jahrhunderts passiert. Emily wurde 1830 als Tochter eines angesehenen Juristen in Amherst geboren, einem Städtchen in Massachusetts, nicht weit von Boston. Das väterliche Herrenhaus hat sie in gewissem Sinne nie verlassen, nur als junges Mädchen nahm der Vater sie gelegentlich auf Reisen mit. Mit ihren Geschwistern verlebte sie in dem puritanisch frommen Haus eine ideale Jugend und genoß eine vorzügliche Erziehung. Emily und ihre Mitschülerinnen gründeten einen Klub zur Lektüre großer Dichtung, wo man diskutierte und bei Kuchen und Limonade allerhand Scherze trieb.
Emily war sehr fröhlich. Sie war klein, fast häßlich, unscheinbar, ein Kobold. Sie lebte mit Tieren und Blumen, gärtnerte und ging spazieren. Der Haushalt interessierte sie wenig. Mit dreiundzwanzig Jahren lernte sie im Elternhaus einen Studenten der Theologie kennen und verliebte sich in ihn: Er hat es nie erfahren! Bald starb der Vater und nun führte Emily mit der alternden Mutter, der besorgten Schwester, einer Magd und zwölf Katzen ein Leben für sich selbst. Sie wurde immer scheuer, ging schließlich gar nicht mehr aus, versteckte sich, wenn Besuch kam, und starb nach kurzer Krankheit; im Jahre 1886. Sie hatte einen Briefwechsel mit vielen Leuten geführt; unter ihnen war ein Mr. Higginson, dem sie mit der Bitte um strenge Kritik anvertraute, daß sie Gedichte mache. Higginson kritisierte die von ihm als genial erkannten Gedichte dahin, daß die Dichterin mehr Obacht auf Orthographie, Vers und Reim geben möge. Da seine Mahnung aber nicht befolgt wunde, ließ er Emily gewähren.
Emilys Schwester Lavinia war sehr überrascht, als sie im Zimmer der Toten einen großen Kasten mit Zetteln fand, die mit Versen beschrieben waren. Sie verstand nichts von Literatur und zeigte die Blätter zuerst ihrer Schwägerin, dann einer Mrs. Todd, die Schriftstellerin war. Mrs. Todd arbeitete drei Jahre lang an den mehr als tausend Gedichten, die kreuz und quer auf Briefumschlägen, Zeitungsränder, Rechnungen und Reklamezettel geschrieben waren. Da sie Emilys Handschrift kannte, konnte sie die Gedichte leidlich nach der Entstehungszeit ordnen. Sie nahm auch Verbindung mit Higginson auf, der jetzt erst erkannte, wie groß das Œuvre seiner Korrespondentin war. Man beschloß eine Ausgabe, die nach allerhand Schwierigkeiten 1890 in Boston mit etwa hundert Gedichten erschien.
Nach vier Wochen war die Auflage von 450 Exemplaren ausverkauft, viele weitere folgten, in kurzer Zeit 12.000 Exemplare: Amerika hatte seine Dichterin entdeckt. 1891 kam eine neue Folge Gedichte heraus und fand den gleichen Beifall, 1896 eine dritte Folge. Weitere Bände kamen jedoch trotz Ankündigung nicht ans Licht, denn Emilys Bruder hatte Mrs. Todd für ihre Arbeit, eine Wiese geschenkt. Er starb und nun focht Lavinia die Schenkung an. Es kam zum bittersten Streit. Erst dreißig Jahre später nahm Mrs. Todd die Arbeit wieder auf, doch starb sie selbst 1930. Ihre Tochter gab dann 1945 etwa siebenhundert neue Gedichte Emilys heraus. Inzwischen hatte eine Nichte Familienbriefe und manche Gedichte ediert, so daß sich das Dunkel lichtete. Aber immer noch ist ein Teil der Fragmente und Notizen einzig jenen Zeiten in dem großen Kasten anvertraut.
In Deutschland war Emily Dickinson bisher aus einigen Anthologien bekannt. Jetzt ist im Keßler Verlag, Mannheim, ein Bändchen Der Engel in Grau erschienen, Briefe und Gedichte Emily Dickinsons, eingeleitet, ausgewählt und übertragen von Maria Mathi. Es gibt einen vorzüglichen Einblick in das Werk der amerikanischen Sappho. Den fünfzig übertragenen Gedichten ist der amerikanische Urtext gegenübergestellt, und man muß dafür um so dankbarer sein, als es fast unmöglich scheint, die knappen präzisen Zeilen mit den herrlich „sitzenden“ Bildern und Metaphern ins Deutsche zu übertragen. Die Uebersetzerin hat manche glückliche Lösung gefunden, und so entstanden Gebilde, die mehr als Uebersetzung sind.
Was nun die Lyrik selbst betrifft, so handelt es sich um eine konzentrierte Verbindung von Natur- und Gedankenlyrik. Die Gedichte sind durchweg kurz, haben zwei oder drei, höchstens fünf vierzeilige Strophen, Reim und Versbau sind vernachlässigt, aber nicht aus Schlamperei, sondern um der Genauigkeit des Ausdrucks willen. Die Naturauffassung ist modern, sie hat nichts mit der Wald- und Wiesendichtung des neunzehnten Jahrhunderts gemein, und auch das Gedankliche hängt nicht mit den Idolen jener Zeit zusammen, sondern ist theologische Meditation über Zeit und Ewigkeit.
Emily Dickinson hat das Christentum der amerikanischen Sekten abgelehnt. Sie beteiligte sich nicht an den Gebeten der Familie, aber alle ihre Gedanken kreisten um den Tod, das Jenseits, die Zeit, die Ewigkeit und Gott. Die Natur ist ein religiöses Symbol: die Herrlichkeit der Schöpfung hat die Dichterin zum Lobpreis inspiriert. Das Kleinste und Verborgenste unter Gras und Mohn feiert seine „schlichte Messe“. Sie hört die Stille der Nacht durch die Dämmerung herabrinnen. Der blaue Himmel ist ein Haus, aus dem kein Sarg getragen wird und vor dem kein Hufschlag klingt. Schließlich wird ihr die Existenz zum Geheimnis und sie verstummt. Eine Befreiung suchte sie freilich und fand sie im Humor. Ihre reizenden Briefe wimmeln von drollig-tiefsinnig-verspielten Stellen, und manchmal reiht sie in kurzen Sätzen Aussprüche aneinander, welche ein medusisches Auge verraten. Im Frühling 1870 schrieb sie Bekannten:

Mutter ging spazieren und kam mit einer Klette am Shwal herein, so wissen wir jetzt, daß der Schnee von der Erde verschwunden ist. Noah hätte Mutter geliebt. Es freut mich, daß Ihr bei Eliza seid. Es ist fast wie Schatten, wenn wir wissen, daß diejenigen, die wir lieben, es an einem glühendheißen Tag kühl haben… Pussy hat eine Tochter im Sägespänefaß. Wenn Vater Anfeuerholz holt, stolziert er wie Cromwell einher. Mrs. X. wird immer dicker und rollt wie ein ehrwürdiger Klicker die Gasse zur Kirche hinunter…

Da ist: alles Beobachtung, Farbe, Urteil und Vergnügen. Emily Dickinson hat selbst nur fünf Gedichte zum Druck gegeben. Wofür hielt sie sich? Gewiß nicht für eine bedeutende Dichterin, aber sie schrieb einmal:

Ich bin überaus entzückt, über das Leben an sich, das bloße Gefühl zu leben, ist mir Freude genug.

Curt Hohoff, Die Tat, 25.8.1956

 

BLAUER ZIRKUS WELT
für Emily Dickinson

Ich bin nicht richtig
hier der blaue
Zirkus Welt
macht mich schwindelig
wenn ich fliegen will
hungrig und durstig
wenn ich mich nach Steinen verzehre
Alles will ich ändern
die Farbe der Ozeane
die Zusammensetzung der Luft
das Gewicht von Blei und Gold
Kiemen für uns Gäste
Äste für uns Arme
Ich bin nicht vertraut
mit den Gesetzen
Ich und nur ich
habe mir an Wolken
blaue Flecken geholt
Angst gehabt
nicht vor der Dunkelheit vorm Licht
Dafür schlafe ich ruhig
auf Kirchturmspitzen
in Kellern sowieso
Wenn die anderen beten
gläubig wie Kinder
zähle ich meine Finger
aus Angst
sie irgendwo
in meinen leeren Himmeltaschen
zu verlieren

Tanja Dückers

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Kalliope

 

Kurt Oppens: Emily Dickinson: Überlieferung und Prophetie, Merkur, Heft 143, Januar 1960

Kerstin Fritzsche: Die große Liebe lebte nebenan

Kai Grehn: Mögen sie Emily Dickinson?

Werner von Koppenfels: Ruhm ist unstete Speise auf schwankendem Geschirr

 

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin + Kalliope

 

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Archibald MacLeish über Emily Dickinson

 

Emily Dickinson: The Poet In Her Bedroom.

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