MAHNUNG AN DIE HÜTER
Ihr Hüter auf Wache, habt acht!
Die Sterne verstreut jede Nacht,
Erinnerung gestriger Sommer,
Glühwürmchen in Gärten entfacht.
Vermischt florentinischer Sommer
Mit Abschied vom Lido im Herbst,
Erinnerung dämmernder Morgen
An Ballsäle – dunstig – zerweht
An alles vergangene Schöne,
Das niemals durch Sterben vergeht.
Das ferne Lächeln der Herzen,
Lebendiges, Totes, behütet – bedacht,
Sieht auf euch besorgt und verlassen –
Ihr Hüter auf Wache, habt acht!
Ihr Hüter auf Wache, habt acht!
Das Leben will leben und lebt.
Es schenkt nicht deshalb soviel Schönes,
Damit es in Flammen zergeht,
Durch dumme und gierige Greuel.
So traurig das Menschsein auch ist,
Die Losung der heldischen Bestien,
Die Sterne verstreuende Nacht,
Sie lassen auch heut nicht vergessen
Den Glauben, durch Schönheit entfacht.
Ihr, die ihr noch da seid, bewahrend –
Ihr Hüter auf Wache, habt acht!
Das Geburtsjahr: 1877, der Ort: Érmindszent – ein Flecken im östlichen Grenzland, dem rückständigsten, abgelegensten, dörflichsten Teil des damaligen halbfeudalen und eben „dörfischen“ Ungarn. Der Abstammung nach war Endre Ady, wie er selbst schrieb, „weder von oben noch von unten“; sein Vater bewirtschaftete etwa dreißig Morgen. Von oben, aus der Sicht der Komitatsherren, war der Vater ein Bauer, der auf den kargen, stark salzhaltigen Äckern selber hinterm Pflug ging; drunten die Dorfarmen jedoch titulierten ihn als Herrn. Er hatte ja schließlich einen adligen Namen, trug an Sonntagen maßgeschneiderte Hosen und konnte es sich leisten, seine Söhne auf die höhere Schule zu schicken.
Sie sollten für Ady später zu symbolischen Größen werden, diese beiden biographischen Fakten: der Geburtsort und die Stellung der Familie. Der bloße Zufall wurde signifikant: Die „Herkunft von den Grenzlanden“ und „weder von oben noch von unten“ zu stammen, das machte Ady zu dem, was in der Sozialwissenschaft ein „marginal man“, ein Randseiter genannt wird. Menschen solcher Provenienz sind erfahrungsgemäß besonders empfänglich für das Neue, auch für neue Probleme. Was Wunder, umfaßt doch ihr Gesichtskreis gleich zwei Welten. Wer aus Érmindszent kam, der bewegte sich unter den Notleidenden im damaligen Ungarn, in der zermürbenden Welt von Hunger und Elend, in den strohgedeckten Katen und in den Bezirken der Demütigung des Menschen als ein Kundiger, der hatte auch das erfahren. Und wem wie Ady die Familie eine Schulbildung ermöglichen konnte, dem öffnete sich zugleich der Blick auf die großen Errungenschaften des menschlichen Geistes, und der hatte im Blickfeld ständig und gleichzeitig: Schatten und Lichter. Ihm, dem Randseiter, erschloß sich tiefer als anderen das Wesen des Jahrhunderts, die Herausforderung der Zeit. Und er war so vorgeprägt, daß er die Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen, eine Zeit der Widersprüche, die Reichtümer ebenso wie Not und Elend, menschlichen Mut zu höchstem Wagnis wie auch die Ausgeburten höchsten Wahnsinns in sich trug, von Anfang an und in den Keimen bereits als ganze Wirklichkeit erlebte.
Die erste Station des Wegs, der Ady aus Érmindszent fortführte, war das Gymnasium, zunächst in Nagykároly, dann in Zilah. Mit zunehmendem Wissen reifte in ihm die Rebellion. Je weiter sich vor ihm der Gesichtskreis öffnete, desto größer wurde der Abstand zu der dörfischen Welt der Herren und Knechte, und was da an Vorurteilen, menschlich-geistiger Beengtheit und Heuchelei versammelt war, dessen wurde er mehr und mehr gewahr. In gleichem Maße verstärkte sich in ihm der Widerwille gegen ein Leben, wie es für ihn vom Elternhaus her vorgesehen war. Der Vater, in der Wertordnung des halbfeudalen Ungarn befangen, hätte es am liebsten gesehen, wenn sein Sohn Beamter geworden wäre. Ady jedoch entschied sich für die von der Herrenkaste geringgeschätzte Journalistenlaufbahn, er arbeitete für oppositionelle Blätter erst in Debrecen, dann in Nagyvárad. Dies war der Beginn seines trotzigen Aufbegehrens gegen das dörfische Ungarn, und die Worte „ich geh den Weg hinaus“ hatten für ihn gebieterische Kraft.
Und in der Tat, sobald die Möglichkeit da war, im Jahre 1904, reiste er in die „Stadt aller Städte“, in die Metropole der damaligen Welt, in die „Lichterstadt“ Paris. Fast ein Jahr lang hielt er sich dort auf und sandte seine Berichte an verschiedene ungarische Zeitungen. Überhaupt führte ihn sein Weg immer entschiedener zu den Städten hin. Was die Lebensform betrifft, zeigte allein schon die Wahl des „despektierlichen“ Journalistenberufs, daß eine Abkehr stattgefunden hatte. Und in die gleiche Richtung wies Adys leidenschaftliches Gefühl für eine – in den Gedichten Léda genannte – verheiratete Frau; eine große Liebe, die fast ein Jahrzehnt lang dauerte. In den Gedichten an Léda ist die ganze Komplexität der menschlichen Beziehungen und die Widersprüchlichkeit des Verhältnisses zwischen Mann und Frau offengelegt. So unverhüllt und aufrichtig, wie er sich zu dieser „illegitimen“ Liebe bekannte, war das eine Rebellion gegen scheinheilige Moral und eingefahrene Konventionen.
Zum Rebellen gegen die gesellschaftliche Ordnung wurde Ady auch in seinem politischen Bekenntnis und in der Weltanschauung. Schon als angehender Journalist machte er sich die Ideen zu eigen, die die zur Schaffung demokratischer Verhältnisse entschlossenen, zur Verwirklichung eines städtischen Ungarn bereiten fortschrittlichen Kräfte, die sogenannten bürgerlichen Radikalen und die frühen ungarischen Sozialisten, in ihren Zeitungen vertraten und verbreiteten. Das halbfeudale Ungarn berief sich auf die Geschichte und auf die Traditionen. Ady dagegen sprach von der Notwendigkeit der „Evolution“, daß heißt der unablässigen Entwicklung und der Bereitschaft, sich für das Neue einzusetzen. Jenes stützte sich auf das Autoritätsprinzip; sein Ideal hingegen war die mündige Persönlichkeit: der kritisch wertende, aus sich heraus verantwortlich denkende und handelnde Mensch. Dort wurde der Nationalismus als herrschende Ideologie gepflegt und mit Berufung auf die Nation jedes Eintreten für soziale Forderungen und jede Regung für die Rechte der Nationalitäten unterdrückt. Er dagegen fühlte sich zu den Theorien hingezogen, die sich am Gesellschaftlichen orientierten und mit Nachdruck das Denken in Klassen, den sozialen Aspekt, in den Vordergrund stellten.
Und es trennte sich der Weg des jungen Ady von dem des dörfischen Ungarn auch in der Dichtung. Die Verse des Debütanten waren noch in traditioneller Manier verfaßt, aber sehr bald eignete er sich eine dichterische Sprache und Technik an, wie sie für die moderne, bürgerliche Großstadtlyrik kennzeichnend war. Befreiend wirkten auf ihn solche großen Persönlichkeiten der modernen Lyrik wie Baudelaire, Rimbaud, Verlaine. Als deren Anhänger, als Repräsentant der symbolistischen Lyrik in Ungarn wurde er von der zeitgenössischen Literaturkritik angesehen. Doch erfuhr dieser Einfluß durch Adys revolutionäre Weltanschauung, durch sein gesellschaftliches Engagement und seine Bindungen an die Wirklichkeit eine spezifische Wandlung. Wie bei so manchen anderen osteuropäischen Dichtern – Block, Wyspiański, Arghezi – oder bei einem solchen Vertreter des lateinamerikanischen modernismo wie Ruben Dario wurde der Modernismus auch bei ihm ein Mittel der Rebellion. Indem er seine Errungenschaften nutzte, stieß er immer weiter vor in Richtung auf einen Realismus in der Lyrik, der im Vergleich zu dem des neunzehnten Jahrhunderts stärker gedanklich orientiert, komplexer, polyphoner – dem zwanzigsten Jahrhundert gemäß war.
In der Lebensform, in der Weltanschauung, im lyrischen Schaffen vollzog sich so Adys Abkehr von dem mit Überresten des Feudalismus behafteten, rückständigen dörfischen Ungarn. Dies war eine Rebellion, die um die Zeit von 1905 bis 1906 – nicht zuletzt unter der Wirkung der russischen Revolution von 1905 – in eine scharfe, unnachsichtige, dem Charakter nach revolutionäre Negation hinüberwuchs. Im wirkungsstarken Bild des ungarischen Brachlands verdichtete der junge Ady all die Bitterkeit, die der Ungeist des halbfeudalen Ungarn in ihm geweckt hatte, und in seinen Gedichten wurden die Empfindungen derer laut, die aus der „Brache“ heraus sich nach einem Blumendasein sehnten, sich mit dem feudalen Herren-Regiment und der wuchernden Gemeinheit und Roheit nicht abfinden konnten und wollten. Ihr – sein – schmerzliches Gefühl, kein Zuhause zu haben, faßte er in Worte und machte eine neue, ihrem Wesen nach kritische Liebe zum Vaterland bewußt.
Im innersten Kern entwickelte sich dieser spezifische Patriotismus aus dem Gefühl, das auf der begrifflichen Ebene später im Leninschen Prinzip der „zwei Nationen – zwei Kulturen“ formuliert wurde. Ady durchschaute die ungarische Gesellschaft in ihrer ganzen Rückständigkeit und zeigte voller Zorn auf die Herren, aber auch auf alle Eigenheiten des Volks und seiner Geschichte, die den Kriterien des Humanen nicht standhielten. Zugleich jedoch bekannte er sich mit leidenschaftlicher Liebe zu all dem Wertvollen und Schönen, das in der Vergangenheit und Gegenwart dieses Volkes nach vorn, in die Richtung der Menschheit wies. Sie, die Menschheit, wäre ärmer, wären in ihr nicht alle die Werte gegenwärtig, die die einzelnen Völker auf ihrem jeweiligen historischen Weg angesammelt haben, und so schrieb er:
Das Ungartum ist notwendig und ein Wert für die Menschheit und ihren Weg zu den Sternen.
Es war eine Vaterlandsliebe neuer Art, spezifisch und komplex, die sich bei Ady zeigte: in ihr standen hart nebeneinander Ja und Nein, Identifikation und Kritik.
Nicht zuletzt dieser neue Patriotismus erklärt den starken Widerhall, den Adys Gedichte zu Beginn des Jahrhunderts bei der nicht sehr zahlreichen denkenden Minderheit fand. Sein Name wurde gleichsam zur Parole, zum Weckruf im geistig-künstlerischen Freiheitskampf gegen das „ungarische Brachland“ und für die demokratische Umgestaltung der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, daß die zu Beginn des Jahrhunderts einsetzenden kulturellen Regungen, deren Repräsentanten – um nur die bedeutendsten zu nennen – Babits, Bartók, Kodaly, Kosztolányi, Georg Lukács, Móricz waren, aus seiner Dichtung Selbstbewußtsein schöpften, als mit ihm und seinem Namen die „Revolution der ungarischen Seelen“ begann.
Kein Wunder, daß sehr bald auch die Gegenseite auf Ady aufmerksam wurde. Die um ihren Bestand besorgte alte Ordnung war seit Petőfi nicht mit solcher Heftigkeit über einen jungen Schriftsteller hergefallen. „Wahnsinniger“, „Mißgeburt“, „Trunkenbold“ – so schrie es in auflagestarken Zeitungen; und das Lager der Feudalen war zu der Zeit noch stark, dort war die Macht, und die öffentliche Meinung stand unter ihrem Einfluß. Die ungarische Gesellschaft war unmündig und unfähig, Adys neuen Patriotismus zu begreifen. Sie war in ihrer Mehrheit noch befangen im Traum vom Reich, trug die Scheuklappen nationaler Eitelkeit und nationalistischen Eifers. Der unverstandene Dichter wurde in eine beklemmende Vereinsamung gezwungen; dies um so mehr, als für ihn zu der Zeit auch Paris keine Stätte der Zuflucht mehr war. Immer deutlicher mußte er erkennen, daß die von der Bourgeoisie geschaffenen modernen Großstädte die Entwicklung zwar vorangetrieben, zugleich aber immer krassere Probleme mit sich brachten: Die Elendsquartiere dehnten sich aus, es herrschten Not und Armut, und in ihrem Gefolge kamen die Qualen der Seele: das Gefühl der Einsamkeit – Entfremdung nennen wir’s heute. So gesellten sich bei Ady zur antifeudalen Empörung heftige antikapitalistische Emotionen. Ahnungen verdichteten sich zu der Erkenntnis, daß gegen die Rückständigkeit des halbfeudalen Ungarn der städtische Fortschritt allein noch kein Heilmittel war. Denn „im Salzmeer der Menschentränen“ trieb das Leben auch dort dahin, und „über allem stand im Licht das Palais der Rothschild“: die demütigende Gewalt des Geldes. Heimatlos war auch im neuen Dschungel der Großstadt das Verlangen und Streben nach Besserem.
Ady war nun vollends umschlossen von dem Gefühl, nirgendwohin gehörig und nirgendwo mehr daheim zu sein. Immerzu unterwegs, wie von Drohrufen verfolgt, trieb es ihn von Stadt zu Stadt; so lebte er in Hotelzimmern, hatte nirgends eine ständige Wohnung. Nach Budapest und Paris entdeckte er für sich wieder den Geburtsort, das alte Dorf Érmindszent, in dessen nebelschwerer, bedrückender Einsamkeit er gleichsam ein Abbild des Weltganzen mit seiner Ausweglosigkeit erblickte. In seiner Dichtung mehrten sich die Töne der Verwaistheit und des Fremdseins. Davon kündete in den Gedichten die „unerfindliche Trauer“, der neue Weltschmerz des zwanzigsten Jahrhunderts: Bestürzung angesichts des Nihil. In die Enge getrieben, suchte Ady nach einem Ausweg, und so beschwor er in seinen Gedichten einerseits Gott, andererseits immer dringlicher die Revolution. Im Widerstreit zwischen Jenseits und Diesseits rang er um Hoffnung und Sinn.
Erinnerungen an einstige Sicherheit und Geborgenheit weckten in dem verstörten Dichter das Verlangen, sich wie ein Kind in die Ordnung des Unendlichen zu schmiegen. Er wünschte sich, glauben zu können, daß irgendwo ein erlösendes Eden, ein stets offenes Zuhause, ein allmächtiger Vater, ein gütiger Gott existierte. Es war eine Gottsuche. wie sie um den Jahrhundertbeginn bei vielen Künstlern zu beobachten ist: „Beten will ich wie ein Kind, wie ein gottesfürchtiges Schulkind“, so formuliert Ady in einer Strophe; doch er weiß, daß er „ungläubig an Gott glaubt“, daß „Tugend, Christus und Gott“ nur „Sehnsucht“ für ihn sind. Isten – nincsen: Gott – gibt’s nicht, das wurde in seinen Gedichten schließlich zur immer wiederkehrenden Assonanz. Auf der Suche nach Gott fand der sich nach Geborgenheit sehnende Dichter nichts als „tote Gestirne“: Trostlosigkeit. Der Blick zum Menschen hin war auf jene gerichtet, die in der bestehenden Welt gleich ihm fremd und heimatlos waren: auf das arbeitende Volk. Und Ady, der zunächst Revolutionär aus dem Gefühl heraus gewesen war, wurde zum Revolutionär in gesellschaftlichem Sinne. Hoffnungsvoll wandte er sich vor allem der gesellschaftlichen Kraft zu, die ein weltweites Zuhause zu schaffen berufen war: der Arbeiterklasse. Er war kein Sozialist, wohl aber verbunden mit dem Proletariat im „Traum vom schönen Land“, im Glauben an die Revolution.
Das Revolutionäre war wie nichts anderes bestimmend für Adys Weltbild und Dichtung und der mythologische Held Prometheus. der den Erdenbewohnern das Feuer herabholte – Urbild des handelnden Menschen – sein Ideal. So pries er die „Liebe zu uns selbst“: den Glauben an den Menschen und an die menschliche Tat. Den Sinn für das Leben des einzelnen erkannte er im trotzigen Kampf für die Gemeinschaft, für die große historische Selbstverwirklichung der Menschheit. In ihm blieb die Überzeugung lebendig, daß der Mensch kein ewig Fremder ist im Kosmos, daß die Erde, dieses einstige Jamnmertal, umzuwandeln ist in eine „freundliche, gute Wohnstatt“ für alle. Die Revolution war für ihn kein bloßes politisches Bekenntnis, sondern zutiefst persönlich erlebt als Notwendigkeit zum Weiterlebenkönnen. Sehnsucht nach Geborgenheit in einer menschenwürdigen Gesellschaft sprach aus seinen Gedichten; und in dieser Richtung schien Ungarn, in dem Revolutionen heranreiften, unterwegs zu sein.
Da kam Ende Juli 1914, der Wahnsinn des imperialistischen Krieges brach aus. Die verfrühten Hoffnungen wurden zerschlagen, die Zuversicht spendende Zeit der revolutionären Kämpfe war in eine ferne Vergangenheit gerückt. Nicht von Zukunftssehnen wurden nunmehr die Volksmassen getragen, sondern mitgerissen von einer künstlich geschürten Begeisterung für den Krieg.
Ady hielt sich in den ersten Kriegswochen auf dem Lande auf und kehrte erst im September 1914 nach Budapest zurück. Der Rausch hielt noch an, jubelnde Massen zogen, Fahnen schwenkend, durch die Straßen und brachten Hochrufe auf den Krieg aus. Und er mußte feststellen: Die meisten seiner Gefährten, Schriftsteller und Künstler, Geistesschaffende also, waren, als ginge es nur um ein großes Abenteuer, ebenfalls dem Ungeist verfallen. Ady hingegen gehörte zu den wenigen Persönlichkeiten der Weltkultur, die dem verhängnisvollen Morden vom ersten Augenblick an entgegentraten. Nicht allein die konkreten Untaten empörten ihn; er empfand den Krieg als universelle Bedrohung durch den Imperialismus, als Gefährdung der menschlichen Existenz.
Was der Dichter in seinem Randseiter-Dasein immer schon vorausgeahnt hatte, das fand er nun gleichsam bestätigt: Hinter Zivilisation und Kultur lauerte die Barbarei. Inmitten der Geisterlandschaft aus „Busch vom Urwald“ und „Urzeitsümpfen“ trabt Adys „Verirrter Reiter“, der historische Mensch, dahin, während das Nihil, die Sinnlosigkeit, drohend auf der Lauer liegt.
Adys Spätwerk ist durchdrungen von diesem Gefühl der Bedrohung, doch zugleich weist es auf eine mögliche Alternative, einen anderen Weg hin:
Denn kommts auch schlimm, es hilft die Sonn’,
Gut Wort, heller Glaube, schieres Woll’n –
Der alte Kamerad: die Hoffnung
Über dem Nihil und gegen das Nihil sprach Ady sein Ja. Er war Realist und lebte das Leben als Ganzes; so blieb in seinen Gedichten die Perspektive gewahrt. Denn auch in der Finsternis erlosch nicht das Licht der Hoffnung, und inmitten der Disharmonien behauptete sich die Harmonie.
Als denkender Mensch begriff Endre Ady die Gesetze der Wirklichkeit. Er wußte: „das Leben will leben und lebt“, es blüht „der alte Kirschbaum“, und „die Sterne verstreuende Nacht“ macht niemals vergessen „den Glauben, durch Schönheit entfacht“, „weil Mensch, solang es Menschen gibt, nicht stehenbleiben mag“. Adys Humanismus blieb ungebrochen, und so konnte er ein „Hüter“ bleiben, ein „Hüter auf Wache“. Daher rührte auch der Zauber seiner späten Liebeslyrik. „Im mörderisch wilden Getobe“ hütete und beschützte er „des Herzens ewig Lied“; das Schöne. Für den Menschen stand er ein in der Unmenschlichkeit.
In den Tagen der ungarischen Revolution von 1918/19, am 27. Januar 1919, wenige Wochen vor der Ausrufung der ungarischen Räterepublik, starb Endre Ady. Nie war in der ungarischen Geschichte ein Schriftsteller so zu Grabe getragen worden: Hunderttausende gaben ihm das letzte Geleit. Er lebte in der Tat, wie er selbst geschrieben hatte, „in jungen Herzen und ewig weiter“. Das Land in der Revolution erkannte, daß es eins war mit seinem Dichter.
lstván Király, Nachwort, November 1976
„Einsam dein Geschick bewein ich, Ungarnvolk, Volk meines Blutes…“ Immer wieder hat Endre Ady (1877–1919) das bittere Los seines Landes besungen. Individuelle Rebellion gegen nationale und soziale Fesseln und die Hoffnung, daß unter dem unerträglichen Druck eine befreiende Kraft heranwachse, verdichten sich bei ihm zu einem prononcierten gesellschaftskritischen Protest. Ady war ein Dichter, der sich keiner Strömung zuordnen ließ, einer, der stets zwischen zwei Polen lebte – von Zweifel am Herkömmlichen und von Sehnsucht nach Erneuerung erfüllt. Symbole alter mythischer Kulturen und legendäre Gestalten der ungarischen Geschichte erscheinen bei ihm in einem neuen Licht, und in seinen Dichtungen klingen sowohl der traditionell akzentuierende ungarische Vers als auch die westeuropäische Metrik durch. Mit seinem Werk hat Endre Ady, dessen Geburtstag sich 1977 zum 100. Mal jährt, den Ausgangspunkt für die geistige und ästhetische Orientierung der modernen ungarischen Lyrik geschaffen.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1977
– Die Ungarn gedenken wehmütig des Genies von Endre Ady. Die Beerdigung des ungarischen Schriftstellers vor hundert Jahren war ein Massenereignis. Heute werden in Budapest Denkmäler historisch sperriger Persönlichkeiten gerne mal entsorgt. So werden die Gedenkveranstaltungen für Ady zu einem politischen Fanal für mehr Ehrlichkeit und Offenheit. –
Mit besorgniserregenden Erfolgen hat es Ungarn seit der politischen Wende von 1989 immer wieder geschafft, die eigene Geschichte aufzuhalten oder gar mit aller Gewalt zurückzudrehen. Die Gegenwart ist besonders leidenschaftlich und spektakulär befangen in diesem Geschäft.
Im Staatsradio wurde jeden Tag eine ungarische Heldentat des Ersten Weltkrieges vor einhundert Jahren abgefeiert. Der geschichtsträchtige Kossuth-Platz vor dem Parlament wird auf Geheiss der Regierung systematisch zurückverwandelt in den Zustand der dreissiger Jahre, als das Land sich unter der Führung des Reichsverwesers Miklós Horthy in fatale Nähe zu Hitlerdeutschland manövrierte.
Spuren der stürmischen Geschichte nach 1918 werden sorgfältig getilgt. Das Denkmal des linksdemokratischen Grafen Mihály Károlyi, der das Land als erster Ministerpräsident nach dem Zerfall der Donaumonarchie in die Republik führte und seinen Grossgrundbesitz an die Bauern verteilte, wurde vom Platz entfernt. Ein kleiner Ort am Balaton hat die Statue, die absolut nicht ins Geschichtskonzept der gegenwärtigen Regierung passt und also nicht mehr erinnerungsstiftend sein soll, adoptiert und an einem stillen Platz neu aufgestellt. Im Abseits der Provinz darf sie nun weiterwirken.
Noch heftiger umstritten ist die Verlegung des Denkmals von Imre Nagy, dem das Parlament eine seiner wenigen Sternstunden verdankt, weil er es wagte, der Sowjetunion die Stirn zu bieten, und die Zugehörigkeit zum kommunistischen Block aufkündigte. Auf den Volksaufstand 1956 beruft sich auch die heutige Regierung gern, dennoch aber war Imre Nagy ein Kommunist, der also verschwinden muss.
Alle Feiertage in Ungarn bringen das Elend dieser kleinen Nation ans Tageslicht, so auch am 27. Januar der 100. Todestag des Dichters Endre Ady. Der hatte am Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer völlig neuen Sprache den entscheidenden Grundstein für die moderne ungarische Literatur gelegt. Seine symbolschwere, von grosser Leidenschaft geprägte Lyrik schien eigentlich ihre aktuelle Sprengkraft eingebüsst zu haben, dennoch aber zerfiel auch dieses Fest der Erinnerung in lauter Einzelzeremonien.
Ady war nicht nur Lyriker, er lebte von seinem Journalismus. Den Durchbruch als Dichter schaffte er 1906 mit seinem Band Neue Gedichte, der wie ein Erdbeben die Landschaft der ungarischen Literatur schlagartig veränderte. In seiner Publizistik hat Ady den eigenen radikalen Ton viel früher schon gefunden. Ab 1900 lebte und arbeitete er in der stark jüdisch geprägten, weltoffenen Stadt Nagyvárad (deutsch Grosswardein, rumänisch Oradea) und erlangte durch seine scharfen, tabulosen Artikel landesweite Aufmerksamkeit. Heute geistern immer wieder Zitate aus diesen Texten durch das ungarische Internet, und alle wundern sich über die tagespolitische Aktualität. Ein ganzes Buch erdrückend frischer politischer Klagen von Ady wurde kürzlich veröffentlicht. Objektiv ist das natürlich ein Trauerspiel, beweist es doch, dass die ungarische Geschichte nicht vom Fleck zu kommen versteht, immer nur nach hinten, selten aber nach vorn schaut.
Hinter der Gestalt von Endre Ady könnten sich eigentlich die verschiedensten Menschen und Gruppen vereinigen. So geschah es vor hundert Jahren: Die Beerdigung des Dichters wurde zur grössten Massendemonstration der jungen Ungarischen Republik. Der Trauerzug erstreckte sich über mehrere Kilometer vom Nationalmuseum bis zum Nationalfriedhof. Die Kinder hatten schulfrei, der Andrang der Massen machte eine ordentliche Beerdigung fast unmöglich.
Wunderbar restaurierte Filmaufnahmen zeigen das gewaltige Chaos dieser begeisterten Anteilnahme. War Ady in grösster Einsamkeit und Isolierung in einer Klinik am Budapester Heldenplatz gestorben, so ging die Nachricht von seinem Tod doch wie ein Lauffeuer durch das vom Ersten Weltkrieg vollkommen aus den Fugen geratene Land. Der Name Ady wurde zum Signal einer Hoffnung auf Neubeginn. Alle wollten dabei sein.
Wie sehr das heutige Ungarn sich nach einer ähnlichen Identifikationsfigur sehnt, das war an den vielen Gedenkveranstaltungen zu spüren. Der Beerdigungsmarsch etwa wurde in umgekehrter Richtung vom Grab zum Museum wiederholt. In den Augen der trotz bitterer Kälte zahlreichen Teilnehmer lag ein Glanz, der jenem vor hundert Jahren geähnelt haben mag.
Die Souveränität von Endre Ady strahlt bis in die heutige Zeit, weil er sich von niemandem vereinnahmen liess. Die reaktionäre Rechte griff er mutig und offen an, die linken und liberalen Freunde schüttelte er immer wieder ab. Auch auf ihre Positionen wollte er sich nicht reduzieren lassen. Für die politische Mitte war seine Lebensführung zwischen Eros und Alkohol abstossend provokativ. Der absolut Heimatlose aber suchte sprachlich wie auch biografisch nach Ankunft. Das machte ihn, der sich mit nichts bleibend identifizieren konnte, zu einer Identifikationsfigur aller Suchenden.
Die grosse weite Welt weiss nichts davon, dafür ist seine Lyrik in einer derartig exotischen Sprache wie dem Ungarischen zu hermetisch, doch plagt leider auch Ungarn in seinem heutigen Zustand das Vergessen. Endre Ady gehört in das Fundament der Weltliteratur, wenn es denn eine solche gibt. Sie kann entstehen, wenn ein Text ein Geheimnis in sprachliche Schönheit zu bannen versteht, das unendlich persönlich, einzigartig und wahrhaftig, zugleich aber universal, für alle Menschen bedeutsam und grenzenlos ist.
Es ist nicht die beste Zeit, die Ungarn mit ihrem Dichter Ady allein zu lassen. Sie sind fähig, auch ihn in lauter Fetzen zu zerreissen. Nur Bruchstücke bleiben übrig von dem, was allein organisch und in seiner Gesamtheit gültig zu sein vermag: der Gottsuchende und der Heide, der Revolutionär und der archaische Ungar; Paris und sein Geburtsort, das von aller Welt abgeschiedene Dorf Érmindszent; der kleine Bach in der Heimat und der unendliche Ozean; der Westen und der Osten; der Krieg und der Frieden. Das eine gilt nicht ohne das andere.
Endre Ady hatte eine präzise Vorstellung davon, wie eine moderne, glückliche Heimat Ungarn aussehen könnte. Das sichert ihm eine traurige Aktualität, auf die er sicherlich gern verzichtet hätte.
Zsuzsa Széll: Begegnungen mit Adys Dichtungen, Sinn und Form, Heft 3, 1978
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