ICH GENIESSE DIE DIKTATUR
Als der Kopfrechenkünstler Ferenc Pataki
unsere Schule besuchte und die
ihm aufgegebenen Aufgaben
eine nach der anderen löste und sich
nicht ein einziges Mal irrte und wir ihn bewunderten
den Künstler
teilten wir ihn in
gleiche
kleine Teile
untersuchten sie es war
kein Schwindel dabei
die Teile funktionierten mannhaft nie fehlerhaft
und ich vertraute ihm vertrauensvoll
diese Welt an
und schaute glückselig zu
wie mich anlacht
die Wahrheit
Übersetzung von Karin Höpp
Endre Kukorelly ist ein Grenzgänger zwischen den literarischen Genres, einer zudem, der sich die Grenzen durchaus selbst zieht, ungeachtet aller literarischen Konventionen, aller Übereinkünfte zwischen Autor und Leser. Er, der „Bürger“ (A.K. Nagy) unter den neueren ungarischen Autoren, ist auch ein „Bürgerschreck“, der mit seinen Texten gehörige Verwirrung und Verunsicherung stiftet, freilich nicht ohne bisweilen vor allem selbst verwirrt zu sein angesichts der (spontanen) Wirkung, die er (etwa bei Lesungen) erreicht. Ein Bürgerschreck wider Willen? Ein Poet voller Widersprüche auf jeden Fall. Er, der eher Konservative, der politisch „Träge“ und „Bequeme“, wettete Ende 1986 um eine Kiste Sekt, daß spätestens in zehn Jahren in Ungarn der Kommunismus diskreditiert und das Mehrparteiensystem eingeführt sein würde…
Das Befremdliche dieser Texte gründet nur scheinbar auf deren Grammatik: in der manchmal durchaus nervenden Wiederholung und Verdrehung einzelner Wörter und Wendungen, so als ertaste und erschließe sich Kukorelly die lexikologischen und syntaktischen Möglichkeiten der Sprache mit jedem Text immer wieder neu. Auch die Willkür, mit der diese Texte bisweilen in Verszeilen gebrochen wurden, ungedenk der Wortgrenzen in einer ganz eigenwilligen Neuinterpretation des Enjambements, eine Willkür, die uns und unseren Vorstellungen von Lyrik – mögen die noch so aufgeschlossen sein – foppend eine Nase dreht (auch und gerade dann, wenn der Dichter uns nach soviel „freier“ Rhythmik plötzlich doch wieder gereimt und strophisch geordnet daherkommt), auch sie wird uns den letzten Grund für unsere Verwirrung nicht liefern können. Wie auch die umgangssprachlichen Schlampereien nicht, es sei denn, wir rücken sie wie alles Formale dieser Texte dorthin, wo sie hingehören und wo sie herkommen: auf die inhaltliche Ebene. So ist denn Kukorellys legere, bisweilen groteske Sprache untrennbarer Teil jener banalen Alltäglichkeit, die uns nicht nur deshalb verunsichert, weil sie so gar nicht in unsere herkömmliche Vorstellung von Poesie paßt. Die Gemüseläden in der Szondy hinterm Westbahnhof, wo Kukorelly in einem der typischen Pester Mietshäuser zu Hause ist, alte Fotos und defekte Trolleybusse, Lebensrevision, Bananen und Erdbeeren, Thomas Bernhard und Géza Ottlik, verfahrene Beziehungskisten und ebensolche Dichterlesungen und „die Versuchung der Liebe zu Orten, sie sich ans Meer zu wünschen“ (Köhler), die Angst vor Trennung, Trostlosigkeit und Tod – alles ist da:
Das Große ist dem Kleinen beigemengt und umgekehrt, nichts vermag abgeschlossen für sich zu bestehen.
Dieses „Erlebnis der Gleichzeitigkeit“ faszinierte nicht nur den jungen Johannes R. Becher vor fast genau acht Jahrzehnten am frühen Expressionismus, es ist auch das Elixier der Texte Kukorellys, der sich nicht zufällig der ungarischen Neoavantgarde verbunden fühlt und 1989 zusammen mit László Császár in Budapest die neoavantgardistische Anthologie Wortghetto herausgab. Auch seine Texte sind ein Plädoyer für die Ganzheit des Lebens: „Einer, der lebt, der sagt, nur einfach sein / ein bißchen sein, das geht so nicht.“ Was uns befremdet und beunruhigt, ist vielmehr die Begegnung mit dem allzusehr Vertrauten, denn es ist das Spiegelbild unseres Selbst, das uns aus den fast egozentrischen, zugleich bei aller Manieriertheit außerordentlich authentischen und trotz aller Posen ehrlichen Texten entgegenschaut (vielleicht oder gerade weil Kukorelly nicht „im Namen des Volkes“, nur in seinem eigenen spricht), wir sind es und die Nachbarn von Nebenan, die wir reden hören, unser aller Sehnsüchte und Ängste sind da in Worte gefaßt; die Genrebilder stellen unseren ganz normalen Alltag nach, die seelischen Momentaufnahmen halten unsere eigene Befindlichkeit fest, inklusive aller Banalität, allen Einerleis, aller Illusionen und Lügen. Wer sich aber diesen Texten und damit sich selbst stellt, der wird hinter dem sprachlichen Ulk, hinter dem Alltäglich-Banalen den Ernst, die ganze Komplexität und Kompliziertheit unseres Lebens entdecken, dem wird schließlich das kopfschüttelnde Lachen der Ratlosigkeit und Entrüstung auf den Lippen gefrieren, bis es früher oder später – vielleicht – wieder auftaut: zu einem Lachen über uns selbst.
Nachwort
kommen die Sätze, die winzigen und gewaltigen Fakten des Lebens. Nur um sie geht es. Einen Übergang gibt es nicht. Deshalb ist jeder folgende Satz verdächtig. Daß mit ihm bereits etwas anderes beginnt. Und dieser Verdacht dringt, wie eine Art Energie, in die Struktur ein, wo er alles weckt und zum Strahlen bringt, was dazu geeignet ist.
Gábor Németh über Endre Kukorelly, 1991
Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.
Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze
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Endre Kukorelly in der Sendung Záróra.
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