Enikő Dácz und Christina Rossi (Hrsg.): Wendemanöver

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Enikő Dácz und Christina Rossi (Hrsg.): Wendemanöver

Dácz und Rossi (Hrsg.)-Wendemanöver

KARAMBOLAGE

Hätten wir
wie allseits versprochen
nichts als eine ruhige
Kugel zu schieben und dem großen und ganzen
aaaaaLebensrest
einfach nur zu assistieren
wäre Trost
vielleicht noch angebracht
Aber so

Wer sich verliert
verliert sich an etwas

Während die Billardstöcke
auf die Kugeln treffen

Und die Kugeln wiederum
aufeinanderstoßen

Auf den von Gott und seiner Partei
gesponserten Abgrund zurasen
den wir höchst bequem
ins Auge fassen und das schon
die längste
Zeit

Richard Wagner

 

EIN VERMÄCHTNIS AN DIE LITERATURWISSENSCHAFT

– Das Archiv Richard Wagners als Erinnerungsgut und Erinnerungsort. –

Richard Wagner hat seinen Vorlass im Jahr 2012 an das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) in München übergeben, das in seinem Archiv mehrere Bestände deutscher Schriftsteller aus Südosteuropa aufbewahrt. Seit Ende 2017 ist die im Rahmen eines von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) geförderten Projektes archivalisch erschlossene Wagnersche Sammlung zu Forschungszwecken zugänglich.
Der Vorlass als ein zu Lebzeiten übergebenes Archiv stellt dieselbe Frage nach der eigenen Existenzberechtigung wie der Nachlass. Diese Frage wurde im Zeitraum des Abschlusses der Archivierungsmaßnahmen zu Wagners Bestand als generelle Problematik im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diskutiert:1 Archive verleihen einem Werk Bedeutung und verheißen einem Schriftsteller Unsterblichkeit, doch zugleich drohen viele Regalmeter mit Archivboxen langsam aber sicher unter einer Staubschicht zu verschwinden. Schriftstellerarchive liefern häufig in ihrer Relevanz nicht auf den ersten Blick einschätzbares, im schlimmsten Fall belangloses Begleitmaterial zu einem Œuvre. Fragen der Archivwürdigkeit und des Risikos einer diesbezüglichen Fehleinschätzung stellen sich vor allem, wenn sich die Sicherung eines Bestandes nicht etwa durch den Gehalt von umfangreichem unveröffentlichten Werkmaterial selbst legitimiert. Denn begreift man das literarische Kunstwerk als eine autonome und für sich sprechende Entität, so verbietet sich streng genommen ein Blick auf all das, was nicht in das Werk eingeflossen ist – dazu zählen die im Archiv vorhandenen biografischen Fakten und kommentierenden Notate des Autors ebenso wie Recherche- und Hintergrundmaterial und ausgesonderte Manuskripte.
Wann und wodurch wird ein literarisches Archiv für die Wissenschaft bedeutsam und wie ist Archivwürdigkeit ex ante zu ermessen? Diesen Fragen soll im Folgenden anhand einer exemplarischen Bestandsaufnahme des Vorlasses Richard Wagners nachgegangen werden. Der Vorlass soll dabei auf seinen wissenschaftlichen wie immateriellen Wert als Archiv hin untersucht werden, um der interessierten Forschung zugleich Einblicke in den Bestand zu gewähren.
Der archivierte Bestand Richard Wagners umfasst Manuskriptfassungen und Material zu Wagners literarischem, lyrischem, journalistischem und essayistischem Werk, Briefkorrespondenz, private Aufzeichnungen, Lebensdokumente, Fotos und eine breite Materialsammlung.2 Die Mehrheit der Manuskripte besteht aus in Deutschland entstandenen Schriften: Wagner musste bei seiner Ausreise im Jahr 1987 einen großen Teil seiner Unterlagen in Rumänien zurücklassen. Aus dieser Zeit sind jedoch etwa seine beiden Gedichtbände Hotel California 1 und 2 in Form handschriftlicher Manuskripte vollständig erhalten, darüber hinaus auch Manuskripte zahlreicher anderer Gedichte und Kurzprosatexte, teils handschriftlich, teils maschinenschriftlich niedergelegt.3 Andere, vor allem später entstandene Werke sind in komplexer Materialfülle von den Anfängen bis zu ihrem Abschluss dokumentiert, so etwa die Deutsche Seele aus dem Jahr 2011: Von handschriftlichen Notizen zur Konzeption, Schriftwechsel mit den Lektoren und der Mitherausgeberin Thea Dorn, der Dokumentation einzelner Arbeitsschritte und -titel und Recherchematerial bis hin zu späteren Endfassungen sowie Abrechnungen des Verlags, Planungen zu Lesungen und Rezensionen sind hier alle Schritte des Entstehungsprozesses nachvollziehbar.4
Neben Manuskripten zu annähernd allen Publikationen Wagners, teils mit Recherchematerial, teils auch in verschiedenen Arbeitsfassungen vorliegend, verfügt der Bestand auch über persönliche Dokumente, etwa ausführliche Aufstellungen der absolvierten Lesungen und Reisen bzw. Urkunden zu Preisverleihungen, sowie über Notizen in Form loser Blattsammlungen und dickerer Notizbücher. Das von Seiten der Rezeption bereits vereinzelt erkannte Flaneurmotiv erweist sich in Ansehung dieser Materialien als durchaus auch biografisch grundiert: Wagner dokumentiert anhand zahlreicher handschriftlicher Aufzeichnungen über Eindrücke beim Spazierengehen, anhand von Stadtplänen, Nahverkehrstickets und der Sammlung in Bezug auf die Figur des Flaneurs relevante Literatur, dass er sich selbst seine Umgebung im Gehen und Beobachten, im Erlaufen und Erleben erschloss.
In seinen überwiegend knappen Notaten zeigt sich der Autor überdies ganz ökonomisch als Freund von Listen: „Liste europäischer Idioten“, „Liste über die Zusammensetzung der Bevölkerung Berlins“ oder „Meine Top Ten der DDR-Literatur“ titeln etwa solche Handschriften. Auf der letztgenannten Liste notierte Wagner Sarah Kirschs Gedichtband Zaubersprüche an erster Stelle. Sarah Kirsch ist zugleich eine der Dichterinnen, von denen Wagner Post erhielt und aufbewahrte. Obgleich nur etwa ein Drittel aller Zuschriften an Richard Wagner zur Einsicht freigegeben wurden, gewährt allein die Liste der Briefschreiber Einblicke in den Bestand von Freundschaften und in den regen geistigen Austausch Wagners in Form des Briefes: Mit Journalisten, Wissenschaftlern, Verlegern und Künstlern pflegte er ebenso Korrespondenzen wie mit befreundeten Schriftstellerkollegen – darunter sind etwa Herta Müller, Felicitas Hoppe, Thea Dorn, Hans-Joachim Schädlich, Hanns-Josef Ortheil, Ursula Krechel und György Dalos sowie zahlreiche rumäniendeutsche Schriftsteller. Sein Briefarchiv aus den Jahren 1969 bis 2016 veranschaulicht sein literarisches Netzwerk und ist damit schon literatursoziologisch bedeutsam. Viele der von ihm über Jahrzehnte hinweg gesammelten Zuschriften sind schließlich heute auch von Relevanz für die Forschung zu anderen Künstlern und deren Werk.
Auch Fotografien dokumentieren Wagners Werdegang, seine Freizeitgestaltung und seine Alltagsumgebung in Rumänien und bis ins Berlin des 21. Jahrhunderts. Fotoaufnahmen, die ihn etwa als blondgelocktes Kind auf dem Fotografenstuhl oder als Jugendlichen bei der Teilnahme an der Deutsch-Olympiade in Hermannstadt zeigen (nur einen Meter neben seinen beiden späteren Ehefrauen Magdalena Barton und Herta Müller stehend), sind ebenso vorhanden wie Aufnahmen im Kreise eines Picknicks mit befreundeten Schriftstellerkollegen. Dokumentiert ist auch Wagners Wohnsituation kurz vor seiner Ausreise und die Reise selbst sowie die Ankunft im Übergangslager in Nürnberg. Für die Zeit nach 2000 liegen dann vor allem Fotografien vor, die anlässlich von Lesungen und Lesereisen entstanden sind. Teilweise zeigen sie Wagner mit befreundeten Autoren, die aus den Briefwechseln bereits bekannt sind.
Zuletzt bietet eine umfangreiche Materialsammlung sowohl Konvolute von Rezensionen und Aufsätzen, die zum Werk entstanden sind, als auch etwa Recherchedokumente zu einzelnen Themenkomplexen. Diese sind hier in ungeheurer Fülle und Akribie zusammengetragen und vermitteln, womit sich Wagner zeitlebens intensiver befasst – und lassen anhand von Randnotizen und handschriftlichen Kommentierungen auch seine eigenen Positionierungen nachvollziehen. Dokumentsammlungen zu einzelnen Schriftstellern der Aktionsgruppe Banat und der Gruppe selbst, die vor allem im Rumänien publizierte Texte und Rezensionen einschließen, sind überdies von großem literaturhistorischen Wert und heute kaum mehr anderweitig recherchierbar. Die Materialsammlung enthält darüber hinaus Kopien mehrerer Securitate-Akten, unter anderem der Wagners und Müllers, obgleich die Einsicht in diese auch im Archiv des IKGS einer Akkreditierung in Bukarest bedarf. Ergänzt werden die zugangsbeschränkten Aktenkopien allerdings durch zugängliche handschriftliche Notizen, die Wagner bei der Durchsicht angefertigt hat. Von ähnlicher Relevanz sind die Morddrohungen, die neben Wagner weitere rumäniendeutsche Autoren noch in Deutschland erhielten. Auch das Engagement Wagners für seine im Terror der Diktatur zu früh verstorbenen Freunde, die Dichter Rolf Bossert und Roland Kirsch, lässt sich anhand von Briefen, Manuskripten, Notizen und Fotos nachvollziehen.
Im Vorlass gibt es jedoch ebenso Archivmaterial, dessen Relevanz zweifelhaft bleibt: alte Restaurantrechnungen, verknitterte Zeitungsausschnitte zu Gildo Horn, unscharfe Fotos rumänischer Hausfassaden. Unzählige lose Blätter schwer leserlicher Notizen entpuppen sich häufig doch nicht als Papiermüll, sondern als aphoristische Kurzschlüsse („Literatur kann sich nicht gegen ihren Gebrauchswert wehren, und das soll sie auch nicht“), historisch versierte Epiphanien („Hat mal jemand darüber nachgedacht, was es bedeutet, dass kein einziger der führenden Bolschewiken den Weltkrieg erlebt hat?“) sowie private Bekenntnisse („Sonntag, Bußtag des Alleinlebenden“).5 Und gerade in den Aufzeichnungen, in denen Wagners Hand schon mehr vom Parkinson denn von ihm selbst geführt wird, wird er als Dichter und vor allem als Mensch plötzlich evident.
Denn das Archiv ist letztlich auch ein Ort, an dem der Künstler sein Scheitern, seine Versuchsanordnungen und seine Abgründe dokumentiert – ob er es will oder nicht. Einige niemals vollendete Essay- und Romanprojekte, zumeist nur in Form von Gliederungen, Exposés oder erster Seiten ausgearbeitet, deuten an, welchen Themen sich Wagner jenseits seiner Publikationen verbunden fühlte. Zahlreiche Manuskriptfassungen später publizierter Werke geben anhand handschriftlicher Kommentierungen, Korrekturen und Notizen Auskunft über Arbeitsweise, Denkschritte und Selbstkritik im Arbeitsprozess. Aber auch Wagners letztes Essayprojekt, das er aufgrund seiner fortschreitenden Parkinsonkrankheit im Jahr 2016 endgültig aufgab, ist dokumentiert. Es belegt die späte Beschäftigung mit Paul Celan, anhand dessen Biografie Wagner die Genese und Gestalt des deutschen Literaturbetriebs in Rumänien nachvollziehen wollte.6
Wie kann ein Archivar im Vorhinein ermessen, ob ein Bestand es wert ist, erhalten zu werden? Nicht Epigonen werden gesammelt, sondern Impulsgeber – so argumentiert Raulff in seiner Replik auf Lütteken im Feuilleton.7 Es komme, so ist hier zu lesen, sicherlich darauf an, wer der Bestandsbildner sei und ob dieser ein solcher „Diskursstifter“ sei. Doch mehr als darauf, was man bislang von ihm und seinem Werk weiß, kommt es, lässt sich ergänzen, doch auch darauf an, was man (noch) nicht von ihm weiß. Dies eröffnet sich erst durch die Forschung, die sich einem Bestand nach Abschluss der Archivierung mit Fachkenntnissen und gezielten Fragestellungen nähert. Häufig aber kennt man heute die Interessen und Fragestellungen von Morgen noch gar nicht – und es ist wichtig, Bestände nicht nur anhand ihrer momentanen Popularität oder evidenten (Ir)Relevanz zu beurteilen, sondern einen zweiten Blick auf sie zu ermöglichen.
Freilich ist man dabei dem Risiko des unnötigen Datenmülls und der Finanzierung ins Leere gehender Kulturpflege ausgesetzt. Doch ein Archiv ist zunächst einmal das hinterlassene Produkt eines Künstlers. Ist es damit nicht auch selbst ein Kunstwerk? Erst die Forschung begreift das literarische Archiv als wissenschaftlichen Gegenstand. „Die Kunst“, schreibt der Kunstsoziologe Arnold Hauser, „ist eine Quelle der Erkenntnis, nicht nur indem sie das Werk der Wissenschaften unmittelbar fortsetzt und […] ergänzt, sondern auch indem sie auf ihre Grenzen hinweist.“8 Kunst – und dies gilt auch für all ihre Erweiterungen – muss sich nicht durch ihren Nutzen legitimieren. Die ästhetische Selbstvergessenheit des Geistes, in die wir im humanistischen Sinne als Gesellschaft eintreten können, ist Luxus – doch haben wir uns in der Geschichte des Abendlandes bislang noch ein jedes Mal für diese Investition entschieden. Denn schließlich, so Hauser, humanisiert Kunst unser Dasein.9
Wer nach dem offenkundigen Nutzen eines literarischen Archivs fragt, wer auf unveröffentlichtes Material hofft, das zu Buch und Geld gemacht werden kann, oder wer auf die Lüftung eines großen Geheimnisses oder Skandals hofft, der wird in den meisten Fällen – und so auch im Falle Richard Wagners – enttäuscht. Wer das Archiv hingegen als eigenständigen Erinnerungsraum begreift und versteht, dass der Kampf gegen das Vergessen historischer Fakten dort beginnt, wo sich eine Welt hinter dem Werk aufbaut, die dieses in ein weit gespanntes Netz einbettet, der kann erkennen, dass Archive als kollektive Gedächtnisse fungieren, die heute die Aufarbeitung (literatur)historisch drängender Fragen ermöglichen. Wagners Vorlass ist ein Erinnerungsort, der bleiben wird – und der selbst Literaturgeschichte schreibt.

Christina Rossi

 

 

 

Vorwort

Unter einem Wendemanöver ist ein größer angelegtes, raumgreifendes Verfahren der Richtungsänderung zu verstehen – und egal, ob man damit ein Auto, ein Segelboot oder ein Unternehmen um 180 Grad wendet: mit Entschlossenheit wird etwas auf neuen Kurs gebracht. Im Falle des literarischen Werks Richard Wagners, 1952 als Angehöriger der deutschen Minderheit im Banat in Rumänien geboren und 1973 mit seinem Debütgedichtband Klartext literarisch hervorgetreten, lässt sich das Wendemanöver als Begriff dafür heranziehen, was Wagner bereits früh als Ziel seiner damals offen engagierten Literatur definiert: Als er die Temeswar (rum. Timișoara, ung. Temesvár) Literaturszene betritt, ist es sein erklärtes Anliegen, die tradierten Auffassungen von Literatur zu demontieren und neue Wege der literarischen Äußerung zu beschreiten, um der gesellschaftlichen Realität zu entsprechen. Wendemanöver vollzieht er dann als Autor in Gestalt zahlreicher Genrewechsel und thematischer Neuausrichtungen immer wieder. Mit dem Begriff lässt sich aber auch beschreiben, was Wagners Literatur bei ihren Lesern bewirken kann, nämlich ein bewusstes Reflektieren über Normen und Konventionen des Denkens, des Sprechens und des Lesens.
Die Forschung zu Richard Wagners Werk steckt noch in ihren Kinderschuhen. Dabei wird er nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Essayist und Kommentator europäischer und insbesondere genuin deutscher Politik und Geschichte gewürdigt. Im Ausland entstanden teilweise bereits früh und vorwiegend in Frankreich, Rumänien, Spanien, Polen, Ungarn und Tschechien sowohl journalistische als auch wissenschaftliche Beiträge zu seinem Werk und Wirken.10 Seine Rezeption im deutschen Sprachraum ist bislang stark auf Kontexte der rumäniendeutschen Literatur bezogen,11 jenseits derer bisher lediglich etwa das Flaneurmotiv und Erinnerungsdiskurse in seinem Werk vereinzelt Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen geworden sind.12 Der vorliegende Band geht zurück auf eine im Oktober 2016 abgehaltene internationale Tagung zum 60. Jubiläum des Germanistik-Lehrstuhls an der West-Universität Temeswar, im Rahmen derer eine literaturwissenschaftliche Sektion sich mit dem Werk Richard Wagners befasste. Er versammelt die Schriftfassungen einiger der Vorträge und wurde um weitere Beiträge ergänzt. Sein Ziel ist es, das Werk Richard Wagners in seiner thematischen und ästhetischen Vielfalt sowie in seiner zeitlichen Dimension – zählt man die ersten und die letzten, ganz aktuellen Gedichte Wagners mit, so umfasst es bald 50 Jahre – querschnittsartig und exemplarisch und nicht vorrangig im Kontext der rumäniendeutschen Literatur zu erfassen, um neue Fragestellungen anzuregen. Denn jenseits naheliegender Aspekte der Minderheiten- und der interkulturellen Literatur, die einige seiner Romane und Gedichte entbehren, birgt sein Werk zahlreiche Potentiale und Themen, auf die der Blick leicht durch Vorannahmen der biografischen Prägung verstellt wird. Der Band möchte insofern nicht nur Impulse für neue und weitergehende Forschungsvorhaben geben, sondern sich an der Initiierung einer Forschung beteiligen, die Wagner nicht mehr vorwiegend als Autor der deutschen Minderheit aus Rumänien, sondern als deutschen Schriftsteller begreift, dessen Werk einen wichtigen Stellenwert in der deutschen Gegenwartsliteratur einnimmt.
So versteht sich auch dieser Band gewissermaßen als Wendemanöver in der wissenschaftlichen Rezeption Wagners. Er versammelt im ersten Teil Beiträge internationaler Literaturwissenschaftler aus Deutschland, Großbritannien, Rumänien, Taiwan und Ungarn, die sich teilweise erstmals, teilweise bereits seit Jahrzehnten mit dem Autor auseinandersetzen. Christina Rossi geht einleitend auf das Archiv Wagners ein, das sich im Institut für Deutsche Kultur und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München befindet und seit Ende 2017 Forschern zugänglich ist. Sie gewährt nicht nur neue Forschungsansätze und anregende Einblicke in den Bestand, sondern geht aufgrund des konkreten Beispiels auch auf den wissenschaftlichen Wert literarischer Archive ein.
Die Fragestellungen, die die Autoren ihren Beiträgen zugrunde gelegt haben, orientieren sich sowohl an ästhetischen Strategien als auch an dem Werk inhärenten Konzeptionen und Konstellationen etwa von Macht, Identität, Heimat und Diskurshoheit. Die Aufsätze sind nach ihren Themen – soweit möglich – chronologisch geordnet. Andreas Konheisner untersucht die in der Fachliteratur bisher vernachlässigte Kürzestprosa Wagners und liest sie im Kontext des Gesamtwerks des Autors. Robert Elekes analysiert die lyrische Archäologie der Person und des Alltags in zwei frühen Gedichtbänden, während Christina Rossi eine neue Lesart dreier Romane vorschlägt und dabei die Lenkung der Wahrnehmung des Lesers als narrativen Prozess in den Vordergrund stellt. Dominik Zink fokussiert auf die Inkommensurabilität der Erinnerung, indem er Richard Wagners Habseligkeiten und Herta Müllers Atemschaukel hinsichtlich der Rolle der Lagererinnerungen vergleicht. Bei der Prosa bleibend analysiert Beate Petra Kory den Roman Miss Bukarest und geht dem Zusammenhang zwischen der verdrängten Vergangenheit und der Identitätskrise der Protagonisten nach.
Markus Fischer und Ágnes Simon-Szabó widmen sich dem essayistischen Werk Wagners: Fischer wirft einen kritischen Blick auf ausgewählte Artikel aus dem zusammen mit Thea Dorn verfassten enzyklopädischen Opus Die deutsche Seele und reflektiert Grundkonstanten des politischen und historischen Denkens des Schriftstellers, während Simon-Szabó auf die Erinnerungsmetaphorik in Wagners Habsburg – Bibliothek einer verlorenen Welt fokussiert.
Intensiv wird auch die narrative Wende untersucht, die Wagners zuletzt erschienene Prosa Herr Parkinson (2015) eingeleitet hat: Seiner fortschreitenden Krankheit tritt der Schriftsteller offensiv und selbstreflexiv entgegen und findet dafür einen genuin neuen literarischen Zugriff. Drei Beiträge setzen sich mit diesem Werk auseinander: Monika Leipelt-Tsai führt zunächst in die Thematik ein und kontextualisiert den Text in der deutschen Gegenwartsliteratur, um danach auf seine Struktur einzugehen und die Verflechtung von Krankheit und Identitätsfragen zu untersuchen. Brigid Haines setzt diese Auseinandersetzung fort und vergleicht Wagners Parkinson-Diskurs mit anderen Chronisten der Krankheit, wobei sie den englischen Sprachraum einbezieht. Ioana Crăciun schärft den Fokus weiter, indem sie den autobiografischen Text als Bekenntnis eines selbstanalytisch positionierten Schriftstellers liest.
Wie der kurze thematische Streifzug zeigt, ist die vorliegende Aufsatzsammlung bestrebt, Forschungslücken, die sie selbst aufgrund des begrenzten Rahmens der Beiträge nicht füllen kann, aufzuzeigen und weniger beachtete Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Dabei wird das Fehlen komparatistischer Ansätze in der bisherigen Wagner-Literatur besonders deutlich.
Der zweite Teil des Bandes gewährt dank zweier langjähriger Wegbegleiter und Schriftstellerkollegen von Wagner, der Autorin Felicitas Hoppe und dem Banater Dichter Johann Lippet, in kurzen essayistischen Texten einen persönlichen Blick auf den Dichter und sein Werk. Schließlich hat Richard Wagner selbst dem Band exklusiv fünf neue, Anfang 2018 entstandene Gedichte gewidmet. So leistet die vorliegende Sammlung neben einem chronologisch-thematisch verschränkten Gang durch sein Werk auch eine über literaturwissenschaftliche Interpretationen hinausgehende Sicht auf Wagner als Schriftsteller eines Werkes, das sich nicht mit Schlagwörtern und Diskurskategorien erfassen und reduzieren lässt. Genau darin liegen seine Faszination und sein Potential, schließlich auch seine Herausforderung für die Rezeption.
Die Herausgeberinnen bedanken sich bei den Autorinnen und Autoren für die Zusammenarbeit, bei dem Lehrstuhl für Germanistik der West-Universität Temeswar für die Veranstaltung der Konferenz, dem IKGS und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die finanzielle Förderung.

Enikő Dácz, Christina Rossi, Vorwort

 

Inhalt

Einleitung

– Enikő Dácz, Christina Rossi:  Vorwort

– Christina Rossi:  Ein Vermächtnis an die Literaturwissenschaft. Das Archiv Richard Wagners als Erinnerungsgut und Erinnerungsort

 

Interpretationsansätze

– Andreas Konheisner:  In aller Kürze. Zur Kürzestprosa Richard Wagners

– Robert Elekes: „Die Archäologie der Person“. Richard Wagners Hotel California 1 und 2

– Christina Rossi:  Wahrnehmung, Verfremdung, Erkenntnis. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf das Prosawerk Richard Wagners

– Dominik Zink:  Wozu Erinnern? Die Frage nach dem Zweck von Erinnerung in Richard Wagners Habseligkeiten und Herta Müllers Atemschaukel

– Beate Petra Kory:  Vergangenheitsflucht und Identität dreifach gespiegelt in Richard Wagners Roman Miss Bukarest

– Markus Fischer:  Heimat, Grenzen, Narrenfreiheit. Richard Wagners Erkundungen der deutschen Seele

– Ágnes Simon-Szabó:  Die Habsburg-Bibliothek als mythischer Erinnerungsort

– Monika Leipelt-Tsai:  Sprünge, Störungen, Stigma. Richard Wagners Roman Herr Parkinson

– Brigid Haines:  Richard Wagners Herr Parkinson. Die literarische Begegnung mit der eigenen Krankheit im internationalen Vergleich

– Ioana Crăciun:  „Jedes Wort ist zwei Mal in der Welt. Jeder Begriff.“ Krankheit als Spracherfahrung in Richard Wagners Prosawerk Herr Parkinson

 

„Der schreibende Kavalier“. Literarische Spiegelungen

– Felicitas Hoppe:  Sechs Wochen mit Richard Wagner

– Johann Lippet:  ich könnte meinen kopf zum museum erklären oder Richard Wagner in Selbstzeugnissen

– Richard Wagner:  Neue Gedichte

– Autorenverzeichnis

 

Dieser Band

geht auf eine Temeswarer (rum. Timișoara) Germanistiktagung im Jahr 2016 zurück. Die Beiträge widmen sich Richard Wagners lyrischem, erzählerischem und essayistischem Werk in seiner weiten zeitlichen Dimension, ästhetischen Bandbreite und narrativen Vielgestaltigkeit. Wagner, der sich als Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien früh mit einer avancierten, engagierten Literatur als kritischer Querdenker positioniert, hat sich seit seiner Ausreise nach Berlin im Jahr 1987 in die Mitte des deutschen
Literaturbetriebs geschrieben. Das Œuvre des Schriftstellers liefert zahlreiche Beispiele dafür, wie Literatur Räume vermessen kann und Migration auch innerhalb einer Kultur Zwischenräume erzeugt, in denen das Individuum sich selbst und seine Sprache neu finden muss.

Verlag Friedrich Pustet, Klappentext, 2018

 

Die nichtigen Wörter. Über einen immer neu

erhobenen Ton der Verzweiflung an der Literatur

Intellektuelle Clowns verbringen stille Tage nicht in Clichy, sondern im Café Größenwahn, wo das Sinnige, das serviert wird, je deutlicher nach Müll schmeckt, desto länger man es auf der Zunge hat. Die Intellektuellen: die Schriftsteller. Da sie diesen ihren Titel jedoch heute den Talk-Show-Mastern und –Masterinnen verdanken, die ihnen gemeinsam mit anderen Medien-Agenten ihre Portion an öffentlich anerkannter Intellektualität zumessen, und sich solcher Maßgabe bereitwillig fügen, sind sie zu Clowns, zu ernsthaften Karikaturen ihrer selbst geworden, die bei Kaffee, Zigarette und Nachdenklichkeits-Vibrato den Wahn ihrer Größe pflegen. „Wir simulieren und meinen es zugleich bitter ernst“, sagt der Schriftsteller Richard Wagner über die Schriftsteller. Wer, so Wagner, heute noch Schreiben für eine hohe, seltene, einsame Kunst hält, nur von wenigen schwer und ohne besondere Begabung gar nicht zu erlernen, verfängt sich im „Mythos Schreiben“. Wer schreibt heute nicht? Alle schreiben oder lassen schreiben, die Ex-Bundeskanzler und die Alt-Schauspieler, die CEOs und die Sozialhilfe-Empfänger, die Fußball- und die Guitarre-Spieler, die missbrauchten Töchter und die erfolgreichen Töchter, die SS-Enkel und die 68er-Söhne, die Ankläger und die Rechtfertiger, die Veränderer und die Bewahrer, die Gewinner und die Verlierer… „Weiß der Schriftsteller tatsächlich mehr als alle anderen?“ Warum sollte gerade er mehr von dieser sich ständig neu übertreibenden und überschreibenden Welt wissen als alle übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Deutungs-Wettbewerb? Warum fragt man immer wieder ihn nach seiner Meinung über alles jedes, ihn, der nichts gelernt hat als eine veraltete, medial hoffnungslos rückständige Kunst? Ja, warum? Eine vernünftige Antwort gibt es nicht. Aber vielleicht eine literarische.
1987 ist Richard Wagner aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Als Aussiedler. Sein ersten beiden Gedichtbände Schwarze Kreide (1991) und Heiße Maroni (1993) siedeln dementsprechend aus dortigem Deutsch, dessen Semantik und Syntax sich verflüchtigen, in ein hiesiges um, dessen Wörter und Sätze aufgespürt, aufgefunden und zu einer deutungskräftigen Grammatik neu verdichtet werden müssen.

Ganz ruhig stellen sich die Wörter ein.
Und decken nichts auf.
Und decken nichts zu.

Wort, ohne alle weitere Bestimmung und Beziehung. Ohne Dach, durchsichtig vom Boden bis zum Keller. Die Bedeutungen der Wörter sind in ihnen selbst eingestellt. Es gibt nichts zu entdecken. Doch:

Der vergebliche Rand steht
dir aus den Wörtern entgegen.
Es ist der vergebliche Rand
der Gefühle.

Am Rand der eingestellten Bedeutungen regen sich die Gefühle. Mehrdeutig. Vergeblich für sich selbst, denn am Rand regloser Bedeutung sind sie unbedeutend. Vergeblich für die Bedeutungen, denn am Rand der Gefühle können sie sich nicht halten, so dass sie wegweisend ins Leere fallen. Und während Unbedeutendheit und Bedeutungslosigkeit einander vergeben, vergiften die Gefühle mit dieser Vergebung zugleich die Wörter, aus denen sie entstehen. Gefühle vermitteln. Unmittelbar. Sie werden Beziehung immer schon hergestellt haben, bevor die Sprache sie mit ihren Wörtern in einem syntaktischen Netz von Bezüglichkeiten nach- und zur semantischen Verfügung stellt. Vergiftete Wörter vermitteln nichts mehr. Sie überlassen die Gefühle ihrer Unmittelbarkeit bis zur Versachlichung:

Die Dinge sind einzeln.
Die Bedeutung steht neben dem Wort
und grinst.

Nicht dass dem lyrischen Ich die Sprache im Mund zerfiele. Schon gar nicht wie modrige Pilze oder sonst irgendetwas aus dem Archiv der hergebrachten Vergleiche mit natürlichem Werden und Vergehen. Aber in seiner neuen Sprach-Heimat lösen sich ihm die bisher selbstverständlichen Momente des Sprechens von etwas – die Wörter, die Bedeutungen, die Gefühle – voneinander, negieren, differenzieren, detachieren sich, lähmend, vergiftend, verspottend, indem sie eine andere Sinnform von Gesellschaftlichkeit nicht nur vor-, sondern auch aufzeigen:

Die Wörter treiben
in der Luft,
haltlose Gegenstände.
Geschmeidig gleiten die
Menschen
unter ihnen weg.

Die selbstverständliche Grammatik ist in der alten Heimat zurückgeblieben, die der neuen entzieht sich ihrer Selbstverständlichkeit:

Der Fluss ist auf der Flucht.
Die Eltern müssen bleiben.

Die Dinge, die Wörter, die Bedeutungen ent-gehen dem lyrischen Ich, fließend, fliegend, fliehend, tanzen wie Luftballons und Seifenblasen um seine Deutungsversuche herum, umreißen einander aber in dieser Vereinzelung ebenso einsichtig wie eindrücklich – „die nichtigen Wörter, die jedes Mal leuchten.“
Was erwartet ein Bewohner des Elfenbeinturms, der das Getümmel einander zeichnender und überzeichnender Sinnbilder und Sinnbildungen vornehm und vorsichtig übergipfelt, von Literatur?

Etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewusste Möglichkeit der Wirklichkeit bewusst macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken.

Das lyrische Ich in Richard Wagners Gedichten weiß nicht mehr als der Sprach- und Bedeutungsbetrieb, in dem es sich neuerdings bewegen soll. Es weiß weniger als „früher, als die / Dinge noch zugänglich waren / für das Auge, / für die Hand“, als die Gefühle den Bedeutungen noch den Weg bahnten, damit sie mit den Dingen gehen und sie zu einem sich mit sich selbst auseinandersetzenden Ganzen vereinbaren konnten, statt sie zu vereinzeln und grinsend neben ihnen zu stehen. Die alte sinngebende Sprache ist tot, die neue noch nicht erwachsen, noch unvermögend, ihre Glieder abschätzend zu recken und einvernehmlich zu gebrauchen. Aber dieser unfertige, noch anzuknüpfende Zusammenhang setzt neue, bisher nicht bewusste Möglichkeiten der Wirklichkeit frei, neue Zugänge „für das Auge / für die Hand“, zu sehen, zu denken, zu sprechen.
Sieben Jahre nach Heiße Maroni, in Richard Wagners nächstem und bisher letztem Gedichtband, ist das lyrische Ich Mit Madonna in der Stadt. Und was bringt ihm das ein? Dass es sich verdoppelt. Es sei September, erzählt es ihr und uns, „die großen Bedeutungen bleiben nicht aus […] / und es riecht nach Laub, aber das sind bloß die Dichter, / die in den Vorzimmern liegen und schnarchen, damit man sie besser hört.“ Es wird Herbst, Erntezeit, Sterbezeit, in der die groß gewordenen Bedeutungen den Geschmack von welkendem Laub haben, während die Sprache ihren Dichtern im Schlaf einen Laut gibt, der das Bedeuten mit dem Welken verschmilzt, „damit man sie besser hört“ – die Dichter. Aber der Autor, der Stimm- und Stichwortgeber dieses lyrischen Ichs, ist doch wohl auch ein Dichter und schnarcht mit in den Vorzimmern, bewusst- und ahnungslos über die hier vor ihm liegenden neuen syntaktisch semantischen Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu sehen, zu denken, zu sprechen. Wahrscheinlich träumt er von sich und Madonna, der er im Traum von den Dichtern erzählt, die… Brechen wir das Wann ab, tauchen wir unter der sich zuziehenden Endlosschleife weg und fragen wir demzufolge die Gedichte nach ihrem Wo, nach der Örtlichkeit der Stadt, durch die sie sich mit Madonna bewegen.

Niemand weiß, wo wir sind.
Das Dach ist kein Dach über dem Kopf.
Das Dach ist das Dach der Welt.
Darunter wäscht eine Hand die andere.

Unsinn. Wir, Madonna und Ich, wissen es ganz genau: am Dach der Welt. Aber das ist kein Dach über dem Kopf, sondern der Himalaja, ein Dach höchstens über dem Kopf der Welt, falls sie einen hat, ein Dach jedenfalls, unter dem man nicht gehen und stehen kann, aber trotzdem wäscht dort eine Hand die andere. Das Dach ist kein Dach ist ein Dach. Unsinn? Oder vollkommene Zweideutigkeit, in der die Bedeutungen reinweg von Hand zu Hand gehen, immer entscheidend, aber nie entschieden?

Es sind Stimmen in deinem Ohr. Sie sind innen
und außen und sie sagen etwas. Und was sie
sagen, ist nicht der Rede wert, aber es leuchtet.

Schon in Richard Wagners erstem Gedichtband Schwarze Kreide leuchtet’s. Da sind es „die nichtigen Wörter, die jedesmal leuchten. / Die jedesmal leuchten.“ Nicht nur sie. Auch „das Geld leuchtet, wie nach dem Regen die Blätter der Bäume / leuchten.“ Die nichtigen Wörter, das Geld, die Blätter. Was leuchtet? Oder besser: Wo leuchtet’s? Nach dem Regen auf den Baumblättern. Also dort, wo die zurückkehrende Sonne den vergangenen Regen trifft, wo Feuer und Wasser, wo der reinste Gegensatz sich berührt, ohne in seiner Gegensätzlichkeit zu erlöschen. Im Gegenteil: Er leuchtet auf. Wenn, wie das Gedicht behauptet, dieses Leuchten dem des Geldes gleicht, dann muss es sich an einem Berührungspunkt entzünden, der die einzelne und sichtbare Vermittlung eines einfachen Gegensatzes auf die allgemeine und unsichtbare des reinen Äquivalents in allem gesellschaftlichen Tausch bezieht und in ihr aufgeht. In dieser Mitte, auf diesem zentralen Platz, den sinnstiftende Sprache während dauernder Selbst-Ermittlung rastlos überquert, werden die Wörter, in denen sie geht, nichtig, weil sie ihre Bedeutung an ihn verlieren müssen, um sie erst auf seinem Wegnetz wiederzufinden. Diese zwischen Wörtern, Sätzen und Texten immer und überall aufleuchtende Mitte bedingt die Bedeutungen, ohne sich in und von ihnen fassen zu lassen. Sie bleiben, sobald sie feststehen, an der Peripherie, in den einander bedürftigen Extremen, und das Grinsen vergeht ihnen, wenn die Wörter aufbrechen, um sich von ihnen zu verabschieden und die Möglichkeiten zu prüfen, die in der Macht dieses Abschieds liegen.
Das ebenso heimatlose wie heimatsüchtige Ich der ersten beiden Gedichtbände beobachtet solches Leuchten mal hier mal da, an den zufälligen Ecken und entlegenen Enden seiner neuen Sprach-Welt, über die es weniger weiß als ihre ständigen Bewohner, während es zugleich in diesem Weniger kraft notwendiger Aufmerksamkeit mehr wahrnimmt als sie. Sieben Jahre später scheint es, vielleicht dank des Tete-a-Tetes mit Madonna, das Prinzip, den Grund-Satz seines Mal-hier-mal-Da gefunden zu haben:

Es sind Stimmen in deinem Ohr. Sie sind innen
und außen und sie sagen etwas. Und was sie
sagen, ist nicht der Rede wert, aber es leuchtet.

Wenn Wörter und Sätze sinnstiftende Vermittlungen eingehen, lassen sie ihre anfängliche Bedeutung hinter sich zurück, um sich in ihrer Vereinigung eine neu vereinbarte zu geben, die sich der anfänglichen wiederholend, aber nicht wieder hersagend, in aufleuchtendem Untergang erinnert. Wenn nun aber diese anfängliche Bedeutung in ihrer unvermittelten Gegen-Sätzlichkeit erhalten bleibt? Wenn es auf dem Markt für Sinngebungs-Ware keinem Angebot mehr gelingt, Konkurrenz-Produkte zu vertreiben oder auch nur zu verknappen, so dass, was es auch bietet, andere mitbieten, sich, unter- oder überbietend, an und mit ihm messen?  Wenn der neuen Erhältlichkeit der New Economy die neue Disponierbarkeit eines New Discourse entspricht, in dem die aus der Erinnerung aufleuchtende Bedeutung den gesamten Handelsplatz Sinnvermittlung stroboskopisch illuminiert und es keine Stimme gibt, die nicht andere Stimmen auf den Plan riefe? Marktfahrer und Marktbesucher erfahren vor und in allem Handel doppeltes Gehör: eine Stimme innen, diejenige vollzogener, sinnerzeugender Vermittlung, und zugleich eine außen, diejenige darin ebenso untergegangener wie daraus wieder hergestellter anfänglicher Unmittelbarkeit, beide in einander herausforderndem Wettbewerb. Nicht als ob das, was beide Stimmen in ihrer vielfachen Verdoppelung sagen, der Rede wert wäre. Der Rede Wert, ursprünglich in der stummen Mitte aller Diskursivität gelegen, aus der er sich im System der Bedeutungen vollkommen, aber nie vollständig zur Sprache bringt, ist in unzählig einzelne Gelegenheiten aufgesplittert, die der Rede Wert nicht wert sind, aber von nichts anderem sprechen als von ihm. Deshalb leuchten sie – widerspielende Lichter jener schlicht einfachen Helligkeit, derer das lyrische Ich der ersten beiden Gedichtbände Richard Wagners zwischen Sonne und Regen auf dem Baumblatt gewahr wird.
Weiß der Schriftsteller, der sogar Madonna begreiflich machen will, dass immer zwei Stimmen in ihrem Ohr sind, mehr als alle anderen Anbieter auf dem Sinn-Markt? Falls ja: Was in welcher Weise? Die Literatur hat die Ahnung und die Antwort schon lange. Auch das Modell.
Im Oktober 1786 lässt sich ein Reisender in Selbst-Ermittlung auf Bedeutungsjagd – kein Bewohner des Elfenbeinturms – von zwei Gondolieri „den Tasso und Ariost“ im Wechselgesang vortragen. An der Giudecca steigen sie aus.

Sie teilten sich am Kanal hin, ich ging zwischen ihnen auf und ab, so dass ich immer den verließ, der zu singen anfangen sollte, und mich demjenigen wieder näherte, der aufgehört hatte. Da ward mir der Sinn des Gesangs erst aufgeschlossen.

Madonna und ihr Publikum, ihre Bewunderer und ihre Verächter, die ein Idol oder die ein Geschäft aus ihr machen: Sie alle drängen in die Mitte zwischen den beiden Stimmen, an den Ort, von dem her sie sich möglicherweise ordnen, überwachen, beherrschen zur orchestrierenden Bereicherung der eigenen Stimme machen lassen. Das Gedränge ist groß. Der Lärm, in dem die sich bedrängenden Stimmführer einander zerreden, wird immer größer. Schriftsteller wenden sich von ihm ab und der Stimme zu, die eben verstummt, um die eben anhebende aus dem Abklang dieses Verstummens wahrzunehmen. Sie sind in der Vermittlung der Unmittelbarkeit, an der Unmittelbarkeit der Vermittlung gewärtig. So bleibt ihnen die Sinngebung vielstimmiger Diskursivität auch dort gegenwärtig, wo sie im medialen Lärm zu versagen und zu versiegen droht. Sie verfallen dem „Mythos Schreiben“ nicht. Sie verkörpern ihn, indem sie der Rede Wert überall wert halten. Wissen sie dadurch tatsächlich mehr als alle anderen im Konkurrenzkampf um Sinn-Markt-Macht? Nicht mehr als das Echo zwischen einem Kleinbuchstaben und einem Grossbuchstaben. Aber das leuchtet.

Wolfram Malte Fues, Juni 2007, in Weimarer Beiträge, 2008

 

 

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Zum 60. Geburtstag von Richard Wagner:

Anton Sterbling: „Gegen den Ausverkauf unserer Werte“
Siebenbürgische Zeitung, 11.4.2012

Lena Bopp: Woher einer kommt und wohin
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.2012

Zum 65. Geburtstag von Richard Wagner:

Nicole Henneberg: Rumäniendeutsche Endmoränen
Der Tagesspiegel, 10.4.2017

Horst Samson & Anton Sterbling (Hrsg.): Die Sprache, die auf das Nichts folgt, die kennen wir nicht
Pop Verlag, 2018

Zum 70. Geburtstag von Richard Wagner:

Andreas Platthausen: Überlebt, das auch, ja
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.2022

Anton Sterbling: erlebnisse steigen wie papierdrachen auf
Siebenbürgische  Zeitung, 10.4.2022

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