SEKUNDENGEZÄHLT
Für Ludvik Kundera
„One doit plus dormir“ Pascal
Wir wissen −
aaaaaaaaaaaanoch,
aaaaaaaaaaaawieder.
Wie’s ankroch
unter den
schnellenden Zungen:
aaaaaaaaaaaSprachloses,
aaaaaaaaaaadicht.
Angstweiß:
zerfasert der Blickhorizont,
das dünne Vertrauen.
War schon
ein Stern −
aaaaaaaaanah?
Hinter der Netzhaut,
was?
aaaaDa gruben sie sich ein
aaaain die kopflose
aaaaErde
Wann
aaaaagestern
aaaaaaaaaaamorgen?
immer, es gibt kein −
Wir wissen.
Eine Begegnung mit dem lyrischen Werk Erich Arendts, das hier zum ersten Male vollständig vorgelegt wird, stellt den Leser in vielen seiner Teile vor nicht einfache Fragen. Diese ergeben sich u.a. auch daraus, daß sich die Entwicklung dieses Werkes nicht ohne innere Widersprüche und Brüche vollzogen hat. Wird der erste Teil, etwa bis einschließlich der Dichtung Tolú, noch von Erlebnissen getragen, die diese Gedichte im besten Sinne zu Erlebnisgedichten werden ließen, so konfrontiert das spätere Werk Arendts den Leser direkt mit einer Wirklichkeit, in der solche erlebnishaften Momente fast völlig hinter einer Bildwelt zurücktreten, die in keiner Weise mehr kommentiert wird. Fast nie tritt der Dichter als lyrisches Ich in Erscheinung. Äußerungen des Autors über seine Gedichte gibt es so gut wie nicht. Lediglich im Vorwort zur Insel-Ausgabe der Dichtung Tolú findet sich ein Hinweis, der auf die spätere Beziehung Arendts zu einer Wirklichkeit hinführt, die mit den Flug-Oden in die Dichtung eindringt:
Denn in dieser dünnbesiedelten Weite – Kolumbien… – umgibt den Menschen, uneingeschränkt, der kosmische Raum. Erdreich, Strom, Meergestade, Gras und Fels, Baum und Gebirg gehören noch einer ursprünglichen Planetenwelt an, über die der Mensch nicht gebietet. Ein… Flug über die Unermeßlichkeit des Urwalddickichts, über die rohen und starren Massive der Anden, die horizontlosen Fluchten der Savannen und Steppen, wo des Menschen Siedlung wie verloren ist oder in einem blättergrünen Meer ertrinkt, enthüllt dieses Erdraumes alles bezwingende Größe, seine Unbedingtheit und kündet seine gewaltsame Herrschaft über den Menschen.
Der Weg, der zu solcher Lyrik geführt hat, erschließt sich aus Arendts Biographie, aus der zeitlichen Entwicklung seiner Dichtungen und seiner poetischen Anschauungen.
Erich Arendt, 1903 in Neuruppin geboren, beginnt seinen Weg mit Gedichten, die in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm veröffentlicht werden. Herwarth Waldens Sturm-Kreis hatte sich eine Erneuerung der Künste „von innen“ zum Ziel gesetzt. Nach Walden galten Kunst und Tatsachen als „zwei Welten“; der „Künstler“ habe nicht den „Eindruck von außen“, sondern den „Ausdruck von innen“ zu schaffen. Als Voraussetzung des Kunstwerks galten den Künstlern des Sturm das „innere Gesicht“, die „Offenbarung“. Die vom Sturm aufgestellte Lehre von der Wortkunst umfaßte Grundsätze, die den Rhythmus, den Wortklang und das Wortbild in den Rang absoluter Phänomene erhoben. Der Rhythmus sollte „eine Entsprechung der inneren Bewegung der Offenbarung sein“. Für den Versrhythmus sollten und durften keine Regeln gegeben werden. WaIden verkündete: „Jede Dichtung ist aber alogisch. Die Dichtung als Kunstwerk hat nichts mit der Logik zu tun, die aus der Erfahrung hergeleitet wird, aus der Erfahrung der Sinne und aus der Erfahrung der Tatsachen.“ – Arendts Gedichte, die in dieser Zeit entstehen, folgen dem Vorbild des Expressionisten August Stramm, dessen Lyrik in Übereinstimmung mit Waldens Theorien stand, ja auf diese Theorien zurückgewirkt hat.
Arendts Bemühen, den Stil August Stramms in Hinsicht auf eine größere verbale Dynamik weiterzuentwickeln, zeigt sich deutlich im Vergleich von zwei Gedichten:
August Stramm Erich Arendt
Allmacht Alt
Forschen Fragen Stirn tupft Denken
Du trägst Antwort Runzelt Fragen
Fliehen Fürchten Schmerzen schwielen Bitten Gram mir zu
Du stehst Mut! Blicke stottern in die Öde
Stank und Unrat Hüsteln kümmert
Du breitst Reine Lippen strauchel über das Vergessen
Falsch und Tücke Kümmern
Du lachst Recht! Leiden denkt und stumpelt Wehe
In mein Herz
Bittern kifft den Mund verängsten
Wahn Verzweiflung Und
Du schmiegst Selig Schlottern Schlottern
Tod und Elend Humpeln Stumpeln
Du wärmst Reich! Trotteln Trotteln
Hoch und Abgrund Lahmen Lahmen
Du bogst Wege Elend zerstolpert Mühen um Verzeihung
Hölle Teufel Lahmen bricht
Du siegst Gott! Und
Sinken Sinken
Und
Entsinken!
Gläubig
Krüppelt auf der Blick zu Gott
Da das Programm des Sturm keine Entwicklungsmöglichkeiten enthielt und die Gedichte der Allwohn, Mürr, Liebmann, Schreyer, Behrens u.a. sich wie ein Ei dem anderen glichen – nur wenige Dichter, die dem Sturm-Kreis, zumindest zeitweilig, angehörten (Else Lasker-Schüler, Jakob von Hoddis, Paul Zech, Alfred Mombert), hatten eine eigene Sprache oder fanden sie später −, erscheint es folgerichtig, daß das Sturm-Programm in seiner Einseitigkeit auch dem jungen Erich Arendt keinen gültigen Weg zu weisen vermochte. Die Orientierung auf eine „absolute lyrische Wort-Kunst“ bot aber zumindest einen Aspekt, der dem politisch und künstlerisch zunächst orientierungslosen Adepten verführerisch scheinen mußte: die Abkehr von der Verflachung der Sprache in der bürgerlichen Waren-Gesellschaft der Republik von Weimar. Indem aber die Sprache der allgemeinen Kommunikation bewußt entzogen wurde, entzog sie sich der gesellschaftlichen Kommunikationsmöglichkeit schlechthin.
Die Reduzierung auf eine rein assoziativ-lyrische Dynamik im Inneren des Gedichts, der Verzicht auf die Möglichkeiten der Sprache, als logisches Mittel der Kommunikation zu wirken, waren Ausdruck eines Endpunktes der expressionistischen Bewegung. Die Impulse, die vom Expressionismus ausgingen, waren zunächst erschöpft, einige seiner entscheidenden Protagonisten nicht mehr am Leben: Stadler, Trakl, Stramm waren Opfer des ersten Weltkrieges, Heym bereits 1912 tragisch verunglückt. Johannes R. Becher hatte sich bereits 1917 vom Expressionismus gelöst und wurde zum entscheidenden literarischen Anwalt des revolutionären Proletariats. – 1926, im gleichen Jahr, in dem seine ersten Gedichte im Sturm erscheinen, wird Erich Arendt Mitglied der KPD. Dem politischen Engagement entspricht der Wille des jungen Dichters zur politischen Thematik im Gedicht. Das in dieser Zeit entstandene Gedicht „Folterung“, Szanto und Genossen gewidmet, macht indes den Widerspruch offenbar, in dem sich Arendt befand. Es gelingt ihm noch nicht, seiner politischen Identität einen entsprechenden Ausdruck zu geben. Der geballte expressionistische Stil agiert in einem gesellschaftlich leeren Raum. Die herausgestoßenen Verben und Substantive rufen zwar den Schrecken von innen heraus an, vermitteln jedoch nicht eine verbindliche politische Aussage. Schrecken und Grauen gewinnen so in ihrem elementaren Ausdruck Gestalt, bleiben aber menschlich allgemein.
Wie ernst es Arendt war, seiner politischen Entscheidung die künstlerische folgen zu lassen, beweist die Tatsache, daß er sich dem von Johannes R. Becher geführten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller anschließt. Nicht widerspruchslos ergibt sich für ihn die Verpflichtung, nun eine Lyrik zu schaffen, in der sein eindeutiges politisches Engagement einen entsprechenden künstlerischen Ausdruck findet. Von der Zielstellung des Sturm-Kreises, der eine rein sprachliche Revolutionierung des Wort-Kunstwerkes anstrebte, vollzieht sich der Übergang zu einer Kunst, die das formale Experiment bewußt zugunsten einer verbal-deutlichen Parteinahme für die Sache des Proletariats zurückstellt. Zeugnisse dieser für Arendt sicherlich nicht konfliktlosen Übergangszeit sind nicht erhalten. Erst mit Beginn der Emigration, 1933, und mit der Teilnahme am Freiheitskampf des spanischen Volkes zeigen sich in Arendts Schaffen Ansätze eines dichterischen Neubeginns. In Sonetten und Balladen, die in den dreißiger Jahren entstehen, wird ein politisches Engagement deutlich. Dabei wendet sich Arendt dem paradigmatischen Gleichnis zu. Figuren aus der Antike und aus Epochen bürgerlicher Befreiungsbewegungen werden durch Anliegen und Werk zu Sprechern für die neue, gesellschaftlich konkrete Menschlichkeit, für die Arendt, Seite an Seite mit seinen Kameraden in einer katalanischen Einheit der republikanischen spanischen Armee, kämpft. Die in den ersten Jahren der Emigration entstehenden Gedichte – 1951 in dem Band Trug doch die Nacht den Albatros zusammengestellt – bereiten mit ihren Themen und Motiven vor, was für die spätere Lyrik Arendts bestimmend sein wird: die Meeresthematik, die Anrufung antiker Gestalten, das antiker Mythologie entnommene Symbol, das dem Text integriert wird, das übergangslose Gegenüber der Kontraste von Licht und Schatten, Dunkel und Helle, Tag und Nacht, von nacktem Fels und menschlichem Gesicht. Der Gedichttypus, der in diesen Jahren entsteht, wird von Distanz und magisch beschwörender Evokation gekennzeichnet. Die Diktion dieser Verse läßt das Vorbild des Franzosen Arthur Rimbaud, etwa der „Rages de Cesar“ oder „Morts de quatre-vingt-douze“, erkennen. Arendt schreibt mit diesen Gedichten ein Kapitel antifaschistischer deutscher Exilliteratur, das vor allem durch die Distanz vom unmittelbaren Erlebnis bemerkenswert ist: es widerspiegelt zwar in der Vielzahl von Stationen, Orten und Landschaften die Situation des unruhig Umhergetriebenen; aber Arendt unterliegt nicht der Versuchung, in unmittelbar-distanzlose Klage auszubrechen. Brechts Vers „Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd, / durch die Kriege der Klassen“ findet im nicht nur von ungefähr getriebenen und verschlagenen Ulysses und im magisch beschworenen Gleichnis vom Albatros in Arendts Gedicht seine Entsprechung. Beide Gedichte erhellen in Stil und Sprache und in der Übereinkunft von Tradition und Moderne den Weg, den der Dichter zu gehen hat. Mit dem Ulysses-Sonett wird ein Motiv angeschlagen, das sich in Arendts späterem Werk bis zur Umkehr der Identität abwandeln wird. Das Sonett gibt einen Sachverhalt paradigmatisch, jedoch unverschlüsselt wieder: die Identität ist unverhüllt, das Schicksal des Dichters gleicht dem aus Ithaka Verschlagenen. Aus der Situation des nicht von ungefähr Getriebenen und Verschlagenen baut das Gedicht seine Hoffnungs-Motive auf. Wind und Stillen werden zur Sendung, sein Lächeln wird ins Unbekannte getragen, wo nur Menschenblut den Tag bestimmt. Die Menschlichkeit des Vertriebenen, metaphorisch fixiert im Lächeln des Ulysses, macht Felsen und der Ödheit Raum tönend. Diese Motive werden in den Terzetten hart mit der Realität des verschlagenen Emigranten konfrontiert: das Fischerdorf der Balearen wird mit dem todesharten Graun identifiziert, wo der Hände Mut verfällt. Im Schluß-Terzett bauen sich die Hoffnungs-Motive noch einmal auf: im Gesicht einfacher Bauern und Fischer wird der klare Glanz der Unerschrockenheit wiedergefunden; der Fels der Welt tönt noch; Ulysses’ Lächeln wird hier in jedem Mann wiederbegegnet. – Was Arendts späteres Werk auszeichnet, wird hier bereits vorgeformt: ein Stil beginnt sich herauszubilden, in dem die lyrische Bewegung nicht aus der äußeren Dynamik eines beschriebenen Vorgangs, sondern aus der Beziehung miteinander kontrastierender Substantive und Verben kommt: Wind und Stille, Ödheit und Fels, die tönend werden, todeshartes Graun und Glanz der Stirnen werden als Zeichen gesetzt, die die Situation mehr unmittelbar signalisieren als beschreiben. Die metaphernlose Sprache der Sturm-Zeit wird abgelöst von einem Stil, der sich mehr und mehr der Metapher im Sinne Lorcas – „Ein dichterisches Bild ist immer eine Sinn-Übertragung“ – bemächtigt.
Als einzige große Metapher eines Gefühls, wie Hölderlin das lyrische Gedicht kennzeichnet, muß die Ballade vom Albatros verstanden werden. Rückschauend auf die ersten Jahre der Emigration, wird die Fahrt des Schiffes zur Metapher der Emigration überhaupt. Die einzelnen Bilder sind angefüllt mit Bedeutungen: Ziel und Ungewißheit, Glück und Bedrohung, Resignation und Bewußtsein der revolutionären Aufgaben verdichten sich in ihnen. Der Gegensatz von Ruhe und Bewegung, gefaßt im Bild von Windstille und Sturm, gibt der Ballade ihre innere zeitgeschichtliche Dynamik. Gleichnishaft wird der Zornesschrei des Albatros zur Verkörperung des Bewußtseins gesellschaftlicher Bewegung:
aaaaaWenn die tiefe Stille ihn verdroß,
aaaaaflog mit Zornesschrei der Albatros…
Erst im Sturmwind, der mit weißem Biß
in die Tiefen fuhr, daß Nacht und Meer aufschäumten,
kam er wieder, als mein Segel riß,
Blitze lachten, schwarz die Wogen bäumten,
als die Meergruft auf mein Schiff sich schmiß:
aaaaaDunkler Pfeil, der durch den Himmel schoß,
aaaaaschwang durch Sturm und Licht der Albatros.
Politisch thematisiert sich hier Arendts Wendung gegen gesellschaftliche Erstarrung. In der Umkehr traditioneller Werte – das Sturm-Bild bekommt positiven Gehalt – greift die Ballade vor auf das späte Gedicht „Odysseus’ Heimkehr“. Beide Gedichte, das Ulysses-Sonett und die Albatros-Ballade, markieren Pole der dichterischen Entwicklung Arendts: Zurückgezogenheit, Distanz, Evokation des Begriffs einerseits; weitschweifende balladeske Dynamik andererseits. Zwischen diesen Polen stehen Gedichte, die sich Städten und Gestalten zuwenden, Stationen der Emigration erinnernd. In diesen Gedichten wird kaum eine Identifikation angestrebt; mehr beschreibend als leidenschaftlich teilnehmend, wird in ihnen eine Szenerie aufgerufen, die am Wege zurückgelassen werden muß:
Die Mühlen richten ihre Flügel
ins Mondlicht regungslos und starr,
aaaaadie hölzernen Arme starr.
(„Nacht auf Ibiza“)
In diesen Gedichten sammelt sich konzentriert die Bitternis der Heimatlosigkeit. Kaum tritt der Dichter in Erscheinung, auch dann nicht, wenn menschliches Schicksal heraufbeschworen wird, wie in dem Gedicht „Berberin“. Es scheint, als nähme der Dichter an diesem Schicksal nicht teil; er überliefert es lediglich in knappen Beschreibungssätzen:
Ihr Leib war schlank und wie die Rifnacht braun…
Das ist ihr Los: Der Leib zerfällt in Glut und Staub.
Sind die Gedichte dieser Zeit auch noch an herkömmliche lyrische Diktionen gebunden – die strenge Form des Sonetts und die Reimstrophe herrschen vor −, so offenbaren sie doch Arendts Streben nach einer größeren, nicht unmittelbar an die lyrische Gelegenheit gebundenen Menschlichkeit. In den Gedichten des spanischen Freiheitskampfes, der 1951 erscheinenden Bergwindballade, für die Arendt zusammen mit der Dichtung Trug doch die Nacht den Albatros mit dem Nationalpreis ausgezeichnet wird, zeigt sich das deutlich: nicht nur das unmittelbare Erlebnis wird zum Gegenstand der Gedichte, sondern Gestalten wie Goya, Cervantes, Lorca werden als Repräsentanten einer Kontinuität begriffen, in denen sich Aufstieg und Niederlage der gerechten Sache des spanischen Volkes verkörpern. Arendts Bestreben, die Wirklichkeit zu überhöhen und in Gleichnissen Bilder zu schaffen, die mehr als nur die konkrete Sache meinen, bereitet sich in diesen Gedichten vor. In dem Sonett-Tryptichon „Goya“, dessen Szenen der „Schrecken des Krieges“ die gesellschaftlichen Voraussetzungen der spanischen Tragödie transparent werden lassen, wie auch in den Sonetten „Die Arena“ wird die Realität des Gedichts bis zur Grenze des Sagbaren getrieben. Der Tod bekommt Gestalt im Bild der herrschenden Klasse, der mit dem Klerus paktierenden spanischen Feudalaristokratie:
Der Spuk der Fledermäuse flatternd niederfällt.
Ihr kniet vor aufgeblähten schwarzen Vogelscheuchen,
mit denen Priester euch erschrecken ohnegleichen.
Ihr betet an! Durch eure Dummheit halten sie die Welt
in Diebesfingern. Wie sie morderfahren
das Glück aus euren Herzen reißen!…
Das Motiv des Todes gewinnt in den Spanien-Gedichten immer neue Figurationen: In der „Arena“ ist es die Stille, die vor Entsetzen Gnade schrein will, im Gedicht „Die Hände“ sind es die abgehackten Hände eines erschossenen Bauern, die, zur Faust geformt, an alle Scheiben blutig klopfen, in „Toter Neger“ die Haut, die dunkler wird und, wie der Abendhimmel überm Kral einst, violett, in „Barcelona“ verdichtet sich das Motiv zum Blut der Kinder, das schwarz von dunklen Balken tropft, in „Francos Dorf“ schließlich erscheint der Tod, der auf seiner Runde naht, in Gestalt der Guardia Civil. Arendt versichert sich in diesen Gedichten einer Sprache, die das Grauen und Entsetzen, das die Franquisten verbreiten und das sich jeder naturalistischen Beschreibung entzieht, sagbar macht. Er hat damit als Dichter eine Position erreicht, in der sich die aus der Realität des Klassenkampfes gewonnene Erfahrung in poetischer Eindringlichkeit im Gedicht konzentriert. Die Szenen, die Jahre vor dem ersten Weltkrieg in den apokalyptischen Visionen des Georg Heym gewitterartig aufleuchten, sind jetzt auf spanischer Erde erneut Wirklichkeit geworden. Aber Arendt weiß auch, daß die Niederlage des spanischen Volkes nicht endgültig sein kann. Als er 1941, aus Frankreich kommend, noch einmal, illegal, nach Spanien zurückkehrt, spricht er in den aus Todes- und Leiderfahrung gewobenen Bildern „Saragossa 1941“ zwar mit scheinbarer Endgültigkeit von der Stadt, die steinern ruht: ein angstverheertes Grab, aber in einem anderen Gedicht wird eine zerstörte „Brücke in den Pyrenäen“ Symbol für die unvergessenen Kämpfer, die sie eines Tages ins gute und freie Leben führen wird. Der gespenstischen Kulisse Saragossas entspricht die Schattenhaftigkeit des Illegalen. Und ein Schatten, der des Dichters, ist es schließlich, der in dem später aus der Perspektive Kolumbiens entstandenen Gedicht „Wiedersehen aragonesischer Berge“ den Dichter heimruft zur Schlacht.
Daß Politik und Dichtung keine Gegensätze sind, beweist Arendt in den Spanien-Gedichten immer wieder neu. Es sind dies politische Gedichte, die ohne Rhetorik auskommen, weil sich in ihnen die Geschehnisse, Bilder und Metaphern selbst aussagen. Tod und Hoffnung werden unverstellt ausgesprochen. Die Dinge zeugen für sich selbst, so wie das Bild des strömenden Flusses in dem Saragossa-Gedicht.
In den fünfziger Jahren schreibt Arendt noch nachträglich einige Gedichte, in denen das Thema des Spanienkrieges wieder aufgenommen wird. Doch auch der immer wiederkehrende Refrain Dreispitz aus Todesglanz und Leder in der „Ballade von der Guardia Civil“ meint mehr als nur die konkrete historische Erfahrung: ein Mythos hat sich herausgebildet, in dem die geschichtliche Erfahrung warnend vor uns hingestellt wird.
Ulysses weite Fahrt findet mit der Emigration nach Kolumbien, 1941, ihren vorläufigen Abschluß. Hier, in der Emigrationsheimat, findet Arendt neue Möglichkeiten der Existenz. Die neue Wirklichkeit des Indio- und Negerdorfes Tolú liegt für Arendt vor allem im Leben der sozial entrechteten Neger und Indios. Die Parteinahme für die Entrechteten und Kämpfenden verbindet sich in den Tolú-Gedichten mit den weiträumigen Steppen-, Dschungel- und Küstenlandschaften. Ein neuer Gedichttyp entsteht, in dem sich das Balladeske bestimmter Spanien-Gedichte mit den Eindrücken der tropischen Landschaft verbindet. Der freie Rhythmus, der für die späteren Gedichte bestimmend sein wird, setzt sich mehr und mehr durch.
Die Metapher, in den Spanien-Gedichten noch sparsam gesetzt, wird jetzt zum bestimmenden Ausdrucksträger. Die neue Wirklichkeit bringt ein neues sprachliches Material hervor. Die neue Sprache wird den sozialen Themen integriert. Die Landschaft, über ihre konkrete Bedeutung hinaus, wird zum Paradigma sozialer und politischer Zustände:
Aughöhlen, aufgerissen in granitener Leere:
Giganten heben ihren Blick vom Steppenrand.
Aus den entblößten Zähnen dringt die Schwere
erdalten Schweigens, bis zum Dach der Andenwand.
Der Tag der bittren wilden Nesseln legte seine
glutharten Lippen auf die Stirn, die Grauen sinnt.
Ein greiser Dorn, erhoben aus dem Urgesteine,
steht das Geschlecht dem Gotte zeugungslos im Wind.
Mondwolken streuen Asche auf den Mund der Steppen,
wenn Lava aus der offnen Kraterwunde fließt.
Licht, Stern und Donner brechen die Gewesenen nicht.
Mit toten Augen sehn sie, wenn die Nacht sich schließt,
durch schwarzes Gras die Indios ihre Armut schleppen,
voll Trauer und granitener Schwere das Gesicht.
(„Indiogötter“)
Schon in diesem ersten Gedicht des Tolú-Zyklus wird dieses neue Verhältnis zur Wirklichkeit deutlich. Das Feindlich-Abweisende der Natur wird zusammen mit dem Bild der entfremdeten Gottheit zum Symbol für den sozialen Zustand, in dem die Neger und Indios leben: ohne daß sich die Sprache vom Gegenstand löst, gibt sie doch mehr als nur die Beschreibung des Sachverhaltes oder eine Sache. Die Metaphern erhalten so eine semantische Selbständigkeit, durch die ihre Bedeutung erhöht wird: Aughöhlen, aufgerissen in granitener Leere, Schwere erdalten Schweigens, Tag der bittren wilden Nesseln, Stirn, die Grauen sinnt, Mondwolken streuen Asche auf den Mund der Steppen – die Bedeutung übersteigt die konkrete Bestimmtheit; traumhaft-visionäre Momente dringen jetzt in die Dichtung Arendts ein: die aufgerissenen Augenhöhlen, entblößten Zähne, glutharten Lippen, die offene Kraterwunde – Bilder und Metaphern, die an Szenerien zeitgenössischer Maler – etwa an Picassos „Guernica“ – erinnern und auch aus Arendts späterer Lyrik nicht mehr wegzudenken sind.
Arendts Verbundenheit mit einer Kunst-Welt, deren Pole in der Literatur vom Expressionismus bis zum Formwillen der spanischen Tradition Góngoras und Lorcas, in der Malerei von Breughel und Goya bis zu Picasso reichen, gewinnt in Kolumbien neue Aspekte durch die Folklore der Neger und Indios. Die Anteilnahme an ihrem Schicksal läßt die in vielen früheren Gedichten durch Arendts Formbewußtsein gesteigerte Distanz hinwegschmelzen. Die Rhythmen der Lieder und Tänze dringen in die Gedichte ein:
Tanzen die raschelnden Palmdächer erregter
im Mondlicht. Rhythmen der Samen, der blank-
geschliffenen Körner in runden, kugelrunden
Maracas: tanzgeschüttelte, trunkne.
(„Nacht in Tolú“)
Daß sich Arendt in einigen Gedichten – „Gesang vom Kanu“, „Trinklied“, „Neger“, „Die Hütte vom einfachen Leben und Sterben“ u.a. – direkt zum Sprecher der sozialen Nöte der Neger macht, darf nicht als selbstverständlich genommen werden. Immerhin handelt es sich hier um eine Tatsache, die in der deutschen und europäischen Lyrik dieses Jahrhunderts nicht häufig ist. Sind in den Spanien-Gedichten die Hoffnungs-Motive noch metaphorisch gesetzt, weil das Beispiel einer überwindenden gesellschaftlichen Kraft nach der Niederlage nicht mehr unmittelbar im Gedicht greifbar und eine allgemein gesellschaftsutopische Dichtung nicht mehr möglich erscheint, so spricht jetzt die Lage der Neger Tolús selbst für die Widersprüche dieses kolonial beherrschten Teils der Welt. Arendt sieht diese Widersprüche mit der Optik eines im Klassenkampf geschulten Antifaschisten und Sozialisten. Die besondere Situation, in der er als Emigrant auf dem amerikanischen Kontinent lebt: relativ einsam und abgeschnitten von den Zentren deutscher antifaschistischer Emigration, selbst in der Härte des Existenzkampfes stehend – er wird Sekretär der Freien Deutschen Kolumbiens, einer Organisation, die den Widerstand gegen die im Lande lebenden Faschisten organisiert −, begünstigt das Entstehen dieser Dichtung, in der nicht die Exotik die Szene beherrscht. Nicht die Enttäuschung über die verlorene Revolution, die einst Rimbaud aus Europa trieb, noch die Zivilisationsmüdigkeit Gauguins, auch nicht die Sehnsucht nach einem exotischen Traumland der Väter, wie es uns in den Gedichten der Else Lasker-Schüler begegnet, findet sich hier. Die Eindrücke, die Arendt empfängt, verbinden sich mit sozialer Anklage und revolutionärer Hoffnung zu einer elementaren Einheit. Elementar auch insofern, als das politische Thema nie isoliert, sondern immer aus dem Erlebnis der sich unmittelbar äußernden revolutionären Bereitschaft der Schnitter und Peone gewonnen wird, wie in dem großangelegten „Cumbia“-Gedicht: erzählende Balladenstrophe wechselt ab mit den aus dem Tanz gewonnenen Rhythmen, in denen sich Zeugung und Revolution in orgiastischer Einheit steigern:
Schon setzt der männliche Panther zum Sprung an.
Und dreißig Fackeln gebären den Tanz.
aaaaaNoch tanzen Fischer Schnitter, tanzen die Peone,
aaaaadie morgen ihren Arm verweigern jeder Fron.
aaaaaTrommeln und Rasseln gehn im schärferen Ton.
aaaaaDie Männer denken an den Kampf im Tanze schon.
Dieser Steigerung der sozialen Szene ins Elementare stehen Gedichte gegenüber, in denen die Landschaft mit ihren Buchten, Wäldern und Steppen in sich selbst zurückgenommen scheint. Hier beherrscht die Natur mit ihrer Unzugänglichkeit die Metapher:
Grüner Mond,
dünn wie ein Blatt
über Karibischer See −
fremd schwimmt er und
still.
Im Dämmergrund unten
strecken
Gespenster-Kakteen bettelnd
die mageren Schattenarme
zum toten Himmel empor.
(„Karibische Nacht“)
Der Teilnahmslosigkeit der Natur am Leben und Sterben der Neger entspricht die Frage, die im gleichen Gedicht gestellt wird:
Große Schlachten
werden geschlagen
auf den hundert Meeren
um die Ölbeute Don Maduros,
als
ob es um ein Großes ginge, das
des Sterbens wert sei.
Diesem Rückzug aus der unmittelbar erlebten Szene entspricht auch die sprachlich-stilistische Veränderung, die sich in diesen Gedichten zeigt. Die Metaphern werden nicht mehr attributiv gesetzt, um Sachverhalt oder Szene zu unterstützen, sondern sie stehen für sich. Das Gedicht geschieht gleichsam um das nach innen gestellte Bild. Eine größere Autonomie der Sprache kündigt sich an. Figur, Szene, Thematik des Gedichts treten zurück gegenüber den sich selbst aussagenden metaphorischen Details der Landschaft. Zeugnis des Übergangs ist das Gedicht „Vorm Dorf die Sümpfe“. In einem äußeren Zeitraum, der vom Abend bis zum Morgen reicht, vollzieht sich ein Geschehen, dessen sozialer Aspekt nur noch angedeutet ist. Dennoch läßt die sparsam beschriebene Szene keinen Zweifel, daß das Gedicht auf eine soziale Aussage zielt. Der Blutgeruch der Fische, das meernasse Holz der schwarzen Kanus, das Schweigen der Hütten, die einsamen Hörner der Stiere, von mageren Hunden umstrichen – diese Metaphern deuten auf den sozialen Hintergrund. Determinierend sind aber schon die Bilder, die das Gleichmaß kosmischen Geschehens ins Gedicht einbringen: die kalkweiße Muschelwolke; Ascheglühn des Himmels; hartes Starren aus dem Gesicht des Todes: Lagunenaugen, groß und feindlich, offen, deren Blick an Wolke und Leibern zehrt; Schattenatmen des Mondes; ein tödlich wartendes Auge, dem alle verfallen sind. – Auffallend ist die Zwiewertigkeit der Natur- und Landschaftsbilder, die eine Realität umfassen, in der soziales Leid und kosmisches Geschehen einander entsprechen. – Die Landschaft wird zum Paradigma des sozialen Zustands, gerade in ihrer Selbständigkeit. Gleichzeitig wird eine Bevorzugung der Gesichtsmetapher deutlich. Die abstrakte Genetivmetapher Gesicht des Todes vergegenständlicht sich in den Lagunenaugen, die Muschelwolke öffnet die Lippen; in einem anderen Gedicht küßt der Glutwind die Steppen lippenlos; im Haifischmeer stehen die Augen des verschollenen Fischers; schwarze Blüten hängen wie Tränen im glasigen Dunkel. Was seltsam anmutet: Arendt hat in den sieben in Kolumbien gelebten Jahren seine Sprache gefunden, fern vom heimatlichen Sprachbereich! In den Tolú-Gedichten ist es ihm gelungen, uns das Erlebnis von Menschen und Landschaften, „dieses Doppelgesicht aus berückender Schönheit, elementar und sanft, und schmerzendem Elend“ nahezubringen.
I950 kehrt Erich Arendt nach Deutschland, in die DDR, zurück. Was in den freirhythmischen Tolú-Gedichten vorbereitet ist, der Übergang zu einer Dichtung, in der der Mensch mit den Grundfragen seines Seins konfrontiert wird, beginnt sich nun zu entfalten. Die geschichtlichen Erfahrungen, die Arendt in den Jahren der Emigration gewonnen hat, finden jetzt ihren Niederschlag in Gedichten, in denen die Landschaft mehr und mehr zum bestimmenden Ausdrucksträger wird. Landschaft wird zum Ausdruck für Gesellschafts- und Seelenzustände, in die mit grünen Himmeln die Kälte einbricht, in denen alles fehlgeboren und erdverwaist ins Licht der Meere einsinkt. Licht und Nacht, Leben und Tod werden zu Gegensätzen, die ineinander übergehen, Wälder stehen vergessen wie schwarze dünne Fahnen. In einem Gedicht wie „Cava Aquera“ erschließt sich dem Leser eine Landschaft, die licht- und leiderfüllt ist. Die Metaphern werden jetzt absolut gesetzt; sie erschließen nicht mehr die Beziehung im Prozeß einer Vermittlung von Leser und Wirklichkeit. Annahme dessen, was ist, heißt jetzt, ins Prosaische übersetzt, das Lösungswort, das die Lyrik Arendts erschließt.
Arendt erweist sich auch in der widerspruchsvollen Einheit des „Gesangs der sieben Inseln“ als poetischer Wegsucher. Die Entdeckung der Tolú-Zeit, die Realität ganz ins Bild zu bannen, wird jetzt in den grau-nördlichen Seelandschaften und in Gedichten, die mittelmeerische Landschaft evozieren, weiterentwickelt. Bis auf wenige Ausnahmen sind die in den Gedichten nachgebildeten Landschaften Landschaften der menschlichen Klage. Das noch in den Tolú-Gedichten vorhandene szenische Element entfällt jetzt völlig. Absolut, geschichtslos, unkommentiert tritt die Landschaft ins Bild:
Schwarzwölbendes Segel: Nacht
treibend im sternlosen
Drehn der Erde, einsam
über dem Meeresschrei, ungehörten
verwehten. −
(„Über der Insel die Nacht“)
Das Fehlen jedes reflektierenden Bezugs läßt in solchen Versen die Konturen der aufgerufenen Landschaft um so deutlicher hervortreten. Zumal die Wiederentdeckung deutscher See- und Küstenlandschaft („Nördlich“, „Hiddensee“, „Juni-Ballade“, „Herbst der Meere“ u.a.) bringt ein starkes Spannungsverhältnis zwischen lyrischem Ich- und der solcherart beschworenen Landschaft ins Gedicht ein. Die Landschaft ist jedoch auch hier, wie in allen späteren Gedichten Arendts, Objekt, nicht Ziel der Anrufung. Zugleich sind diese Gedichte doch Versuche auch einer weltanschaulichen Standortbestimmung:
Vom Dunkel Heimgesuchte und Tod, Schattengebirge
des Herzens, bergt ihr die scheue Blüte
noch, den Traum,
das in schnellen Gesichtern
kaum mehr merkliche Lächeln?
Preisgegeben,
die seine Stille gewirkt,
des Menschen sanfte Dinge sind.
(„Über der Insel die Nacht“)
Unzweideutig zielen diese Verse auf eine Entscheidung für das Leben, auch dort, wo der Tod angerufen wird. Es ist auffällig, daß in diesen Gedichten das stoffliche Element zugunsten eines weitgespannten Wechsels von bildlicher Anschauung und subjektiver Empfindung zurücktritt. Die ans Gegenständliche gebundene Erfahrungswelt der Tolú-Gedichte wird aufgehoben in einem Raum poetischer Erfahrung, in dem subjektives Erleben und Geschichte miteinander verschmelzen. Das gilt vor allem für das Poem „Über Asche und Zeit“. Im „Versuch, den inneren Dialog zweier Liebender im Zeitgeschehen zu gestalten“ wird noch einmal das Thema der Emigration aufgenommen. Die poetische Technik jedoch, die sich jetzt durchsetzt, ist dem bisherigen Werk Arendts kaum noch vergleichbar. Stationen der Emigration und zeitgeschichtliche Ereignisse signalisieren in einem Netz subjektiver Empfindungen den geschichtlichen Hintergrund:
Singende
Räume, o Stresa! Zaubrischer
Herzschlag, entblößter,
am staunenden Herzen
unsrer Umarmung. Gambisch
tönende Welt du: Nähe
von Pflanze und
unwiderstehlichem Stern.
Der hohe Stil des Gedichts bringt zeitlich und räumlich Entlegenes, subjektive Empfindung und Anschauung zusammen. Damit hat sich Arendt eine poetische Ebene geschaffen, die es ihm ermöglicht, seiner Dichtung eine Diktion zu geben, in der sich noch die Problemhaftigkeit des Weltanschauungsgedichts mit der Unmittelbarkeit des Erlebnisgedichts zusammenfinden. Anschauung und Abstraktion in ständigem Wechsel kennzeichnen auch seit Klopstock und der deutschen Klassik die Ode. Nicht, wie vielfach behauptet, die Beschäftigung mit lateinamerikanischer Poesie allein – er übersetzt zu dieser Zeit Neruda – führt Arendt zu den großen Formen, die sein Spätwerk beherrschen. Deutlich bis in den syntaktischen Bereich zeichnet sich die Tradition deutscher Odendichtung ab. Gleichzeitig sind in der Strukturerweiterung auch Einflüsse der westeuropäischen Moderne; etwa Appollinaires, Saint-John Perses oder des engagierten Surrealismus eines Eluard, unübersehbar. Was in der Sprache der Sturm-Gedichte in den zwanziger Jahren angestrebt wurde, scheint sich jetzt in der Sprache der Flug-Oden deutlicher als bisher zu verwirklichen: ein Bewahren der Sprache gegen den täglichen Verschleiß. –
Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muß aber dann auch die Inversion der Perioden selbst sein. Die logische Stellung der Periode, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hinten angehängt sind an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiß nur höchst selten brauchbar.
− Dieser Gedanke Friedrich Hölderlins – auf den im Zusammenhang mit dem Werk Erich Arendts bereits Georg Maurer verwies – charakterisiert die Struktur und die Versbewegung der Flug-Oden und auch der späteren Ägäis-Gedichte.
Jäher Perspektivwechsel, der im Eigensten des Dichters Zusammenschau ist, Spannung zwischen Reduktion im einzelnen Bild und extensiver Komposition des ganzen Gedichts entsprechen jetzt dem weltanschaulichen Anliegen Erich Arendts. In der Simultanität von Mythos und Geschichte, Dauer und Vergänglichkeit wird das Flugerlebnis Ausdruck von ikarischem Wagnis und prometheischer Möglichkeit des Menschen. Geistige und physische Räume werden in einem strukturellen Zusammengehen von Geschehen durch die Zeit hindurch durchmessen. Die Gegenwärtigkeit alles Wesenhaften im Gedicht beruht jedoch nicht primär auf dem Willen und der bewußten Anstrengung, die Erkenntnisse der modernen Physik von der Relativität von Zeit und Raum ins Gedicht zu übertragen, sondern ist ein auf die Stufe der Empfindung gehobenes Zeitbewußtsein. Dieses Zeitbewußtsein ist das Ergebnis der Überwindung des Denkens in starren Räumen und Formeln, des „imperialistischen Machtraumdenkens“, wie es Arendt einmal formuliert hat.
Blick erdenwärts, Fliegender, sieh:
Das gültige Siegel, Kuß,
den die
Morgenröte
der dunkel Kreisenden gab!
Ihr gilt, denn immer
ein Sehnen ist, heimzukehren,
unter dem Eisglanz der Himmel, wo
des Todes Ekliptik
Monde stürzt
und, zeitvollzogen,
das erstarrende Herz der Sonne,
ihr gilt,
im Weltall Verlorener,
deine Liebe, suchend der Vögel
totes Geheimnis,
die längst verschollene Spur.
(„Ode I“)
Mit dem Aufbruch in kosmische Weite wird gleichzeitig der Versuch unternommen, auf die Schicksalsfragen der Menschheit Antwort zu geben.
Das großräumige Weltanschauungsgedicht nimmt die Motive der Warnung und der Entscheidung in sich auf, ist Klage und Protest über und gegen die entfremdende „Maschinenstunde“ des Kapitalismus, die Barbarei des Faschismus und die Atombombe von Hiroshima. Die Odensprache bringt das Erlebnis der Zeitgeschichte auf eine Ebene, die es dem Dichter ermöglicht, die verschiedensten Beziehungen zu seinem Gegenstand poetisch zu verwirklichen: so werden Kosmogonie und wissenschaftliche Anschauung, Geschichte und Mythologie zueinander in Beziehung gesetzt, gegenwärtiges Erleben und Reflexion miteinander verbunden. Was solcherart entsteht, ist eine Dichtung, die auf den ersten Blick schwer zugänglich, ja beinahe spröde erscheint. Man muß in der deutschen Literatur bis zu Klopstock zurückgehen, um Vergleichbares zu finden. Wird in Klopstocks „Frühlingsfeier“ die Schöpfung noch religiös gefeiert, so sind doch in ihr die Einflüsse einer rationalistisch geprägten Aufklärung unüberhörbar. Die Oden und Elegien der Flug-Oden verschweigen ihre traditionelle Herkunft nicht. Auch in ihnen übersteigt der hymnisch-elegische Aufschwung mitunter das rational Faßbare. Ein visionärer Optimismus, mitunter hinter nicht leicht zu entschlüsselnden Metaphern und Anspielungen versteckt, macht die Antworten auf die in den Gedichten gestellten Fragen nicht ohne weiteres handhabbar. So wie das Flug-Motiv als Gleichnis für die befreiende Kraft des Menschen verstanden sein will, so ist auch das immer wiederkehrende Motiv der Sonne mit ihrer segnenden und zugleich zerstörenden Kraft ein SymboI für die Ambivalenz der schöpferischen und zerstörenden Kräfte, die durch die Nutzbarmachung der Atomenergie sichtbar geworden waren:
Stirn gegen Stirne, Löwengesichtige
dich schauen!
Die du in Spiegel gekrallt
zerbrechender Flut,
Sonne,
das Dach der Wimper zu Asche
branntest: Einer aber, Schwerthelle
im Herzen, bestand dich: Achill.
(„Elegie I“)
Gleichnishaft wird auch die Übermacht des Lichtes in südlicher Landschaft mit dem Tode identifiziert:
Traf ich dich
unter den lichtgekrümmten
grauen Oliven
− tausendjähriges Wehren des Todes
im gehärteten Stamm −,
tiefer im Rauschen der Kerne,
Sonnengott, roter!
(„Ode V“)
Nicht Übernahme toten Bildungsgutes ist es, wenn in den Flug-Oden Echnaton, Ikarus, Franz von Assisi, van Gogh oder Einstein als Gestalten einer menschheitlichen Kontinuität begriffen werden, deren Aufbegehren gegen das zerstörerische Prinzip eine Einheit darstellt. Es entspricht der inneren Wahrheit der Gesamtstruktur der Dichtung, wenn sich z.B. in der „Ode VI“, die den Opfern des Warschauer Aufstandes gewidmet ist, die Motive der Zerstörung und der Überwindung zusammenfinden:
Und in der Tages-Mitte,
hohl, über Warschau stand
das eiserne Auge…
Licht, einäugige
des Himmels, Rose,
heißt es am Schluß, die Sonnengesänge des Franz von Assisi erinnernd.
Nun, da eine Hoffnung
gipfelhaft, die Morgenröte in
des Menschen Garten, Zeichen um Zeichen,
ich halte dich, Zorn
des Zenits, gebändigt:
Frieden säend
Über der Wälder Stille,
den sanften Schlangen von Fels
und Flut, Schwingen
in meinen Händen.
Der Aufbruch in die Weite, der mit den Flug-Oden vollzogen wird, bedeutet für Arendt nicht Flucht vor den Fragen, die die Geschichte stellt. Daß Dichtung außerhalb des geschichtlichen Raumes nicht möglich ist, bezeugt ausdrücklich die „Ode IX“, in der vom „Zirkelschlag der Geschichte“ gesprochen wird. Es geht um die eine Möglichkeit, die dem Menschen gegeben ist, seine Existenz als Mitglied einer menschlichen Gesellschaft zu begründen, wo auch der bisherige, auf Klassenkampf beruhende Raum aufgehoben sein wird.
Exemplarisch für den Gehalt der Flug-Oden drückt sich in der „Ode IX“ auch die ikarisch-prometheische Grundhaltung aus, die diese Dichtung als einen Höhepunkt im Schaffen des Dichters ausweist: eine Absage an den Irrationalismus in der Geschichte und ein Bekenntnis zur geschichtsbildenden Leistung der Oktoberrevolution:
Möge, die die Mitternacht
mit Blindheit schlug, gereift
euch sein die Trauer: der sterblichen
Bäume und Felsen
Mutter, die eiserne Spitze
im Herzen, bebte,
vom Zirkelschlag
der Geschichte: Und zerbrechend
das steinerne Antlitz,
jahrtausendalt – o Schmerz
o Flamme! – Aurora
kündete den gesetzlichen Tag,
eine Möglichkeit
dem Menschen.
Es ist kennzeichnend für Arendts dichterische Konfession, daß auch in der Inselwelt der Ägäis-Gedichte, wo menschenleere Landschaft aufgesucht wird, in der unmittelbaren Begegnung mit dem Tod unaufhörlich die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz gestellt wird. Auch hier heißt das Thema: Überwindung. Überwindung freilich durch Annahme einer nicht rhetorisch beschönigten Realität. Die Wahl-Verwandtschaft, die Arendt mit dieser von Fels und Meer beherrschten Landschaft verbindet, beruht nicht auf einer idealistisch gefärbten Hoffnung auf abstrakt-gesellschaftliche Harmonie. Das Bekenntnis wird deutlich gesetzt:
Einmal, ausgeweidet
vom Ölbaum das Schaf
hängt. Lachen.
Weinduft. Ein Tanz.
− „Welt! meint
der Schritt.“
(„Steine von Chios“)
Nicht außergesellschaftliche Realität wird in den Ägäis-Gedichten gesucht und gefunden, sondern auch die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Fragen der Zeit unter verfremdendem Blick deutlicher auszusprechen. Geschichtliche und persönliche Erfahrung, unter Einsatz von Leib und Leben in Jahrzehnten aktiver Teilnahme gewonnen, findet in naturgegebenen Räumen ihre poetische Entsprechung. Das Streben der Sturm-Zeit nach dem „reinen“ sprachlichen Ausdruck, der sich als unmöglich erwies, findet jetzt in den Ägäis-Gedichten, freilich unter ganz anderen Aspekten, eine positive Aufhebung. Die auf neuen gesellschaftlichen und menschlichen Erfahrungen gegründeten sprachlichen Möglichkeiten werden in einer strengen Form realisiert. Das einzelne Wort, seine evokative und assoziative Kraft, wird ins Zentrum der Gedichte gestellt. Die Ägäis-Gedichte, so scheint es, stehen hart an der Grenze der noch möglichen sprachlichen Reduktion des Geschehens. Zwischen den bestimmenden Verben, Substantiven und Adjektiven bleibt wenig Raum für die Wandlung des sprachlichen Gestus. Der im Gedicht einmal angeschlagene Grundton wird im wesentlichen beibehalten. Er durchklingt das einzelne Gedicht oft wie der Ton einer bis zum äußersten angespannten Saite, und nur wenige, in unmittelbarer Nähe des Grundtons liegende Töne umspielen ihn. Nicht der Akkord ist die Basis, sondern eben der einzelne Ton in dissonanter Folge. Die solcherart erregten Dissonanzen entsprechen der Härte des Ausdrucks mit seinen Fügungen, in denen sich Wort an Wort stößt. Diese im Grunde „unlyrische“ Diktion, die auf den harmonischen Wohllaut verzichtet, mag den Leser zunächst befremden und ihm den Zugang zu den Gedichten erschweren. Das Fehlen einer im Gedicht gegebenen „Einstimmung“, zusammen mit der sehr sparsam gesetzten Anschaulichkeit von Szenerie und Vorgang, macht den Zugang in der Tat nicht leicht. Das Erlebnis südlicher Landschaft vermittelt nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, den Eindruck einer harmonischen „Südlichkeit“, deren Ideal dem Leser klassischer deutscher Dichtung geläufig ist, sondern die lichtüberfluteten Panoramen gehen unmittelbar in das dunkle Blau der Horizonte über, das sich bis zum tödlichen Schwarz eines ägäischen Gewitterhimmels steigert. Diese Eigenheit sowie die mit dieser Landschaft verwachsenen Namen aus antiker Mythologie und Geschichte erleichtern dem nicht unbedingt mit der griechischen Antike vertrauten Leser den Zugang nicht. So mag vielleicht der Eindruck einer gewissen hermetischen Abgeschlossenheit der Ägäis-Dichtung Erich Arendts entstehen, jedoch sollte man gerade in dieser Hinsicht mit vorschnellen Urteilen zurückhaltend sein. Es erweist sich nämlich bei genauerer Lektüre sehr bald, daß die an antikes Geschehen und antike Gestalten erinnernden Szenerien durchaus nicht der willkürlichen Auswahl des Dichters unterworfen sind, sondern vielmehr sehr bewußt und exemplarisch gewonnener Zeiterfahrung entsprechen. Allerdings läßt sich aus diesen Gedichten nicht unmittelbar eine geschichtliche oder persönliche Erfahrung herausdestillieren. Die Ägäis-Gedichte sind eine Möglichkeit eines Dichters. Sie bieten dem Dichter vermutlich keine neuen Ansatzpunkte mehr; sie sind vielleicht sogar der Schlußpunkt einer dichterischen Entwicklung.
Die sprachlich-inhaltliche Situation der Ägäis-Gedichte soll hier am Beispiel des Gedichts „Vor Tag“ erläutert werden.
Felshaupt und
Sternwind.
aaaaaaaaaGebrochen
das Weiße
am Bergrand von Ios. Kalt-
tönende Muschel, oben,
Schleier
aus Kalk.
aaaaaaaaMond,
entronnen, entschwiegen
dem Düster:
Flut.
aaaaaFernab
der einzelne Vogel,
ruft
das weite Dämmern, augenbesät.
Lautlos sank es
hinab, meerschwarzes
Segel, himmel-
ab, wo unter
erloschenen Wassern
die steinerne Mühle
rädert,
das alte Vergessen, so
Nacht für Nacht.
Zähle du, trag
− schweigender, kühl −
die Ernte vom Schlaf,
flüsternd schmale.
Bring sie ein
in den Tag. Von grauer
Lippe gestreift, zittert
das Ungeborene. Wie
Totenwabe, ins Ferne
aaaaaaaaaaaaaaaaaspannend
die Fläche.
Unten, im Atemlosen
stehn
die Augen, die
größeren Schatten, nah.
Ruf
des einzelnen Vogels
vom Meer: Muschel
und Wehen! Die Morgeninsel,
felsgegürtet, im
Stygischen
aaaaaaaaaaimmer.
„Vor Tag“ gehört zu den Gedichten des Zyklus, in denen sich das lyrische Ich am vollständigsten in der Metaphernwelt objektiviert.
Es gliedert sich in vier strophenartige Teile. Im ersten Teil wird eine Situation umrissen, wobei der Sprache keine beschreibende Funktion zukommt. Der Auftakt wird absolut gesetzt: zwei Substantive in für Arendt eigenartiger Prägung, durch eine das Enjambement betonende Zäsur getrennt, geben das Thema: Felshaupt und / Sternwind. Auch dem folgenden Satz kommt nichts Beschreibendes zu. Auffallend ist die isolierte Stellung des Adjektivs gebrochen. Auch die Trennung des Adjektivs kalttönend, die Gleichwertigkeit der sprachlich-rhythmischen Gestik betonend, ist ungewöhnlich. Das in Apposition gestellte oben verweist auf die Blickrichtung und steht in deutlicher Beziehung zu den Substantiven des Eingangs. Schleier aus Kalk wiederum führt deutlich den Blick weiter nach oben: Mond. Zweimal werden jetzt dem Substantiv Ent-Verben nachgestellt: entronnen, entschwiegen. Die Optik wird zurückgeführt, auf das Düster gelenkt, die Flut. Bereits diese erste Strophe ordnet den genannten Naturgegenständen der Landschaft eine weitgehende Selbständigkeit zu. Die Sprache dient nicht der Beschreibung einer Situation, die eine Einstimmung in das „lyrische Thema“ des Gedichts ermöglichen könnte, sondern arbeitet mit Begriffen, die absolut die Dinge benennen. Die Substantive evozieren eine Wirklichkeit, die im Gedicht eine neue, objektive, unabhängige Bedeutung erlangt. Das Subjekt objektiviert sich in dieser angerufenen Realität. Die Sprache vermittelt, bei Verzicht auf bewegungsfördernde Verben, eine zwar knappe, angedeutete, aber doch aussagekräftige Bewegung. Die Optik tastet einen Raum ab, der Fels und Himmel, Mond und Meer umfaßt.
Der Gedrängtheit der Naturgegenstände in der ersten Strophe folgt zu Beginn der zweiten eine Auflösung ins Weite:
Fernab
der einzelne Vogel,
ruft
das weite Dämmern,
augenbesät.
Das eigenartige Satzgefüge, die Stellung des Kommas nach Vogel, scheint zunächst offenzulassen, ob der Vogel ruft oder das weite Dämmern. Augenbesät schließlich erhöht noch das Gefühl räumlicher Ausdehnung. Die eigenartige Zerlegung des Satzgefüges scheint eine konkrete Bestimmung dessen, was in dieser Welt vorgeht, zu erschweren. Erst wenn man sich klar wird, daß dem Komma nach Vogel nicht die Bedeutung einer syntaktischen Zäsur zukommt, erschließt sich die inhaltliche Bedeutung des Geschehens: der Vogel, hier anverwandt der Situation des lyrischen Ichs in seinem Elementarsein, ruft im Düster das Dämmern an. Auch augenbesät scheint auf eine verbindende Gegenseitigkeit mit dem Lebendigen hinzuweisen.
Das nicht bis zuletzt konkret Bestimmbare des Geschehens, unterstützt durch die Inversion, ist eines der Formprinzipien der Ägäis-Gedichte. In der folgenden Periode der Strophe wird dieses Prinzip noch deutlicher herausgestellt. Der syntaktische Bogen überspannt ein Geschehen, das Gegenwart und Dauer umschließt. Der Sprung vom Präsens des ersten Satzes in das Imperfekt der zweiten Periode vollzieht den Übergang von der Gegenwart in eine unbestimmbare Vergangenheit: das meerschwarze Segel sank hinab, wo unter erloschenen Wassern / die steinerne Mühle / … , das alte Vergessen rädert. Es bleibt wiederum offen, ob es sich bei der steinernen Mühle um ein wirklich vorhandenes Objekt handelt oder ob hier eine subjektive Metapher für die Zeitendauer der im Meer liegenden Steine gesetzt ist. Betont wird noch das Moment der Dauer – so / Nacht für Nacht.
Die in der ersten Strophe genannte Inselszenerie wird in der zweiten Strophe imaginär. Die noch in der ersten Strophe vorhandenen Momente der „Beschreibung“ werden jetzt fast völlig abgelöst von einem Geschehen, das sich der Stimmungslage des Subjekts entsprechend vollzieht. Das augenbesäte Dämmern, das meerschwarze Segel, die steinerne Mühle unterstützen metaphorisch die Steigerung der Realität ins Imaginäre. Die Erinnerung holt eine Landschaft ins Bild, die ganz der „inneren Welt“ des Dichters anzugehören scheint.
Der Beginn der dritten Strophe bestimmt ein Subjekt: Zähle du, trag. Die Anrede ist unbestimmt, ein in moderner Lyrik häufig auftretendes Phänomen. Gegenüber der Menschenleere der Landschaft der ersten und zweiten Strophe bedeutet aber das du, zusammen mit den imperativisch gesetzten Verben, eine unübersehbare stilistische Zäsur. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß es sich hier um eine Anrede handelt, die eine Partnerbeziehung meint. Vielmehr scheint sie Selbstanrede des Dichters zu sein, Aufforderung. Die Verben zähle, trag werden von der eingeschalteten adverbialen Bestimmung – schweigender, kühl – sofort determiniert. Auch die Ernte vom Schlaf wird durch die Beifügung flüsternd schmale nicht in ihrer Absolutheit belassen. Was im ersten Satz dieser Strophe mittels syntaktischer und grammatikalischer Mittel erreicht wird, die Bestimmung der Verben und der Metapher, findet seine Entsprechung in der Struktur des erweiterten Gedankens: Bring sie ein / in den Tag.
Wie das du tragen auch die Substantive Schlaf und das Ungeborene den Charakter des Unbestimmten in sich, wesenhaft werdend erst durch Adjektive und Verben: die Ernte wird als flüsternd schmale bestimmt, das Ungeborene durch von grauer Lippe gestreift. Bis bring sie ein in den Tag wird in der Sprechweise einer persönlichen Anrede vorgetragen, die die innere Situation des Subjekts umfaßt. Dem Begriff Schlaf kommt dabei im Gefüge ein zentraler Stellenwert zu: er verweist auf die Verwurzelung des Menschen im Elementaren, das in ihm lebt und wirkt und seine schöpferische Möglichkeit und Potenz in einer Umgebung steter Bedrohung manifestiert. Von hier aus ergibt sich auch die Beziehung zu dem Begriff Ernte: diese Ernte vom Schlaf einzubringen ist als Leistung dem Menschen aufgegeben, und zwar schweigender, kühl, also ganz konzentriert und bewußt. Diese menschliche Aktivität und ihre Bedrohung wird unterstützt durch das Ungeborene, das ins Leben will, von erster Sekunde bedroht von grauer Lippe, dem Erloschenen, Erstarrten bis zum Horizont hin.
Auch die letzte Strophe bringt keine eigentliche Entspannung, keine Zurückführung der Szene in den „intimen“ Bereich menschlicher Geborgenheit, wie sie sich in der Redeperiode ankündigt. Die Bewegung, in der ersten Strophe von oben nach unten, von der Nähe in die Weite geführt, scheint jetzt zu verharren: Unten, im Atemlosen / stehn / die Augen, die / größeren Schatten, nah. Der Prozeß der Tagwerdung wird jetzt deutlicher: vom weiten Dämmern, augenbesät der zweiten Strophe vollzieht er sich his zu den Augen, die größeren Schatten, nah. Aber auch diese Augenmetaphorik fördert nicht das Gefühl der Geborgenheit. Im Gegenteil. Die Augenmetapher enthält etwas Feindlich-Bedrohendes, das durch das Gefühl der Nähe noch unterstützt wird. Die Abwesenheit alles Lebendigen in der Fels- und Meerszenerie der ersten und des ersten Teils der letzten Strophe bewirkt ein Gefühl der Todesnähe, des Unabänderlichen, des Aufsichnehmens der Realität, wie es uns in den Figuren der sophokleischen Tragödie begegnet. Lediglich der Vogel nimmt noch einmal, inmitten der größten Bedrohung durch die abgeschiedenen toten Augen, die stehn, die Rolle des Lebendigen auf. Der Ruf nach Muschel und Wehen signalisiert die Verbindung zum Ungeborenen der dritten Strophe: Muschel und Wehen wollen hier als das Naturelementare verstanden werden, identisch mit dem Geistig-Lebendigen der Ernte vom Schlaf.
Insgesamt bietet „Vor Tag“ ein für die Ägäis-Gedichte in Form und Ausdruck, Verknappung und Gewicht des Wortes, in der Übereinstimmung von innerer und äußerer Landschaft typisches Bild. Das Gedicht spricht nicht in „verbindlicher“ Art und Weise von einem Vorgang, der dem Leser geläufig ist. Die Aussage ist nicht verbal abgerundet: ihr Finden setzt vielmehr einen aktiven Leser voraus.
Die Struktur der Verse ist unregelmäßig. Es handelt sich nicht, wie in einzelnen Gedichten Johannes Bobrowskis, um eine Aufsplitterung fester antiker Odenmaße, etwa der alkäischen Strophe: die Sprache folgt einem dem lyrischen Sprechen Arendts eigenen Gesetz. Die rhythmischen Zäsuren gliedern das Gedicht in Verse, die keinen formal-logischen Sinnbezug erkennen lassen, sondern in ihrem Verlauf von der lyrischen Sinnbezogenheit der beim Sprechen nur leicht zu betonenden Zäsuren geregelt werden. Auffällig ist der Verzicht auf gewohnte syntaktische Ausführlichkeit, der die Selbständigkeit des einzelnen Wortes oder einzelner Worte, oft nur durch Konjunktionen miteinander verbunden, betont. Solche Worte, zumeist Substantive, machen, auch isoliert zitiert, die Landschaft des Gedichts deutlich: Felshaupt und Stenzwind, Bergrand, Muschel, Schleier aus Kalle, Düster, Flut.
Dem einzelnen Wort, in seiner Unabhängigkeit von gewohnten syntaktischen und grammatikalischen Strukturen, kommt so größere Bedeutung zu. Es evoziert einen größeren Bereich, als das in der Stellung im herkömmlichen Satz möglich wäre, und wird so zum entscheidenden Baustein des ganzen Gedichts.
Dort, wo eine relativ größere Ausführlichkeit der Aussage angestrebt wird, ist der Satz durch Evokation und Apposition aufgesplittert; Zäsuren, isolierte Stellung des Wortes im Enjambement unterstützen noch die deutliche Abkehr von konventioneller Sprechweise.
Der formale Bezug zum ideell-realen Inhalt wird deutlich. Der Verzicht auf syntaktische Ausführlichkeit entspricht dem Verzicht auf fördernde und befördernde Aussagen. Grundsituationen werden um- und aufgerissen.
Die Beschränkung auf Substantive und die Degradierung des Verbs zum Attribut, dazu die in Partizipien komplex gesehene Handlung – Handlung als Fakt, unabänderlich, nicht als verfolgbarer Vorgang – zeichnen formal die Eigenart und die Absicht der poetischen Weltsicht Arendts nach: sie schaffen ein festgefügtes Bild, in das sich der Leser aktiv einschalten muß.
So auch in „Vor Tag“, dessen innere und äußere Landschaft eine menschliche Grundsituation umreißt, deren äußerer Vorgang – das Nahen des Tags – Ausdruck der Empfindung eines inneren Vorgangs ist. Das aber hat nichts gemein mit der „Innerlichkeit“ deutschbürgerlicher Tradition, sondern ist eher der Methode deutscher Barocklyrik vergleichbar: Vorgang und Landschaft des Gedichts werden nicht in einen Innenraum projiziert, sie werden durch Nennung und Signalisierung der realen Landschaft hervorgerufen: das lyrische Ich objektiviert sich in den Begriffen und Metaphern der äußeren Welt.
Auch in Gedichten, in denen eine soziale Situation umrissen wird, äußern sich die Selbständigkeit der Sprache in Bild und Metapher und das Fehlen von konventionellen, kontaktschaffenden „lyrischen Situationen“ deutlich:
Mit Schatten saß ich
an Eisentischen. Die Straße
der Fischer, der Häuer stumm.
Erdher wir tranken, das anwuchs
im Schatten der Mauern, das Dunkel.
Oben der Fluchtweg, das Licht
starb:
Augenleere, Die entfremdende
Hand. Zerdehnt das Schweigen.
(„Hafen Empedokles“)
Selbst hier, wo das lyrische Ich in Erscheinung tritt, bleibt die Situation greifbar-ungreifbar: Mit Schatten wird an Eisentischen gesessen, die Straße bleibt stumm, getrunken wird erdher das Dunkel, der Fluchtweg, das Licht starb. Es gelingt dem Gedicht, was der bloß naturlyrischen Beschreibung der vom Ätna verwüsteten Stadt nicht gelänge: die Situation ins Gesellschaftliche zu vertiefen. Noch im Abgesang bleibt das Greifbar-Ungreifbare der Situation spürbar: im Dämmer sind / die Grubenmänner gefahren, runter / zum Schwefel. Der Morgen stand / leer in der Stadt, gepflanzt in / eiserner Helle.
In den zuletzt entstandenen Gedichten deutet sich, bei Beibehaltung der sprachlichen Reduktion, eine Veränderung an, In einem fast liedhaften Sprachduktus gibt z.B. das Gedicht „Niezurück“ deutlichere Auskunft über die Situation des Ichs: ein „Wir wird erwähnt, Fragen werden direkt und deutlich gestellt:
aaaaaaaaaaWar einer
umarmt?
aaaaaaaaBei Tag
wer sind wir?
aaaaaaaaSand −
dicht
aneinander
die Schläfen, noch.
Im Werk Erich Arendts, anerkannt, doch im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt, hat sich in den lichtversteinten Ägäis-Landschaften die Erfahrung eines Menschen wiedergefunden, kämpferisch, zeitenbewußt. Arendts Werk ist von dem Bewußtsein und dem Anspruch geprägt, daß Lyrik nur dann zu wirken vermag, wenn sie auch durch das mit der täglichen Sprache nicht Sagbare den Menschen erreicht. Unesoterisch in seiner Haltung, ist seine Mahnung unüberbörbar: Knie nicht in den Schatten!
Diese Lyrik ist Bekenntnis und Anspruch eines sozialistischen Humanisten – ein bedeutender Beitrag unserer Literatur und eine Bestätigung ihrer Möglichkeiten. Sie hat gemeinsam mit dem Werk anderer in der DDR, lebender Dichter die Wirkungskraft einer Poesie bewiesen, deren Ertrag auf dem Boden des ersten sozialistischen deutschen Staates eingebracht werden konnte. Sowenig wie Erich Arendt aus einer Bilanz sozialistischer deutscher Dichtung wegzudenken sein wird, sowenig kann man bezweifeln, daß dieses Werk auch auf eine Generation jüngerer sozialistischer Dichter wirken wird; von Erich Arendt wird zu lernen sein, wie sich eine Persönlichkeit durch ihr Werk verwirklicht, nicht unbeeinträchtigt durch die Gunst und Ungunst der Zeitläufte, jedoch immer mit dem Blick auf eine Gesellschaftsordnung, die den Boden bereitet für eine „Heimat des Menschen“.
Heinz Czechowski, Nachwort, August 1967
– Die Welterfahrung des Lyrikers Erich Arendt im Spiegel seiner Dichtungen. Variationen zur Thematik bewegter und bewegender Zeiten. –
Ein lyrisches Lebenswerk wird aufgeblättert, das Erich Arendts: Aus fünf Jahrzehnten heißt der Band, erschienen im Hinstorff Verlag Rostock. Dies ist zwar ein nicht nur reichlich farbloser, sondern auch ungenauer Titel die frühesten Gedichte stammen aus dem Jahre 1925, die spätesten sind 1967 datiert, und fünf Jahrzehnte sind da wohl eine leichte Uebertreibung —; doch ist dies das einzige, was kritisch anzumerken bleibt zu dieser schönen Ausgabe, in der, begleitet von einem klugen Nachwort-Essay von Heinz Czechowski, die Gedichte Arendts geschlossen vorliegen.
Wandlungen und Zusammenhänge werden deutlicher bewußt. Erich Arendt erweist sich nicht als ein Dichter, der eine einmal gefundene, ihm zugehörige Sprache nun stetig weiterverfolgte, variierte, bereicherte, wiederholte, sondern als einer, der mehrfach neu ansetzte, andere Formen, anderen Sprachgestus für sich fand, einer, dessen Werk von Brüchen durchzogen ist.
Wer würde, wüßte er nicht, daß alle diese Gedichte ein und denselben Verfasser haben, etwa vermuten, daß Gedichte in der August-Stramm-Nachfolge des Sturm-Kreises vom gleichen Autor stammen wie von surrealistischen Metaphern durchzogene, an Georg Heym und über ihn zurück natürlich an Rimbaud erinnernde Sonette? Oder daß der Dichter, der balladesk die Welterfahrung seiner Emigrationsjahre, des Spanienkrieges und des tropischen Exils in Kolumbien ausdrückte und darin soziale, politische Thematik unseres Jahrhunderts, derselbe ist wie der, der in harten, spröden, starrgefügten, um wenige zentrale Begriffe kreisenden Oden und Elegien das Erbe Hölderlins unepigonal wiederaufnahm und tiefsinnig, fast hermetisch, fast esoterisch den archaischen Charakter der mediterranen Welt besang?
Es gibt deutlich erkennbare, auch durch die Zäsur von Schaffenskrisen scharf markierte Perioden. In den zwanziger Jahren scheitert der Versuch, im Banne Stramms das aus allen syntaktischen Bindungen befreite einzelne Wort zum Träger einer reinen Expressivität zu machen, muß er scheitern, weil Stramm schon an eine unüberschreitbare Grenze des sprachlichen Ausdrucks gelangt war. In den dreißiger Jahren, in der Emigration beginnend und fortgeführt bis zur Rückkehr aus dem Exil 1950 dann das Dominieren des Reims, der traditionellen Gedichtformen und zugleich die Eroberung der großen Zeitthematik des antifaschistischen Kampfes. Einsetzend in der Mitte der fünfziger Jahre schließlich der endgültige Triumph des freien Verses und die tiefgründige Ausdeutung weniger, aber allgemeingültiger Erlebnisbereiche der Menschheit und ihrer archetypischen Prägungen.
Solche Vielgestaltigkeit, ja gegensätzliche Vielseitigkeit eines lyrischen Gesamtwerkes mag überraschen. Zumal es sich hier ja nicht darum handelt, daß auf ein unoriginales, von Vorbildern beeinflußtes Jugendwerk dann die Entdeckung des eigentlichen, eigenständigen Ausdrucks folgte. Und auch nicht darum, daß aus dem Saulus einer Richtung moderner Lyrik nun plötzlich der Paulus einer anderen wurde. Und erst recht nicht darum, daß ein avantgardistischer Experimentator reuig zur Tradition zurückkehrte. Der Verdacht könnte naheliegen, daß dieser Dichter allzusehr beeinflußbar, zu orientierungsbereit an wechselnden Vorbildern gewesen wäre. Tatsächlich hat er sehr viele und sehr unterschiedliche Einflüsse in sein Schaffen aufgenommen, oft auch sehr direkt. Der Sturm, Heym, Rimbaud, die bei ihm allerdings streng kontrollierte Metapherntechnik der Surrealisten, Hölderlin, und dazu die großen, von ihm übersetzten zeitgenössischen Dichter Spaniens und Lateinamerikas, und manchmal gibt es sogar Rilke-Anklänge, und das wechselt, taucht auf, verschwindet wieder, löst sich ab, und darüber, welche Spannungen, Widersprüche, Kontraste hier bezeichnet sind, braucht kein Wort verloren zu werden.
Aber es wäre falsch, diese sichtbaren und auch nicht verleugneten formalen Einflüsse zu überschätzen. Sie sind eingeschmolzen in den Ausdruck einer nur diesem Dichter eigenen Erfahrungswelt, ihm allein gehörender Inhalte und dann umgeschmolzen. Auch sind die benannten Formen und Themen nicht isoliert voneinander. Reimlose Gedichte finden sich etwa auch in den dreißiger und vierziger Jahren, und in den poetischen Bildern der späten Gedichte mit ihren bedeutungsschweren, immer wiederkehrenden Schlüsselworten klingen noch einmal die verbalen Experimente der Frühzeit nach, nun geläutert und gereinigt von allem Gewollten, konzentriert auf die Assoziationsmächtigkeit starker Symbolmotive.
Nicht für einen Poeten der großen Wandlungsfähigkeit darf Erich Arendt gehalten werden, wie verschieden auch die Formen sind, die er für seine Themen, Motive und Erlebnisse fand. Er erscheint vielmehr als ein Dichter, der aus seiner ausgeprägten lyrischen Sensibilität heraus immer wieder den Mut zu neuen Ansätzen, zu neuen Absprüngen in den Strom der lyrischen Sprache seiner, unserer Zeit fand, um den gültigsten Ausdruck für das ihm Sagbare zu suchen.
Es gibt eine verborgene Kontinuität in Erich Arendts Gesamtwerk, es gibt Konstanten, die immer wirksam waren und bleiben.
So sind Natur und Landschaft als ganz unmittelbares Gegenüber des Menschen bestimmende Elemente seiner Dichtung, gleich, ob es um die konkreten historischen Ereignisse in Spanien, um das konkrete soziale Elend der Tropenbewohner geht oder um die verallgemeinernde Beschwörung antiken Daseins, das gleichnishaft alles Menschheitserleben bedeutet. Natur und Landschaft, für die sich Erich Arendts Blick im Umhergetrieben wer den der Exiljahre und später in genießender Reisefreudigkeit schärfte, sind von einer bestürzenden Gewalt, fremdartig, noch nicht domestiziert, in kosmischem Bezug, wild, überwältigend, nie eine Welt, die romantisch naturidyllisch oder exotisch verklärt ist, nie aber auch eine Welt, die das Humane ausschließt.
So ist das Visuelle der beherrschende Faktor im Welterleben des Dichters, vom Bildhaften her sind seine Gedichte konzipiert, aus ihm heraus gewinnen seine Metaphern ihre Kraft, und nicht zufällig hat er eine besonders intensive Beziehung zur bildenden Kunst.
Und so enthalten seine Gedichte eine tiefe und wahre Philosophie des Menschen. Der Mensch, tragisch und groß, kreatürlich, schöpferisch, ein Widerstehender, ein Ueberwindender, schmerzhaft hoffend, in Niederlagen und Siegen, unbesiegbar, irdisch, liebend, kämpfend — das ist, sich leicht oder schwer erschließend, der Held von Arendts Gedichten, wenn es erlaubt ist, bei Lyrik so direkt von einem Helden zu sprechen.
Erich Arendts Werk hat Rang und Gewicht. Eines der bekanntesten Gedichte ist das vom „Albatros“. Das Schiff, das das Leben des Dichters ist, wird von ihm begleitet immer:
Wenn die Nacht die Sternensicht verschloß,
trug die Nacht doch stets den Albatros.
Arendts Albatros ist nicht der Baudelaires, dessen Flügel kläglich auf den Schiffsplanken schleifen, der sich nicht erheben kann; er wäre eher als Gefährte von Rimbauds „Trunkenem Schiff“ zu denken. Dieser Albatros, „der weiten Fahrt Genoss’“, schlägt seine Schwingen über Meeresstille und Sturm, fliegt mit Zornesschrei, und er kehrt wieder mit wildem Ruf, als „Not und Knechtschaft unerträglich waren, daß das Herz den Haß nicht mehr ertrug“. Das Gedicht ist 1941 geschrieben, es formuliert in einem grandiosen Symbol die Emigrations-Odyssee des Dichters. Doch zugleich sein ganzes Lebensgefühl. Dieser Albatros schwebt immer über den Horizonten von Erich Arendts Dichtung.
Helmut Ullrich, Neue Zeit, 21.5.1969
Als 1968 Erich Arendts Sammelband AUS FÜNF JAHRZEHNTEN erschien, beklagte sein Autor sogleich den Abdruck von vierzehn Gedichten. Es handelt sich dabei um jene Gedichtgruppe, die er unter dem Titel Von blinder zu blinder Luft geschliffen zusammengefaßt hat. Mit Ausnahme von vier Texten, die 1961 und 1962 beziehungsweise 1966 geschrieben wurden, ist sie 1967 entstanden. Diese zehn Poeme sind die großartige Ernte eines Jahres. Arendt hat seine Klage seitdem gelegentlich wiederholt; er bedauert den Erstdruck der Gedichtfolge innerhalb des umfangreichen, Rückschau haltenden Œuvre-Bandes. Die Gefahr, daß die Gedichte von 1967 nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erfahren könnten, beschäftigte ihn lange Zeit. Obwohl seine erste Werkausgabe von der Kritik ernstgenommen worden ist, hat sich die Befürchtung bis zu einem gewissen Grad bestätigt. Von blinder zu blinder Luft geschliffen bezeichnet in der Poesie Erich Arendts eine Zäsur. Man muß sofort hinzufügen: eine weitere Zäsur nach den Sammlungen der FLUG-ODEN (1957) und der ÄGÄIS (1967), mit denen sich der bislang letzte gedruckt vorliegende Zyklus des Dichters zu einer Trilogie zusammenschließt. Als ihr gemeinsamer Impetus kann der Untertitel gelten, den Arendt den FLUG-ODEN beigefügt hat. Der Mensch inmitten von Zeit und Raum.
Der Wunsch, die neuen Gedichte separat publiziert zu sehen, etwa als Inselbändchen, entspringt also nicht einer eitlen Marotte, die Arendt ohnehin fremd ist, sondern dem sicheren Gefühl dafür, daß sich hier eine neue Phase der dichterischen Durchdringung ankündigt. In einem einzigen Jahr zehn Gedichte, von denen jedes einzelne bedeutend und keines aus dem Kontext unserer Poesie wegzudenken ist! Zehn Gedichte dieser philophischen Sättigung und ihrer adäquaten sprachlichen Übersetzung sind Ausweis genug für den Rang Erich Arendts, der ihm in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur zukommt. Nicht nur, weil sich Arendts Gedichte in einem umfassenderen Sinn den Themen der Zeit stellen, sich ihnen ausliefern und subjektive Antworten zu geben versuchen, in denen sich Menschheitsfragen objektivieren, sondern wohl auch deshalb, weil dieser Dichter psychisch jung geblieben ist. Das Medium Sprache beansprucht bei Arendt eine nahezu unangefochtene Priorität. Arendts Haltung in diesem Punkt ist radikal. Es kann einem widerfahren, von ihm in Abständen befragt zu werden, ob man nicht wie er der Meinung sei, daß das Gedicht in erster Linie angewandte Sprache zu sein habe. Arendts Frage ist rigoros gemeint: Sprache als alleinige Aufbausubstanz des Gedichts, sozusagen unter Verdampfung des Anekdotischen, ja des Erzählenden überhaupt. Das Ergebnis sind klare, durchsichtige Gebilde: das Gedicht hinter dem Gedicht leuchtet auf. Die Methode des diachronen und synchronen Zusammenschneidens verschränkt Historisches, Biografisches und Landschaftliches miteinander. Gerade das Gegenläufige erhellt in seiner provokanten Synthese das landläufige falsche Bild einer bestimmten Erscheinung. Die Welt wird buchstäblich in das Gedicht zitiert, zeitlich Auseinanderliegendes stellt Analogien zur Gegenwart her. Somit werden Gesellschaftsstrukturen sichtbar, alt bekannte , beklemmende, wünschenswerte, und der Blick auf sie bedarf bei dem Gedichttyp, den Arendt repräsentiert, freilich nicht der erzählenden Ausschmückung, vielmehr der dirigierenden Kopplung. Der Dichter im Zentrum des Weltgehäuses, an den Strängen ziehend, frei verfügend über den Stoff, aus dem die Welt ihre Geschichte macht, ohne dabei jedoch im Gedicht Geschichten zu erfinden. Keine geringere als die Welt-Geschichte selbst ist der bodenlose Grund für Arendts späte Dichtungen. Erzählt wird also in Hülle und Fülle! Ein paar Verse vermögen mittels verkappter Zitate, umgekehrter Zeitenfolge oder diluvialer Tatortverschiebung ganze Geschichts-Bilder neu zu entwerfen. Arendts „hellblickende“ Sprache, in der sich natürlich, gleichsam nicht zuendegeführt, Erzähleinschlüsse finden lassen, stülpt sich aus in den Unter-Grund der Zusammenhänge. Die produktive Rezeption der Arendtschen Dichtung setzt Welterfahrung und kritisches Geschichtsbewußtsein ebenso voraus wie die Fähigkeit zu dem Ausruf des Erstaunens: Erzähl das noch mal!
Bernd Jentzsch, aus: Gregor Laschen und Manfred Schlösser (Hrsg.): Der zerstückte Traum • Für Erich Arendt, Agora Verlag, 1978
– Zu Erich Arendts Nordafrika-Gedichten. –
1. Marokko (1935)
Aus dem Jahr 1935 stammen sechs Gedichte Erich Arendts, die während einer Marokko-Reise entstanden sind. Alle sechs Gedichte sind in dem Sammelband Aus fünf Jahrzehnten abgedruckt,1 fünf von ihnen sind in der von Gerhard Wolf herausgegebenen Auswahl vertreten (Reclam-Ausgabe),2 vier der Gedichte, eines zum Teil in zweifacher Fassung, stehen in der Sammlung Unter den Hufen des Winds.3
Obwohl Erich Arendt für die erwähnten Ausgaben Überarbeitungen an den Gedichten vorgenommen hat, erwähnt er in keinem seiner veröffentlichten Gespräche diese Reise. Auch in den vorliegenden Untersuchungen zum Werk des Autors bleibt das Jahr 1935 unter dem Aspekt der Marokko-Reise ein „weißer Fleck“.
Diese Lücke ist möglicherweise jenem literaturwissenschaftlichen Verständnis geschuldet, welches im frühen Werk Erich Arendts lediglich die Vorstufe zu späterer Qualität erblicken möchte, in sprachkritischer Absicht daher konventionelle Formgebung und epigonale Gestaltungsmittel hervorhebt, die „Rilke-Töne“, wie es z.B. Volker Klotz nennt.4 So berechtigt solche Kritik unter bestimmten ästhetischen Gesichtspunkten sein mag, so beengend scheint sie mir.
Damit komme ich auf den inhaltlichen Vorwurf zu sprechen, der, mit dem der formalen Schwäche kombiniert, in einer Diskussion über die Marokko-Gedichte Arendts5 etwa wie folgt ausgeführt wurde: Auch inhaltlich erweise sich Arendt hier als Epigone; in keiner Weise gehe er in diesen Gedichten über das hinaus, was der Exotismus des 19. Jahrhunderts bereits geleistet hätte, z.B. Freiligrath oder Rimbaud. Die Beschäftigung mit diesen Gedichten lohne sich daher weder inhaltlich noch formal.
Es stellt sich die Frage, ob Exotismus eine für Erich Arendts Arbeiten brauchbare Kategorie ist; mir schienen Zweifel erlaubt. Gero v. Wilpert gibt in seinem Sachwörterbuch der Literatur folgende Definition unter dem Stichwort „Exotische Dichtung“:
(…) heißt Schrifttum, das durch Verlagerung des Schauplatzes in außereuropäische, weitabgelegene Länder bes. Reize aus der Schilderung der dortigen, dem Europäer ungewohnten und merkwürdigen Verhältnisse, Gebräuche und Menschen zieht (…).6
Schon beim ersten Lesen kommt ein glattes, eher einseitiges Verständnis von Fremdheit in dieser Definition zum Ausdruck. Sie unterstellt zum einen, daß das Europäische das Gewohnte, Bekannte sei, und unterschlägt zum andern, daß sich die merkwürdigen Verhältnisse oft durch die Einmischung der Europäer ergeben haben. Sowenig das Europäische europäisch ist, wenn man z.B. die Bedeutung des arabischen Erbes in Europa bedenkt, sowenig zeigt sich die Fremde angesichts jahrhundertelanger europäischer Kolonisierung unberührt. Umgekehrt ließe sich die Definition mit entsprechender Änderung auf die innere Befindlichkeit des Europäers anwenden, wäre exotisch, was vor kurzem noch Wahnsinn hieß, Landschaft des Unbewußten, offne „Pforte der Wahrnehmung“ (Huxley) ins eigene Fremde. Verdächtig wird der Begriff aber dort, wo er ausgrenzt. Wo Fremdheit weitab rückt, in ferne, bunte Nebel, die besondere Reize bieten, wo solche Ausgrenzung stattfindet, trägt sie den Impuls des gewaltsamen Zugriffs in sich. So gesehen ist Exotismus der Kolonialisierung geistiges Kind, ihr ideologisches Echo.
Ausgrenzung findet bei Erich Arendt nicht statt, er nennt seine lyrische Arbeit an der Wirklichkeit entgrenzen. Das Erlebnis der Fremde, dem er sich stellt, aufgrund der politischen Verhältnisse stellen mußte, beinhaltet für ihn in der Veränderung seines Lebens die Möglichkeit, die Entgrenzung als Chance und Impuls seiner Lyrik wahrzunehmen.
An den Marokko-Gedichten wird nachzuvollziehen sein, auf welchem Hintergrund Arendts sprachliche Bilder und Metaphern entstehen. Seine Metaphern sind niemals konstruierte Gebilde, sie sind Resultate eines Verwandlungsprozesses von konkreten Eindrücken, von Erlebtem, Geschautem. Der konkrete Ursprung des dichterischen Verwandlungsvorgangs erzwingt daher die Einbeziehung der konkreten Verhältnisse des Landes, die der Dichter vorfand. Liegt nicht in der verallgemeinernden Exotismus-These die heimliche Weigerung verborgen, die wirklichen Gegebenheiten des fremden Landes zur Kenntnis zu nehmen, und wirkt als Impuls dieser Verweigerung nicht der Wunsch nach Verdrängung der eigenen Geschichte, hier der kolonialen Gewaltgeschichte Europas?
1935, im Jahr seiner Marokko-Reise, ist Erich Arendt bereits zwei Jahre im Exil. Nach kurzem Aufenthalt in Ascona lebt er bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs in Spanien auf Mallorca, das er später verläßt, um an der Seite der Republikaner am Kampf teilzunehmen.
1935, als Arendt das nordwestafrikanische Land betritt, ist Marokko ein geteiltes, kolonial beherrschtes Land.
Nach dem Protektoratsvertrag von 1912 ist die ca. 50 km breite Nordzone an Spanien übergeben, Tanger zur internationalen Zone erklärt (Inkrafttretung 1923); der übrige Großteil des Landes ist von französischen Truppen beherrscht und besetzt – mit Unterstützung großer Teile der einheimischen Oberschicht.
Als Antwort auf die Kolonialisierung brechen überall im Land Aufstände aus. Die Franzosen sind erst Anfang der 30er Jahre, nach einer Reihe blutiger Unterwerfungsfeldzüge mit Hunderttausenden von Opfern, die Herren im Land.
Die spanischen Truppen geraten in ihrem Abschnitt durch die Aufständischen in solche Bedrängnis, daß sie sich in ihrer Zone nur mit Hilfe der Franzosen behaupten können. Erst 1956 erlangt das Land seine Unabhängigkeit zurück.7
1935 trifft Arendt während seiner Reise überall auf die Spuren der niedergeschlagenen Rebellion. Der Widerstand beginnt sich zu dieser Zeit neu, landesweit und im Untergrund zu reorganisieren.
Aber nicht allein die politische Realität berührt den Dichter; es sind besondere, gemischte Erfahrungen, die ihm hier in der Fremde, im anderen Kulturkreis erwachsen. Dieser Vorgang, dem sich ja die Entstehung der Gedichte verdankt, verdient eine genauere Betrachtung.
Da wir von Erich Arendt selbst keine weiteren Aufzeichnungen über seine Reise besitzen, ist es hilfreich, Zeugnisse anderer Marokko-Reisender, anderer Dichter, zu Rate zu ziehen, um dem Vorgang auf die Spur zu kommen.
Ich erwähne hier vor allem Elias Canetti, der 1953, fast zwanzig Jahre später als Arendt, sich mehrere Wochen in Marrakesch aufhält und von seiner Reise tief berührt ist. Später zeichnet er in seinem Buch Die Stimmen von Marrakesch seine Eindrücke skizzenhaft nach. Von der Reise zurückgekehrt notiert er aufschlußreiche Sätze in seine „Aufzeichnungen“. Zunächst:
Ich kann über kein primitives Volk mehr lesen. Ich bin selber ein ganz primitives Volk.8
Und später:
Die Sprachen versagen, die immer verwendeten Worte zählen nicht. Für die Engländer, zu denen ich in Marokko sprechen mußte, schämte ich mich, bloß weil ich zu ihnen sprach; sie waren mir dort sehr fremd. Noch fremder waren mir die Franzosen, die dort die Herren sind, und zwar Herren im Augenblick, bevor man sie verjagt. Die Andern aber, die Leute, die immer da gelebt haben und die ich nicht verstand, waren mir wie ich selbst.9
Canetti beschreibt über seine Erfahrung mit der Sprache einen Verwandlungsvorgang, den die Fremde vollführt und der in eigentümlicher Aufhebung des Fremden, Unverständlichen Nähe, ja Identität erzeugt. Das Fremdsein in der anderen Kultur, das Fremdwerden des Vertrauten, der Sprache, erschließen ein Wahrnehmungstor, das in anderer und neuer Weise zu ihm selbst führt.
Canetti faßt das später in die beinah programmatischen Sätze:
Es gibt nichts, was konkret und anders ist, das mir nicht bedeutungsvoll erscheint: als wäre alles, was es gibt, in einem verborgen, und man könne es nur durch das Andersartige sich selbst sichtbar machen.10
Dieser Verwandlungsvorgang, den Canetti reflektiert, scheint mir auch für Arendt zuzutreffen. Seine Lyrik, für die das Sehen, das visuelle Element von so großer Bedeutung ist, vereinigt unter dem Eindruck der Fremde Bilder der äußeren und inneren Wirklichkeit. Was konkret und anders ist, um mit Canetti zu sprechen, gibt der latenten inneren Bilderwelt des Dichters die Möglichkeit des Ausdrucks.
Wenn auch in Arendts Gedichten aus dieser Zeit die bedrohliche Seite der Exilsituation zu spüren ist, so ist doch ein anderer Aspekt wichtiger: Arendts Lust an der Fremde, sein Lebensgefühl, immer fremd und zu Hause zu sein. In der Biographie des Dichters scheint mir die Behauptung einer Verbindungslinie vom Empfinden der Wandervogelbewegung bis zu dem der späteren Beat-Generation nicht abwegig, jenes Lebensgefühl, das vom Bewußtsein getragen wird, erst in der Fremde das eigene zu finden.11
„Markt in Tetuan“, als das erste der Gedichte ist ein impressionistisches Sonett über jene marrokanische Stadt, die wie die gesamte nördliche Zone unter spanischer Kolonialverwaltung steht. Tetuan ist die Hauptstadt der spanischen Zone. Wichtig für das Jahr 1935 ist der Hinweis, daß nach Niederschlagung des Rifkabylen-Aufstandes12 während der 20er Jahre die kolonialistischen Eingriffe in die gesellschaftlichen Strukturen in der spanischen Zone weit weniger intensiv sind als in der französischen.
MARK IN TETUAN
Still hält die Zeit. Hier singt der Traum von tausend Jahren.
Mit grünen Gittern ist dein Leben überdacht.
Und ewig stehn Kabylen lächelnd vor Basaren
und streichen durch das Fell der Bärte sacht.
Der schmalen Straßen blauer Schatten fließt und rinnt.
Burnusse schweben leicht und wehen wie zu Feiern.
Stumm schreiten Greise Hand in Hand. Aus Schleiern
glühn schwarze Sterne auf, die nur Verlangen sind.
Du bist entrückt. Vor Mauern rauscht die Ewigkeit.
Gelassen taucht am Markt die Wüstenhand
ins Korn und läßt es träumend leise niederfließen.
Der Mond schwebt weiß. Von Sternentüchern überspannt,
summt noch der Markt. Die Augen sehn durch Mauern weit,
während die Hände reifes Gold zur Erde gießen.
(„ Unter den Hufen des Winds“:
und streichen durch das weiche Fell der Bärte sacht.
(…)
während die Hände reifes Korn zur Erde gießen.)
„Still hält die Zeit. Hier singt der Traum von tausend Jahren“, beginnt das Gedicht, und es klingt auch im folgenden wie der Topos so manches Orientreisenden: (…) ewig stehn Kabylen lächeln vor Basaren (…) Burnusse schweben leicht (…) aus Schleiern glühn schwarze Sterne auf, die nur Verlangen sind (…). Fremde Kleidung, Basare, Greise Hand in Hand, verschleierte Frauen, die nur ihre schwarzen, aufleuchtenden Augen zeigen – fast erscheint die Kulisse von Tausendundeiner Nacht, die Mischung von Märchen und Erotik in der arabisch-sinnenfrohen Kaufmannskultur. Bilder der Pracht, der orientalischen Machtentfaltung fehlen. Stattdessen:
Der schmalen Straßen blauer Schatten fließt und rinnt.
Es ist eine leichte, fließende Welt, dem Traum ähnlich („Hier singt der Traum von tausend Jahren“). Die „grünen Gitter“, die das Leben überdachen, stehen für Fruchtbarkeit, Fülle, aber auch für Geborgenheit. Denn grün ist die Farbe dieser Kultur, die Farbe des Islam. So scheint die Faszination des Dichters in der freundlich-heiter erlebten fremden Zivilisation zu wurzeln.
Doch die zweite Hälfte des Gedichts weist auf das weit wichtigere Erlebnis hin. Sie beginnt im Gleichklang mit dem Gedichtanfang („Still hält die Zeit“) mit den Zeilen:
Du bist entrückt. Vor Mauern rauscht die Ewigkeit.
Der Begriff der Entrückung korrespondiert mit dem Gefühl des Verlusts seines Zeitsinns. Wo keine Zeit mehr ist, „rauscht Ewigkeit“. In solcher Welt steht das Leben unter anderen Koordinaten:
Gelassen taucht am Markt die Wüstenhand ins Korn und läßt es träumend leise niederfließen.
Der Zeitlosigkeit (Ewigkeit) entspricht die Gelassenheit. So wird der belebte Platz, der Markt – Ort des Anpreisens und Feilschens – zum Ort der Stille, der meditativen Sicht:
Die Augen sehn durch Mauern weit (…).
In der letzten Strophe wird dies mit einem traumartigen, ja kosmischen Bild vermittelt:
Der Mond schwebt weiß. Von Sternentüchern überspannt (…).
Dieser kosmischen Geborgenheit sind (analog den „grünen Gittern“) die „Hände“ zugeordnet, die „reifes Gold (Korn) zur Erde gießen“. Die in sich ruhende Zivilisation ist nicht bewegungslos, ihre Bewegung ist das „Fließen“.
Der Fluß hat jedoch keine Richtung, er beschreibt einen Kreis, eine Figur, die in dem Gedicht (z.B. in der Bewegung des Korns) eher angelegt, angedeutet ist.
Es ist der Eindruck von einer statischen Welt, die, in sich bewegt, den Zugang zu ihr über die Änderung der gewohnten Sinneserfahrung eröffnet. Das Wahrnehmungstor dieser neuen Erfahrung ist das Auge („Die Augen sehn durch Mauern weit“), mit dem der Fremde die Mauern seiner bisherigen Wahrnehmung überwindet. Und als Fremder ist er nur über das Auge dem erlebten Hier und Jetzt teilhaftig.
In ähnlicher Weise beschreibt C.G. Jung – ein Autor, den Arendt nachweislich intensiv gelesen hat – anläßlich seiner Nordafrika-Reise 1920 seine Eindrücke. In seinen „Erinnerungen“ spricht er von dem überwältigenden Eindruck unendlich langer Dauer und statischen Seins, fühlt sich um viele Jahrhunderte zurückversetzt in eine unendlich naivere Welt;13 an seine Frau schreibt er 1920:
Die arabische Stadt ist Antike und maurisches Mittelalter, Granada und die Märchen von Bagdad. Man denkt nicht mehr an sich, sondern ist aufgelöst in dieses nicht zu beurteilende, noch weniger zu beschreibende Vielerlei. (…)14
Die Begegnung mit dem Nebeneinander verschiedener Epochen, Kulturen und gesellschaftlicher Lebensweisen durchbricht den gewohnten Zeitsinn. In der Erfahrung, die das Ich „auflöst“ in „Vielerlei“, bricht die Erkenntnis hervor, daß das historische Ich verschiedene ungleichzeitige Wurzeln hat, daß Zeit nicht mehr ist als eine Beschreibung für das Phänomen des Werdens, der Geschichte. Ähnlich wie Jung, der in Nordafrika über „römische Reste stolpert“, also frühe europäische Geschichte in der anderen Kultur findet, lesen wir auch bei Arendt das Phänomen Geschichte, in der Verfremdung des Zeitsinns:
Still hält die Zeit. Hier singt der Traum von tausend Jahren.
Den Stillstand und das Fließen der Zeit im Augenblick zu vereinen, versucht das Gedicht; indem es Traum und Sinne übereinanderlegt, die eine Wirklichkeit beschreiben, versucht es, die Entrückung als Harmonie von Sprache und Welt plausibel zu machen. Ein lyrischer Rausch.
Diese poetische Faszination hat möglicherweise einen realen Erlebnishintergrund. Tetuan ist einer der wichtigsten Handelsplätze für die Bewohner des Rif, ein Gebirge, das zum Teil einen der größten Anbauplätze für Haschisch darstellt. Der Vagant Arendt dürfte auch zu seiner Zeit eher Schwierigkeiten gehabt haben, als Fremder den Genuß der Pflanze abzuwehren als ihn anzunehmen.
Im zweiten Gedicht der Reihe, „Karawanserei“, ist von der freundlichen Geschlossenheit des Tetuan-Gedichts nicht mehr viel zu spüren. Von diesem Gedicht existieren zwei Fassungen: die ursprüngliche von 1935 und eine für die 1966 verlegte Sammlung Unter den Hufen des Winds nachträglich bearbeitete.
KARAWANSEREI
Sie sinken in den Rasthof, hingemäht
von wochenlanger Glut und Staub und Schwere
des Firmaments, das seinen Zorn auf sie geweht,
die Lasten bis ans Himmelsende trugen,
wo rohe Treiber hart die Flanken schlugen
der wankenden Kamele. Nun, vom Schlaf fest zugenäht
ihr Lid, zucken wie unterm Hieb die Leiber,
und weiter wölbt die feuerhelle Leere.
Ein Hund verwest vor ihnen fliegenübersät.
Die Sonne schwärt in ihren blutgen Fellen.
Die Treiber brechen sich das bittre Brot.
Und überall erscheint die Spur vom Tod.
Aussatz kriecht aus der Erde, aus den Ställen;
die Wände schminken sich mit Abendrot.
Entblößte Weiber treten vor die Schwellen
und lächeln zu den Treibern träg herab.
Ihr Blick spürt wie ein Hund die Winkel ab:
Wir werden uns zu letzter Lust verstellen!
Noch lebt das Fleisch den Hunger hier im Grab.
(In der ursprünglichen Fassung heißt es statt der ersten beiden Strophen:
Sie haben noch den roten Staub im Fell
und sinken Lautlos in den Hof, als wäre
zu groß des Höllenhimmels Glutenschwere
gewesen, der seit Wochenfeuerhell
dicht über den Kamelen hing. Die Meere
der Wüste waren brennend aufgeweht,
da rohe Treiber hart die Flanken schlugen.
Nun liegen sie im Hofe hingemäht,
die Lasten bis ans Himmelsende trugen.
Ein Hund verwest vor ihnen fliegenübersät.15
In der Reclam-Ausgabe heißt es in der 3. Zeile der zweiten Strophe:
(…) wie unterm Hieb zucken die Leiber, (…))
Das Gedicht thematisiert mit zum Teil emotionaler Emphase den Zusammenprall von Natur und Zivilisation; die Karawanserei als exponierter Ort des Geschehens. Die zerstörerische Kraft der Wüste, sprachlich reduziert auf extreme Elementargewalt („Staub“ und „Glut“), lenkt den Blick des Dichters auf ihre Opfer, die Kamele. Sie sind „hingemäht“, im doppelten Sinn Opfer: durch den „Zorn des Firmaments“ und die „rohen Treiber“. In der ursprünglichen Fassung ist die todbringende Macht der Natur besonders hervorgehoben, sogar in Verbindung mit einem christlichen Bild. Von des „Höllenhimmels Glutenschwere“ ist die Rede, „der seit Wochen feuerhell / dicht über den Kamelen hing“, von dem „Meere der Wüste“, das „brennend aufgeweht“ war. In der zweiten Fassung ist es nunmehr die „feuerhelle Leere“, eine Metapher, die überleitet zur sinnlichen Allgegenwart des Todes:
Ein Hund verwest vor ihnen fliegenübersät.
(…)
Und überall erscheint die Spur vom Tod.
Aussatz kriecht aus der Erde, aus den Ställen; (…)
Der Häufung von Bildern leiblichen Vergehens steht keine tröstliche Gewißheit, keine Aussicht auf Besserung entgegen. Das Brot der Treiber ist bitter, die käufliche Lust der Weiber Verstellung, aber auch tierhafte Erniedrigung:
Ihr Blick spürt wie ein Hund die Winkel ab:
Wir werden uns zu Letzter Lust verstellen!
Alle Kreaturen, die hier am Himmelsende ihr Dasein fristen, sind nah am Tod, der „Staub“, „Glut“, „Aussatz“ heißt. Abendrot, als „Schminke“ bezeichnet, im Kontext zu verstellter Lust, ist Schminke des Todes – Tod, der sich Leben aufschminkt. Die Lebenden vegetieren in hilfloser Auflehnung dahin, um so nachdrücklicher, je weniger Zukunft dieses Leben hat; es ist ein schwaches, um so trotzigeres „Noch“:
Noch Lebt das Fleisch den Hunger hier im Grab.
Nach Tetuan, der freundlich-fließenden Stadt, erscheint die Karawanserei wie das böse Erwachen aus dem leichten Traum. Die Stimmung, die den Dichter hier beherrscht, erweist sich als Gegenteil von Entrücktheit. Hier an der Grenze von Leben und Sterben, wo im Zeichen des Todes die Bilder körperlicher Qual und anrüchiger Lust sich vordrängen, reagiert der Dichter mit abwehrendem Affekt, mit Ekel. Die Karawane, doch Spur des Lebens in der Öde, die Karawanserei, als einfache Herberge doch ein Ort des Ausruhens, den die Zivilisation sich einrichtet, um sich hier zu behaupten, ist ihm Spur vom Tod, Ort der Vernichtung. Seine affektive Distanzierung zeigt seine Betroffenheit. Es ist eine brutale Wahrheit, die ihm hier, im durchdringenden Sonnenlicht der Wüstenzone, entgegentritt. Es ist nicht nur eine existentielle Wahrheit, sondern auch eine soziale. Es ist die wirkliche Ansicht des armen, geknechteten Landes.
George Orwell, der sich nach seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg in den Jahren 1938/39 in Marokko aufhält, beschreibt in seiner Reportage über Marrakesch diese bedrückende Realität:
Wenn man durch eine Stadt wie diese geht – 200.000 Einwohner, von denen wenigstens 20.000 buchstäblich nichts weiter besitzen als die Lumpen, die sie auf dem Leib tragen –, wenn man sieht, wie die Menschen leben, vor allem, wie leicht sie einfach sterben, dann ist es schwer zu glauben, daß man sich unter menschlichen Wesen bewegt. Alle Kolonialreiche sind in der Tat auf diesen Umstand gegründet. Die Menschen haben braune Gesichter, und ihre Zahl scheint Legion. Sind sie wirklich aus demselben Fleisch und Blut wie wir? Oder sind sie lediglich eine unterschiedslose braune Masse mit der Individualität etwa von Bienen oder von Termiten? Sie erheben sich aus der Erde, sie schwitzen und hungern ein paar Jahre, und dann sinken sie zurück in die namenlosen Erdlöcher dort auf der Knochenstätte, und niemand bemerkt, daß sie verschwunden sind. Auch die Gräber selbst werden schon bald vom Erdboden verschluckt. Manchmal, auf einem Spaziergang, während man sich einen Weg durch das Gestrüpp der Indischen Feigen bahnt, bemerkt man, wie holprig der Untergrund ist, und nur eine gewisse Regelmäßigkeit der Höcker verrät einem, daß man über Skelette geht.16
In der Konfrontation mit der Erfahrung des Todes, der sich Arendt an der Grenze zur Wüste ausgesetzt sieht, scheint das Elend des Kolonialismus auf und die Hoffnungslosigkeit derer, die unter ihm leben.
Die beiden „mittleren“ Gedichte des Zyklus – „Berberin“ und „Holzsammlerinnen“ – eingehender zu besprechen, kann an dieser Stelle unterbleiben. Sie gehören sicherlich zu den schwächeren Arbeiten Arendts, sind z.B. in dem Band Unter den Hufen des Winds auch nicht vertreten. In dem Sonett „Holzsammlerinnen“ gestaltet er die Beziehung Mensch-Natur; „Berberin“, fast eine Moritat, erzählt die Geschichte des Ausbruchs einer Berber-Frau aus ihrem Stamm und ihren Untergang in der kolonialistisch geprägten Stadt. Arendt gestaltet den Leidensweg eines von mehrfacher Unterdrückung erniedrigten Opfers (Patriarchat, Islam, Kolonialismus) und solidarisiert sich mit ihm. Er versucht keine falsche Harmonie innerhalb der beherrschten marrokanischen Bevölkerung zu unterstellen, sondern akzentuiert die Gleichzeitigkeit mehrfacher kultureller und politischer Repression. Bemerkenswert ist hier, wie schon in „Karawanserei“, daß Arendt soziales Elend als Depravation von Weiblichkeit vorführt, als tierhaft-erniedrigtes Dasein in der Prostitution. In einer Reihe von anderen, vor allem auch in den späten Algerien-Gedichten, knüpft Arendt an diesen Gedanken an.
Die beiden Gedichte „Fest in Marrakesch“ und „Fez“ sind die wichtigsten, sprachlich bedeutendsten Gedichte des Marokko-Zyklus. Arendt besucht mit diesen beiden Städten nicht nur die denkwürdigsten des Landes, sondern er versucht auch, mit diesen Städtegedichten eine politische Bewertung seiner Reise zu gestalten, eine Auseinandersetzung, die ihn selbst in das Geschehen einbezieht.
FEST IN MARRAKESCH
Wild paukt der Platz. Der Sonnenhimmel ist ein Fell,
drauf schwarze Fäuste schlagen. Schräg stehen Bambusmatten
segelstarr im Licht. Die Wände blenden grell.
Ins Weiß der Kleider wirbeln wüstenheiße Schatten.
Die Silberflöte blitzt, die trägen Schlangen wiegen.
Ein Mund spuckt Flammen. Wie im Traum erzählt ein Greis
die Märchen seines Stammes. Schweigend lauscht der Kreis
zu seinen Füßen: Unsichtbare Lanzen fliegen
gegen den weißen Gott. Dann wird die Stimme leis,
und alle horchen auf den Siegesgang der Sterne
im Steppenland: und Blut und Herzen brennen heiß.
Vom roten Gongschlag andrängend tönt die Ferne.
[Unter den Hufen des Winds: 3. Zeile:
wie Segel starr im Licht (…)
letzte Zeile:
Vom roten Gongschlag tönt die nachtentrückte Ferne.
Reclam-Ausgabe:
letzte Zeile:
Vom roten Gongschlag andrängt, tönt die Ferne.]
Das Gedicht „Fest in Marrakesch“ erinnert zunächst an „Markt in Tetuan“, Impressionen sind spontan aneinandergereiht. Jedoch im Gegensatz zum Tetuan-Gedicht ist die Sprache nicht weich und fließend, sondern dynamisch, emotionsgeladen, aggressiv. Die Adjektivattribute lauten „wild“, „schräg“, „starr“, „grell“, „wüstenheiß“; dazu die Betonung des Gegensatzes „schwarze Fäuste – Weiß der Kleider“. Der dynamische Charakter der Verben tendiert ins Expressive: der Platz „paukt“, Fäuste „schlagen“, Wände „blenden“, Schatten „wirbeln“. Sie werden durch die Passage „Schräg stehen Bambusmatten wie Segel starr im Licht“ in ihrer aktiven Bedeutung verstärkt, scheinen aus der gegebenen Kulisse auszubrechen.
Die umgreifende Dynamik des Platzes bezieht den Himmel ein. Es ist ja gerade der von Bauwerken ungehinderte Blick auf den Himmel, die Erfahrung der Weite inmitten der engen, undurchschaubaren Stadt, die die Wahrnehmung des Platzes kennzeichnet – und indem der Platz voll Energie vibriert, wird auch der Himmel als sein Gegenüber zum Gegenstand dieser Energie:
Der Sonnenhimmel ist ein Fell,
drauf schwarze Fäuste schlagen.
Der Platz, von dem hier die Rede ist, ist der berühmte „Djemaa el Fna“, der „Platz der Geköpften“ (oder auch, in anderer Übersetzung: „Versammlung der Toten“), was darauf hinweist, daß in früherer Zeit hier die Köpfe der Hingerichteten ausgestellt wurden. Dieser Platz ist das Herzstück von Marrakesch, Drehscheibe des Handels zwischen Nordmarokko und der Sahara, seit der Gründung im Jahr 1062 auch einige Zeit Hauptstadt des Landes. Auf diesem Platz begegnen sich seit Hunderten von Jahren die zahlreichen Wüstenstämme mit den nord- und westafrikanischen Händlern.
Aber dieser Platz, umsäumt von einer Unzahl von Basaren und Handwerksbetrieben, war niemals allein Stätte des Handels, sondern auch und vor allem Stätte der Schaustellung: Gaukler, Akrobaten, Seiltänzer, Schlangenbeschwörer, Wahrsager und viele andere fanden (und finden) sich hier ein, besonders die Geschichtenerzähler, die Legende und Märchen, religiöse Überlieferung und Stammestradition den Zuhörern vermittelten und so für die Vermischung der Kulturen, ja damit zur Entstehung eines gemeinschaftlichen Kulturbewußtseins beitrugen. (Canetti berichtet fasziniert von den Erzählern, die er als Dichter bewundert, „weil es nie ein Wort von ihnen zu Lesen gab“.)17
Auf diese Zusammenhänge spielt die zweite Strophe des Gedichts an:
Die Silberflöte blitzt, die trägen Schlangen wiegen.
Ein Mund spuckt Flammen. Wie im Traum erzählt ein Greis
die Märchen seines Stammes. Schweigend lauscht der Kreis
zu seinen Füßen (…)
Während bei der Beschreibung der darstellerischen Handlungen die harten Verben („blitzt“, „spuckt Flammen“) an die Schilderung der aktionserfüllten Atmosphäre des Platzes anknüpfen, enthält die Zeichnung des Märchenerzählers und seiner Zuhörer jenes weiche und fließende Element, das im Tetuan-Gedicht gestaltgebend war: der „Greis“ erzählt „wie im Traum, schweigend lauscht der Kreis.“ Inmitten des von Trommeln und anderen Instrumenten lärmenden Platzes existiert auch ein Ort der Stille, der Entrückung. Die Weichheit der Sprache weist in Anklang an die vorige Zeile („die trägen Schlangen wiegen“) auf jene Gestimmtheit hin, die mit der Entrückung einhergeht: Bezauberung. Der Märchenerzähler und sein Kreis vollziehen eine Art Ritual, ein magisches Innehalten.
Wenn man weiß, daß die Märchenerzähler für ihre oft Stunden dauernden Geschichten als Stimulans die Haschisch-Pfeife gebrauchen, so wird, wie auch zuvor im Tetuan-Gedicht, der reale Erlebnishintergrund für diese Gedichtspassage deutlich.
Das Innehalten des Kreises um den Erzähler bedeutet jedoch keine Abkehr von der Umgebung, keinen Ausstieg aus der Wirklichkeit, sondern vielmehr eine magische Verdichtung, die die aktionsgeladene und spürbar aggressive Latenz des Platzes bewahrt und sie zu symbolischer Aktion ausrichtet:
Unsichtbare Lanzen fliegen
gegen den weißen Gott.
Dieser Satz, der von der zweiten in die dritte Strophe ragt, bezeichnet den Gegner, auf den sich die geschilderte und empfundene Aggressivität des Platzes bezieht. Die Metapher „weißer Gott“ meint Kolonialherrschaft, „weiße“ Kultur und deren Allgegenwart und Macht.
An dieser Stelle sei noch einmal das schon oben angeführte Zitat aus den „Erinnerungen“ von C.G. Jung wiedergegeben. Es verweist auf den Konflikt, den die „kulturelle Umgestaltung“ im Namen des Fortschritts durch die Kolonialmacht hervorbringt:
(…) Ich fühlte mich um viele Jahrhunderte zurückversetzt in eine unendlich naivere Welt von Adoleszenten, die eben anfingen, sich mit Hilfe eines spärlichen Koranwissens dem Zustand der anfänglichen und seit Urzeiten bestehenden Dämmerung zu entziehen und der Existenz ihrer selbst in Abwehr der von Norden drohenden Auflösung bewußt zu werden.
Während ich noch unter dem überwältigenden Eindruck unendlich langer Dauer und statischen Seins stand, entsann ich mich plötzlich meiner Taschenuhr und wurde an die beschleunigte Zeit des Europäers erinnert. Das war wohl die beunruhigende dunkle Wolke, die über den Köpfen dieser Ahnungslosen drohte. Sie kamen mir plötzlich vor wie Jagdtiere, die den Jäger nicht sehen, ihn aber mit unbestimmter Beklemmung wittern, den Z e i t g o t t nämlich, der unerbittlich ihre noch an Ewigkeit erinnernde Dauer in Tage, Stunden, Minuten und Sekunden zerstückeln und zerkleinern wird.18
(Hervorhebung von mir – M. v. E.)
Arendts Metapher „weißer Gott“ wie auch der „Zeitgott“ Jungs verweisen auf den radikalen, von oben verordneten Einschnitt, den die Europäisierung für die Lebensweise der Bewohner mit sich bringt. Im Kreis des Märchenerzählers kommt Widerstand und Rebellion zum Ausdruck, ja die Rebellion ist Folge der Selbstverständigung über die eigene Kultur durch Erzählen und Zuhören. Die Kultur der Kolonisierten wird von der Kolonialmacht unterdrückt, die Rebellion ist still, latent; sie ist nicht mehr oder noch nicht real, die Lanzen sind unsichtbar. Aber es gibt die Hoffnung auf die tatsächliche, die große Rebellion. Dieser Aufstand, der zur Befreiung führt, wird in der dritten Strophe in fast pathetischer Formulierung antizipiert:
Dann wird die Stimme leis,
und alle horchen auf den Siegesgang der Sterne
im Steppenland: und Blut und Herzen brennen heiß.
Vom roten Gongschlag andrängend tönt die Ferne.
Die tragende Metapher „Siegesgang der Sterne“ ist dadurch verstärkt, daß sie mit einer Synästhesie kombiniert ist ((…) „horchen auf den Siegesgang“ (…)); zugleich ist dies ein massenhafter Vorgang („alle“), der dem „Siegesgang“ Nachdruck und Dynamik verleiht. Diese „drängende“, auf den Himmel projizierte Emotion verweist noch einmal auf den Gedichtanfang:
Der Sonnenhimmel ist ein Fell,
drauf schwarze Fäuste schlagen.
Der Himmel, als Gegenüber des Platzes, verstärkt wie ein umgreifender Resonanzboden den Schlag der Fäuste auf die Trommeln, Fäuste, die „schwarz“ sind und den „weißen Gott“ meinen; er korrespondiert mit dem inneren Aufruhr der Bewohner.
Die rebellischen Gefühle sind unter dem Taghimmel unerlaubt, müssen unsichtbar bleiben, können nur akustisch sich ausdrücken: „Wild paukt der Platz“ („wild“ als Gegensatz zu „gezähmt“, „unterworfen“). Die Umkehr des Taghimmels zum Nachthimmel läßt die Hoffnung sich entfalten, ein Vorgang, der Stille erzwingt:
Dann wird die Stimme leis,
und alle horchen (…).
Analog den aufziehenden Sternen wird die Gewißheit ihres „Siegesganges“ zur Chiffre zukünftiger Freiheit, und diese Gewißheit ist zugleich leidenschaftlicher Affekt:
… und Blut und Herzen brennen heiß.
Mit der räumlichen Festlegung im Steppenland erfahren wir zugleich eine mögliche Andeutung des Inhalts des Stammesmärchens. Sie verweist auf die politischen Ereignisse in und um Marrakesch während der 20er und 30er Jahre.
1912 besetzen französische Truppen die Stadt mit Unterstützung des Paschas von Marrakesch, El Glaoui. In den folgenden zwei Jahrzehnten unterwerfen die Franzosen mit Hilfe der Truppen des Paschas die rebellischen Stämme des Südens. Bis Anfang der 30er Jahre zieht sich diese „Befriedung“ der unbotmäßigen Stämme hin; aber auch weiterhin finden lokale Aufstände statt. Das schwierig zu kontrollierende Gelände der Berge und der Wüste, die freiheitliche Mentalität der Nomadenstämme machen eine vollständige Unterwerfung unmöglich.
Im Jahr 1935 erlebt Arendt die emotionale Reaktion der Bevölkerung auf die doppelte Unterdrückung. Wir verstehen nun auch, warum die Hoffnung auf den „Siegesgang ins Steppenland“, in „nachtentrückte Ferne“ (1. Fassung), projiziert ist. Dort, in den unzugänglichen Gebieten, ist der Funke der Rebellion nicht auszulöschen.
Der Dichter solidarisiert sich mit den Unterdrückten. Im Bild vom „roten Gongschlag“ komponiert er, wieder mit dem Mittel der Synästhesie, einen Schlußakkord, der, Hoffnung und Emotion zugleich, die Distanz zwischen ihm und dem Geschehen aufhebt. Seine eigene Hoffnung auf Befreiung klingt auf, nicht nur hier im Süden Marokkos. Es ist der Gedanke an die Weltrevolution, der mitschwingt und ihn mit den Rebellierenden vereint, jenes Fest der Befreiung der Völker, dessen Latenz er hier, im „Fest in Marrakesch“, aufspürt.
FEZ
Hier ist der Unterdrückten Haß in Stein gekleidet!
Die schweren Mauern, augenlos im Grund des Lichts,
sie schweigen, drohn durch Jahre. Sie verraten nichts.
Der weiße Himmelsleib liegt droben ausgeweidet.
Nur Glut und Stille drücken auf die Wüstenstadt.
Klaglos des Volkes Augen brechen – welch Verenden!
Noch schweigt der Haß, groß hinter Stirn und Wänden,
und trinkt an einem Traum von Blut und Brot sich satt.
Doch wenn er losschlägt, schlägt er ungeheuer
mit krummen Messern los! Und wie von Disteln fallen
dann in den Sand die Köpfe all der weißen Herrn.
Blut färbt den fernsten Stern, und das Schakalvolk lacht.
Noch schweigt der Haß und beißt ins Steingemäuer.
Schwer von Kanonen ist der Freiheitstraum bewacht,
die von den Bergen richten, kalte Ungeheuer,
die Eisenmäuler auf das Wüstenvolk zur Nacht.
(Unter den Hufen des Winds; 4. Zeile:
Der weiße Himmelleib liegt droben ausgeweidet.)
FEZ schreibt Arendt den Namen der marokkanischen Stadt in der älteren europäischen Schreibweise, und nicht Fès. Ein Fez ist auch die Bezeichnung für jene in Nordafrika anzutreffende Kopfbedeckung; und wenn man Marrakesch als das Herz des Landes bezeichnen könnte, so wäre Fès sein Kopf. Schon um 860 wird hier die Hochschule Kairaouine gegründet. Seitdem ist Fès eines der geistig-religiösen Zentren des Islam, die längste Zeit auch Hauptstadt Marokkos (Nostradamus prophezeihte, daß der Untergang des Abendlandes von dieser Stadt ausgehen werde.). Während der Kolonialzeit ist Fès wohl das entscheidende Zentrum des Widerstandes gegen die Franzosen. Immer wieder kommt es zu blutigen Unruhen und Besetzungen durch die Armee.
Beschreibt Arendt in dem Gedicht „Fest in Marrakesch“ die Latenz des Aufstandes, so scheint „Fez“ ein Tendenzgedicht, ja ein Revolutionsgedicht. „Hier ist der Unterdrückten Haß in Stein gekleidet!“, lautet die erste Zeile. Das Gewicht, die Tiefe des Hasses sieht er in den alten Steinmauern verkörpert:
Die schweren Mauern, augenlos im Grund des Lichts,
sie schweigen, drohn durch Jahre. Sie verraten nichts.
Arendt zeichnet hier das alte Fès: „Fès el Bali und Fès el Djedid“, nicht die „Ville Nouvelle“, jene von den Franzosen angelegte Neustadt. Und dieses alte, marokkanische Fès erscheint ihm wie ein geeinter, trotziger, der Kolonialmacht drohender Wille zum Widerstand. Die schweren Mauern „schweigen“, sie erscheinen „augenlos im Grund des Lichts“. Arendt beschreibt die dem Haß anhaftende Eigenschaft der Blindheit, ein Haß, der, wenn er ausbricht, unbarmherzig sein wird. In diesem Affekt hält ihn sein Schweigen, sein steinernes Schweigen, das „nichts verrät“ und dadurch um so bedrohlicher wirkt.
Auch in diesem Gedicht bezieht Arendt den Himmel in das Geschehen ein. Aber es ist nicht der freundliche Sternenhimmel Tetuans, nicht der von Befreiung träumende Nachthimmel Marrakeschs, sondern der mörderische Gluthimmel aus dem Gedicht „Karawanserei“:
Der weiße Himmelsleib liegt droben ausgeweidet.
Nur Glut und Stille drücken auf die Wüstenstadt.
In dem Gedicht „Karawanserei“ war nicht nur die „Glut und Stille“ anzutreffen, in der ursprünglichen Fassung war von des „Höllenhimmels Glutenschwere“ die Rede, der „dicht über den Kamelen hing“, von „Glut und Staub und Schwere des Firmaments“ (2. Fassung), und auch die „Stille“ war vorhanden: die Kamele „sinken lautlos“ in den Hof (1. Fassung). Und diese „Glut und Stille drücken auf die Wüstenstadt“, ein Bild, das, in Analogie zum „weißen Gott“ aus dem Marrakesch-Gedicht, die Unterdrückungsmacht des Taghimmels mit der zerstörerischen Gewalt des Wüstenhimmels kombiniert und so zu einer Verdichtung der ,Repression von oben‘ gelangt.
Dem scheint auch die vorige Zeile zu entsprechen:
Der weiße Himmelsleib liegt droben ausgeweidet.
Wir müßten fragen, welches Innere wurde dem Himmel „ausgeweidet“, daß er wie ein Leichnam liegt, leer ist, nur noch Repression als „Glut und Stille“? In der Besprechung des Gedichts „Fest in Marrakesch“ wurde bereits auf die innere Beziehung des Bildes vom Himmel zu den Gefühlen der Bewohner hingewiesen. Wäre demnach der „ausgeweidete Himmel“ die von den Kolonialherrn geraubte Identität der Bewohner? Dem widerspricht aber völlig der trotzige Behauptungswille der Stadt, den der Dichter zuvor so eindrucksvoll in dem Bild des in Mauern versteinten Hasses festgehalten hat. So scheint eine komplizierte Metaphorik angewendet, die es zu entschlüsseln gilt.
Die nächstliegende Erklärung, daß nämlich dem Himmel die Wolken fehlen, er deshalb leer und wie ausgeweidet liegt, ist sicher zutreffend, aber bei weitem nicht ausreichend. Im Kontext dieses Gedichtes und dieses Zyklus geht der Naturalismus solcher Interpretation an der Tatsache vorbei, daß die Metapher eine Geschichte hat und am Ende dieser Reise entsteht. Die Entwicklung der Metapher zeigt sich im Vergleich mit anderen Gedichtzeilen: „Die Sonne schwärt in ihren blutgen Fellen“ („Karawanserei“, 10. Z.) – „Der Sonnenhimmel ist ein Fell“ („Fest in Marrakesch“, 1. Z.) – „Der weiße Himmelsleib liegt droben ausgeweidet“. Die Reihung dieser Zeilen belegt einen Bild- und Vorstellungszusammenhang von Himmel und totem Tierkörper. Die inhaltliche Tendenz dieser Bild- und Sinnverknüpfung wurzelt wahrscheinlich im Monotheismus und besagt, daß ein tyrannischer, strafender Himmel das Tieropfer erheischt. Diese besonders für den jüdisch-christlichen Monotheismus bedeutsame Symbolik schließt ja den Akt der Stellvertretung ein, den das Opferlamm für das Menschenopfer vollzieht.
In Arendts Gedicht gewinnt diese Symbolik eine überraschende Form, die mit großer Wahrscheinlichkeit einen realen Erlebnishintergrund hat und sich durch eine Verschiebung enthüllen läßt. In der ursprünglichen Fassung hieß es statt „Himmelsleib: Himmelleib“. Die Verschiebung eines Vokals und der räumliche Mitvollzug dieser Verkehrung ergibt die Projektion einer ganz alltäglichen Szenerie. Statt „der weiße Himmelleib“ liegt droben ausgeweidet“ lassen wir es heißen „der weiße H a mmelleib liegt… ausgeweidet“.
Jeder Besucher Nordafrikas und besonders der, der die heißen Wüstenstädte bereist, kennt die Sitte der Bewohner, die Schafe im Freien zu schächten und die geschälten und ausgeweideten Tiere zum Verkauf auszustellen. In Arendts Metaphorik ist die Impression solcher Schaustellung mit der älteren Symbolik vereinigt.19 Folgerichtig enthält auch die 6. Zeile des Gedichts die Anspielung auf den Anblick einer Schächtungs-Szene: „Klaglos des Volkes Augen brechen – welch Verenden!“, wobei das Opfertier durch den Begriff „Volk“, die Masse der Kolonisierten, ersetzt ist.
In den vorigen Gedichten hatte sich Arendt mit den Opfern und dem „Volk“ solidarisiert, seine Anteilnahme galt den unter der Unterdrückung Leidenden, seine Hoffnung war mit ihrem Traum von der Befreiung.
Ähnlich den Leidensattributen, die mit der Gewalt des Taghimmels verbunden sind, lassen sich als Gegen-Motiv die dem Nachthimmel angehörenden Sterne als Träger emanzipatorischer Hoffnung nennen. Der „Siegesgang der Sterne“ aus dem Marrakesch-Gedicht hatte mit den „Sternentüchern“ Tetuans ein Motiv fortgesetzt, das zuerst als weiblich-erotisches Bild von den „glühenden schwarzen“ Augensternen der verschleierten Frauen aufgetreten war. Pointiert ließe sich der Gegensatz der beiden Motivreihen als der zwischen der Repression des männlichen Taghimmels und der Utopie des weiblichen Nachthimmels charakterisieren,20 wobei letzterer mit träumerischer Entrückung und Rausch verwoben ist. In dem Gedicht „Fez“ werden die beiden Motivbereiche explizit aufeinander bezogen, so daß das Realitätsprinzip des Taghimmels direkt auf das Traumprinzip des Nachthimmels einwirkt und umgekehrt. Dabei ergibt sich eine Erkenntnis, die in der Solidarität des Dichters den Keim des Zweifels aufzeigt. In der Zeile „der weiße Himmelsleib liegt droben ausgeweidet“ deutet sich eine Vision an, die Utopie und Realität gewichtet. Es ist die Vision eines künftigen Massakers, das sich atmosphärisch ankündigt, sozusagen „in der Luft liegt“ und sich im Bild des ausgeweideten Himmelsleibes materialisiert. Dieses Massaker der Befreiung findet sich in der Mitte des Gedichtes ausgeführt:
Noch schweigt der Haß, groß hinter Stirn und Wänden,
und trinkt an einem Traum von Blut und Brot sich satt.
Doch wenn er losschlägt, schlägt er ungeheuer
mit krummen Messern los! und wie von Disteln fallen
dann in den Sand die Köpfe all der weißen Herrn.
Blut färbt den fernsten Stern, und das Schakalvolk lacht.
Der „Traum von Blut und Brot“ stellt den „Freiheitstraum“ in Frage; die Utopie vom „Siegesgang der Sterne“ mündet im Blut, das den „fernsten Stern“ noch „färbt“. Der Freiheitstraum wird durch den „Traum von Blut“ besudelt, ja, es scheint so, als ob der leichte Rausch der nächtlichen Utopie am hellichten Tag durch den Blutrausch verdrängt werde.
Die Zeilen erinnern an jene aus dem Goetheschen „Prometheus“, wo das Aufbegehren gegen den patriarchalischen Himmels-Gott den sublimen Hinweis auf die Lust am Massaker enthält:
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn (…).
Der schwache, fast gestürzte Gott ist in seiner Wut nur noch kindisch, aber zeigt noch Spuren der alten Grausamkeit, die das Menschenopfer will.
Den Abscheu vor der gewalttätigen Aggression lesen wir auch bei Schiller, in jenen berühmten Zeilen aus dem „Lied von der Glocke“, wo es heißt:
(…) Da werden Weiber zu Hyänen
Und treiben mit Entsetzen Scherz
Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
Zerreißen sie des Feindes Herz.
Die Entsprechung von „Schakalvolk“ und „Hyänen“ im Kontext der revolutionären Erhebung und gemünzt auf die aufständische Masse ist kein Zufall. Hinter Arendts gleichsam „klassischer Reaktion“ steht nicht allein die Ablehnung der Gewalt, dem „Wehe, wenn sie losgelassen“, sondern auch die Angst vor der Einsicht, daß der „Traum von Brot“ unausweichlich und in brutaler Dialektik mit dem „Traum von Blut“ verbunden ist.
In der Schlußstrophe scheint das politische Über-Ich des Dichters noch einmal aufzutrumpfen, hinzuweisen auf das Unrecht, die Unterdrückung, die die Revolution notwendig und gerecht macht:
Noch schweigt der Haß und beißt ins Steingemäuer.
Schwer von Kanonen ist der Freiheitstraum bewacht,
die von den Bergen richten, kalte Ungeheuer,
die Eisenmäuler auf das Wüstenvolk zur Nacht.
Es fällt auf, daß nicht der „weiße Gott“ hier droht und unterdrückt, sondern seine verdinglichte Gewalt in den „Kanonen“, ihren „Eisenmäulern“. Nicht lebendige Menschen, sondern Dinge stehen dem „Freiheitstraum“ entgegen. Es ist die „Gewalt von Sachen“.
Daß sich die Unterdrückten gegen diese „kalten Ungeheuer“ wehren müssen, ist Arendts Überzeugung, seine Einsicht in die Notwendigkeit. Unter der Gewalt der Kanonen „zur Nacht“ scheinen alle Hoffnungssterne zu Vorzeichen des Schreckens verwandelt. Der Dichter ahnt und fürchtet, was die Geschichte an den Tag bringen wird. Ganz in der Nähe von Fès, bei Oued Zem, werden zwanzig Jahre später über tausend französische Siedler von Aufständischen niedergemacht. Die Kolonialmacht übertrifft dieses Massaker durch noch größere Grausamkeit. In unseren Geschichtsbüchern sind solche Ereignisse fast nicht mehr als eine Randnotiz – angesichts dessen, was kurz zuvor mitten in Europa geschah.
Arendt nimmt kurze Zeit nach seiner Marokko-Reise am Spanischen Bürgerkrieg teil. Aber Arendt ist kein begeisterter Soldat. Er durcheilt als „fliegender Bibliothekar“ die Stellungen. Seine „Waffen“ sind Schreibzeug und Bücher. Seine Anteilnahme gilt denen, die leben wollen – in Frieden und in einem gesellschaftlichen Zustand, der den gewaltsamen Tod nicht fordert. Sicher verteidigt Arendt den Gedanken der Notwendigkeit revolutionärer Gewalt zu dieser Zeit. Bisweilen dringt dieser Gedanke in seine Bildwelt, aber er bleibt an der Oberfläche. Die Formel der marxistischen Klassiker von der Gewalt als der „Geburtshelferin der Geschichte“ erfüllt Arendt kaum mit Hoffnung. Trotz aller Parteilichkeit mit den Unterdrückten und ihrem Kampf um besseres Leben bleibt sein Abscheu vor dem „Traum von Blut“.
2. Algerien (1971)
Nach einer Algerien-Reise im Jahr 1971 vollendet Arendt fünf Gedichte, die 1978 in dem Band Zeitsaum erscheinen. Sie finden sich am Ende des Zyklus „Alther, es nistet das Wort“.21 In dieser späten Lyrik reagiert Arendt auf die Fremde nicht mehr unmittelbar; nicht die Impression, sondern die Reflexion ist gestaltend. Diese Reflexion ist aber durchwoben und durchmischt von einer Bildsprache, die Resultat der dazwischenliegenden vierzig Jahre ist, vierzig Jahre des Exils, scheinbarer Heimat und der immer wiederkehrenden Begegnung mit der Fremde. Vor allem die Erfahrungen in Griechenland, das Erlebnis unnachgiebiger Natur, der Elemente Meer, Stein, Sonne, Wind und die Zeugnisse gesellschaftlichen Anrennens, menschlicher Zivilisation, deren Scheitern und ständiger Versuch, die ihn zu jener Lyrik führen, die er existentiell nennt. Was er hinsichtlich der „harten, kargen landschaftlichen Umgebung“ der griechischen Inseln ausführt, gilt in gleichem Maß für seine Wüsten-Gedichte:
Es ist keine Fluchtposition, wenn ich existentielle Gedichte geschrieben habe. Vielmehr ist es die eigene Auseinandersetzung mit dem Tod, mit der Vergänglichkeit.22
Die Algerien-Gedichte sind durchaus als Resümee zu lesen, das der Dichter in einem durch antikolonialistische Revolution befreiten Land der Dritten Welt anstellt. In dieses Resümee gehen nicht nur seine politischen Erfahrungen, sondern auch Bilder und Metaphern seines früheren lyrischen Schaffens ein. Doch bleiben die Gedichte immer konkret, bewahren die Spontaneität des Eindrucks, vermischen aber in einer Art lyrischer Montage ältere „innere“ Bilder mit dem Gesehenen zu gedrängt-reflektierender Sprache. Es gelingt ihm, die ungleichzeitigen, ja widersprüchlichen lyrischen Segmente in einem einheitlichen Stil zu fassen, in einem ganz eigenen Ton, der diesen politischen Gedichten das persönliche, existentielle Moment beläßt.
Gleich das erste der Gedichte ist ein typisches Beispiel für den Stil seiner späten politischen Lyrik.
IN ALGERISCHER DÜRRE
Entstorben dem Himmel sind
die Vögel.
Blutstaub der Dschebel:
die Ferne
des Aufstands.
Im Rückstrahl der Ebene
des einzelnen Steins
Kontur –
schmolz weg.
und du
sinnst zurück:
tote Materie nur
die lepröse Bucht
giftig eng
das salzstarre
Meer:
da ging
das Glut Segel noch,
Wind-Stacheln
rot
heiß:
Dein Schatten ist dein Körper.
Nachtschlafend du
fühlst
im Aug-Innen
den Schnabelhieb
des Mittags.
Asche
des dich
vernichtenden Zenits,
dein Fleisch.
Morgen
beim Fauchen des Motors,
am Schläfenrund, ständig
der glühende Hammer.
Ich werd schrein:
lieber die andere Sonne,
aus Sand aus…
ein Mal wird gezogen
dir vors Gesicht:
der auf dich zukommt
schwarz
härter als der Himmel:
Berg
der verhallten Schüsse.
Der Gedichtanfang thematisiert Hoffnungslosigkeit und Tod. Das, woran sich Hoffnung knüpfte, der Aufstand, ist fern, ist „Blutstaub der Dschebel“. Die bei Arendt oft wiederkehrenden Bilder von „Staub“, „Blut“ und „Glut“, die schon die Marokko-Gedichte prägten, verknüpfen sich auch hier mit der Erfahrung der Wüste, der „Dürre“. In dieser trostlosen, blutgetränkten Landschaft „schmolz weg“ des einzelnen Steins Kontur, und zwar „im Rückstrahl der Ebene“. Das Landschaftsbild zeigt ein Gleichnis der Geschichte: in ihrer Ebene, im Rückblick, schmilzt das Einzelne, Individuelle dahin. Dieses Geschichtsgleichnis ist keineswegs sprachlich verallgemeinert, gar ideologisiert, vielmehr ist es persönlich bezogen, ein Bild, das eine individuelle Rückblende einleitet. Der Dichter evoziert die Zeit seines Exils, gemeint ist Kolumbien. Die Passage „lepröse Bucht, giftig eng das salzstarre Meer“ erinnert an Gedichte wie „Vorm Dorf die Sümpfe“, „Verlorene Bucht“, an den vergifteten Sand aus dem Gedicht „Karibische Nacht“ oder an das Gedicht „Neger“, in dem auch vom Aussatz die Rede ist. Doch in dieser Zeit ging das „Glut Segel“ noch, die Hoffnung auf die große Befreiung durch die Revolution, jener „rote Gongschlag“ aus dem Marrakesch-Gedicht, der zugleich heißer Affekt war, und auf den hier mit dem roten „Glut Segel“ angespielt wird.
Diese Assoziationskette reißt abrupt ab. Wie nach einem Sprung erscheint der Satz „Dein Schatten ist dein Körper“. Fast exakt teilt er das Gedicht auf, bildet eine Zäsur, die zur Gegenwart überleitet. Der Satz ist zweifach zu verstehen: als Vergewisserung der Gegenwärtigkeit, die körperlich ist, hier, unter algerischer Sonne, aber auch als Transzendierung des Körperlichen in eigener Biographie und Geschichte, die, sich hinwegsetzend über Schranken von Zeit und Raum, im Schatten das Vergangene bewahrt. Das träumende Ich empfindet schmerzhaft die Hiebe des scheinbar Abgegoltenen vergangener Tage. Im Bild des „Schnabelhiebs“ verbirgt sich der Geier, der dem „vernichtenden Zenit“ angehört, konkret der algerische Gluthimmel, aber auch der zerstörerische Geschichtsprozeß selbst.
Die Entfernung aus der Geschichte ist unmöglich; der Dichter sucht nicht nach Fluchtwegen. Im Getriebe des nächsten Tages, im Bild der Fortbewegung durch den Motor hebt er seine körperliche Gegenwart hervor, auf die der „glühende Hammer“ zermalmender Natur und Geschichte zugleich einschlägt.
Die Emotion des Schreis „Lieber die andere Sonne, / aus Sand aus (…) enthält etwas Hilfloses, Ungewisses, das den Schrei erstickt. Die Sonne, die Härte des Lichts in etwas Fest-Stoffliches zu verwandeln, scheitert bereits im Ansatz. Es folgt die Vision einer Vervielfachung von Schatten, härter als das Licht, der „Berg der verhallten Schüsse“. Ähnlich wie in dem Gedicht „Fez“ die Vision des Massakers die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang des Geschichtsprozesses in Zweifel bringt, drängen sich hier die vergangenen Bluttaten mit Macht vor die Augen. Der „Blutstaub der Dschebel“ entwickelt um so mächtigere Schatten, je mehr das Naturgeschehen den Schauplatz eingeebnet hat. Hier, in wüstenhafter Isolation, sind es auch die biographisch erlebten Schatten, deren Masse sich unabweisbar zum „Berg“ aufrichtet.
Es ist ein Charakteristikum der späten Lyrik Arendts, daß konkret gesehene und beschriebene Dinge gleichnishafte Bedeutung erhalten. Hier der Berg, der, einst umkämpft, zugleich Nachhall anderer Kämpfe ist, „Berg der verhallten Schüsse“, wird im Sinn eines Massensymbols verwendet, Symbol unzähligen und sinnlosen Sterbens. Bereits im Sisyphos-Mythos figuriert ja der Berg als Gleichnis des Scheiterns.23
In den Nordafrika-Gedichten Arendts ist noch ein anderes Massensymbol von zentraler Bedeutung, das der Landschaft der Wüste entspricht: der Sand, bei Arendt oft „Staub“. Elias Canetti hat in Masse und Macht den Massensymbolen ein eigenes Kapitel gewidmet. Über das Massensymbol Sand schreibt er:
Die unaufhörliche Bewegung des Sandes hat zur Folge, daß er zwischen den flüssigen und den festen Massensymbolen ungefähr die Mitte hält. Er bildet Wellen wie das Meer, er kann zu Wolken aufgewirbelt werden; Staub ist ein noch feinerer Sand. Ein bedeutender Zug ist die Drohung des Sandes, die Art, wie er sich dem einzelnen Menschen als etwas Aggressives und Feindliches entgegenstellt. Das Gleichförmige, Riesenhafte und Leblose der Wüste konfrontiert den Menschen mit einer kaum überwindlichen Macht: sie besteht aus unzähligen, gleichartigen Teilchen. Sie erstickt ihn wie das Meer, aber auf eine Weise, die heimtückischer ist, es dauert länger.
(…)
Es ist zu verwundern, daß der Sand je zu einem Symbol für Nachkommenschaft werden konnte. Aber die Tatsache, die von der Bibel her so gut bekannt ist, beweist, wie heftig der Wunsch nach ungeheuerlicher Vermehrung ist. Der Nachdruck liegt hier keineswegs auf der Qualität allein. Gewiß wünscht man sich für sich selbst eine ganze Schar von starken, aufrechten Söhnen. Aber für die weitere Zukunft, als Summe des Lebens von Generationen, geht es um mehr als um Gruppen oder Scharen, da wünscht man sich eine Masse von Nachkommenschaft, und die größte, unabsehbarste, unzählbarste Masse, die man kennt, ist die des Sandes.24
Bei dieser Beschreibung Canettis fällt als bedeutsamer Hinweis die Mehrdeutigkeit des Massensymbols Sand auf: sein bedrohliches, aggressives und vernichtendes Wesen, seine Leblosigkeit, aber zugleich seine Bedeutung für Nachkommenschaft, also für den Fortgang des Geschichtsprozesses. Der Sand ist ja eine Folge der Erosion, ein Resultat des Kampfes der Elemente Meer oder Wind gegen den Stein, er entsteht, wenn der Fels geschleift wird. Ähnlich wie in seinen Ägäis-Gedichten, wo der Geschichtsprozeß dem Naturgeschehen ein- und untergeordnet wird, gebraucht Arendt das Massensymbol Sand als eine Naturgewalt, die die Spuren menschlicher Geschichte in sich aufnimmt. Der Sand saugt als „Blutstaub“ das Blut der Opfer auf. C.G. Jung formuliert diese Erkenntnis ähnlich wie Arendt als eine Sinneserfahrung:
Seltsamerweise hatte ich mit meinem Betreten maurischen Bodens eine mir unverständliche Präokkupation: das Land schien mir sonderbar zu riechen. Es war Blutgeruch, wie wenn der Boden mit Blut getränkt wäre. Das einzige, was mir dazu einfiel, war, daß dieser Erdstrich mit drei Zivilisationen fertig geworden ist, der punischen, der römischen und der christlichen.25
Daß von solchem „Blutstaub“ eine aktive und zerstörerische Wirkung auf die Lebenden ausgeht, formulierte Arendt schon früher: „Aussatz kriecht aus der Erde“, hieß es in „Karawanserei“; in dem vierten der Algerien-Gedichte lautet die erste Strophe:
WUNDBRAND
eng
um die erstickende
Stadt.
Auch in dem zweiten und fünften Algerien-Gedicht ist von „Pestilenz“ und dem „Basiliskenhauch“ in der Wüste die Rede, vom „Lichtgrab“. In diesen späten Wüsten-Gedichten wird deutlich, daß die Wüste, die Landschaft des todbringenden Sandes, symbolhaft für Geschichte steht.26 Gerade die Verknüpfung der Naturbilder mit Krankheit, der schleichenden Körperzerstörung von innen, zeichnet einen unentrinnbaren Prozeß.
„Hitzeglühend / mich hält / wüstenweit / die geschlossene Faust“, heißt es im zweiten Algerien-Gedicht. Besonders in diesem Gedicht zeigt sich, daß Arendt nicht mehr, wie noch in den Marokko-Gedichten, etwas von der Hoffnung eines „Siegesgangs“ der Geschichte aufrechterhält. Zwar hatte er auch dort eingedenk der unvermeidlichen Opfer seine Abwehr gegen Aufstand und Revolution kenntlich gemacht, hielt jedoch, während des Exils und der ersten Jahre in der DDR, an ihrer Legitimation fest. Jetzt, in den siebziger Jahren, ist von solchen Zugeständnissen nichts mehr zu spüren. Diese Position gewinnt gerade dadurch an Nachdruck, daß sie im Kontext eines durch antikolonialistische Revolution befreiten Landes steht.
Mit der Überschrift „Sétif“ (3. Algerien-Gedicht) nennt Arendt einen Namen für ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte der algerischen Revolution. In der nordalgerischen Stadt Sétif hatte am 8. Mai 1945 eine Demonstration vor allem der armen, muslimischen Bevölkerung gegen politische Verfolgung und Kolonialismus stattgefunden, die von der Polizei beschossen worden war. Darauf kam es in Sétif und bald in der gesamten Kabylei zu spontanen Aufständen und Gewaltaktionen gegen Europäer, in deren Verlauf über hundert Europäer, vor allem Staatsbedienstete, umgebracht wurden.
Eine grauenhafte Rache der Franzosen folgte, das Kriegsrecht wurde verhängt, Truppen von Senegalesen, Spahis und der Fremdenlegion zogen tötend und plündernd durch die Dörfer (…). Kriegsschiffe beschossen Küstendörfer. Flugzeuge griffen Eingeborenendörfer und -hütten an. Die offizielle Zahl der in der Racheaktion (…) getöteten Muslime wurde mit 1.005 angegeben; doch gaben französische Offiziere, die dabeigewesen waren, zu, daß die Zahl eher bei 6.000 bis 8.000 Todesopfern gelegen habe. Algerische Nationalisten sprechen heute von 40.000 bis 50.000 muslimischen Opfern. Bildault hat einmal von 20.000 Toten gesprochen. – Was immer die genaue Zahl sein mag: Es besteht kein Zweifel, daß die französische Armee und die „Colons“ nach Sétif mit absichtlicher und kalter Brutalität den Eingeborenen eine Lektion erteilen wollten, die sie nicht mehr vergessen würden.27
Die „Lektion“ wurde von der bisher eher verhandlungsorientierten antikolonialistischen Opposition anders aufgenommen als erwartet:
So gut wie alle Führer des neun Jahre später ausbrechenden Aufstandes haben später erklärt, daß ihre Entscheidung, zu den Waffen zu greifen und die politische Aktion aufzugeben, auf die Massaker von Sétif zurückgegangen sei. Damals, so pflegten sie es zu formulieren, hätten sie sich zur Erkenntnis durchgerungen, daß nur ein bewaffneter Aufstand gegen die Kolonialherren sie zu freien Menschen machen könne.28
Sartre beschreibt in seinem Vorwort zu Franz Fanon (Die Verdammten dieser Erde) (…) daß Fanon seit Engels der erste sei, der die „Geburtshelferin der Geschichte“ wieder ins rechte Licht setzt.29 Im Kontext der Lektüre und der algerischen Ereignisse legt Sartre die Dialektik der kolonialen Befreiung dar:
Diese ununterdrückbare Gewalt ist, wie er genau nachweist, kein absurdes Unwetter, auch nicht das Wiederaufleben wilder Instinkte, ja nicht einmal die Wirkung eines Ressentiments: sie ist nichts weiter als der sich neu schaffende Mensch. Diese Wahrheit haben wir, glaube ich, gewußt und wieder vergessen: keine Sanftmut kann die Auswirkungen der Gewalt auslöschen, nur die Gewalt selbst kann sie tilgen. Und der Kolonisierte heilt sich von der kolonialen Neurose, indem er den Kolonialherrn mit Waffengewalt davonjagt. (…) Denn in der ersten Zeit des Aufstands muß getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt zu schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch. (…) Wenn der letzte Kolonialherr getötet, davongejagt oder assimiliert ist, wird die Spezies Minderheit verschwinden und der sozialistischen Brüderlichkeit Platz machen. (…)
Wir finden unsere Menschlichkeit diesseits von Tod und Verzweiflung, er findet sie jenseits von Folter und Tod. Wir haben den Wind gesät, er ist der Sturm. Ein Sohn der Gewalt, schöpft er aus ihr in jedem Augenblick seine Menschlichkeit: Wir waren Menschen auf seine Kosten, jetzt macht er sich auf unsere Kosten zum Menschen. Zu einem neuen Menschen – von besserer Qualität.30
An der Sartreschen Darlegung ist zweierlei bemerkenswert: zum einen die klarsichtige Darlegung der Dialektik von Repression und Gegen-Repression. Die Analyse von Gewalt und Gegengewalt in der Geschichte ist bestechend, zeigt die Ohnmacht derer, die Kompromisse hier suchten (wie z.B. Camus).
Denkwürdiger ist jedoch der zweite Aspekt: Sartres Hoffnung auf „sozialistische Brüderlichkeit“, den „neuen Menschen von besserer Qualität“, ist ein epochales Dokument der Verschiebung jener Hoffnungen, die ursprünglich mit dem Aufbau des Sozialismus in der UdSSR verbunden waren, und die, nach dem Stickfluß des Stalinismus, der Erstarrung in der Macht, auf die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt projiziert wurden. Es ist das zuletzt gesehene Leuchtfeuer marxistischer und revolutionärer Geschichtsphilosophie der 60er Jahre, das sich gemeinsam mit der antikolonialistischen Revolution entzündete.
Arendt hat diesen Aufschwung an Geschichtsoptimismus nicht mitgetragen. Wenn Sartre sagt: „Lesen Sie Fanon, und sie werden erkennen, daß zur Zeit ihrer Ohnmacht das kollektive Unterbewußtsein der Kolonisierten die Mordlust ist“31 – dann verwendet Arendt diese Erkenntnis nur konstatierend. „Mordlust Geschichte“ heißt es in dem Gedicht „Im Museum“.32Erich Arendt: Zeitsaum, a.a.O., S. 31
In Sétif, dem Ort des Massakers, stellvertretend für viele, ist der „eiserne Berg fortgewälzt“. Der Anfang des Gedichts scheint jedoch, als könne die Sprache das Geschehene nicht fassen, wie eine stumme Beschwörung gegen das Vergessen:
Schlaf
soll nicht sein,
nicht
dein Herr…
Das Gedicht endet mit den Zeilen:
Langsam
lernst lieben
den Stein, das
dunklere
Auge
Was bleibt, ist der Stein, das „dunklere Auge“; der Stein, der wie der Muschelkalkfels die Spur des vergangenen Lebens in sich hält. Er ist sehend, was die Relationen der Lebensvorgänge und die lange Dauer des Schweigens betrifft, kann als „dunkleres Auge“ Auskunft geben über das Verhältnis von Naturgeschehen und Menschengeschichte. An ihm wird die hektisch-blutige Folge der gesellschaftlichen Gewaltprozesse meßbar, erhält Geschichtsphilosophie ihr Maß – und ihre Abfuhr.
(…) „endgültig wie in der Wüste der Gedanke“; dieses Zitat von J.P. Sartre, das Arendt dem Gedicht „Eins mit dem Dunkel“33 voranstellt, könnte als Leitmotiv für Arendts Nordafrika-Gedichte gelten. Hier in der Grenzsituation von Öde und Zivilisation, von Leben und Tod, Natur und Geschichte ist es der lyrische Gedanke allein, dem Gültigkeit zukommt, zugleich ein finaler Vorgang, entrückt dem Vernichtungsgang der Körperwelt.
Doch Arendts Lyrik ist kein Loslösen von der Menschheit, sondern bleibt ihr verpflichtet. Die sprachliche Autonomie seiner Gedichte, vor allem seines Spätwerks, steht nicht in Widerspruch zu dem sie tragenden Engagement. Sicher ist die zunehmende sprachliche Chiffrierung eine Abkehr von seinen früheren Versuchen der Tendenzpoesie und bedeutet somit ein größeres Maß an Distanziertheit. Aber diese Distanz ist bei Arendt ohne jede Spur von Hochmut. In seiner Lyrik fließen, um mit einer Formel von Ernst Bloch zu sprechen, der „Kältestrom“ der unerbittlichen Bestandsaufnahme und der „Wärmestrom“ der Solidarität mit den Leidenden.
Michael von Engelhardt, aus TEXT+KRITIK: Erich Arendt – Heft 82,83, edition text + kritik, Juli 1984
– Zu Wieland Försters Zeichnung und Stele. –
I
Erich Arendt 1972. Haare wie Fledermausflügel von Stirn und Kopf fliegend –
Flughäutig
ein letztes Nachtwort
dünne, im spitzen Winkel zusammengepreßte Lippen unter hervorstechenden Wangenbeinen –
Kein Mund
entmündigt
die eigene Stimme
ein Altersgesicht, karg, scharf, nur belebt vom seitwärts abirrenden, spähenden Blick der Augen –
Sie halten
hohlschalig
ihr Augengespräch
Man findet für die Züge dieses Gesichts mühelos Metaphern aus seinen Gedichten im Manuskript, als ob in ihnen die vergangenen Jahre stehengeblieben sind, Stimme, Wort, Gespräch, als säße man noch an seinem Bett, natürlich, wie konnte es anders sein, über eben geschriebenen Versen, hier eine Wendung billigend, eine andere verwerfend, Augen und Hände erregt –
Der es kennt
bis in die Fingerspitzen
er schwebt…
aaaaaaaaa… hell –
fühliger Schatten Herr
Er sah sich nie gern so, wie Förster ihn, mit zerbrechlich-weiblichen Zügen der Krankheit, greisenhaft, aufs Blatt gezeichnet hat. Fühlte er sich doch bald, wo waren die Monate überstandener Leiden, kräftig genug, schon unterwegs gen Süden, wie seit seiner Jugend, immer dem Traum nach, Spanien, Italien, Griechenland; vergessen Schlaf, Schmerz und Skalpell, Beschwerden, die in der Dichtung gelten mochten, nicht für seinen Körper, nicht für ihn, in Blue Jeans, dem zeitgemäßen Reiseanzug junger Leute ohne aufwendiges Gepäck, mit wehendem weißen Haar, einem Auto winkend, er fuhr ja per Anhalter, wenn es sein mußte, uns, die schmählich Zurückgebliebenen, von einem ablegenden Schiff grüßend, manchmal eine Postkarte, hier bin ich und dort, eßlustig, weinselig, dies hab ich zum ersten Mal, jenes wieder gesehen, später Berichte davon – es war schon ein Phänomen, und nannte ihn H. nicht spöttisch den lockeren Zeisig?
Goethe zeichnete
alles wir
knipsen
in das Zerbröckeln
der Säulen
blickzerfaserte wir
riechen
sehen über die Steinbrüstung
armselig kriechend
den Fluß der pockennarbig
Übelkeit dünstet
Seltsamer Reisender. Wohin er kommt, begegnen ihm die Davongekommenen, vor ihnen, nicht vor den alten Tempeln, stockt der Fuß, an ihnen bricht sich der Blick, weil sie, Zeugen eigenen Überlebens, zur Bildsäule erstarrt, vor ihm stehen. Goethe vor bald zweihundert Jahren sah mit reiner Freude „man müßte mit tausend Griffeln schreiben“, was ihm von Jugend an aus Kupfern und Gemälden, in Gips und Kork nachgebildet, bekannt war; und er stellt nicht ohne Genugtuung fest, „wie die Kunst sowohl als die Natur alle Maßvergleichungen aufheben kann“. Dem empfindsamen Reisenden von heute sind die Überlebenden das Maß der Dinge. Vor ihnen haben sich die ehrwürdigen Kulturlandschaften, weit zerstörter als zu Goethes Zeiten, haben sich die bröckelnden Säulen zu bewähren, sie blieben denn schöne antike Kulisse. Daß sich zum Glücksgefühl, weil es uns sonst unangemessen, ja unmenschlich schiene, jetzt stets die Scham gesellt.
Eins mit dem Dunkel
die unpaaren
Steine, es
spricht: ZERBRECHT
Zeit über euch!
und, als vom Atem
der Woge bewegt,
sie: DAUERE!
Er geht durch das marseiller Hafenviertel, und das Wiedersehen ist MEMENTO UND BILD in einem, die gegenwärtige Szenerie so unwirklich wie wirklich, was man einst sah und hörte: er selbst emigriert aus Deutschland, nach den Monaten im republikanischen Spanien gegen Franco, bedroht von den Landsleuten in der verhaßten Uniform – das herrische Blond – im vertrauten Gespräch noch eben mit den gleichfalls verfolgten Gefährten, die ihre Namen sind leicht entschlüsselt – verleumdet als Verräter, von den eigenen Genossen falsch beschuldigt, später verurteilt werden, sie, die gerade, wie nur im Gedicht möglich, unmittelbar neben ihm sind (Dein Schatten ist dein Körper) nun wieder lächeln wie einst, ungespalten die Zunge, unversehrt, an seiner Seite gehen – o Atemholen Sekunde.
In welcher Ebene der Zeit lebt man wirklich?
Seltsame Andenken, die Arendt stets von seinen phantastischen südlichen Exkursionen mitbrachte. Simultane Bilder, Gestalten, Erscheinungen, mit denen die Leser hier schwer zurecht kamen, weil sie diese nicht als konkrete Wesen, als tatsächliche Ereignisse nehmen wollten, sondern sich über Worten verwunderten, sie rein symbolisch verstanden, nicht einfach als Gegebenheiten wie Schatten und Körper, Vogelflug und Meereswoge, Schweigen und Tod (Metapher ist für mich die sinnliche, bildinnerste Gleichsetzung mit dem Gegenstand, keine Vergleichung).
Man stieß doch nicht zufällig an diese stets wiederkehrenden Stein-Male. Stein Enge, Stein gesetzes-alt, Versteinen im Stein, Stein, der nicht mehr steinigt… Erschrak vor der Fülle wandelbaren Lichts: Eiter des Lichts, Lichtschiffe, Lichtschlaf, Lichtgrab… War dieses visionäre Land im Süden nur ein anderes Terrain für noch mögliches Dasein und Weiterleben?
Wir gewöhnten uns, nicht nur in seinem wechselnden Gesicht zu lesen, sondern in den Zügen und Zeilen dieser Verse; versuchten, ihre realen und mythischen Zeichen ganz wörtlich zu nehmen, buchstäblich existentiell, wie seine uns bestürzenden Stenogramme Unterm Eingriff an der Lebensgrenze –
Rot
aufglühend tickte
ein Schmerz auf…
er weiß
die Blicke drin
werden sich klammern
an sein
enthäutendes Wort
Seitdem sieht man ihn, körperlich, sinnlich anwesend in allen seinen Gedichten –
Auf der unerreichbaren
Insel ich stand
und die Sonne schien
scheint ich stehe
am Stamm der gefleckten Platane, die
zwei Jahrtausende breitet,
Rundhimmel,
über ein Wort.
Was ihm da, nicht unterwegs, während der Krankheit im narkotischen Dämmer aufsteigt –
du liegst
und die Weltnadel tickt
er hat es wirklich begangen, Berg Erice, Kap Palinurus umschifft, Cala Montjoy, die spanische Küste, königsblau – grenznah schon Setif und Hebron, was machen Entfernungen aus, Sizilien und die Toskana, Troja, die Berge Griechenlands –
du brachst
daß ich aß
als ein Wort…
die Feigenfrucht
auf:
Finger,
vom Funkeln des Meers
berührte
Wir erkennen ihn nun, gezeichnet, dem unerbittlichen Vers näher als der uns längst vertraut-gewohnten Alltagsgeste, voller Bonhomie sein Gesicht, heiter-gerötet, redelustig, weltläufig, hier in der berliner Raumerstraße oder im Garten von Wilhelmshorst.
II
Heiterkeit, Lust am Leben, Freude an der Kunst – er ist ein Phänomen. Daß einer in der Mitte seines siebten Lebensjahrzehnt, nach bösen und abenteuerlichen Jahren der Vertreibung aus Heimat und Sprache, nach lebensbedrohendem Umhergetriebenwerden, dennoch nicht zur Ruhe kommen will. Sich nicht, mit Heim, Haus, materieller Sicherheit zufrieden, bei schönen Büchern und Bildern einrichtet und ausrichtet; daß er, doch geprägt von abgeforderten, manchmal überlebensnotwendigen Bindungen und Denkweisen, Dogmen und Einengungen in Frage stellt – als hätte Leiden Vernunft –, sie verwirft, hinter sich läßt, sich trotz alledem, unvergrämt aber nicht unbetroffen, bis dahin nichtgekannten Erfahrungen und neuen Horizonten aussetzt und überläßt – „Selig, wer sich vor der Welt…“ –, und diese Möglichkeiten in eine bis dahin kaum zu erwartende Sprache, ins Gedicht bringen kann, sich zu-spricht, aus-spricht, frei-spricht!
Sicher kann man, gerüstet mit den einschlägigen germanistischen Techniken, dafür aus biographischem und literarischem Material manches an Hinweisen und Beweisen liefern, man tuts, wer würde den Nutzen bestreiten. Aber kann eine solche Untersuchung das Geheimnis dieser Wandlung, nennt man sie nun Abrechnung, Läuterung, Bekehrung, Reife, vollends entdecken, das Elixier Überlebensfreude, das ihn eigentlich trieb und treibt, die menschliche Substanz, das künstlerische Potential?
Wir haben uns gewöhnt, alles zu quantifizieren, zu vergleichen, einzuordnen. Die positiven wie negativen Vorzeichen solcher Wertungen sind austauschbar, je nach Position des Gutachters: hier Ich – da Gesellschaft, Innen- oder Außenwelt, Fortschritt oder Regression, Geschichtspessimismus einerseits, andrerseits soziale Utopie, Engagement diesseits und jenseits von; wer wäre der Urteile nicht einmal satt?
Vor allem angesichts einer solchen vitalen, persönlichen Metamorphose? Als Arendt sich zu Beginn der 60er Jahre zu den ägäischen Inseln aufmachte – eine, freilich erwünschte, Auftragsreise für einen Bildband, gelegen kommend, der ihn damals bedrückenden Misere mit Mauer und Maulkorb auszuweichen (Welt! meint / der Schritt!) –, konnte er ahnen, daß sich ihm diese Inseln als Archipel wiedergewonnener Sprach- und Bildkraft erschließen würde, sein Orplid, Mythos und PRINZIP HOFFNUNG, wie immer man das dann nennen würde. Sinnbild für alles, was sich zuvor der erträumten, eigenen Sprache verwehrt hatte. Sicher, er spricht von Einsichten und Erkenntnissen, wie sie seit den Tagen im antifaschistischen Spanien, seit den Prozessen von 1937 –
Blutwimper, schwarz:
das Jahrhundert
später Fakten um Fakten bekanntwerdend, wohl nur dem Versteinerten gleichgültig sein konnten. Wir haben an manchen seiner Zeit-Genossen alle in Frage kommenden Verhaltensweisen beobachten können: unangefochten, auch zynische Selbstgerechtigkeit, naiven Glaubenseifer oder geübte Verstellung, platte Angst, Müdigkeit und verbitterte Resignation, aber auch beharrliches Widersetzen und zähes Aufarbeiten. Verhaltensmuster, wie sie uns bei einschlägigen Verfahren geläufig sind und in reinlicher Scheidung kaum auftreten.
Arendt – obwohl ihm solche Haltungen nicht fremd sein konnten – reagierte kreativ als Dichter. Und vieles, was man später als bewußte Anti-Ideologie oder bezweckte Philosophie in seine Gedichte seit der ÄGÄIS hinein – oder aus ihnen herauslesen wollte, ist mehr nachträgliche Interpretation oder Selbstbedeutung. Während er doch eigentlich – natürlich in Kontakt, ja Vertrautsein mit tradierter und moderner Weltlyrik – Wort werden ließ, was er endlich als ihm wahrhaftig entsprechend empfand. Daß er wieder sah, fühlte, begriff, dachte, unvermittelt und unverfremdet, wie vielleicht nur in jungen, unbeschwerten Tagen, als ihm das lyrische Bild noch reiner Ausdruck schien. Ob es sich nun um die Kunst der Antike handelte, die er „gegen das illusorische Griechenlandbild eines Goethe“ auf sich wirken ließ, oder um Auffassungen, was denn dieses ihm gemäße Gebilde, Gedicht genannt, nun eigentlich sei.
Ging es doch nicht darum, einem indoktrinierten Weltbild nur die Kehrseite vorzuhalten, weil sich aus Vorhaltungen und Ressentiments allein eben kein gerechtes Bild machen läßt. Der Dichtung Sprache ist Trauer und Freude, Gesang und Elegie. Die Nähe zu Hölderlin – er spricht von dessen „psychischem Kosmos“ – war da schon keine Ermessensfrage mehr.
Damit soll nicht belegt oder ausgelegt werden, mehr erklärt, warum man einen Lyriker von der Statur Arendts nicht zwischen die Pole Apologet oder Rebell, politischer Rhapsodie oder weltabgewandter Idylliker spannen kann. Etiketten, wie sie die Medien und bestellten Literaturgeschichten heute als Wertzeichen verteilen.
Arendt schreibt jenseits von solchen Einordnungen, wenn auch nicht abseits vom täglichen Leben, ihm vielmehr hellhörig und hellsichtig zugetan, fähig, solche Wahrnehmungen und Empfindungen, die bis ins Unterbewußte reichen, vorsichtig aber bezeichnend zu skandieren:
Dem täglichen Unser
aufzuckend
das Schmerzgeäder
vernarbt
das angrübelnde
Wort.
Im Blinden
der Zukunft
unser gealterter
Staub.
Wo Einblick
wo… wir
im Tunnelgehöhl
der mandelstamm-
blutigen Erde
wo Rosmarinatem doch
– berufend Rose
und Meer –
den Wundstein um haucht hat.
Finster
im Fallwind
die aschenlichtigen
Finger.
Wortfügungen, die Schmerz, Verwundet-Sein und immer wieder Verwundet-Werden berufen, widersprechen nur scheinbar seiner unternehmungsreichen Weltoffenheit. Wenn er seine Gedichte als Geschichtsschreibung von der Leidseite, der Erleidensseite her definiert, dann als Palliativ und Schutz – Zärtlichkeitswort ägidisch –, sich nicht dem Mißbrauch von Macht, Politik und blind der Fortschrittsgläubigkeit zu überlassen.
Die Namen der Verwundeten, Getroffenen
Mandelstam – mandelstam / blutige Erde
Zwetajewa – Zeit der Knochen –
Celan – Ent-Gültiges ist –
werden nicht als Nachhall oder gar aus Pflichtübung zitiert, sie sind ihm das zeitgemäß Poetische schlechthin, an dem er sich orientiert, Poesie, „dies unschuldigste aller Geschäfte“, wie Hölderlin sagt, die ja nicht recht haben oder behalten will, sondern nur ihren Anspruch erhebt, da zu sein und bleiben zu wollen: vernabt dem täglichen Unser das Wort: Nabe, Achse, Angelpunkt lebendigen Hierseins. Als solches bestimmt es die Struktur seiner Verse akzentuiert bis in ihre innere Gesetzlichkeit.
Die vielbesprochene Inversion, die dieser Vers am prosaischen Satz vornimmt, um ihn damit zugleich aufzuheben, ist nicht nur prosodische Aktion, willkürliche metrische Gliederung, vielmehr eine Umwandlung herkömmlichen Sprechens – der veränderten Welthaltung ihres Autors folgend – in dem Sinne, wie der Begriff in der Geologie verwendet wird: als Reliefumkehr, bei der sich, durch Verschiebung der Erdrinde (wo Rosmarinatem doch / – berufend Rose / und Meer- / den Wundstein um haucht hat)
aus Tälern Berge erheben, wie durch die Wortumstellung, die der Vers vornimmt, entscheidende Akzentverschiebungen erfolgen:
Und ginge
der Weg auch
ins Wer-weiß-schon
geröllschwer
hin
Sonne ist…
Eine Wende also, wie sie die Musik als Inversion kennt: als Gegenbewegung einer Tonfolge:
in seiner Wüste
liegt das
Münder sucht
ein Wort
Die Auflehnung, die sich insgesamt in dieser Versbewegung zeigt, kommt aus einer im Grunde ungebrochenen, wenn auch nicht widerspruchslosen Übereinkunft mit dem Elementaren, das er den Vorgängen und Abläufen um sich entnimmt, seien sie nun persönlicher oder gesellschaftlicher Natur („Mythos ist der Inbegriff für Humanität“). Verse kommen wieder spontan, nicht mehr – wie in einer langen Periode seines Schaffens – vordergründig auf ein ausgemachtes Ziel hin tendiert. Wer nun von hermetischen Gedichten spricht, die sich in ihrem selbstgeschaffenen Mythos genügen, verfehlt ihren Impuls. Arendts Gedichte sind immer auch Erlebnisgedichte. Denn Erleben heißt ja nichts anderes als Leben in Besitz nehmen. Leben als Tätigkeit direkt dem Leib verhaftet, als Hauptwort Leben Gegensatz zum Tod.
Er notiert Verszeilen, die dem authentischen Erinnerungsablauf in Krankheitsbedrängnis und Todesfurcht nachspüren. Sie konzentrieren sich, fast sollte man sagen unwillkürlich, in dem Doppelwort, das die schöpferische Phase dieses letzten Lebensdrittels leitmotivisch trifft: Zweit-Geburt Gedicht, an der Schwelle zwischen Schlaf und Wachsein, zwischen Ahnung und Gewißheit, das jene Unruhe und dieses Nichtsich-abfinden-wollen beschreibt, das er nicht nur physisch, sondern auch geistig durchlebte: Wiedererwachen, Wiedererfahren, Wiederverstehen:
spürst – siehst
ein Augengroß das
dir zulächelt wie
vorm Jahrhundert und mehr
die Mutter es nicht vermochte
dein Mund sog – er kann nicht
öffnet sich nicht –
ein Lappen Wasser stillt dir
die harschen Lippen kühlt
kühler als am Hang
der eiserne Quell einst
den du durchschrittest
und wieder – das Dunkel hält nicht –
läßt dich du läßt dich
gleiten
ins erlösende Bodenlos
Schlaf
nimmst das Augennah
mit dir
das erste
Gesicht…
Wieland Försters Porträt-Plastik von 1968 zeigt Arendts Kopf in gesammelter, in sich ruhender Gelassenheit, gelöst die Züge, fast heiter, nicht ohne Wehmut um Augen und Mund. Das Gesicht meinen wir zu kennen an ihm, wenn es uns nicht durch die Kunst zugleich entrückt wäre, kein Abbild.
Der wulstige Nacken, der Hals mit Anlage zum Doppelkinn, nichts ist unzulässig verschönert, das Bildnis dem uns bekannten Mann profan nah, mit dem wir reden, bei einer guten Mahlzeit dem Wein zusprechen, er beugt sich wohl gerade vor, zitiert einen ihm wichtigen Dichter, man schwatzt, lästert, blättert in einem Buch, lobt ein Bild, viele Gebärden verschmelzen zu einem Augenblick, alles Gewichtige geschieht mehr nebenbei. Überraschend ist die Lösung, die Förster für den Sockel dieses Kopfes fand. Er ruht nicht, wie man es gemeinhin kennt, nach Hals- oder Brustansatz jäh abbrechend, Torso, auf einem anonymen Block oder Gestell. Der Kopf setzt sich in einer Stele fort, die, durchaus Konturen eines Körpers andeutend, nach unten schlank gestreckt, in einem Fuß endend, sich zusehends verjüngt. Man könnte an den Fuß Pans denken, der diesem Gesicht eines alternden Mannes die Figur eines Jünglings, eines Epheben gibt, eine zweite Jugend.
Im Freien, zwischen Baum und Gesträuch, auf Erde und Gras, ein Stück wechselnden Himmels darüber, ist dieses Gesicht wirklich einem Faun ähnlich, die Statue einem Kouros, wandernde Stele.
Ich geh
die tiefergefurchten
Breitengrade, blick-
vermählt
den innren Gestalten
des Lichts:
Alther es nistet
das Wort
Zärtlichkeitswort
im Zweig der Oliven:
ägidisch.
Gerhard Wolf, aus: Gregor Laschen und Manfred Schlösser (Hrsg.): Der zerstückte Traum • Für Erich Arendt
Manchmal glaubt man zu wissen, was die Stunde geschlagen hat. Das Leben, als Ganzes genommen, hat aber einen Schein, der im Licht des frühen Abends verglimmt, wenn er nicht schon vorher erloschen ist. Mithin sind alle Versuche den sogenannten besten Jahren einen Sinn zu geben, vergeblich – denn unsere Mühen, sich ein möglichst angenehmes und schmerzfreies Leben zu schaffen, werden stets durchkreuzt von der Unbeständigkeit der Gesellschaft und der Geschichte, die jeden Plan zunichte machen. Mit Brechts Versen aus der Dreigroschenoper gesprochen:
Ja, mach nur einen Plan
Und sei ein großes Licht,
Und mach noch einen zweiten Plan:
Gehn tun sie beide nicht!
Dabei ist freilich nicht auszuschließen, daß Geschichte einen Sinn haben könnte – doch unsere Erfahrungen sprechen vom Gegenteil.
Die Bilder, die andere Menschen sich von einem machen, können sehr unterschiedlich sein. Das, was uns dabei beschäftigt, ist das Unsichere und Ungefähre unserer Existenz. Und dazu kommt, daß wir niemals genau wissen, was uns geprägt und von außen geleitet hat.
Kurz: Die Spuren unseres Lebens sind auch die Spuren des Vergessens, denen wir zu folgen versuchen, um herauszufinden, was uns in entscheidenden Jahren formte oder deformierte. Ich gerate wegen fehlender Aufzeichnungen und der Grenzen des Erinnerungsvermögens immer wieder in Schwierigkeiten, ein Bild meiner Vergangenheit zu entwerfen. Nur für die Zeit von 1979 an habe ich einen zuverlässigen Begleiter: die „Akte“.
Wie gesagt – auch in der Zeit, in der ich von einer Observierung durch die Stasi nicht die geringste Ahnung hatte, wurde diese mit den Informationen eines gewissen „Heinz Callus“ versorgt. Bereits 1961 durfte das MfS zur Kenntnis nehmen, daß ich den von Kurella geförderten Maler Witz (der Martin Andersen Nexö mit jungen Pionieren auf den Stufen von dessen Villa gemalt hatte – unsäglicher Kitsch im Elfenreigenstil!) für einen Scharlatan hielt.
1963 berichtete „Heinz Callus“ von einer Diskussion im „Haus der Wissenschaftler“:
Heinz Czechowski meinte: „Kriterium für ein Gedicht ist es doch, ob der Autor es verstanden hat, Bilder zu zeigen, die den Leser über Wirklichkeiten informieren und ihn veranlassen, zu einer Schlußfolgerung zu kommen. Dabei ist es interessant, was für eine Schlußfolgerung gezogen wird. Hierin liegt die Weisheit der Literatur. Über Ästhetik zu sprechen, ist sinnlos, da wir nicht beantworten können, was schön ist.“
Immerhin bin ich über das, was ich damals gesagt habe, nicht unglücklich. Trotz einiger Abstriche, die ich heute zu machen hätte, waren diese wenigen Sätze die gute Grundlage einer Poetik, die es auszubauen galt und von der ich damals noch nicht wußte, daß sie mir einmal notwendig werden würde. Aber auch diese Sätze hätte ich längst vergessen, wenn mich die Akte nicht an sie erinnerte.
Noch war die sich anbahnende Katastrophe, die ich kommen sah, nicht eingetreten. (Der Spitzname „Katastrophen-Ede“, den ich zeitweilig trug, bezog sich nicht auf wirkliche Katastrophen, sondern auf deren Ankündigung – trotzdem: Viele von ihnen sind tatsächlich eingetreten…)
Ossip Mandelstam soll gesagt haben, es gebe kein Verbrechen, dessen ein Schriftsteller nicht fähig wäre. Berücksichtigt man die Denunziationen während der Stalin-Ära, so ist das nicht übertrieben. Da in der DDR alles eine Nummer kleiner ausfiel als im Bruderland, kann ich, jedenfalls für mein Metier, dieser Wahrheit nicht zustimmen. Immerhin jedoch herrschte unter Kolleginnen und Kollegen kein Mangel an korrupten, zumindest aber feigen Zeitgenossen. Ich habe nicht die Absicht, hier die Klarnamen jener Informanten, die dem MfS Nachrichten über mich lieferten, preiszugeben. Ich bin mir auch bewußt, daß einige von ihnen sicher nur unter erheblichem Druck über mich Auskunft erteilten oder sogar Gutachten zu literarischen Fragen und Gedichtinterpretationen anfertigten. (In einem Fall ist die Interpretation eines Essays über Günter Kunert sogar erheblich länger als der Essay selbst…) Auch der angebliche „IMS Kandidat“ Jürgen V., ein befreundeter Dramaturg des Stadttheaters, wurde beauftragt, zu meinem Gedicht „Sie räumen den Fortschritt den Weg“ ein Gutachten anzufertigen. Dort heißt es (laut „Einschätzung“ vom 11. September 1980):
Die literarische Arbeit „Sie räumen…“ ist dem Genre Lyrik zuzuordnen und wurde von einer Person erstellt, der Fähigkeiten auf diesem Gebiet nicht abzusprechen sind bzw. die nicht im Anfangsstadium einer lyrischen Betätigung steht. Das Anliegen der Arbeit ist ein nicht personifizierter Angriff auf Gestalter unserer Gesellschaft. Durch das Einflechten einer territorialen Beschreibung wird der Handlungsort eindeutig in der DDR fixiert. Auf Grund der Verwendung eines unpersönlich „Sie“ bleibt der Autor allgemein und eröffnet dem Leser die Möglichkeit einer eigenen Interpretation hinsichtlich der Einordnung von Personen und Personengruppen.
Ach, ihr vielen Bereitschafterklärungsunterzeichner, die ihr wohl glaubtet, ihr könntet eueren Ausreiseantrag beschleunigen oder eure Familie schützen: Ich weiß natürlich, wer von euch beleidigt und gekränkt sein würde, wenn ich in diesen Dingen Klartext redete. Denn die Wahrheit ist dem Menschen nicht zumutbar, ganz im Gegensatz zu Ingeborg Bachmanns Sentenz, sie sei es.
Da ich nach der „Wende“ so viele Freundschaften aufgekündigt habe oder diese mir aufgekündigt wurden, ist mir eigentlich nur noch der Zorn geblieben, mit dem ich einige meiner ehemaligen Freunde betrachte.
Mein Vorgriff auf etwas, über das noch zu reden sein wird, ist entschuldbar. Denn ich spreche jetzt von jenen Jahren, in denen die Szenerie von Halle und Leipzig mein Leben bestimmte. Und natürlich darf auch die „Hauptstadt der DDR“, Berlin, nicht unerwähnt bleiben. Abgesehen von meiner Freundschaft zu Karl Mickel, Bernd Jentzsch, Klaus Tragelehn, Sarah Kirsch und Adolf Endler trat der nach dem Tod Maurers für mich wichtigste „Ziehvater“ in mein Leben: Erich Arendt.
Ganz im Gegensatz zu Georg Maurer, mit dem er befreundet war, spielte die deutsche Klassik für Arendt nicht die Hauptrolle. Zwar hatte er die Odensprache Klopstocks und Hölderlins verinnerlicht, sein Sinnen und Trachten war jedoch auf die Moderne gerichtet. Als Expressionist in der Tradition von August Stramm hatte er begonnen, dann eine kurze klassizistische Phase im Banne Bechers durchgemacht, jedoch schon sehr bald spanischen und lateinamerikanischen Wurzeln nachgespürt. Seine Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg und die Zeit seiner Emigration in Kolumbien bewirkte mehr und mehr jene Welthaltigkeit, welche vor allem sein Spätwerk bestimmt.
Maurer, der seine Beziehungen zur Jugend in seinen Seminaren begründete und eine stattliche Schülerzahl vorweisen konnte, ließ es zu Freundschaften, soweit ich das sehe, nicht kommen. Er schätzte seine Schüler – zu denen auch einige gehörten, die seine Seminarbank gar nicht gedrückt hatten –, aber eine gewisse Distanziertheit gehörte bei ihm offenbar zu der Würde, die er als Lehrer aufrechthielt.
Arendt hingegen war es nicht gegeben, als Lehrer und Mentor der jüngeren Generation aufzutreten. Er bevorzugte das Gespräch von gleich zu gleich. Eine Offenheit, die nichts verbarg, vielleicht sogar eine homoerotische Neigung, die sich hinter erotomanischen Anzüglichkeiten versteckte, erzeugten im Hause Arendt a priori eine Atmosphäre, die, auch von seiner Frau Katja unterstützt, keine Fremdelei aufkommen ließ. Die blonde balearische Negerin, die seine Geliebte gewesen war, tauchte in seinen Erzählungen immer wieder auf. Hinzu kam, daß er, wie er selber sagte, ein „Süßmaul“ war und sich in Kolumbien der Pralinenherstellung verschrieben hatte, wovon das Ehepaar während der Emigration ganz gut gelebt hatte.
Maurer wiederum erzählte oft folgende Anekdote: Sie besagte, daß er während der Entstehung des Dreistrophenkalenders das tägliche Gedicht am Rande einer Kleingartensiedlung an der Pleiße schrieb. Einer der Kleingärtner hatte beobachtet, wie Maurer kritzelnd auf und ab ging. Er rief Maurer über das Wasser hinweg zu, daß er schon wisse, was jener da treibe: daß er sich nämlich über die Früchte und das Gemüse Notizen mache, um es am Abend stehlen zu können.
So etwas hätte dem Weltreisenden Erich Arendt niemals passieren können. Sein Sinnen und Trachten galt Griechenland, der Ägäis und dem Tropenland Kolumbien (wie einer seiner Bildbände heißt). Und als Fotograf seiner leider inzwischen vergessenen Bildbände brachte er es zur Meisterschaft. Denn wie jeder Lyriker brauchte auch er ein zweites Standbein, um leben zu können. Gleichzeitig bereicherten die Reisen, die er mit Katja unternahm, ganz entschieden seine Lyrik. Aber im Gegensatz zu einem anderen „Weltreisenden“, nämlich Stephan Hermlin, ließ Arendt nie so etwas wie Hochmut durchblicken. Für ihn war das Reisen ganz entschieden ein Teil seiner Weltbürgerlichkeit. Nebenbei gesagt wußte Erich Arendt auch die besten Orte des „sozialistischen Lagers“ für sich nutzbar zu machen. So traf ich ihn einmal mit seiner Freundin Hannelore T. in Sofia, wo er mich in den Russischen Club mitnahm, denn dort gab es die beste Karamelcreme des „gesamten Ostens“.
Daß es zur Trennung von seiner langjährigen Lebensgefährtin Katja Hajek-Arendt kam, bedauerten wohl alle seine Freunde. Hatte sie doch an seinen Nachdichtungen spanischer und lateinamerikanischer Lyrik einen nicht unbeträchtlichen Anteil – ja, sie behauptete sogar, Erich habe, im Gegensatz zu ihr, niemals richtig Spanisch gelernt. Wie dem auch sei: Katja kam zu uns nach Halle, eine alte Dame mit weißem Haar. Sie schimpfte natürlich auf Erich, konnte aber auch über seine Hinwendung zu einer viel Jüngeren lachen. Sie war die Tochter eines galizischen Juden, der den vierundzwanzigbändigen Brockhaus auswendig gelernt hatte, um ein gutes Deutsch sprechen zu können…
Nachdem ich das Nachwort zu Arendts Gedichten Aus fünf Jahrzehnten geschrieben hatte, die 1968 bei Hinstorff in Rostock erschienen, sahen wir uns oft in seiner Ladenwohnung am Prenzlauer Berg, die mit moderner Malerei und Plastik von Trökes, Altenbourg und Janssen vollgestopft war.
Hier ist auch der Platz, Kurt Batts zu gedenken. Batt war der pfeiferauchende, gänzlich undogmatische und hochgebildete Cheflektor des Hinstorff-Verlages und Anhänger der „Tragischen Literaturgeschichte“. Er arbeitete über Fritz Reuter und Anna Seghers. Arendt hatte mich ihm für das Nachwort vorgeschlagen. Vorher hatte ich, angeregt durch Arendts Bildbände, einen Versuch gemacht, ihn im Fernsehen als Dichter und Fotografen vorzustellen. Der Versuch scheiterte, weil es angeblich keine Rückprojektierungswand gab. Doch vermutlich wollte man eine derart exklusive Sendung gar nicht haben.
Kurt Batt sah ich zum letzten Mal Ende 1978 anläßlich einer Veranstaltung des Germanistischen Institutes der Universität Warschau. Er verteidigte dort Georg Lukács’ Theorie des Romans, ich sprach über die damalige DDR-Lyrik. Es war bitterkalt, ein höllisches Klima, wenn man sich die Hölle mit Dante eisig vorstellt. Mit zwei Germanisten der Martin-Luther-Universität warteten wir im zugigen Wartesaal des Warschauer Hauptbahnhofs auf den verspäteten Schnellzug nach Berlin. In Halle ereilte einen der beiden Germanisten ein Herzinfarkt. Auch dem anderen ging es nicht gut, und ich selbst fühlte mich ebenfalls nicht auf der Höhe. Da erreichte mich die Nachricht, daß Kurt, noch vor der Abreise, in Warschau einem Herzversagen erlegen war.
Erich Arendt war nach der Vertreibung seines Freundes Peter Huchel aus der DDR in dessen Haus in Wilhelmshorst gezogen. Ich besuchte ihn dort zwei oder drei Mal, zuletzt anläßlich seines 70. Geburtstages zusammen mit Christine Schaper, meiner damaligen Freundin. Eine Blütenlese vorwiegend junger Frauen umgab Erich. Man saß auf dem Fußboden, rauchte, trank und war international. Mit dem in der DDR Üblichen hatte das nichts zu tun, zumal viele der Gäste über Westberlin eingereist waren. Wie ich später aus meiner „Akte“ erfuhr, hatte die Stasi offenbar keine Ahnung von diesem Treffen, obwohl der Name Arendt – oft falsch geschrieben – häufig auftaucht. Dann schlief unsere Freundschaft ein. Zuletzt kümmerte sich Adolf Endler um den an Alzheimer Erkrankten.
Das Haus auf dem Hubertusweg in Wilhelmshorst war mir übrigens nicht unbekannt. Ich hatte Huchel dort 1964 in einer heiklen Mission als Lektor und Herausgeber des Mitteldeutschen Verlages besucht. Für die Lyrikanthologie Zwischen Wäldern und Flüssen schienen mir Gedichte Huchels unverzichtbar. Er war der Nestor einer modernen Naturlyrik und hatte mich in meinen Anfängen neben Günter Eich am meisten beeindruckt. Huchel, der auf seine Ausreise wartete, hatte wie üblich die Publikation seiner Gedichte in der DDR abgelehnt. In diesem Punkt traf er sich mit Paul Celan, der mir ebenfalls den Nachdruck seiner „Todesfuge“ in der Anthologie Brücken des Lebens verweigert hatte. Die Duplizität der Ereignisse setzte sich fort, als mir sowohl Huchel wie Celan den Abdruck ihrer Gedichte genehmigten, nachdem ich ihnen die Inhaltsverzeichnisse der Anthologien vorgelegt hatte…
Obwohl mir die spätere persönliche Beziehung zu Erich Arendt näher ging als die zu Peter Huchel, komme ich nicht umhin, meine erste und einzige Begegnung mit Huchel, die neben der mit Claire Goll, die ich in meinem Büchlein Von Paris nach Montmartre beschrieben habe, wohl eine der wichtigsten und bedeutendsten meines Lebens gewesen ist, zu erwähnen.
Was Huchels Gedichte für mich bedeuteten, läßt sich nicht in einem Satz ausdrücken. Seine Bildwelt, der märkischen Landschaft verpflichtet, zog mich an, vielleicht gerade deshalb, weil sie der des Raumes um Dresden gewissermaßen entgegengesetzt war. Besonders seine Gedichte, in denen er nach 1945 Krieg und Nachkrieg Ausdruck verlieh, lockerten mir die Zunge.
In unbewußter Selbstüberschätzung hatte ich 1956 einige Gedichte an Sinn und Form geschickt. Ich erhielt das kleine Manuskript alsbald mit einem Brief zurück, der mit Bedauern darauf verwies, daß meine Verse für eine Veröffentlichung „noch nicht reif genug“ seien, „wenn auch die Arbeiten „Auf Villon“ und „Picasso“ zweifellos starke Talentproben“ darstellten. Der Brief schloß mit der Aufforderung:
Wir würden es begrüßen, wenn Sie uns zu unverbindlicher Einsicht einmal andere Gedichte übersenden wollten.
Unter der Formel „Mit freundlicher Begrüßung“ stand wie mit der Rohrfeder geschrieben die markante Unterschrift Peter Huchels.
Von den beiden Gedichten ging „Auf Villon“ verloren. Das andere, „Picasso: L’étreinte“, gebe ich hier wieder:
Manchmal fand er alles in ihr:
Hoffnung, Angst, Süden und Meer.
Und vergaß die hungernde Welt.
In ihren Armen träumte er,
Bis dann das Morgenrot
An blinde Scheiben klopfte.
Als er sie küßte dachte er:
Blau war die Farbe der Wand überm Bett
Und das Blut ihres Fußbodens
Werde ich niemals vergessen.
Abgesehen davon, daß ich Huchel sofort beflissen neue Gedichte schickte, die allesamt in einer einseitigen Brecht-Nachfolge standen und von Huchel mit Recht mit keiner Antwort gewürdigt wurden, vergingen Jahre, ehe ich erneut Kontakt zu dem Dichter aufnahm.
Ich hatte, wie bereits erwähnt, für den Mitteldeutschen Verlag die Herausgabe einer Anthologie deutscher Natur- und Landschaftsgedichte übernommen. Selbstverständlich war eine solche Sammlung ohne Gedichte Huchels undenkbar.
Ich bat Huchel um Zustimmung zum Abdruck von acht seiner Gedichte. In einem heute leider nicht mehr auffindbaren Brief schrieb er mir, daß er zwar das angebotene Honorar dringend brauchen könne, sich jedoch entschlossen habe, in der DDR nicht mehr zu publizieren. Eine derartige Anthologie ohne Gedichte Huchels schien mir jedoch sinnlos. Ich entschloß mich, Huchel anzurufen und um einen Besuch bei ihm in Wilhelmshorst zu bitten. Noch heute ist mir, als vernähme ich seine märkisch gefärbte Stimme, der es offenbar schwer fiel, mit Härte zu reagieren. Auf meine eindringlich ausgesprochene Bitte um ein Gespräch antwortete Huchel schließlich:
Von mir aus kommen Sie, aber eine Zustimmung zum Abdruck meiner Gedichte kann ich Ihnen nicht geben.
Seltsame Koinzidenz, von der ich glaube, daß sie nicht der verklärenden Erinnerung oder einer Sinnestäuschung geschuldet ist: Der Tag, an dem ich mit einem Dienstwagen von Halle nach Wilhelmshorst fuhr, entsprach genau jenem, dem Ludvík Kundera in seinem Gedicht „Im Schneesturm“ Gestalt gegeben hat. – Nachdem sich der Chauffeur mehrfach verfahren hatte, fanden wir Huchels im Schnee versinkendes Häuschen schließlich doch noch. In einem kleinen Zimmer zu ebener Erde, vollgestopft mit Büchern und Manuskripten, das Huchel als Arbeitszimmer diente und in dem er Sinn und Form redigiert hatte, saß ich dem Mann gegenüber, dessen Züge neben einer milden Resignation auch die Entschlossenheit verrieten, seinen Widersachern Paroli zu bieten.
Huchel blätterte, Zigarette um Zigarette rauchend, in dem Manuskript der Anthologie, mehrfach betonend, daß er bedaure, seine Zustimmung zum Abdruck seiner Gedichte aus prinzipiellen Gründen nicht geben zu können.
Das Thema wechselnd, kamen wir auf die damalige Situation der Lyrik in der DDR zu sprechen. Noch waren die Reihen der zwischen 1935 und 1940 Geborenen nicht gelichtet. Huchel betrachtete die damalige Situation, die alles andere als konfliktfrei war, zu meinem Erstaunen als fruchtbar. Er selbst, obwohl ausgeschaltet und in innerer Emigration lebend, sah in den Spannungen zwischen Lyrik, Öffentlichkeit und Parteiapparat offenbar noch ein produktives Moment. Er betrachtete die Chancen der jüngeren Generation ohne Verbitterung, sondern mit Anteilnahme und Interesse.
Selbst Opfer einer engstirnigen Kulturpolitik, schien er doch noch daran zu glauben, daß die Stimmen der Jüngeren nicht derart zum Schweigen verurteilt werden könnten wie die seine. Daß er selbst nach seiner Ausreise noch einmal zu hohen Ehren kommen sollte, daran glaubte er wohl kaum in diesen Tagen.
Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß Huchel, noch einmal im Manuskript blätternd, plötzlich mit leidender Stimme sagte:
Also drucken Sie meine Gedichte.
Als ich den kleinen, rauchgeschwängerten Raum verließ, begleitete mich Huchel zum Wagen, in dem der Fahrer ungeduldig wartete. Es dämmerte. In Huchels Gesicht stand Trauer. Als ich aus dem Wagen zurückblickte, sah ich ihn im Wehen des Schnees, dem Auto nachblickend und im immer dichter werdenden Wirbel der Flocken versinkend.
In gewisser Weise hatte sich mit Arendts Übersiedlung nach Wilhelmshorst und meinen Besuchen dort ein Kreis geschlossen. Ich habe in meinem Leben aufwendigere und längere Beziehungen unterhalten als die zu Huchel und Arendt. So zu der Malerin Gussy Hippold in Radebeul oder zu der Schwimmer-Schülerin Sigrid Artes. Auch meine Liebe zu einigen Frauen hat in mir Spuren hinterlassen, die weit über das hinausgehen, was Maurer, Kundera, Arendt oder Huchel und Claire Goll – um nur einige für mich wichtige Namen zu nennen – in mir bewegt haben.
Ich habe Peter Huchel nie wiedergesehen. Erst 1976, als ich zu einer Lesung nach Freiburg im Breisgau reisen konnte, ermöglichte mir der Benn- und Heideggerkenner Fritz Werner ein Telefongespräch nach Staufen. Monica Huchel bat mich, nur wenige Minuten mit dem Kranken zu sprechen. Ich erschrak, als ich Huchels müde Stimme vernahm. Er erinnerte sich kaum noch an meinen Besuch in Wilhelmshorst. Erst als ich den Namen Uwe Grüning nannte, den Huchel in seinen Anfängen gefördert hatte, entstand so etwas wie eine Gedächtnisbrücke. Huchel erkundigte sich nach Wilhelmshorst. Ich erzählte ihm von einem Besuch bei Erich Arendt und beschrieb ihm, so gut ich konnte, den Zustand von Haus und Garten. Peter Huchels Stimme war voller Trauer, als er über die verlorene Heimat sprach.
Heinz Czechowski, aus Heinz Czechowski: Die Pole der Erinnerung. Autobiographie, Grupello Verlag, 2006
ERICH AUF ERICE
Er steht, Arendt, auf Erice, dem hohen Felshaupt
Einsam als in vereisenden Drähten.
Unweit hatte Empedokles in vier Elemente
Das Seiende aufgespalten gesehn.
Erich aber schaute es
Wiedervereint.
Nämlich Verheißerin Sonne, da sie ineins
Die Rippe der Küste augblendend schmolz,
Wasser in Erde in Luft in Licht –
Übertönte sie,Verschwisterin, den Schrei der Rippe:
Schrei Adams/Evas, Schrei der Kasten und Klassen.
So schaute das, so blickte das Erich wonneschaurig
Aus Kaisers breitem Bett auf Elba.
Lag er fürwahr dort und vorvollzog
Menschgemeindes Trittlein ins Ärschlein aller Tyrannis.
Doch vonwegen. Drüben hinterm Meer
Francos Stiefel, auf Erichs Kehle platziert.
Auf dem Felshaupt Erice nun Erich:
Die Blutwimper im Lid.
Aussicht aussichtslos:
Das Räte-Jahrhundert, in den Flanken der Dollar.
Peter Gosse
Uwe Berger: Zwei Dichter unserer Zeit. Zum 50. Geburtstag von Peter Huchel und Erich Arendt
Aufbau, Heft 4, 1953
Helmut Ullrich: Lobpreis irdischer Schönheit. Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Erich Arendt
Neue Zeit, 13.4.1963
Georg Maurer: Erich Arendt zu seinem 60. Geburtstag
Sonntag, 15.4.1963
Nachgedruckt in: G. M., Essay I. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1968
Günther Deicke: Dichter und Weltfahrer. Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Berliner Zeitung, 16.4.1968
Elke Erb: Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Sonntag Nr. 16, 1968
Günther Deicke: Poetische Sprache unserer Solidarität. Erich Arendt zum 70. Geburtstag
Neues Deutschland, 15.4.1973
Günter Gerstmann: Der geistigen Welt der Väter verpflichtet
Neue Zeit, 15.4.1973
Hinstorff gratuliert seinem Autor Erich Arendt zum 70. Geburtstag
trajekt 7, VEB Hinstorff Verlag, 1973
J(ürgen) Sch(midt): Ein lähmendes Gefühl ist das. Dem Dichter und Übersetzer Erich Arendt, fünfundsiebzig Jahre alt, zu Ehren
Stuttgarter Zeitung, 16.9.1978
Gregor Laschen/Manfred Schlösser (Hg.): Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag
Agora, 1978
H. U.: Kunde von Siegen und Niederlagen durch die Poesie
Neue Zeit, 15.4.1978
Hubert Witt: Der flutharte Traum. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sinn und Form, Heft 2, 1983
Hans Marquardt/Hubert Witt: Himmel und Erde. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sonntag, 17.4.1983
Uta Kolbow: In Raum und Zeit
Berliner Zeitung, 15.4.1988
Uwe Grüning: Erinnerungen an Erich Arendt
Ostragehege, Heft 30, II/2003
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