DANACH…
Erdschichtentief
die Muscheln.
Sie halten
hohlschalig
ihr Augengespräch.
ob ihnen
wachsend
zerfallend
auf Nadelspitze die Ichstadt,
erinnernd:
aus allem, aufgegeben
dein Schatten,
die Zifferblätter
ins Meer.
Flughäutig
ein letztes
Nachtwort
Gerücht.
Kein Mund mehr
entmündigt
die eigene Stimme.
Nur Mond noch, die alte
Staubillusion, der
hohlwangig
veruntreute
Kreis, in einem
Vielleicht:
Ohr jetzt
dem Schweigen zu,
lauschend,
es spricht:
Kein Außen kein
Innen, wie gott-
zugetriebenes Scheintot
das stumme Heulen
am Zeitsaum
die Körper.
………………….
So halte – Endgültiges
ist – „ein Wort
mit all seinem Grün“
den Rindenwuchs
wach,
Vergessen um Vergessen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafür Ernst Meister
Joachim Günther: Über die Schwierigkeiten des DDR-Lyrikers Erich Arendt
Neue Deutsche Hefte, Heft 2, 1980
Frères humaine qui après nous vivez
N’ayez les coeurs contre nous endurcis…
François Villon
Manfred Schlösser: Lieber Erich Arendt, unbescheiden, wie die Menschen nun mal sind, habe ich heute den Wunsch, von Erich Arendt einiges über Erich Arendt zu erfahren.
Interpreten als auch Sie selbst haben verschiedentlich zu Ihrem dichterischen Werk Stellung bezogen, doch mir scheint, der Ablauf Ihres Lebens hat wichtige Momente Ihrer Einbildungskraft geprägt, so daß ich es für sinnvoll halte, unser Gespräch auf die recht wechselvolle Biographie zu beschränken, die Sie zu durchleben und – zu erleiden hatten. In der Vaterstadt Ihres „Kollegen“, Theodor Fontanes, am 15. April 1903 geboren, haben Sie, von einer kurzen Unterbrechung abgesehen, Ihre Jugend bis ins 23. Lebensjahr, 1926 also, in diesem Ort zugebracht. Können Sie uns einiges über das, was man altmodisch „Bildungserlebnis“ nennt, erzählen?
Erich Arendt: Wissen Sie, Neuruppin war eine Kleinstadt, die ganz traditionell dahinlebte, eine preußische Stadt mit dem 24. Regiment, das die Straßen beherrschte, mich aber in der Jugend bereits abstieß. Fontane, den Sie erwähnen, kannte ich als Bronzedenkmal in seiner lässigen Haltung, die mir eine Art Befreiung aus der Kleinbürgeratmosphäre bedeutete. Für mein Schreiben hat er nichts bewirkt. Hingegen beeindruckte mich stark eine Handwerkersiedlung, Gildenhall, die irgendwie ein Ableger vom Bauhaus war. Dort war ich häufig, und diese ganze Atmosphäre hatte für mich sowohl realen als auch Kunstcharakter. Da war die Weberin Else Möblin, sie lebt heute noch, über 90 Jahre alt, eine Freundin von mir. Dann war da ein Lehrer, ein genialer Mann, der später Selbstmord begangen hat, er war, glaube ich, am Theater bei Reinhardt und eine imposante Persönlichkeit.
Schlösser: Aber das war nicht Ihr Lehrer? Sie haben…
Arendt: … eine Mittelschule und später das Lehrerseminar besucht. Meine Großmutter hatte eine Gärtnerei, und mein Vater stand in ihrer Frohn. Er sagte sich von ihr los und verdingte sich als Heizer und Hauswart einer Schule. Die Atmosphäre des Lehrens und Lernens hat mich beeindruckt, und ich wollte schon als ganz kleiner Junge Lehrer werden. Rein atmosphärisch, verstehen Sie, vielleicht aus einem Gefühl der Kompensation heraus, denn ich fühlte mich sehr einsam, hatte wenig Kontakt zu Gleichaltrigen und kam mir immer sozial benachteiligt vor. Vom 14.-20. Lebensjahr besuchte ich das Lehrerseminar in Neuruppin. Danach wollte ich alles vergessen, was ich bis dahin gelernt hatte und ging mit einem Schulfreund für drei Monate auf die Walz. Als arbeitslose Lehrer zogen wir mit Spiel und Gesang durch die Lande, das war ganz romantisch. Da wurde man bei Lehrern und Bauern aufgenommen. Nach meiner Rückkehr ließ ich mich von einer Bank als Aushilfskraft einstellen. Aber dieser Dienst mit Publikumsverkehr und der Umgang mit Zahlen und Geld gefiel mir nicht. Um vor meinen Eltern zu bestehen, sagte ich mir, du kündigst nicht, sondern du läßt dich rausschmeißen. So ging ich eines Tages mit kurzen Hosen zum Dienst. Als der Direktor das sah, rief er mich zu sich und sagte, sie müssen natürlich hier in der Bank lange Hosen anziehen. Und da antwortete ich, das sei unmöglich für mich, ich könne nur kurze Hosen tragen. Darauf gab er mir den Entlassungsschein.
Schlösser: Dann waren Sie wieder arbeitslos?
Arendt: Für kurze Zeit ja. Dann bin ich in einer Fahnenweberei gewesen, wo ich vorgedruckte Fahnen colorierte, also Kulissen malte. Ich hatte für kurze Zeit Zeichenunterricht genommen bei so einem idiotischen Akademiker, bei dem man das „richtige Abzeichnen“ lernen sollte. Eine Zeitlang war ich dann Hilfsredakteur bei der Märkischen Zeitung und machte allerlei Reportagen. Eines Tages besuchte ich meine Großmutter in Berlin und kam in die Potsdamer Straße, wo Herwarth Walden seinen Kunstsalon Der Sturm hatte. Das war für mich die entscheidende Wende in meinem Leben. Er druckte meine ersten Gedichte in seiner Zeitschrift. In diesem Kreis lernte ich Johannes R. Becher kennen und über eine Freundin, deren Onkel in der Kommunistischen Partei war, ließ ich mich zum Eintritt in die KP bewegen. Ich wollte an der Errichtung einer humaneren Welt mitwirken und habe mich deswegen auch bei einer Versuchsschule im Berliner Arbeiterbezirk Neukölln beworben, wo hauptsächlich Proletarierkinder unterrichtet wurden. Die Lehrer waren ausschließlich Sozialdemokraten und Kommunisten und kannten eigentlich nur die eine Lehrvorschrift: Jeden nach seinen Fähigkeiten zu fördern. Da gab es kein Sitzenbleiben, keine Zensuren, keinen Leistungszwang, die Altersgrenzen in den einzelnen Klassen waren fließend. Unsere Versuchsschule ging davon aus daß die Gemeinschaft der Kinder die elementare Grundlage war, nicht vorrangig die Wissensvermittlung. Diese war ein Element des Zusammenlebens. Ein Kind konnte ein sehr guter Plastiker sein, ein anderes ein sehr guter Schreibender, der in Erlebnisaufsätzen sich ausdrückte. Die anderen Techniken, das Rechnen, das richtige Schreiben, ergaben sich nebenbei, Wir hatten ja Zeit bis zum vierzehnten Lebensjahr, es mußte nicht auf die Minute in sechs Jahren und drei Monaten das und das festgelegt werden beim Kind. Das war ein Grundprinzip. Geachtet wurde allerdings darauf, einen Stoff, eine interessierende Materie gründlich und von vielen Seiten beleuchtet, von den unterschiedlichen Modalitäten der Kinder aus zu durchdringen, nicht darauf, ein oberflächliches Vielwissen zu erreichen. In bezug auf mein Anliegen, die Welt aufs Papier zu bringen, könnte ich antworten: Die Kunst in unserer pädagogischen Versuchsschule interessierte mich eben derart, die Produktivkräfte des Kindes und nicht die rein rationalen Techniken im Mittelpunkt der Schule zu sehen.
Schlösser: Ein Lehr- und Lernbetrieb ähnlich dem Bielefelder Modell Hartmut von Hentigs?
Arendt: Ja, so etwas ähnliches, aber nicht mit so hohem Anspruch. Es gab z.B. keinen Fremdsprachenunterricht, die Intelligenteren, die später einmal auf die Universität gehen wollten, mußten zur Karl-Marx-Schule überwechseln.
Schlösser: Also doch eine Art Berufsschule? Wie lange waren Sie dort?
Arendt: Bis 1932. Da waren dann die Auseinandersetzungen mit den Nazis in vollem Gange. Die hatten es besonders auf unsere Schule abgesehen, Das ging so weit, daß ich eines Tages nicht mehr in der Schule erschien und mich nicht einmal mehr nach Hause getraute angesichts der täglichen politischen Morde. Ich habe mich im Grunewald bei einem jüdischen Ehepaar einquartiert, deren behindertes Kind meine Frau erzog.
Schlösser: Damit war Ihre Schultätigkeit beendet?
Arendt: Ja, ich hatte mich der Schulrätin anvertraut, die eine überzeugte Sozialdemokratin war, und ihr von meinem Entschluß berichtet, Deutschland zu verlassen. Sie sorgte dafür, daß ich noch ein Vierteljahr mein Geld bekam. Am Tag der Landratswahlen bin ich als harmloser Tourist in die Schweiz gegangen.
Schlösser: Nochmals ganz kurz zur Schriftstellerei und der Frage Ihres politischen Engagements. Sie haben gut zwei Dutzend Gedichte im Sturm veröffentlicht, für einen werdenden Schriftsteller von fast 10 Jahren etwas wenig, haben Sie viel für die Schublade geschrieben?
Arendt: Nein, mein politisches Engagement brachte mich ganz aus der künstlerischen Entwicklung.
Schlösser: Hatten Sie eine wichtige Stellung als Parteifunktionär?
Arendt: Nein, ich war ein einfaches Mitglied, das Broschüren verteilte, Plakate klebte, Aufklärungskampagnen mit kleinen Gruppen betrieb. Es durfte ja nicht einmal bekannt werden, daß ich in der KP eingeschriebenes Mitglied war. Unter dem Pseudonym Thomas Front wurde ich geführt. Von der aufgepeitschten politischen Situation der damaligen Jahre kann sich heute kein Mensch mehr eine Vorstellung machen. Das Fatale war, daß wir den Kampf zunächst gegen die Sozialdemokraten und erst danach gegen die Nazis führten. Sogar die nationale Frage war uns plötzlich wichtiger als die internationale, weil die Nazis sie hochgespielt hatten. Ein totaler Wirrwarr an der ideologischen Front. Und zu meiner Schriftstellerei: Becher hatte mir im Proletarischen-revolutionären Schriftstellerverein, dem ich beigetreten war, einmal gesagt, daß ich mit meinen Gedichten die Menschen auf der Straße nicht erreichen würde, das sei Literatur und keine Politik. Becher wollte aus mir einen auch in der Sprache politisch revolutionären Dichter machen, den jedermann, auch der einfachste verstand. Mein Herkommen in der Kunst aber wurzelte woanders. Als dann noch in einem Kreis von Schriftstellern Johannes R. Becher meine Gedichte hämisch beurteilte, war es aus. Ich konnte nicht mehr schreiben. Es entstanden ein paar politische Agitationsverse, die in der Roten Fahne erscheinen sollten, das waren aber keine Gedichte.
Schlösser: Das Schreiben war für Sie damals keine Lebensnotwendigkeit?
Arendt: Die Politik war so intensiv, so hautnah geworden, daß man an anderes nicht denken konnte. Und als die Bedrohung durch die Braunhemden immer massiver wurden, bin ich weggegangen.
Schlösser: Ein mittelloser Flüchtling aus Deutschland, Mitglied der Kommunistischen Partei, der in der Schweiz nicht gerade volle Entfaltungsmöglichkeiten hatte, wie bringt er sein Leben durch?
Arendt: Nun, meine Frau folgte mir sehr bald, als nach meinem Weggang die erste Hausdurchsuchung vorgenommen wurde. Wir kamen nach Ascona zu einem mehrfachen Millionär, Bernhard Meier, der uns Unterschlupf gewährte, Es war ein 2-Familien-Bungalow von Walter Segal gebaut, dem Sohn des Malers Arthur Segal. Meier war ein Freund der Familie Gustav Landauers – die Tochter Landauers kam öfter ins Haus −, und er war stolz darauf, mit uns die ersten politischen Emigranten aufgenommen zu haben. Das nahm jedoch ein jähes Ende, als Herr Meier eines Tages zu mir sagte: „Ach wissen Sie, ich säge morgens von 5-6 Uhr immer Holz, das erhält fit.“ Ich anfwortete ganz impulsiv: „Ja, wenn ich ein paar Millionen hätte, würde ich auch morgens immer Holz sägen!“ Daraufhin sind wir aus seinem schönen Bungalow geflogen. Ich schrieb an Walter Segal nach Mallorca, der mir eine Hauslehrerstelle bei jüdischen Emigranten vermittelte. Meine Frau war inzwischen in Piereten bei Toulon als deutsche Betreuerin von fünf französischen Kindern untergekommen. Sie wurde aber so schäbig bezahlt, daß sie diese Tätigkeit sehr bald aufgab und zu mir nach Spanien kam. Ich hatte inzwischen in Valdemeca eine Jüdin kennengelernt, die bereits ihre bitteren Erfahrungen mit der SS gemacht hatte. Mit dem Geld, das sie hatte retten können, wollte sie ein vegetarisches Restaurant in Barcelona aufmachen, das meine Frau und ich hätten betreiben sollen. Ihr Sohn besaß eine Benzinstation. Doch er beging Selbstmord, weil seine Frau mit seinem besten Freund durchgebrannt war. Ich fuhr mit dieser Frau Perl mit dem Schiff nach Barcelona, es war eine fürchterliche Überfahrt. Sie wollte dauernd vom Schiff springen. Sie gönnte sich nur ein paar Tage, wir richteten gemeinsam das Restaurant ein, doch am Tag der Eröffnung beging auch sie Selbstmord. Sie hinterließ uns nur einen Zettel mit besten Wünschen und dachte nicht daran, daß man für die Unterhaltung eines Restaurants Geld benötigt. So standen wir wieder mittellos da und hatten nur die Einrichtung und die Gedecke des Restaurants, mit deren Erlös wir uns wieder ein paar Wochen über Wasser halten konnten. Wir lernten dann einen Baron Herrmann kennen, der auf Mallorca ein Haus und eine Baumschule besaß. Meine Frau wurde als Köchin engagiert, ich brachte es fertig, den Baron für den Kommunismus zu gewinnen. Er sollte später als Sanitäter im spanischen Bürgerkrieg tätig sein.
Schlösser: Hatten Sie irgendwelche Kontakte zu Ihrer Partei und wurden Sie z.B. finanziell von ihr unterstützt oder sonstwie getragen?
Arendt: Nein, ich hatte weder Parteiaufträge noch ständige Kontakte, ich war ein Einzelgänger, wie schon seit frühester Kindheit, ein idiotos, wie die Griechen es nennen. Ich wurde erst wieder politisch, als in Spanien der Bürgerkrieg ausbrach und ich als Antifaschist, nicht als Funktionär gefordert wurde. Mallorca war sofort in den Händen der einheimischen Faschisten und der Klerus arbeitete mit diesen zusammen. Die Priester hatten der Bevölkerung gesagt, wenn die Roten durchkommen, dann werden eure Priester als Fleisch verkauft. Die Bauernbevölkerung glaubte das natürlich in ihrer Einfalt; die Priester waren als Vertreter Gottes für sie höchste Instanz. Die Situation auf Mallorca wurde immer prekärer, so daß wir uns erneut mit dem Gedanken der Flucht vertraut machen mußten. Nachts wurden die Republikaner aus ihren Häusern geholt und erbarmungslos erschossen. Ein Versuch, mit 2000 Republikanern die Insel zu erobern, mußte angesichts von 8000 schwer bewaffneten Faschisten scheitern. Die letzte Chance war, mit dem amerikanischen Kreuzer Oklahoma, der später in Pearl Harbour als erster versenkt wurde, die Insel zu verlassen, Mit dem Baron Herrmann fuhren wir zunächst nach Bordighera in Italien, da wir als Ausländer nach der internationalen Einigung auf Nichteinmischung in den Bürgerkrieg nicht nach Spanien durften. Wir hatten jedoch nur das eine Ziel: am Kampf gegen Franco teilzunehmen, in der Hoffnung, Hitler auf fremdem Boden eine Niederlage bereiten zu können. Bei der Abfahrt hatten wir noch ein symbolisches Erlebnis: Als wir vom Hotel, in das wir uns inzwischen einquartiert hatten, auf das Schiff wollten und gerade über eine Brücke zum Hafen heruntergegangen waren, kam ein Flugzeug der Republikaner aus Barcelona und zerstörte die Brücke hinter uns. Wären wir zwei Minuten später gekommen, hätten wir das Schiff nicht mehr erreichen können.
Schlösser: „Des Todes Eisenflügel schwangen nah…,“ heißt es in dem Gedicht „Saragossa“; die Wirklichkeit dieser Metapher dürfte sie in den kommenden Monaten und Jahren nicht mehr verlassen haben.
Arendt: Die Gefahr einer Verhaftung und Auslieferung war natürlich ständig gegenwärtig.
Schlösser: Und wie haben Sie sich dann konkret in den spanischen Bürgerkrieg eingeschaltet?
Arendt: Ich habe mich an die deutsche Sektion der Kommunistischen Partei in Barcelona gewandt, die uns den Grenzübergang in den Pyrenäen anvisierte. Da gab es natürlich noch viele Hürden zu überwinden, so mußte ich z.B. unter dem Vorwand, in Südfrankreich eine Lehrerstelle bekommen zu haben, über einen französischen Konsul in Genf ein Transitvisum erlangen. Ich habe dann für die Interbrigaden Übersetzungen aus spanischen und katalanischen Zeitungen angefertigt, dadurch hatte ich eine bescheidene Möglichkeit zu existieren.
Schlösser: Sie waren in der 27. Division der katalanischen Freiheitskämpfer Carlos Marx, welche Aufgabe hatten Sie?
Arendt: Ich war kein Frontkämpfer, ich hatte nur eine Handgranate; falls ich in die Hände der Faschisten geraten wäre, hätte ich sie gezogen, doch zum Glück kam ich nicht in diese Situation. Nur einmal wäre es beinahe dazu gekommen, als ich mich zusammen mit dem katalanischen Schriftsteller, Morera Falco, der später in einem französischen Lager an Typhus gestorben ist, verlaufen hatte. Ich wollte Frontreportagen machen und nahm mir vor, eine Geschichte dieser 27. Division zu schreiben.
Schlösser: Hatten Sie irgendwelchen Kontakt zu anderen Schriftstellern oder Intellektuellen?
Arendt: Egon Erwin Kisch, den meine Frau pflegte, als er mit einer Zahnvereiterung daniederlag war der einzige. Er hat mich zu meinen Reportagen ermuntert.
Schlösser: Sie hatten also selbst keinen unmittelbaren Kontakt zu Kriegsaktionen? Und Sie waren auch nicht konfrontiert mit Faschisten?
Arendt: Mit Faschisten nicht, aber mit Anarchisten. Da gab es einen sogenannten Aufstand der Anarchisten während des Krieges, die gemeinsam mit einer trotzkistischen Division die proletarische Revolution durchführen wollten. Das war aber nicht in unserem Sinne, wir Kommunisten beharrten auf einer demokratischen Revolution im Bündnis mit der katalanischen Esquerra, einer Linksgruppierung der Katalanen, die aber nicht kommunistisch orientiert war.
Schlösser: Der Spanische Bürgerkrieg als Operationsfeld verschiedener Ideologien!
Arendt: Ja, aber wir wollten eine demokratisch-sozialistische Regierung. Das Erziehungs- und Kriegsministerium war nicht in Händen der Kommunisten, nur das Wirtschaftsministerium. Im Hinblick auf die Einzelgruppierungen haben Sie natürlich recht, vor allem die chaotische Situation, wo die Anarchisten herrschten. Da gab es keine Kommunikationsmöglichkeiten der einzelnen Dörfer untereinander, was die einzige Chance für ein gemeinsames Vorgehen gegen die Faschisten gewesen wäre. So konnte es geschehen, daß uns die Waffen und Materialien, die wir nachts erbeutet hatten, tags wieder abgenommen wurden, zumal sich die Amerikaner und Russen strikt an die Abmachungen gehalten haben, sich nicht mit Waffenmaterial einzumischen, also nur Lebensmittel und Medikamente schickten.
Schlösser: Welche Stellung hatten Sie innerhalb Ihrer Einheit?
Arendt: Ich war ein ganz gewöhnlicher Soldat und wie erwähnt Berichterstatter. Wenn Sie so wollen, war ich ein Schlachtenbummler. Ich habe aber auch andere Funktionen übernommen, wie die Organisierung einer „Fliegenden Bücherei“.
Schlösser: Wie ging das vor sich?
Arendt: Alles war sehr einfach: Ich nahm einen Stapel Bücher unter den Arm, ließ mich von einem vorbeifahrenden Lastwagen mitnehmen und brachte diese Bücher zu den Frontkämpfern.
Schlösser: Es zeigt sich hier wohl der unkonventionelle Erzieher aus der Zeit der Versuchsschule. Das war Ihre Idee, oder hatten Sie einen Auftrag zur politischen Schulung?
Arendt: Nein, ich hatte keinen Auftrag. Ich wollte Weltliteratur vermitteln unel mußte mich auf das beschränken, was auf Spanisch vorlag. Ich war ja nicht in einer der internationalen Brigaden, sondern in einer spanischen.
Schlösser: Als der Bürgerkrieg zu Ende war, haben Sie sich einfach abgesetzt oder hatten Sie irgendwelche Weisungen?
Arendt: Ach wissen Sie, wie das so ist bei einer sich auflösenden Truppe, jeder sieht zu, wie er vom Fleck kommt. Wir sind mit einem Quäker-Camion über die Pyrenäen geflohen, von Figueras aus. Ich hatte damals Kontakt mit Noel Fields, der später eine wichtige Figur in den Slansky-Prozessen war. Als Kommunist wurde er in Ungarn verhaftet und zu lebenslänglich verurteilt. Er gehörte zu dem Christlichen-Unitarier-Komitee und hat dafür gesorgt, daß wir von Frankreich aus später nochmals unerkannt nach Spanien konnten. Man suchte ja immer wieder nach irgendwelchen alten Verbindungen.
Schlösser: Und wie haben Sie die Zeit finanziell und mit den täglichen Sorgen um das Allernächste überbrückt?
Arendt: Das war natürlich schwierig, aber es gab Komitees, die uns mit Lebensmitteln und dem Notwendigsten versorgten, wenn auch in bescheidenem Rahmen. Man lebte von der Hand in den Mund, ohne Planung und festes Ziel, natürlich auch ohne Wohnung und Besitz: Ein unabhängiges, fast idyllisches Leben, das Wirklichkeit mit den Vorstellungen, die man später an solche Zeiten heranträgt, nichts gemein hat. So waren wir z.B. nach Ausbruch des Krieges von den Franzosen in ein Lager in Südfrankreich gebracht worden, das mit dem Begriff „Konzentrationslager“ und dem was wir heute darunter verstehen, nicht zu vergleichen ist. Es war ein Sammellager in der Nähe von Bordeaux, man bekam zu essen, man konnte leben, man brauchte ja nicht viel, und wir sollten Schiffe im Hafen von Bordeaux entladen. Aber dafür war ich nicht geschaffen. Ich habe mich auf die Dächer des Lagers verdrückt und gelesen. Wir waren ca. 2000, hauptsächlich jüdische Emigranten. Als die Nazis weiter nach Südfrankreich vorrückten, wurden plötzlich alle jüdischen Emigranten entlassen, nur wir, ich weiß nicht, ob es 13 oder 17 waren, sollten den Nazis ausgeliefert werden.
Schlösser: Haben Sie eine Ahnung warum?
Arendt: Das kann ich Ihnen nicht sagen, vielleicht weil wir Spanienkämpfer waren. Doch wir haben uns bei einem Unteroffizier der Franzosen, der Zutritt zum Verwaltungsgebäude hatte, Entlassungspapiere besorgt, die ein Arzt mit Namen Neumann mit der gefälschten Schrift des Lagerkommandanten signierte. Wir mußten ihm nur angeben, wohin wir wollten. Ich wollte nach Toulouse, in der Hoffnung, meine Frau wiederzutreffen, die auf der Flucht aus Spanien nach Paris gegangen war. Unter Hinterlassung all unserer wenigen Habseligkeiten, sind wir mit dem Passierschein durch die Postenkette gelangt. Ich fuhr nach Toulouse. Dort war die ganze Stadt mit Anschlägen und Zetteln bepflastert, ein unheimliches Bild und Zeichen für den Exodus von Hunderttausenden. An den Wänden, Bäumen, Zäunen, überall hingen Tausende von Zetteln mit Suchanzeigen, Informationen und Nachrichten von auseinandergerissenen Familien. Ich habe ungefähr eine Stunde gesucht, dann gab ich es auf und fuhr nach Bordeaux. Dort ging die Kunde wie ein Lauffeuer durch die Stadt, daß von Biarritz aus ein Schiff nach England führe. Ich hoffte, dort meine Frau zu finden. Kaum angekommen, sah ich das Schiff aus dem Hafen auslaufen. Ich hatte inzwischen Kontakt mit einer in Genf lebenden Bekannten aufgenommen, die später meine Überfahrt nach Südamerika aus Dank für unsere Betreuung ihrer Verwandten in der Schweiz bezahlen sollte. Ich erhielt einen Betrag von ca. 2000-5000 sfr. Ich kaufte mir ein Fahrrad, um, falls die Nazis kommen sollten, mich leichter absetzen zu können. Meine Idee war, an der Resistance teilzunehmen. Inzwischen hatte ich über eine Freundin in Bordeaux meine Frau im besetzten Teil Frankreichs ausfindig gemacht und mußte ihr, damit sie durch die Kontrollen der Deutschen kam, einen Brief schreiben, daß sie mich sofort abholen solle, weil ich unter der Herrschaft der Franzosen sehr schlecht behandelt worden wäre und ins Dritte Reich zurück wolle. Sie ist dann damit in Paris zur Kommandantur gegangen, Anna Seghers, die gerade an ihrem Roman DAS SIEBTE KREUZ schrieb, begleitete sie. Der Erfolg war offensichtlich, sie tauchte eines Tages in einem kleinen Restaurant nördlich von Marseille auf, in dem wir uns trafen. Nun war die Frage, wohin gehen?
Schlösser: Was hat Sie veranlaßt, nach Kolumbien, nicht nach Nordamerika zu gehen? War das eine Zufallsentscheidung?
Arendt: Nein, keinesfalls, es gab keine andere Möglichkeit. Ich hatte im Lager den Koch eines kolumbianischen Konsuls kennengelernt, über ihn bekamen wir die Visa. Der Konsul war überglücklich, daß wir Spanisch sprechen konnten und meinte, solche Emigranten seien dort gesucht, da sie sich schnell einleben würden. Über ein Emigrationszentrum in Marseille habe ich in Madrid anfragen lassen, ob es für mich möglich sei, durch Spanien nach Bilbao zu fahren, um nach Südamerika zu gelangen. Es kam eine positive Antwort. Da gab es dann noch eine schwierige Situation: Ich sah vom Friseur zurückkommend, zu dem ich selten gehe, einen großen Wagen mit „Garde mobile“ und andere Polizei vor unserem Dorfgasthaus stehen. Ich sagte mir, das kann nur dir gelten und habe einen großen Bogen um das Haus gemacht. Nachdem sie abgefahren waren, schlief ich täglich woanders, eine Woche und sogar in einer Höhle, wohin mir meine Frau Decken und Essen brachte. Gelegentlich habe ich mich durch die Polizei vor der Polizei geschützt, indem ich mich in eine Schlange der Präfektur stellte, wo die Visaerteilung erfolgte. Wenn noch 4 oder 5 Leute vor mir waren, bin ich weggegangen und habe mich dann wieder hinten angestellt. Endlich kam das Telegramm des Konsuls, und es glückte sogar die Fahrt durch Spanien.
Schlösser: Wie war denn das möglich, standen Sie nicht als Franco-Gegner auf der Fahndungsliste?
Arendt: Woher sollte ich das wissen, aber zu erwarten war es nicht, denn dieser Faschismus war geradezu herrlich verschlampert. Ich bin sogar durch das gleiche Gebiet gefahren, in dem ich einst gekämpft hatte.
Schlösser: Das war wohl im Jahre 1941. Nun ging es nach Kolumbien?
Arendt: Nicht direkt: auf einem Zwischenhalt in Curaçao wurden wir von den Engländern mit einigen anderen Emigranten vom Schiff geholt und als ehemalige Spanienkämpfer ins Gefängnis gesteckt. Das war aber ein fröhliches Gefängnis. Der Direktor meinte, daß wir keine Verbrecher seien, und so hat er uns regelrecht verwöhnt. Mit Wein, Sekt, Früchten wurde täglich geschlemmt bis wir in ein Konzentrationslager nach Trinidad gebracht wurden. Das war ein ehemaliger Golfplatz mit vorzüglichen Baracken und phantastischem Essen. Der Koch, ein ehemaliger Nazi, Erni mit Namen, schwärmte leidenschaftlich für Küken, die er des nachts unter seinem roten Bart wärmte, damit sie nicht erfroren. Ein tolles Lagerleben. Wir wurden 6 Wochen lang aufs beste behandelt. Mit meinem offiziellen Visum kam ich dann frei. Ich weigerte mich jedoch, ein Schiff zu besteigen mit dem Hinweis, daß ich nach so langer Emigration nicht jetzt noch von einem Nazi-U-Boot versenkt werden wollte. Die Engländer zahlten mir den Flug.
Man wußte schon, daß wir kommen. Paul Merker hatte bereits eine antifaschistische Organisation aufgebaut und hatte die nazistischen Aktivitäten beobachtet. Im Kolumbianischen Urwald bauten die Nazis heimlich Flugplätze, legten Versorgungsstationen an und hatten einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung. Die alteingesessenen deutschen Kapitalisten, Kaffeeproduzenten z.B. waren liiert mit den reichen Töchtern des Landes und dadurch natürlich auch mit der Regierung verfilzt. Wir bauten ein Informations- und Nachrichtensystem über die Aktivitäten der Nazis auf, arbeiteten aber nur mit den Amerikanern und Engländern zusammen.
Schlösser: Und von was haben Sie gelebt? Wurden Sie von der Partei unterstützt?
Arendt: Nein, es ging uns am Anfang sogar sehr dreckig. Meine Frau hat Adressen geschrieben, ich baute für Architekten Modelle, ohne davon etwas zu verstehen, und da fehlte dann dies und jenes, und die Architekten, die erst begeistert von meiner Idee waren, nahmen wieder Abstand. Dann haben wir Puppen gemacht und schließlich hat uns Anna Kipper, die Leiterin von Agence France Press, dazu gebracht, eine Pralinenfabrikation aufzubauen. Meine Frau hatte die Rezepte für die Herstellung von Sahnetrüffeln und Mandelsplittern aus Deutschland mitgebracht und ich sollte, wogegen ich mich zunächst sträubte, für den Verkauf sorgen. Durch Anna Kippers Empfehlungen bei französischen und jüdischen Familien entwickelte sich ein florierendes Geschäft mit einem festen Kundenstamm, wir „exportierten“ sogar bis nach England. Mit einer von mir selbst konstruierten Waage haben wir die Ware abgefüllt, wir hatten nicht einmal das Geld für ein Messinggewicht und benutzten lange Zeit ein halbes Pfund Zucker als Gewichtseinheit, weswegen wir keine kleineren Quantitäten abgeben konnten, 16 verschiedene hochqualifizierte Sorten hatte ich anzubieten, und mit der Zeit war ich ein vorzüglicher Verkäufer geworden, weil es mir Spaß machte, mich mit den Leuten zu unterhalten. Die hatten ja keine Ahnung von Politik und von Europa, und ich diskutierte mit ihnen über politische und ideologische, seltener über künstlerische Probleme.
Schlösser: Die Geschäfte gingen gut!
Arendt: Sehr gut. Bevor wir nach Deutschland zurückkehrten, haben wir die Anlage und Kundenkartei sehr günstig verkauft. Wir, vor allem meine Frau, mußten aus Gesundheitsgründen nach Europa zurück. Wir waren davon überzeugt, daß man uns beim Aufbau des Sozialismus benötigen würde. In Südamerika hatte ich ja gelernt, daß der einzelne den Staat ausmacht. Jeder war Träger einer Idee und verpflichtet, sich und damit die Idee durchzusetzen. Wir wollten an einem neuen Deutschland mitarbeiten.
Schlösser: Hier beginnt ein neues Kapitel Ihres Lebens, Herr Arendt. Ihr Weg in und durch die Emigration ist bewegend genug. Sie kehren zurück, finden eine veränderte, eine andere als erhoffte Heimat vielleicht, aber Sie finden Heimat der „konkreten Utopie“, um ein Wort unseres größten Denkers Ernst Bloch zu zitieren. Ist das vielleicht ein Stichwort für die Realität Ihrer Dichtung, in der das Meer und das Licht, der mythische Raum der Landschaft eine so große Rolle spielen? Was bedeutet Ihnen die Landschaft als Raum des Gedichtes? Ist es eine surrealistische, eine mythische oder eine mögliche, bedauerlicher Weise unerreichbare Landschaft?
Arendt: Das surrealistische Moment in der Dichtung kommt ja aus dem Bedürfnis eines tieferen Eindringens in den Gegenstand selber. Auf den griechischen Inseln z.B., die von dem Tourismus noch nicht völlig zerstört sind, habe ich Gewohnheiten und Gebräuche gesehen, die uralt sind. Der Mensch im griechischen Raum ist von seiner harten, kargen landschaftlichen Umgebung, der Nacktheit des Meeres und der Blöße des Himmels über Jahrtausende hinweg gefordert und geprägt worden.
Schlösser: In Ihren Gedichten wird eine Welt anvisiert, wie sie als Tourist nicht erlebbar ist. Ist das nicht doch eine Art Hoffnung auf Rückkehr zu den Urzuständen?
Arendt: Es ist keine Fluchtposition, wenn ich existentielle Gedichte geschrieben habe. Vielmehr ist es die eigene Auseinandersetzung mit dem Tod, mit der Vergänglichkeit.
Schlösser: Ist der Rückzug in die Innerlichkeit nicht doch eine Flucht, weil Sie wenig Chancen für gute engagierte Literatur sehen?
Arendt: Ich glaube, daß jede Literatur, wenn sie gut ist, realistisch und engagiert ist, auch wenn sie sich nicht ins Täglich-Politische einmischt. Politische Gedichte, die nicht am eigenen Leibe erfahren worden sind, sind für mich bloßes Papier. Nehmen wir z.B. mein Gedicht „Die Hände“. Da wird nicht nur Opposition gegen den Faschismus gemacht, sondern gegen die Zerstörung, die Entwürdigung des Lebens. In diesem Gedicht ist einfach mehr als nur politische Agitation.
Schlösser: Glauben Sie, daß es eine Kunst gibt, die dem Tagesgeschehen zugeordnet ist und gleichzeitig den Anspruch „Kunst zu sein“ erheben kann?
Arendt: Unterordnen auf keinen Fall, zuordnen ja. In dem Moment, in dem sie sich unterordnet, hört sie auf, Kunst zu sein, meine ich. Saint John Perse schreibt z.B., daß das rebellische Auge des Dichters immer präsent sein muß, also nicht durch Ideologien verfärbt werden darf.
Schlösser: Können Sie vielleicht kurz angeben, wer für Sie als „schreibender Kollege“ Vorbild, literarischer Bezugspunkt war?
Arendt: Wichtig für mich, als ich anfing, Gedichte zu schreiben, waren die Expressionisten. Die Wortgestaltung aus dem Erleben heraus. Die Gestaltung war das Entscheidende, nicht die Reflexion. Da war eben die Sprache der Zeit gefunden, die in der Physik mit Planck und Einstein begann, in der eine entsprechende, sagen wir: nicht mehr durch traditionelle Logik faßbar gemachte Welt umgesetzt war in die subjektive Ausdrucksweise des Malers, des Schreibenden, in Gestaltungen, die mehr als das Subjekt waren, die ein Adäquates zu einer neuen Weitsicht bedeuteten, wo zu dem physikalischen Weltbild ein revolutionäres gehörte, sei es in der Gesellschaft, sei es in der Kunst. Diese sogenannte expressionistische Kunst war präsent und lebendig. Hölderlin hat mich stark beeindruckt, Else Lasker-Schüler habe ich geliebt und August Stramm war mein formales Vorbild. Im Spanischen Bürgerkrieg habe ich Rimbaud gelesen und bin durch ihn zum Sonett gekommen. Ich kam zu der Überzeugung, daß man auch im Sonett eine erlebte Situation bewältigen kann. In den Tropen habe ich versucht, in einer strengen Form, einer Sonett-Form, allerdings ohne dem Reimzwang zu unterliegen, Gedichte zu gestalten. Und als literarischen Bezugspunkt meines Lebens? Ja, wenn ich das so sehe, ist es die Kontinuität des Äschylos zu Joyce und Proust, und über Proust hinaus zu Saint John Perse, Ponge, René Char, Michaux, eben die heutige Welt der Literatur, die ja unbedingt von allen Seiten auf einen einströmen muß, von Ost, West, Süd und Nord, um produktiv zu bleiben.
Ich kann eigentlich über Gedichte nicht reden, das ist furchtbar kompliziert. Es handelt sich beim Schreiben ja nicht um einen rein logischen Vorgang, es spielt zuviel Unbewußtes mit hinein. Wenn ich ein Gedicht schreibe, dann gehe ich nicht mit dem Vorsatz daran, mit diesem Gedicht etwas verändern oder erreichen zu wollen. Ich schreibe für keine bestimmte Gruppe von Lesern.
Schlösser: Sie schreiben also für sich und würden jede Restriktion als Einmischung in Ihre inneren Angelegenheiten ansehen?
Arendt: Ja, ich plädiere für die Autonomie der Dichtung, der Kunst allgemein. Ich glaube, daß, wenn die Kunst sich in irgendeinen Dienst stellen läßt, keine Wirkung von ihr ausgeht, und daß keine Interaktion zwischen dem geschriebenen Wort und dem Leser entstehen kann.
Schlösser: Bei Ihnen hat man sehr oft das Gefühl, daß in Ihren Gedichten eine Aufforderung an Ihr eigenes Ich enthalten ist, zurück zur Heimat zu kommen. Können Sie das bestätigen?
Arendt: Ich bin zu Hause, wo ich Freiheit spüre, ich bin zwar kein citoyen geworden, aber ich lebe in der Welt. Ein Stück Heimat sind für mich die Tropen, auch das Mittelmeer. Eigentlich aber bin ich ein Vagant. Heimat ist für mich überall dort, wo ich Kontakt zur Landschaft habe, Bezug zu den Menschen und wo ich Verständnis finde. Wenn ich mit Menschen zusammenkomme, werde ich heiter. Wenn Verständigung da ist, dann ist Heimat da.
Schlösser: Lieber Erich Arendt, Sie kennen den Anlaß dieses Gesprächs. Sie wissen noch nichts über den Inhalt des durch Ihren Ehrentag veranlaßten „Chorwerks“. Dürfte ich um eine Introduktion zu dem „Gesang der Kollegen“ bitten, anders gesagt: wären Sie bereit, dem Erich Arendt ein bisher ungedrucktes Gedicht zu widmen?
Arendt: Wenns denn sein soll, warum nicht. Es ist ein vor 2 Monaten entstandenes Gedicht der Rückerinnerung, deren Zeitmotiv dauernde Gegenwart ist.
Spätbegegnung
(…)
aus: Gregor Laschen und Manfred Schlösser (Hrsg.): Der zerstückte Traum • Für Erich Arendt, Agora Verlag, 1978
HIDDENSEE
für Erich Arendt
Das Licht über Bodden und Ostsee am Morgen Uferlos
Aus dem Nebelmeer taucht die Insel auf wie ein Wal
Über der Gischt die harten Schreie der Möwen
Netze im Wind und Kormorane auf den Reusen
Über der Heide am Mittag die Lerche im flirrenden Licht
Schwärme blauer Libellen am Feldrain
Ginster und Sanddorn Wilde Lupinen und Mohn
Fischreiher im Schilf und Seeschwalben über den Buhnen
Der Windflüchter am Dornbusch Die alten Weiden am Reedsall
Und über den Dünen am Abend und in der Nacht
Das Mondlicht und der dunkle Gesang der Brandung
Holger Teschke
Uwe Berger: Zwei Dichter unserer Zeit. Zum 50. Geburtstag von Peter Huchel und Erich Arendt
Aufbau, Heft 4, 1953
Helmut Ullrich: Lobpreis irdischer Schönheit. Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Erich Arendt
Neue Zeit, 13.4.1963
Georg Maurer: Erich Arendt zu seinem 60. Geburtstag
Sonntag, 15.4.1963
Nachgedruckt in: G. M., Essay I. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1968
Günther Deicke: Dichter und Weltfahrer. Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Berliner Zeitung, 16.4.1968
Elke Erb: Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Sonntag Nr. 16, 1968
Günther Deicke: Poetische Sprache unserer Solidarität. Erich Arendt zum 70. Geburtstag
Neues Deutschland, 15.4.1973
Günter Gerstmann: Der geistigen Welt der Väter verpflichtet
Neue Zeit, 15.4.1973
Hinstorff gratuliert seinem Autor Erich Arendt zum 70. Geburtstag
trajekt 7, VEB Hinstorff Verlag, 1973
J(ürgen) Sch(midt): Ein lähmendes Gefühl ist das. Dem Dichter und Übersetzer Erich Arendt, fünfundsiebzig Jahre alt, zu Ehren
Stuttgarter Zeitung, 16.9.1978
Gregor Laschen/Manfred Schlösser (Hg.): Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag
Agora, 1978
H. U.: Kunde von Siegen und Niederlagen durch die Poesie
Neue Zeit, 15.4.1978
Hubert Witt: Der flutharte Traum. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sinn und Form, Heft 2, 1983
Hans Marquardt/Hubert Witt: Himmel und Erde. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sonntag, 17.4.1983
Uta Kolbow: In Raum und Zeit
Berliner Zeitung, 15.4.1988
Uwe Grüning: Erinnerungen an Erich Arendt
Ostragehege, Heft 30, II/2003
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