VERLORENE BUCHT
Aus Asche das leblose Land.
Sand,
ein meergraues Aschenland.
Kakteen im lichtlosen Licht
tragen
das schwere Eisengewicht:
des Himmels bleichender Wand;
Wand
aus gestorbenem Licht.
Am Meer gespensternder Tod:
Dornen,
erstarrend zum Schreckensgesicht.
Eine einzige Blüte blüht rot,
welkt
im Stechen der Dornen am Hang.
Stacheln sperren Atem und Sicht.
Wind
irrt verloren entlang.
Knochen, vom Meer angeschwemmt:
Stamm
an Stamm, urgewaltig und fremd,
aus Wäldern vom Sonnenglutfluß.
Stämme,
die standen, holzharter Guß,
Jahrtausende tief in der Glut.
Holz,
nur zum Untergang gut.
Der Wogengang rollend und schwer.
Furcht
durchzittert die mondkahle Bai,
schwimmt die Todesflosse des Hai.
Wolken
werfen noch Schatten ins Meer.
Seit Jahren kein Vogelschrei.
Meer
und sein Himmel sind leer.
Aus Asche das leblose Land.
Sand,
ein meergraues Aschenland.
Sprießt kein Halm in der Welt,
aber,
oben am Hang, ein Neger. Der hält
den hölzernen Pflug in der Hand.
Wägt
jede Scholle, die fällt!
Es begann mit dem ersten Abend in diesem abgeschiedenen Negerdorf: sieben in den Tropen gelebte Jahre erhielten hier am Karibischen Meer ihren eigentlichen Sinn. Der Weg, der durch den urwelthaften Raum der Anden geführt hatte, durch menschenlose Steppenweiten und Wäldermassen, durch den dichten Staub unsäglichen Elends, vorbei an den fahlen ernsten Gesichtern der Indios, den festeren sensuellen der Neger, ihr Leben streifend, das fremd anmutende, unmenschlich schwere Leben – mein Weg lief an diesem Ort in einen Brennpunkt ein, in dem alles Geschaute und Gelebte plötzlich überdeutlich wurde, sichtbar und bis in seine Wurzeln und heimliche Verflechtung transparent. Ein paar Hundert dürftige, spürbar zerfallende Bambushütten an einer fernhin schwingenden Palmenbucht, weiß-sandig, monoton und schön, und dahinter, dem tropisch kochenden Innern zu, dürr und einsam gespannt ein endloser Steppengürtel, von niederen Urwaldbergen durchzogen. Eine Landschaft, die ähnlich das Auge häufig schon gesehen. Hier aber war schöpferischer Boden: es brauchte den Kontakt mit diesem fernen Strand, diesen Hütten, diesen Menschen, damit das zuvor Erfahrene in lebendigen Bezug trete untereinander und Sprache bekomme, daß die den Dingen, Erden und Gesichtern innewohnende Melodie anklinge. Baumfarne, filigranzarte Bambuswipfel, herrisch schwarze Palmenkronen filterten das grüne Licht des Abends nieder auf eine wie unwirklich daliegende Welt, die, kaum berührt, stärkste Wirklichkeit wurde, eindringlich und faßbar. Was lange Zeit schemenhaft gedämmert, hier bekam es gültiges Gesicht. So steht Tolú, das Fischer- und Reisbauerndorf an der Morosquillobuch, für den ganzen Tropenbereich, seine Menschen und ihr Leben.
Als Jahre zuvor mein Schiff vor Curaçao ankerte – wie viele von den Häschern des erbarmungslosen Gegners Verfolgte hatte ich Europa verlassen und suchte, bis zu einer wieder möglichen Heimkehr, in der Andenrepublik Kolumbien Asyl −, nahm die Welt der Tropen sofort die Sinne überwältigend gefangen: dieses Doppelgesicht aus berückender Schönheit, elementar und sanft, und schmerzendem Elend. Unter der Weißglut eines ewig nackten Himmels, auf ewig unfruchtbarem staubigem Grund die fremdartige zärtliche Anmut dunkler Mädchen. Traumhafte Gesten von Händen und Körpern, Bewegungen, die ganz Natur noch waren, dem langsamen Wehen großer Blätter der Urwaldbäume eher zugehörig als dem Willen. Zauber und Äußerung eines pflanzenhaften Daseins, die auf Kolumbiens Erde vertrautes Bild dann wurden, überall, und vieles der Menschen eines so anderen Lebensgefühls erschlossen.
Denn in dieser dünnbesiedelten Weite – Kolumbien, so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen, zählt rund zehn Millionen Einwohner nur – umgibt den Menschen, uneingeschränkt, der kosmische Raum. Erdreich, Strom, Meergestade, Gras und Fels, Baum und Gebirg gehören noch einer ursprünglichen Planetenwelt an, über die der Mensch nicht gebietet. Ein Stunden währender Flug über die Unermeßlichkeit des Urwalddickichts, über die rohen und starren Massive der Anden, die horizontlosen Fluchten der Savannen und Steppen, wo des Menschen Siedlung wie verloren ist oder in einem blättergrünen Meer ertrinkt, enthüllt dieses Erdenraumes alles bezwingende Größe, seine Unbedingtheit und kündet seine gewaltsame Herrschaft über den Menschen. Selbst die Stadt ist hier noch Landschaft. Die Verlorenheit an allerfernste Horizonte, ans Grenzenlose, an die atemnah drohende Tiefe des Urwalds formte den Menschengeist. Beschwor in ihm Vorstellungen, Bilder, düster, furchterfüllt und voller unheimlicher Schwermut: Spiegelungen der allmächtigen Landschaft. Die kosmische Einsamkeit von Kordillere und Steppe oder das schwarzgrüne Dunkel der Wälder bedrängten den Menschen stets. Der Anden uralte Melancholie verwob sich den eingeborenen Herzen, spannte die Schweigsamkeit in die glatten Gesichter der Indios. Welch eine Seelenkraft täglich ist nötig, um zu bestehen in der entfesselten Wildheit der Tropennacht, vor dem Gigantenmaß der Farne, dem unerklärlichen Walten von schwemmendem Wasser, Wolke, Blitz und Winden! Oder vor dem ewig stummen Anlitz der Weite. In des Graslands ozeanischer Öde, der Leere mondkahler Hochplateaus oder im mystischen Düster sintflutlicher Regen! Und alles lebt: Sonne, Wetterstrahl, Wolkenschatten und Fluß, leibhaftig wie das schleichende, springende Getier. So der Wildnis ausgeliefert, zeugte das Leben im Gang der Jahrtausende instinktstarke Wesen, deren Gefühlskräfte inmitten der Naturgewalten sicherer reagierten als Denken und Vernunft. Ihren Erfahrungsbereich erlebten Generationen auf Generationen mit Nerven und Sinnen unmittelbar. Denn Gefahr lauerte überall, und Furcht sprang einen an aus dem Rascheln des Dickichts, aus eines Schattens Geschwank, dem harten, wimperlosen Blinken eines Sterns im undurchdringlichen Grün. Die unbezwungene, unergründete Natur, der man unter äußerster Mühsal wohl einen Streif nährenden Bodens abgewann, war das alte Gesetz, dämonisch und unberechenbar, an dem der Mensch tausendfach zerbrach. Dürren und Plagen, Seuchen, schwellende Fluten, giftige Fieber machten ihn zum hilflosen, getriebenen Objekt dieser unberührten Erde, die des Menschen Hölle war. Nur feinstes Spürvermögen, die Überwachheit seiner Sinne ließ ihn dauern. Aus dieser blinden Abhängigkeit erwuchsen Brauch, Tabu und Kult, schuf er beschwörend die Gottheiten der Fruchtbarkeit, des Maises, des Regens, der Zeugungskraft. Für einen europäischen Menschen erschließt sich dieses tiefe Anderssein tropischer Menschenwelt nicht am ersten Tag, der nur Fremdheit zeigt. Erst ein langes sinnenoffenes Verweilen läßt Ähnliches anklingen, schafft ein inneres Verstehen und ein lebendiges Verbundensein mit den leisen Indios der Höhen und den elementareren Negern der Stromtäler und Küstenstriche. Aber auch dort: noch immer wird die Natur, da die dunkle Hand sie nicht beherrscht, als Schicksal empfunden und gelebt. Und jede Ernte von Mais, Yucca und Reis ist unter der Bleiglut der Himmel, im Fieberatem der Sümpfe heldenhaftes Mühen und erfordert den ganzen Menschen, will er, von den Wänden der Wildnis umringt und bedroht, sein Leben fristen.
Aber nicht die Natur allein ist hier gnadenlos, seit einem halben Jahrtausend auch der Besitzende, er, der Wald und Steppe, Gebirg und alles fruchtbare Gebreit sich angeeignet hat. Der Nachfahre blutiger Conquistadores, Herr der Plantagen, Minen und Weiden, der Hacendero, der ,terrateniente‘, der Erdgewaltige, übt über vierhundert Jahre schon und grausamer selbst als die Natur seine absolute Herrschaft aus. Ursprünglich lebte auf der unübersehbaren Hochebene im Herzen Kolumbiens, 2600 Meter über dem Meer, von den steil abfallenden Randgebirgen der Anden umschlossen, hinter denen Tausende von Kilometern tief die Wildnis anwuchs, ein fleißiges, friedliches Ackerbauvolk: die Chibchas, die ihren Savannenboden in fruchtbares Ackerland verwandelt hatten und voller Sorgfalt Kartoffel und Mais anbauten. Ihre Kultur war fortgeschritten, reich entwickelt und nicht kriegerisch wie die der Azteken und Inkas. An eine Bergwand sich lehnend, glänzten gold- und edelsteingeschmückt Bogotás, ihrer Hauptstadt Paläste. Jedwedes Gerücht aber, das damals raunend und lockend Gold verhieß und Macht, zog magisch und unheilvoll die spanischen Eroberer an, daß es sie, verwilderten Herzens, durch die Grüne Hölle trieb in unfaßbaren, unmenschlichen Zügen. Auch in das alte Reich der Chibchas: dort oben, unzugänglich, läge endlich das Dorado, das Goldland indianischer Rassen! Und so brachen im ersten Drittel des sechzehnten Jahrhunderts drei Heere unabhängig voneinander auf: von Norden, von der Karibischen Küste, wo man die friedlichen Ureinwohner ausgerottet hatte, der spanische Rechtsgelehrte Jimenez de Quesada, den Magdalenenstrom aufwärts in einer Urwaldfahrt ohnegleichen. Von Süden, von Quito her, über die Eisöden der Kordilleren, die selten noch eines Menschen Fuß betreten, Pizarros Feldherr Belalcázar. Und durch die heißen Regenwälder im Osten, über den Apure, Arauca, Casanare und Meta, im Dienst des goldwuchernden Hauses der Welser, der Deutsche Nikolaus Federmann, gleich grausam und schrecklich wie die Spanier. Zornwütige Götter eines anderen, tödlichen Planeten schienen sie, die da urplötzlich kamen in eisernen Panzern, die Gefangenen pfählten, die Palisadendörfer einäscherten, die folterten, raubten, schändeten, verrieten und den versklavten Indianern, diesen in Eisen geschlagenen Lasttieren, wenn sie zusammenbrachen, die Köpfe abschnitten, um die Halseisen zu haben für immer neue Opfer. Ein ganzer Kontinent verblutete an dem ungeheuerlichen Aderlaß. Nicht die Kariben der Küste und Inseln nur, die wilden Widerstand leisteten und von den Spaniern offiziell zum Freiwild erklärt worden waren, auch die sanfteren Völker Kolumbiens, Chibchas und Quimbayas, erlagen dem Gemetzel. Ein Zufall ließ Jiménez de Quesada den alten Salzweg der Chibchas finden, der von der Westküste aufwärts führte zu ihrem sagenhaften Reich. Und als Belalcázar und Federmann nach selbstmörderischen Zügen und irrem Blutvergießen die Höhen erreichten, war das Land, war das Gold bereits in den Händen Quesadas. Heute nun, blickt man in die schweigsamen Gesichter der Indios, spürt man dieses Massaker noch immer. Scheue, ausweichende Augen. Zehrende Verdüsterung im Blick. Zu diesem tragischen Geschick kam in den nachfolgenden Jahrhunderten maßloseste Versklavung über sie. Wer sollte den Conquistadores, die alle Arbeit verachteten, den Boden bebauen, Silber schürfen und Gold, die Smaragde brechen, Städte errichten und die zusammengeraubten Schätze zu den Karavellen schleppen an das ferne Karibische Meer? Gewalttat, Sklavenjagden, Auspeitschungen preßten die freien Söhne der Wälder und die Ackerbauern der fruchtbaren Gebiete in eine eiserne Fron, an der diese physisch nicht robusten und seelisch empfindsamen Rassen zugrunde gingen. Millionen starben, verkamen, suchten Zuflucht im Innern der Wildnis, in Fiebersümpfen oder im Rausch des Alkohols – Laster der Tropen −, der den Schmerz um die eigene Ohnmacht und Entwürdigung vergessen machte, aber die letzten Reste uralten Stolzes ausbrannte. – Ihr allgemeines Sterben zwang die Eroberer, sich umzutun nach anderen, härteren Händen, stärkeren Rücken. Und aus Afrika brachten Sklavenhändler auf furchtbaren Todesschiffen die wie Tiere gejagten Neger, die als begehrte Ware den Reichtum und die Macht europäischer Weltreiche begründeten und denen die christliche Kirche die Seele absprach, das Menschenantlitz. Sie aber, an die Feuerhimmel der Tropen gewöhnt, überstanden die unentwegte Fron in Sumpf und Dickicht. Cartagena, von schwarzen Händen wunderbar erbaut, war, unweit Tolús, die reichste, wehrhafteste und schönste Stadt eines Kontinents und sein größter Sklavenmarkt. Hier lief aller dem großen Erdteil entrissener Reichtum zusammen, um auf die Schnellsegler verfrachtet zu werden für den Luxus und die prunkende Arroganz spanischer Granden und des allerchristlichsten Hofes von Madrid. Bis weit ins letzte Jahrhundert hinein blieben in Kolumbien die Neger in Sklaverei, während auf der Hochebene Bogotás seit langem schon der spanische Eroberer und Kolonist sich mit dem Indio gemischt hatte.
Dort oben war kein Gold von Sklaven zu schürfen, es galt nur, die Erde zu bebauen, wie vordem. Die lange währende Versklavung der schwarzen Rasse am Magdalena und Cauca, an der karibischen und pazifischen Küste hat die Gefühls- und Geisteswelt auch dieser Menschen aus härterem Stoff deformiert, und sie empfinden zumeist sich nicht ebenbürtig den Weißen, den Besitzenden. Die von den Gebietern stetig geübte Verachtung drang, ein langsam zersetzendes Gift, schließlich den Negern und Indios selber ins Herz, machte sie haltlos, unfähig zu Empörung und schöpferischem Tun. Es erscheinen Städte und Dörfer ausgehöhlt und steril, bar jedes folklorischen Lebens und der Freude. Nur in abgeschiedensten Distrikten und Wüsteneien, in die noch kein Weißer drang, lebt das alte Vermögen zu Schönheit, zu kultischer und spielerischer Gestaltung unvermindert fort. Wohl auch im Tanz der Neger, der von der Kirche verbotenen Cumbia. Und in ihren seltenen Schnitzereien und Flechtarbeiten glimmt unter der Asche trostlosen Daseins der Funke uralten Schöpfertums auf. Der sie aber fronen ließ, in tierische Verkommenheit stieß und züchtigte, er dünkt sich hochfahrend reinrassiger Nachkomme spanischer Hidalgos, trotz der Mischung seiner Ahnen mit indianischen Frauen, und spricht von der Neger unseliger Rasse, die ein Schandfleck des Landes sei.
Wohin in den Jahren auch das Auge sich wandte, es litt, beleidigt von einer so allgemeinen zerstörerischen Armut, schmerzlich getroffen von des Lebens unheimlicher Verkrüppelung. Überall läuft, aufgerissen, leergeblutet, eine Wunde, am Rand der Flüsse, durch den Staub der Felder und das harte Grün der Zuckerrohrtäler, über den kahlen Fels der Anden, durch das Gehege der Herden: die Wunde des Peons. Kolumbien war vor allem Agrarland. Und mitten in der tropisch wuchernden Fruchtbarkeit tritt einem allerorts dieses Gespenst entgegen: hohlwangig, grünen Gesichts, von Malaria gehöhlt, von Fiebern und Amöben zerfressen, gezeichnet von seinem Untergang. Es schafft den ungeheuren Reichtum – auf ragen in den Städten Riesenbauten, Banken, Paläste, Residenzen gleisnerisch, kalt in den Himmel, zu Tausenden gleiten Luxuslimousinen durch die Avenuen −, und der Peon düngt mit seinem Schweiß die Erde. Sein glückleeres, wie erloschenes Gesicht verschmilzt mit einem andern, ist identisch mit ihm, dem naturhaften, seit frühen Tagen anmutvollen, ursprünglichen.
Aber – und das ließ aufatmen all die Jahre – auf neuen Gesichtern ein neuer Glanz. Sie sind noch nicht Million. Dennoch werden sie das Geschick sein der Anden, der Wälder und anwachsenden Städte. Dieses neue Gesicht ist in den Ölcamps geboren, in den Webereien Medellins, auf den Molen, in den Tabakfabriken, in den Gewerkschaften. Und in ihm hat die Ohnmacht des eingeborenen Menschen, die niederzwingende Düsternis der Indioseele, ihre Angst vor Schatten, Sterngefunkel und vor den Herren keinen Platz mehr. Es ist das Gesicht, das großen Stolzes heute schon sagt: ,Ich, der Neger!‘ Das sichtbar wurde, allenthalben und unvergeßlich, ja über des Landes Grenzen weit hinaus, bis ins Land der Vulkane im Süden und des antarktischen Eises: beim Bogotáner Aufstand, der in den Apriltagen des Jahres 1948 Land und Leben in der Hand hielt, endlich. Allerorts, in stillen Städten, Dörfern, entlegensten Hütten und in der Hauptstadt. In einem Aufbegehren, da man ihm, dem Volk der Indios und Mulatten, den Führer ermordet, war das zahllose Peonat innerhalb von zwei, drei Stunden Herr seines Geschicks. Und wäre es geblieben, hätte nicht schamloser Verrat seiner liberalen Führer es feig, heimtückisch, voller Angst vor solch strahlender Zukunft wieder ausgeliefert an die alten Mächte: an die Besitzgier und Grausamkeit der Privilegierten, an das Machtgelüst einer Kirche, die seit den Tagen der Conquista das Totentuch der Furcht und des Aberglaubens über das Leben spann. Obwohl Tanks und Geschütze die Hauptstadt beherrschten, schoß von den Dächern eine Woche lang das Volk, und in der Petroleumstadt Barrancabermeja, Knotenpunkt der Dollarmacht im Lande, länger noch. Zutage trat: unter dem Schutt verstummter Herzen hatte ein Traum weitergelebt, berufen, die unbarmherzige Welt der Tropen zu verändern von Grund auf: die grüne Hölle, des Menschen Verlorenheit und seine unmenschliche Entrechtung. Es reift ein Menschenmaß, fähig, die Tiefe der Melancholie, die alles lähmt, und der Anden kosmische Trauer zu bezwingen.
Erich Arendt, 1956
Stehen nach der Erstveröffentlichung vor mehr als zwei Jahrzehnten die Tolú-Gedichte bereits unter einem anderen Himmel? frage ich mich. Gehört ihre Aussage schon der Geschichte an? Sind sie somit bloße Literatur geworden, nicht mehr Lebensäußerung jener tropischen Gegenwart? Ist der Boden, auf dem sie entstanden, von Grund auf umgewälzt, das Gesicht des Landes ein neues und die reale wie die psychische Lage seiner Menschen im wesentlichen verändert, die Verse also nicht mehr entsprechender Ausdruck dortigen Lebens?
Im näheren und weiteren Umkreis Kolumbiens waren für seine Indio- und Negervölker in dieser Zeit zukunftweisende Zeichen aufgeflammt: in Kuba ein neuer, menschenwürdiger Horizont aufgerissen, im überfernen Zentrum, gebirg- und urwaldumstanden, des großen Kontinents der verfrühte oder verspätete Einsatz von Che Quevara geschehen (sein tragisches Ende aber strahlt wie eine unauslöschliche Leuchtspur durch den Grünen Erdteil), in Peru das zum Wohl seiner Menschen die Struktur des Landes verändernde Werk fortschrittlicher Offiziere begonnen und in Chile der große sozialistische Versuch Allendes, der in Blut und Terror von machtbesessenen Militärs erstickt wurde.
Wohl wurden im Lande der Chibchas Hoffnungen gepflanzt. Vereinzelte. Es zogen die Partisanen der Freiheit durch die Llanos. Ein langsam verebbender Zug. Da war, einer neuen Freiheit Sprache gebend in dem selten unterbrochenen geschichtlichen Schweigen, das großherzige Einstehen in Handeln und Tod von Camilo Torres, des jungen Priesters: ein unvergeßliches Signal. – Allein, die gewaltige Herzader des Landes, der Magdalenenstrom, fließt weiter in alter Lethargie, berührt, ohne sie aufzurühren, die dürren endlosen Weiten, die verkommenden Dörfer, die Savannen mit den fremden Herden. Und in der mächtig sich ausdehnenden Hauptstadt schießen, steinerne Machtmale des Kapitals, immer neue Wolkenkratzer zum Himmel, von einem seinen Menschen seit vierhundert Jahren vorenthaltenen, entfremdeten Boden.
Kolumbien wartet noch auf seine Stunde, die einmal, im April vor fünfundzwanzig Jahren, schmählich und tragisch vertan wurde, beim verratenen Bogotáner Aufstand. Es wartet seit dem Opfertod der mythischen ,Indianischen Alten‘ (nach ihr ist ein Fluß benannt: Die Alte), die unter der Folter der Conquistadores das Geheimnis des vergrabenen Chibchaschatzes nicht preisgab. Es wartet seit Bolivar auf den neuen Befreier. Dann wäre es an der Zeit, die ,Kolumbianische Ballade‘ neu zu schreiben. Noch sehen die steinernen Götter ,die Indios ihre Armut schleppen, voll Trauer und granitener Schwere das Gesicht‘ – so den vorliegenden Gedichten weiterhin bittere Aktualität verleihend.
Erich Arendt
„Glückliche Fische / schwammen im Dunkel / durch / unsre Herzen.“ Aber nur selten klingt ein Gedicht Erich Arendts, der 1973 siebzig Jahre alt geworden ist, so heiter aus; und auch dieses erinnernde Liebesgedicht für eine Negerin hat Mühe, zu solchem Schluß zu kommen. Ihm voraus gehen Verse, die mit Haß den aufziehenden Tag empfangen: „Wir hassen ihn, sein / unersättliches Licht, das / von unserm Blut / sich nährt, stündlich.“ Zeilen aus „Tolú“, die charakteristischer sind für diesen Band über ein kolumbianisches Dorf mit seiner Umgebung und mit seinen Bewohnern, charakteristischer auch für Arendts bisheriges Gesamtwerk, das – inzwischen um zwei weitere Bände gewachsen – uns seit 1968 versammelt vorliegt und in dem „Tolú“, teilweise in verschiedenen Fassungen seit 1951 und dann vollständig 1955 erschienen, unter den neuen Titel „Tag der bittren wilden Nesseln“ gestellt ist, während die Neuausgabe sich wieder des ursprünglichen Titels versichert. Charakteristisch ist freilich vor allem die Tonlage unseres zweiten Zitats, weniger sein Inhalt, Haß auf das Licht, Bevorzugung des Dunkels? Erich Arendt ist das Gegenteil eines in die Nacht verliebten Romantikers. Sein Werk ist durchweg dem Licht und seiner Unerbittlichkeit verbündet, und die Nacht ist in seinen Gedichten nicht nur dem tröstlichen Traum, sondern vor allem auch dem Trug, nicht nur dem Geräusch und Geruch – Arendt ist nicht wie z.B. Hermlin oder Bobrowski ein Dichter des wachen Ohres −, sondern vor allem auch dem bewußtlosen Rausch zugeordnet, kurz, den Illusionen. Eines der anderen negristischen Liebesgedichte des Bandes, das gleichfalls mit dem Tagesbeginn endet, entscheidet bereits mit dem Titel: „Leer“! Sein erbarmungsloser Ausgang:
Ein toter Vogel, fiel
dein Blick aus meinem… Im
Spiegelhauch der Frühe
ragten vom Weg
der weißen Büffel
die Bambushütten
hölzerner.
Und dann wie ein Schlag:
Frost
in des Reihers
einsam
hartem Auge.
Es liest sich als striktes Urteil über eine Lüge, die vom Licht enthüllt wurde: Bildhafte Definitionen-Urteile als Gedicht-Schlüsse wird man vor allem in Arendts Arbeiten der sechziger Jahre (Aegäis) erduldend wiederfinden. Wie man bei der Lektüre Tolús sieht, ist der antiillusionäre Grundzug der Arendtschen Poesie nicht erst neueren Datums. Die spannungsreiche Polarisierung von Nacht und Illusion einerseits, Tag und Wahrheit andererseits – eines der konstituierenden Elemente des Gedichtbandes Tolú – hat als weithorizontigen Hintergrund Arendts ideologische Auseinandersetzung mit Religion und Religionssurrogat, mit politischer Selbsttäuschung und falscher Ideologie, eine langwährende Auseinandersetzung, die im Teil III des 1967 gedruckten Gedichtbandes Aegäis gipfelt und die in einigen neueren Gedichten fortgesetzt wird. Zum ersten Mal aber tritt die symbolische Tag-Nacht-Metapher mit diesen Akzenten ganz unverhüllt in einem Gedicht von 1942 in Funktion. Das vollkommen konventionelle „Cadiz“ – eher als Dokument denn als künstlerische Leistung aufhebenswert – besteht aus zwei Sonetten und einem dritten Teil, einem Anhängsel, zwei Terzinen. Es gehört zu jenen in vieler Beziehung aufschlußreichen zwei oder drei Gedichten, die Arendts, des ehemaligen Kämpfers in der 27. katalanischen Division Carlos Marx Fahrt durch das nunmehr von Franco terrorisierte Spanien zum Inhalt haben; Fahrt 1941 auf der zickzackhaften Flucht vor den in Frankreich eingebrochenen Nazis. Im ersten Sonett wird zunächst eine „wolkenweiße“ Nacht beschrieben, die „reglos überm Meer ruht“ und atmet weich ihr „Licht ins Dämmern schmaler Straßen“. Die Nacht nährt die Hoffnung:
Es warten Meer und Nacht,
daß mit dem Sonnengang die Stadt zum Glück erwacht.
Das zweite Sonett aber beginnt:
Die Sonne stieg. Vorbei die Nacht, die trügerische.
Und die erste Zeile der angehängten Verse modifiziert bekräftigend:
Zertreten liegt der Traum, den falsch die Nacht beschwor.
Seit 1941/42 verstärkt sich – wie sie kurzfristig auch wieder zurücktritt – die antiillusionäre Tendenz in Arendts Gedichten, für die Sonne, Tag und Licht deutlicher als vorher Stichworte sind und die in Tolú zum erstenmal für einen umfangreicheren Gedichtkreis unseres Lyrikers dominant wird. Daß das Licht nicht nur als Weiser der Schönheit und der lächelnden Güte, sondern auch als Enthüller des Häßlichen und Gemeinen in Arendt seinen Rhapsoden findet, dokumentieren auf indirekte Weise die Gedichte in Aegäis mit ihren gleich Messern zustoßenden Schlüssen. Über die Jahrtausende der Geschichte der Klassengesellschaften wird der „Spruch“ gefällt:
Nacht,
eisenfunkelnd, immer.
In den Versen „Nach dem Prozeß Sokrates“ wird nicht nur das Jahrhundert des athenischen Weisen definiert, wenn es abschließend heißt:
Blutwimper, schwarz:
das Jahrhundert.
Es ist, wie die Analyse des semantischen Materials in diesem Gedicht ergibt, auch das Jahrhundert der großen Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus gemeint, deren Formen bis zur möglichen Selbstvernichtung der Menschheit die Zuversicht – blinder Optimismus ist nicht Arendts Sache – oft auf die Probe stellen:
Erglimmt, greifbar,
ein Flugkorn, noch
der Tag?
Der Tag nach all der Nacht, der Tag, den das Auge braucht, der Tag, den man braucht, wenn man wach sein will – wach, und nicht nur wachsam. In den Flug-Oden heißt es einige Jahre nach der Entstehung Tolús und die Entfremdungsproblematik tangierend:
Schon kennt die Erd
sich nicht mehr – und stirbt:
Wegsah, da das Töten
anhub wie ein Nutzwert
der Bruder, weg
von den Bergen, den suchenden
Händen.
Erich Arendt hat sich – was mancher, der nicht genau hinsieht, bezweifeln mag – immer bemüht hinzusehen.
Ein so beschaffenes Werk wird weniger der Musik als der bildenden Kunst verschwistert sein. Georg Maurer fühlte sich „an die lichtverzehrten Panoramen… Claude Lorrains“ erinnert, „jedenfalls an die lavierten Skizzen dazu“. So im Klappentext zu Aegäis. Bei früherer Gelegenheit spricht er von „Substanzen,… visionär wie mit ineinanderlaufenden durchsichtigen Wasserfarben… hingemalt…“ Erich Arendts Lyrik sei anspruchsvoll in der Art schwieriger moderner Musik, hörten wir dennoch von dem einen oder anderen Leser. Ihnen seien die Hinweise Maurers auf die bildende Kunst ans Herz gelegt, wenn Arendts Gedichte auch viel weniger Skizze und Aquarell sind, als Maurer denkt. Arendt geht es primär um Genauigkeit, sei es angesichts einer Landschaft und ihrer Menschen wie in Tolú, sei es angesichts komplizierterer poetischer Aufgaben, wie sie sich z.B. aus der Erweiterung unseres wissenschaftlichen Weltbildes ergeben (Flug-Oden), wobei das Gedicht zerspringen kann und wir dann tatsächlich Gebilde vor uns haben, die „zuweilen an die idealen heroischen, mit Trümmern antiker Kunst übersäten Landschaften Poussins“ (Maurer) gemahnen. Der Weg dorthin läßt sich an zahlreichen Gedichten über Werke der bildenden Kunst ablesen, die Arendts inniges Verhältnis zu Malerei, Grafik und Plastik verschiedenster Stile von der griechischen Archaik bis hin zum Surrealismus der Modernen auch für den Blindesten belegen. Man müßte nur Arendts Gedichte über Werke der Bildhauerkunst chronologisch nebeneinanderstellen – schon hätte man Arendts Entwicklung in der Nußschale: In den frühen Sturm-Arbeiten in der Nachfolge August Stramms gilt ein Gedicht einer der expressiv-kubistischen Plastiken Archipenkos („Eva“); für die mittlere Phase Arendts (Trug doch die Nacht den Albatros) stehen die Rilke-, besser: Borchardt-nahen Verse „Auf einen ägyptischen Frauentorso“: Tolú wird eingeleitet von einem Sonett über die uralten Standbilder kolumbianischer „Indiogötter“; im späteren Werk der sechziger Jahre, in Aegäis, ist es ein „Kouros“, eines jener jünglingshaften Grab- und Götterstandbilder aus der Frühzeit griechischer Kunst, das Arendt lyrisch transsubstantiiert. Im Gegensatz zu den „Aughöhlen, aufgerissen in granitener Leere“, mit denen die „Indiogötter“ vom Steppenrand starren, zeigt der Kouros jenes – immer gefährdete – Lächeln, das für Arendt zum sinnlich faßbaren, sichtbaren Signum der Humanität geworden ist – eine Chiffre, die kaum von einem der Gedichte Arendts in den sechziger Jahren vergessen wird: „Lächeln.“ Setzt Arendt an die Stelle der politischen Geschichte, wie wir sie „aus Staubfibeln gelernt“ – o wie wahr, wie wahr! −, eine poetische Geschichte des Lächelns? Von seinen frühesten Spuren bis heute im Widerstreit mit dem Stein? In der erläuternden Prosa des Foto-Buches Griechische Inselwelt, das die Fotografie eines unvollendeten Kouros mitteilt, wäre dann der Ausgangspunkt dieser Geschichte markiert: „Kein archaisches Bildnis in einem Tempel oder Museum erschüttert wie dieses, das in seinem Schoß der Berge liegt, als werde es sich unter diesem zeitenlosen Himmel einst erheben“, eine Gestalt, „das Antlitz ganz aus dunklem geheimnisvollem Lächeln, als wäre eben erst der Anfang der Welt.“ Das Foto zeigt einen langhingestreckten Stein, der die ansatzweise herausgearbeiteten Formen des menschlichen Körpers nur ahnen läßt; drei einsame helle Disteln stechen, zartes Filigran, vom grobporigen Schatten des Steins ab wie Zeichen, die das noch Rohe und seine weltenferne Einsamkeit betonen. (Auf wie extreme Weise Arendts Gedicht vom optischen Eindruck ausgeht, dokumentiert der ungewöhnliche Weg nicht weniger Arbeiten über das Foto – Arendt publizierte fünf ausgezeichnete Bild-Text-Bände, die, ein wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte der Poesie, umfangreiche Vorarbeiten zu seinen Gedichten sind −, vom Foto zur beschreibenden Prosa, von der Prosa zum Vers: Daß manche Verszeile in Tolú wie künstlich gebrochene Prosa wirkt, zeigt nur, daß die endgültige Verarbeitungsstufe hier noch nicht immer erreicht wurde (das spätere „Kouros“ zählt nicht zu diesen partiell noch etwas unbeholfenen Gedichten, obwohl seine Keime ebenfalls unschwer in Foto und Prosa wiederzuerkennen sind). Das Gedicht wird in der Tat von den Disteln des Fotos initiiert:
Distelwind, schlängelnd…
Später heißt es:
Nach Sternäon, zwischen Halm
und Trauer
ein Erstes:…
geschlossenen Augs
ein Lächeln, fast
wie am höhlenden
Tod vorbei…
Dagegen die „Indiogötter“: breitnasig, breitwangig, die kugligen Pupillen ins grelle Sonnenlicht stoßend, opferheischende und glotzende Steine, zugehörig den „urzeitlichen Symbolen der Natur, der Sonne, des Mondes, des Regens…“, wie Arendt die entsprechenden Fotos in seinem Bild-Band Tropenland Kolumbien (1954) kommentiert, das mit den Nachdichtungen südamerikanischer Lyrik Die Indios steigen von Mixco nieder (1951) zu den Parallel-Büchern von Tolú (1955) gehört. Noch ist ein Lächeln nicht gelungen den Widerspielen von Licht und Stein. Das Gedicht „Indiogötter“ endet:
Mit toten Augen sehn sie, wenn die Nacht sich schließt,
durch schwarzes Gras die Indios ihre Armut schleppen,
voll Trauer und granitener Schwere das Gesicht.
In der Ode IX der Flug-Oden triumphiert dreizehn Jahre später – „Indiogötter“ entstand bereits 1945 – die Gegenbewegung:
Und zerbrechend
das steinerne Antlitz,
jahrtausendalt – o Schmerz
o Flamme! – Aurora
kündete den gesetzlichen Tag,
eine Möglichkeit
dem Menschen.
Solche Zusammenhänge über weiteste historische Zeiträume hin sind von Gefühl und Gedanken des Lesers zu umspannen, wenn ihm Erich Arendts poetische Welt bedeutend werden soll, wenn er schließlich nicht nur als vordergründiges Transparent begreifen will die Verse:
… das Lächeln Lenins wird geboren
stündlich und im Herzen
der Völker. (1950)
Es ist ein Bogen zu schlagen endlich vom Knospenhauch im Urgestein, „ein Versprechen“, bis zu dem Tag, den Aurora kündete, „eine Möglichkeit“. Der Bogen ist zu verlängern in eine Zukunft, da die Erdzeit zu Ende ging. In der ersten der Flug-Oden wird ein „Fluggeborener“ zum Adressaten genommen:
Fluggeborener, aber
waren nicht, die Frühe
weckte mit leisem Knöchelschlag,
erinnere, die augenglänzenden Himmel
um dich?
Tolú, der magisch tönende Ortsname bezeichnet eine besondere und besonders schlimme Realität im Norden Kolumbiens. Trotz seiner Eigentümlichkeiten aber „steht Tolú, das Fischer- und Reisbauerndorf… für den ganzen Tropenbereich, seine Menschen und ihr Leben.“ (Arendt) Das „steinerne Antlitz“ der Indiogötter beherrscht nur einen winzigen Teil der immensen kosmischen Landschaft Erich Arendts; als große Metapher begriffen, signalisiert es einen der Pole in Arendts Weltbild. Es ist die Negation des Lächelns und es ist das Antlitz jahrtausendealter Unterdrückung – obschon die Indios vor dem Einfall der Spanier „freier“ lebten −, sich wandelnd zur „eisernen Maske“, die über dem Getto von Warschau steht. Steinerne Maske, eisernes Antlitz – sie zu zerbrechen im Namen der Humanität: der Aufflug des Fliegers, der Aufschwung der Kunst, der Aufstand der Geknechteten, miteinander verbunden sind sie in den Flug-Oden. Was in Tolú noch leicht faßbare soziale Realität ist, wandelt sich in den späteren Oden und Elegien jedoch einer visionär geschauten Bild-Welt ein, die Arendt gerne als Mythos begriffen wissen möchte und in der die Geschichte der Klassengesellschaften und der Klassenkämpfe tatsächlich auf eine mythisch wirkende Kurzformel gebracht werden kann:
… die heillose Schwärze
abwärts getrieben
des Stollens, wo am eisernen Erdkern
der Schatten eines Mannes gräbt
seit dem ersten Tag
der Entzweiung:…
Die Daten der politischen Geschichte werden bei solcher zusammenschauenden Betrachtungsweise relativ bedeutungslos, was Arendt nur willkommen ist, dessen marxistische Bildung ihn das Spiel mit Namen und Jahreszahlen mißtrauisch beurteilen läßt. In dem späten Gedicht „Napoleon“ (1967) hat Arendt ein Motiv aus der „Ode IV“ der Flug-Oden („Wie der Papyrus unsres kindlichen Wissens / zerloht!“) wiederaufgenommen, jedoch seiner Mißfallenserklärung gegenüber dem historischen Namenskult („Waterloo! – wir hatten’s aus Staubfibeln gelernt – welch ein Wind…“) ein Bekenntnis zu den Leistungen anonymer menschlicher Schöpferkraft gegenübergestellt, das nach Arendt Bleibende:
Am Ufer
rückgeholt
tönern die Amphore:
sintflut −
bestanden.
Das ist das letzte Wort des Sammelbandes Aus fünf Jahrzehnten; man wird es hoffentlich nicht als krampfhafte Aktualitätshascherei auffassen, wenn ich in Arendts poetischem Schlußwort zur ersten großen Versammlung seiner Gedichte Auffassungen wirken sehe, wie sie seit dem VIII. Parteitag der SED wieder ernsthafter diskutiert werden. So wird man auch im umrätselten und in der Tat schwer zugänglichen Spätwerk Arendts bei gründlicher Lektüre Überzeugungen wiederfinden, wie sie den Dichter sich in Kolumbien an die Seite der grausam ausgebeuteten Bauern und Fischer von Tolú stellen hießen. (Ein anekdotisches Detail: Paul Celan schrieb in das Bändchen seiner Mandelstam-Nachdichtungen, das er Arendt schenkte, mit seiner dünnen entschiedenen Schrift als Widmung die Zeilen aus Mandelstams „Januar 1924“: „O Eid, den ich dem vierten Stand geschworen“; mir scheint die Zeile von Celan sehr bedacht ausgewählt zu sein.) Allerdings umgehen Arendts späte Gedichte nicht Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Es heißt:
Ach, wie es würgt, der Erdklumpen
Bitternis, Freund…
Es heißt:
… dein Segel
Scheiternder, setz
schwarz.
Es heißt:
… Daß
unter schwarzgalliger Wolke
mein Schiff bestehe!
Die bange Frage des Arendtschen Spätwerkes angesichts des „Steinens und Welkens der Zeit“ – Bilder, aus der Beschäftigung mit neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften gewonnen wie auch z.B. das Bild vom „Stein der Luft“ −, die Verzweiflung Erich Arendts: Wird dem Menschen mehr gelingen als das „Lächeln, fast / wie am höhlenden / Tod vorbei…“? Stein, Licht, Lächeln, Licht, Stein? Der konsequente Ernst des Dichters läßt ihn bis zum Schweigen, bis zum Nicht-Wort kommen, dem härtesten aller Urteile:
Wie’s ankroch
unter den
schnellenden Zungen:
Sprachloses,
dicht.
Und dann:
Da gruben sie sich ein
in die kopflose Erde.
Wann
gestern
morgen?
immer, es gibt kein −
Wir wissen.
Es gibt kein −. Trotzdem kann Friedrich Dieckmanns Hinweis (in Sinn und Form, 3/72) nicht gefolgt werden, der meint, daß sich Arendt mit „Unwillen“ in unsere Epoche „verschlagen findet“, „mit einem Unwillen, der als ein Grundgefühl tiefer Melancholie in seinem Werke west…“ (Ich würde, wie gesagt, von Ernst sprechen.) Dieckmann verfehlt die Vielstimmigkeit dieser Poesie, die sich auch noch im elegischen Abgesang zur Erde bekennt („der Erde, ihr gilt / im Weltall Verlorener / deine Liebe, suchend der Vögel / totes Geheimnis, die längst verschollene Spur…“) und zum Menschen: „In Schatten gebettet aber ein Lächeln, / das nur, wo ein Mensch, der / Erde gelang.“ Klingt hier nicht sogar jener bekannte Gorkische Ausspruch nach, den wir nicht wiederholen wollen, weil ihn zu viele Unwürdige zitiert haben? Arendts Poesie ist unter Schmerzen die Höhe des wissenden und bewußten Menschen unserer Jahrhundertmitte zu behaupten gewillt – die geschmackliche Anhebung von Schlagertexten für Intellektuelle „schlicht-bedürftigen Gemüts“ muß anderen überlassen werden.
Das Bild, das wir vorgreifend und abschweifend skizziert haben, ergibt sich freilich erst, wenn man auch die drei Bände Arendts zur Kenntnis genommen hat, die dem Band Tolú 1957, 1959 und 1967 gefolgt sind: Gesang der sieben Inseln, Flug-Oden, Aegäis. Tolú, als das Werk des Übergangs von der frühen zur späten Phase der Arendtschen Poesie, erschien, um es zu wiederholen, 1955. Vorausgegangen waren die noch recht herkömmlichen Gedichte in Trug doch die Nacht den Albatros (1951) und Bergwindballade (1952), ein poetisches Diarium der Exilerfahrungen Arendts in Sonetten und ähnlich strengen Formen, die nur hier und da die zukünftige Bedeutung Arendts ankündigen. Die Sammlung des über vierhundertdreißig Seiten starken lyrischen Gesamtwerks (Aus fünf Jahrzehnten, 1968) teilt außerdem unter dem Titel „Voll Erde weißer Morgen“ expressionistische Verse aus den Jahren 1925 bis 1927 mit, die dem Sturm-Kreis Herwarth Waldens verpflichtet sind, sowie einige ganz neue Gedichte unter der Überschrift „Von blinder zu blinder Luft geschliffen“ – ein Titel, der auf Arendts seltsame späte Surrealismus-Rezeption verweist −, die meistens in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entstanden. Erich Arendt, 1903 in der Stadt Fontanes und Schinkels, in Neuruppin geboren, gehört anders als Stephan Hermlin oder Franz Fühmann, doch gleich Georg Maurer oder Johannes Bobrowski zu jenen Autoren, die vierzig oder fünfzig Jahre alt werden müssen, um ihren Stil unverwechselbar auszuprägen. Der Band Tolú steht gleichermaßen am Beginn des entscheidenden schöpferischen Aufschwungs des Dichters, wie er die Zeit des relativ konventionellen „Gelegenheitsgedichtes“ beschließt. Georg Maurer hat die Züge des nach Tolú entstehenden Œuvre im Blick und bemerkt sie auch bereits in den Gedichten über das kolumbianische Dorf, wenn er feststellt: „Waren in die Grundschicht (der Arendtschen Poesie; A. E.) die Linien der Thematik eingehauen…, so beginnt im kolumbianischen Negerdorf Tolú am Karibischen Meer die Thematik in die dichterische Vision einzugehen, die immer charakteristischer für Arendts Lyrik wird.“ Das wird zu zeigen sein. Trotzdem, wenn man versuchen wollte – es will mir nicht ganz und gar unmöglich erscheinen −, aus den drei letzten Bänden Arendts und noch Späterem ein einziges großes Buch zusammenzustellen, in dem sich die Gedichte der verschiedenen Bände miteinander verflechten, vielschichtige Darstellung des Arendtschen „Mythos“ −: die Gedichte des Bandes Tolú würden sich diesem Versuch sperrig entziehen. Es würde Heinz Czechowskis Feststellung bestätigt, der schrieb: „Wird der erste Teil (dieser Poesie; A. E.), etwa einschließlich der Dichtung Tolú, (kursiv von A. E.) noch von Erlebnissen getragen, die diese Gedichte im besten Sinne zu Erlebnisgedichten werden ließen, so konfrontiert das spätere Werk Arendts den Leser direkt mit einer Wirklichkeit, in der solche erlebnishaften Momente fast völlig hinter einer Bildwelt zurücktreten, die in keiner Weise mehr kommentiert wird.“ Wie sein Teil III der günstigste Zugang zu dem späten Gedichtband Aegäis ist, so findet man über Tolú, mit seinen Bezügen zu Früherem und Späterem, am günstigsten einen Weg in Arendts Gesamtwerk. Solche Wegweiser scheinen notwendig zu sein. Denn nicht nur für Friedrich Dieckmann („Eine trotzige Wehrkirche hoch oben im weißen Muschelkalk“ dünkt ihn Arendts Werk) wächst diese Dichtung recht fremdartig in der poetischen Landschaft der DDR, obgleich sich bei gründlicherer Prüfung alsbald herausstellt, daß sie nicht nur unauflöslich mit der besonderen Entwicklung unseres Landes, sondern auch mit der seiner Poesie vielsträhnig verknüpft ist. Ohne interpretatorische Zauberkunststückchen ließen sich weite Teile der Flug-Oden und des Bandes Aegäis als sublime Erfüllung eines Programms darstellen, das Johannes R. Becher mit seinem letzten Gedichtband Schritt der Jahrhundertmitte aufgestellt hatte. Bezüge ließen sich nachweisen zwischen Hermlins Zyklus „Erinnerungen“ („Ich lausche. Im Herde lodert / Die vergangene Schlacht.“) und Arendts großem rückblickenden Liebesgedicht „Über Asche und Zeit…“ („Aschenfeld o unsrer Stunden!“), die beide in der Mitte der fünfziger Jahre entstanden. Bezüge zwischen Maurers großen Zyklen, z.B. „Bewußtsein“, und Arendts Gesang der sieben Inseln, zwischen dem Paul Wiens des Bandes Dienstgeheimnis und dem Arendt der Flug-Oden. Dabei handelt es sich keineswegs immer um gegenseitige Beeinflussung, sondern – was viel mehr ins Gewicht fällt – um verwandte poetische Reaktionen unter dem Druck der Realität. Erich Arendt, der bedeutende Poet der älteren Generation, ruft Hölderlin ebenso an wie der bedeutende Poet der jungen Generation Volker Braun. Arendts „Odysseus’ Heimkehr“ (1962) und „Stunde Homer“ (1962) markieren den Beginn eines Halbjahrzehnts, in dem einige der begabtesten jüngeren Dichter der DDR die griechische Antike für sich wiederentdecken: Mickel, Heiner Müller. Neben Arendts realer Kosmogonie entfaltet sich die naiv-phantastische eines Uwe Greßmann. Außer hundert anderen Parallelen ist die – möglicherweise beunruhigende – zu bedenken, daß im gleichen Zeitabschnitt zwei führende Dichter unseres Landes, Bobrowski und Arendt, DDR-ferne poetische Landschaften der Vergangenheit zu ihrer Herzens-Heimat erwählen: der eine die uferlose nebel- und nachtreiche Welt Sarmatiens, der andere die Oikumene der Alten, die fest umrissene lichte Welt der mediterranen Inseln und Halbinseln. (Allzu rasche Schlußfolgerungen möchten besser unterbleiben; sie würden höchstwahrscheinlich in die Irre führen.)
Daß Arendt jedoch bei allen Verwandtschaften ein Autor extremer Eigen-Art werden könnte, das ließ sich bereits Mitte der fünfziger Jahre der hervorragenden kleinen Reclam-Anthologie Im werdenden Tag entnehmen, in der Arendt in einer Reihe mit seinen Generationsgefährten Louis Fürnberg, Peter Huchel, Stephan Hermlin, Kuba und Georg Maurer stand. Dieser eigenartige Autor ist er schon mit zahlreichen Strophen und Zeilen von Tolú: „Aus den Skeletten der Bäume tasten Millionen verkrüppelter Finger zum Sumpf / doch sterben die dünnen Lianenfinger, bevor sie die runzelharten Gründe erreichen.“ Zwei Verse aus dem Gedicht „Dürre“, die dokumentieren, daß und auf welch radikale Weise bei Arendt seit Tolú die Dramatik der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ins Naturbild delegiert wird. In Tolú geschieht es in der Regel noch vor dem deutlich gezeichneten Hintergrund der Ausbeutung des Menschen. Man findet den Ort auf der Karte südlich von Cartagena und westlich des Magdalenenstroms an der Morrosquillo-Bucht: etwa in der Mitte des Landstriches zwischen den Grenzen Panamas und Venezuelas, weit entfernt von der kolumbianischen Hauptstadt Bogora im hoch gelegenen Zentrum des Landes. Die Beschreibung in „Tropenland Kolumbien“:
Wenn die Schatten der Stämme abends blau über die Erde wachsen, die Sonne ins Meer gesunken ist und der Himmel in einem einzigen Leuchten flammt, bis schließlich alles in einem geheimnisvollen opalenen Dämmer untertaucht, kommen die Menschen, ganze Familien, mit ihren gras- und schilfbeladenen Maultieren heim von fernen Feldern auf einem zwanzig Kilometer langen, mit hohen, schönen Palmen bestandenen Strand. Die Palmenwaldung am Strand gehört einem einzigen Herrn, der auch Besitzer von zwanzigtausend Büffelkühen ist; er reitet im Räuberaufzug, tagelang unrasiert, die bloßen Füße in der einriemigen Indiosandale, von einer seiner Hazienden zur anderen, und im Winter besucht er in den Hauptstädten Europas Konzerte. Das Dorf mit seinen tausend Hütten ist arm: Zwei, drei kleine Fische, die ein alter Neger, von Sonnenaufgang bis -untergang den Strand entlangwandernd, mit seinem Wurfnetz fängt, bilden das Mittagsmahl einer Hütte.
Im Gedicht, in den Versen „Vorm Dorf die Sümpfe“ regiert ein „tödlich wartendes Auge“ – Assoziationen: das Auge der Indiogötter, das Auge der Antreiber, das Auge des weißen Großgrundbesitzers – über einem Lächeln, das vertrocknet ist:
Noch
in den Halmen des Schlafs, fern,
der Schlummernde fühlt
das tödlich wartende Auge, dem alle
verfallen sind…
Es gebietet:
Pflanzen!
den fremden Reis!
bis in das
Erkalten!
Die Folgen für den Menschen, intensiv dargestellt im Naturbild:
Spröd
und abgestorben
vor seinem Aufgang schon
steht das Lächeln, ein Holz
am Sumpfrand, dürr.
Schon bewegt man sich in Arendts späterer Bildwelt. Doch hat man hier einmal – wie selten! – genau und offen den Punkt, an dem das Drama der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ins Naturbild übergeht – ein Naturbild, das später zum viel bedeutenden Zeichensystem für die Situation des Menschen in unserer Zeit wird. Diese Entwicklung ist wiederum in Arendts Prosa vorgebildet, wie sie den Foto-Band Tropenland Kolumbien begleitet. Das erste Bild zeigt die skelettierten Berge über der Seestadt La Guaira (Venezuela): „Nackt, wie abgehäutet“, beschreibt der entsprechende Text, „liegen die von einer gnadenlosen Sonne versengten Erden… da… Gigantischen Muskelsträngen eines Urwelttieres gleich, strecken sich die roten brandigen Hänge in die hartglizernden Fluten des Karibischen Meeres, aus dem die Flossen der Haie scharf und drohend stehen…“ (Prosa, die schon fast die Sprache mancher Strophe in Tolú ist, und beinahe möchte man den Beginn der rimbaudistischen „Kolumbianischen Ballade“, der von dem Foto ausgeht, für eine Abschwächung gegenüber der Prosa halten: „Haltlose Stirnen: die Borde tropenverheerter Länder…“) Die Konturen einer menschenleeren, prä- oder posthistorisch wirkenden Landschaft bilden sich heraus, in der die Natur eine Dramatik entwickelt, die „hinter dem Rücken“ des Menschen spannungsreich und heftig abrollt:
Hinter deinem Rücken
stößt das Horn der Nacht
ans weiße Geripp
des unbekannten Stiers
der im Steppengras
zerfällt.
Der Vorgang – im Gedicht „Dämmerung“ aufzusuchen, das 1948 entstand – findet fast zehn Jahre später, im Gesang der sieben Inseln die kahlere und stärkere Modifikation:
Ansingt mit weißem Vogelhaupt
der Fels den Stern.
In Tropenland Kolumbien wird man diese Seite des kolumbianischen Landschaftserlebnisses durch die Häufung der Vorsilbe ur-, sicher von Arendt nicht beabsichtigt, betont finden; Arendt spricht von der „Macht urwüchsiger Landschaft“, er spricht von der „urzeitlichen Landschaft“ und ihrer „Eigenmächtigkeit und Unberechenbarkeit“, er stößt schließlich auf das Wort „Urstoff“:
Die Erde ist unberührte, feindselige Natur, Urstoff, durch keines Menschen Hand bezwungen.
Als großes Symbol des Lebens und Sterbens in Kolumbien, das Landschaftserlebnis mit dem Erlebnis sozialer Unterdrückung verklammernd, richtet sich in einem balladenhaften Gedicht der „Steppenbaum“ auf. Einstens kamen die Reiher und „tauchten ins schwarze Gezweig zum Traum ein“. Dann, „in der Höhlenzeit unserer Väter“ diente der Baum als Marterpfahl für rebellische Hirten:
Drauf trug der Baum Blüten: in rotem und schmerzlichem Blühn.
Die „Steppe des Todes“ aber wuchs und es „ward seine Säule sehr einsam, wie Kalkstein bleich. Nun auch von den Hirten vergessen.“ Endlich gelten dem Steppenbaum die Verse:
Weißes Skelett, das ich sah, im Glanz des Zenits erstarrend:
durch seine Säule, so hohl, greiser Knochenstaub rinnt.
In solcher Landschaft schenkt sich kein „Lächeln… dem Licht“, wie es in einem späteren Gedicht Arendts heißt, und wie der Steppenbaum hinstirbt, stirbt der Mensch den Landschaften des Dichters weg. Das Gedicht, das Arendt selbst für das wichtigste und intensivste des Buches hält, „Verlorene Bucht“, beginnt mit der Strophe, die fast jeder Betrachter des Arendtschen Werkes zitiert:
Aus Asche das leblose Land.
Sand,
ein meergraues Aschenland.
Kakteen im lichtlosen Licht
tragen
das schwere Eisengewicht
des Himmels bleichender Wand;
Wand
aus gestorbenem Licht.
Von diesen Versen aus schreite man fort zu den Gedichten in Gesang der sieben Inseln, lese in „Nördlich“ von den „Grüften der Meere“ („Treibende Leere / Tiefe, / sonnen- und augenlos, / von Flossen und Fängen gemieden, / nur Dunkel und Dunkels Schoß“), lese vom „Winter des Apennin“, dem „menschenleeren Tag aus Wind und Felsen…“ Die menschenleere außergeschichtliche Landschaft, wie sie von Arendt in der kolumbianischen Realität wahrgenommen wurde – Gedichte südamerikanischer Lyriker, z.B. Nicolás Guilléns, bestätigen diese Realität −, wird schließlich aufgehoben in der kosmischen Vision der Flug-Oden, die mit der ungeheuren Strophe anheben:
Erdenkahl,
wie es dich anweht! stumm
aus dem tiefen Alter der Welt: gesichtslos,
ein Denken, öd,
von Fels und mondleerer Flut!
Und vor dem hartbeflügelten Licht,
undurchdringbare Himmel mauernd,
die Weltenwoge von Stein: Du
Zeitloses: starres
Grauen! wo nie ein Mensch
seine Stunde litt
noch aufsah einer, hoffend.
Sucht man nach frühen poetischen Erfahrungen Arendts, die noch vor Tolú die Konstellation für solche Entwicklungen vorbereiten – sie führen weiter zu den Kykladennächten der Aegäis −, dann stößt man im Umkreis der Exil-Gedichte nicht nur auf die kämpferischen Strophen, mit denen der Dichter den spanischen Freiheitskrieg begleitet, sondern auch auf eine weitere Gruppe von Gedichten (später sogar noch auf eine dritte, die wie Bergwindballade den um 1950 raunenden Nachrichten von spanischen Partisanenkämpfen folgt), die Spanien gewidmet ist. Eines der Gedichte, „Cadiz“, wurde bereits erwähnt. Bei der Flucht aus Frankreich quert Arendt noch einmal das Land, in dem er gekämpft hatte, sieht er noch einmal die Landschaft der Schlachten, die mit Niederlage und Flucht geendet hatten. Fern sind die Kampfgenossen, der Dichter ist allein – aber immer noch sind Fluß und Berg da, die Bäume, die Steine, die in den verschollenen Gefechten mitgewirkt haben. In „Wiedersehen aragonesischer Berge“ (1941) wird die Natur zum gleichrangigen Partner des Menschen:
Der Fluß, der Hang sind wirklich? Ragt der Berg,
der einst erstürmte dort?
Sind dies die Steine, die neben unsren Leibern stumm vor Jahren
mitstritten…?
Das ist ein Naturerlebnis nicht gewöhnlicher Art:
Wir sahn die Gipfel als Gefährten steigen,
und Baum und Dorf waren den Kämpfern nah.
Man meint schon hier Spuren jener dichterischen Aktivität zu finden, die das Horn der Nacht ans weiße Geripp stoßen, den Fels mit weißem Vogelhaupt den Stern ansingen läßt, hier, „wo die Pappel klagt; / die Flammende wuchs hell aus unsrem Kampf, / die klagend nun ins tote Mondlicht ragt.“ Freilich sind die Bilder hier noch recht direkte Stellvertreter menschlicher Emotionen, die Natur vermenschlichend. Die Gipfel steigen als Gefährten, das aufgerißne Erdreich liegt „wie erstorben… und qualvoll ausgelitten…“ Das eine oder andere Bild aber ist schon ganz eins des späteren Arendt:
Nur Disteln starren zornig aus dem Trauern
der kalten Nebeläcker, starren hart
und grau.
Das Ich des „Erlebnisgedichtes“ schickt sich bereits an, sich aus der Naturszenerie zu entfernen; der Dichter sieht sich in ihr als Schatten, den in den aragonesischen Bergen zurückgelassenen:
Ich aber wandre durch Savannen an die Seen,
in Andenweiten, mach an Ufern halt.
Ich seh am Wassergrund gebeugt und fern
stets meinen Schatten gehn im abgebrannten Wald.
Damit sind die Voraussetzungen für Tolú geschaffen. Denn Tolú kann interpretiert werden als der radikale Versuch einer Neu-Konstituierung des poetischen Ichs durch Übernahme einer „Rolle“, d.h. auch um einen Versuch der Auslöschung des poetischen „Helden“, wie er sich bis zu diesem Zeitpunkt in Arendts Lyrik ausgebildet hatte. Es ist die radikalere und folgenreichere Wiederholung eines Bruchs, der Arendt Anfang der dreißiger Jahre von seinen frühen expressionistischen Versuchen getrennt hatte. (Die „Brüche“ im Werk sozialistischer Dichter bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Herkunft gehören bekanntlich zu den fesselndsten Phänomenen der neueren Dichtung, ohne daß sie bislang mit der gebührenden Gründlichkeit untersucht worden wären.) In Tolú beginnt sich aber gleichzeitig mit diesem Versuch das herkömmliche poetische Ich des „Erlebnisgedichtes“ überhaupt aufzulösen, bis es sich endlich in einer „Metaphernwelt objektiviert“. Elke Erb hat mit statistischen Methoden ermittelt, daß die Landschaften Arendts zunehmend die Gesichts-Metapher aufnehmen, daß uns diese Landschaft immer häufiger mit Augen, Mund, Stirn, Schläfe, mit Wimper, Lippe, Lid anblickt, „so daß“, wie Elke Erb schließt, „die Landschaft Träger des Menschlichen wird“, ein Vorgang, der noch auf seine Bedeutung hin zu untersuchen sein wird; daß er nicht „plötzlich“ einsetzte, wird den vorliegenden Ausführungen entnommen worden sein.
Tolú ist der wahrscheinlich einzige Versuch der deutschen Exil-Lyrik, sich mit der Exil-Heimat und ihren unterdrückten (!) Bewohnern ohne Rückversicherung zu identifizieren, während in aller anderen Poesie des Exils, von Einzel-Gedichten abgesehen, sei sie in sozialistischen Ländern entstanden (Johannes R. Becher) oder in kapitalistischen (Paul Zech), durchweg Heimweh-Motive u.ä. mitschwingen, wenn sie nicht sogar das Gast-Land fast völlig ignoriert (Max Hermann-Neisse). In Tolú wird man jede Bezugnahme auf Deutschland vergeblich suchen; auch andeutungsweise gibt es sie nicht. Die einzige nostalgische Strophe des Buches ist (besser: war) eine des Fernwehs nach der glücklicheren Welt traumhaft geschauter Inseln – vielleicht der Südsee – im „Gesang vom Kanu“:
Ich werde die Dschungelscheue, die schwarze Geliebte,
durch das Silberdämmern des Küstenmeeres tragen
in die opalenen Weiten, wo um tierlose Inseln
der tausend Palmen Delphine im Mondwasser spielen:
Dan Doi Dan Do.
Diese Strophe wie manches andere wurde bei der Herstellung einer späteren Fassung (für den Sammelband Aus fünf Jahrzehnten) rücksichtslos und mit Recht getilgt. Wie die unreine Geste des falschen Exotismus scheidet der Dichter aus diesen Versen aber auch die elegische des Vertriebenen aus. Ovid hat in Arendt keinen Nachfolger gefunden, obwohl Tolú am Karibischen Meer von Arendt ebenso apostrophiert werden könnte wie 2000 Jahre vorher Tomi am Pontus von dem verbannten Römer: „Trostloser ist wohl kaum hier auf Erden ein Ort.“ (Ovid: Trista V, 7) F.C. Weiskopf schrieb 1947 in einem ersten Überblick über die deutsche Emigrationsliteratur („Unter fremden Himmeln“): „Die exilierten Schriftsteller lernten auf ihren unfreiwilligen Weltreisen fremde Länder und Kontinente kennen, versteckte Erdenwinkel, verlorenen Gegenden, exotische Orte, – und doch spiegelt sich die weite bunte Welt viel weniger, als man annehmen müßte, in ihren Werken. War es deshalb, weil ihr Blick zu sehr auf das Geschehen in der Heimat gerichtet war?“ Zumindest für die Lyrik gilt das noch heute, und Arendts Tolú ist auch in dieser Beziehung ein aufregendes Unikum. Der westdeutsche Germanist Volker Klotz hat der Identifikation Arendts mit der Welt Tolús, die ihm wie uns auffiel, eine Erklärung zuteil werden lassen, die referiert zu werden verdient (wenn wir ihr auch nicht ganz folgen können): „Die Anstrengung, Abstand zu halten, erübrigt sich, da die tropische Welt für den Mitteleuropäer das Verfremdungsmoment selber enthält, mithin haltlose Identifikationen gar nicht zuläßt.“ Darin steckt, will uns scheinen, eine Unterschätzung der politischen Entscheidung Arendts und seiner bewußten Eingliederung in die mittel- und südamerikanische Kunstbewegung des Negrismus, die von Arendt wie von ihren Führern nie nur als ästhetische, vitalitäts-vermehrende Bewegung gesehen wurde, sondern stets auch unter politischen Akzenten. Arendt nahm diese politische Bedeutung nicht zuletzt auch für die negristische Liebespoesie in Anspruch:
In diesem Zusammenhang sind die Gedichte „Schwarze Sinnesfreude“ von Jorge Artel, „Madrigal“ von Nicolás Guillén mehr als erotische Poesie. Sie geben einer seelisch gebrochenen, häufig korrumpierten Rasse ihren ursprünglichen Stolz, ihre Würde wieder. (Einleitung zu Die Indios steigen von Mexico nieder, 1951.)
Auch scheint uns Arendts Haltung ein wenig komplizierter gewesen zu sein, nicht so naiv-passiv, wie Volker Klotz meint:
Der sich jedes allzu direkten Sinneseindrucks erwehrte, solang er als Emigrant in einem zwar nicht heimischen, doch verwandten Kulturkreis lebte, saugt nun sich voll mit grellen Vorgängen, bizarren Formen, mit ungewohnten Farben und Bildern, die von ringsherum auf ihn eindrängen.
Arendt selbst beschreibt die Identifikation als Ergebnis eines längeren Prozesses:
Erst ein langes sinnenoffenes Verweilen läßt Ähnliches anklingen, schafft ein inneres Verstehen und das lebendige Verbundensein (Hervorhebung von A. E.) mit den leisen Indios der Höhen und den elementaren Negern der Stromtäler und Küstenstriche.
Ehe „sieben in den Tropen gelebte Jahre“, wie Arendt im Vorwort zu Tolú mitteilt, „am Karibischen Meer ihren eigentlichen Sinti“ erhielten, war offenkundig viel intellektuelle und künstlerische Anstrengung vonnöten, wie sie sich z.B. auch in Arendts Sonetten-Zyklus über Arthur Rimbaud niederschlägt, dessen Leben mit der legitimen Freiheit poetischer Vision höchst originell interpretiert wird. Der Verzicht Rimbauds auf die Poesie wie auf die Heimat – der Dichter wurde bekanntlich Händler in Afrika – erlebt bei Arendt 1946 ein Deutung, die manche neueren Theorien über die Rolle der Dritten Welt vorwegzunehmen scheint, ohne daß man sie dort einreihen dürfte. Rimbaud, Kompatriot der Pariser Commune („Der Dichter steht im Volk – und zielt“), beklagt die Niederlage und rühmt die Toten („Er singt: die Toten der Kommune, sie sollen leben, leben!“), er wird vom Ekel über die Restauration und über stumpfe Lebensgier erfaßt („Die krummen Seelen treff ein feiger Tod!“) und stößt sich angewidert nach Afrika ab: „Es wird der große Freund dem unterdrückten Stamme, / Gewehre legt er in die dunkle Hand zur Schlacht.“ Arendts Vision erlebt ihren Höhepunkt im vierten der Sonette, in welchem er Rimbaud davon träumen läßt, an der Spitze der Neger-Heere nach Europa zurückzukehren:
Es träumt die Stirn: vor schwarzen Riesenheeren sieht
er sieghaft sich ans ferne Herz der Welt hinreiten:
rot um sein Haupt die Sonn, sein hohes Zeichen, glüht.
Das pflanzt er auf Paris: Des Volkes Fäuste läuten!
Diese Sonette entstanden ein Jahr nach den 1945 notierten „Indiogöttern“ und zwei Jahre vor dem Großteil der Tolú-Gedichte. Unschwer erkennt nicht nur der Literaturwissenschaftler im Lebensweg des französischen Poeten die Exil-Stationen Erich Arendts. Die Pariser Commune entspricht dem Spanischen Freiheitskrieg, die Flucht Rimbauds nach Afrika Arendts Flucht nach Südamerika, die Solidarisierung Rimbauds mit den „schwarzen Riesenheeren“ der Arendtschen Identifikationsbemühung mit kolumbianischen Fischern und Peones in Tolú:
Wann wird unser schwarzes Herz auflachen?
Es gibt übrigens wirklich ein (nord-)afrikanisches Erlebnis Arendts: es liegt noch vor der Zeit des spanischen Krieges und hat sich in sechs konzentriert-leidenschaftlichen Gedichten niedergeschlagen, die zu den gelungensten des Arendtschen Frühwerkes zählen. Sie entstanden ausschließlich im Jahre 1935: „Markt in Tetuan“, „Karawanserei“, „Berberin“, „Fest in Marrakesch“, „Holzsammlerinnen“, „Fez“ mit den Zeilen über den Haß:
Doch wenn er losschlägt, schlägt er ungeheuer
mit krummen Messern los! Und wie von Disteln fallen
dann in den Sand die Köpfe all der weißen Herrn.
Blut färbt den fernsten Stern…
Damals wurden Erfahrungen gemacht, die Arendt offensichtlich für den klassen-kämpferisch-rebellischen Teil der Gedichte in Tolú zugute kommen. In die Bildsprache des südamerikanischen Negrismus übersetzt, äußert sich im „Trinklied“ des Bandes Tolú der Haß humoristisch-zweideutig:
Warum ist dein Buschmesser
wie von Fischblut rot,
Reisschnitter Juan?
Lachten die Neger.
Ich schlug dem fetten
Mond über dem Reisfeld
den blanken Schädel ab.
Da lachten die Neger.
Für Tolú schreibt Erich Arendt zum letzten Mal Balladen, was der eine oder andere bedauern mag, was aber auch – wie bei allen anderen, die in den letzten fünfzehn Jahren balladeske Formen kaum noch aufgegriffen – Gründe haben muß. „Die Hütte vom einfachen Leben und Sterben“ und die „Ballade vom Hemd des Negers“ zeigen Beispiele stiller Tapferkeit des Negers inmitten einer nahezu hoffnungsleeren Welt. Die heftigeren und rebellischen Aktivitäten, zu blutigem Aufstand hindrängend, sammeln sich in der Regel in Gedichten, in denen Arendt nicht nur die Rolle des Negers übernimmt, sondern die auch auf der Grundlage negroider Rhythmik und Bildwelt aufgebaut sind: „Trinklied“, „Cumbia“, so genannt nach einem symbolhaft erotischen Tanz, „Gesang vom Kanu“. (Aber auch „Verlorene Bucht“ folgt, man lese es und stelle sich ein kompliziertes Schlagzeug-Solo vor, bis in diffizilste Einzelheiten musikalischer Folklore.) Arendt stellt sich, wie bereits angedeutet, in eine Reihe mit südamerikanischen Poeten, denen er als Nachdichter heute wie gestern dient: Lyriker jener progressiveren Variante des Negrismo, die ungefähr seit dem Anfang der dreißiger Jahre – Vorbildern wie Langston Hughes u.a. folgend – nicht nur exotistisch gesonnene Zuschauer, sondern originäre Stimme der Farbigen sein wollen, selber Farbige wie Nicolás Guillén. (Parallele Erscheinungen, auch sie hat Arendt dem deutschen Leser vermittelt, finden sich selbstverständlich auch in der Indio-Poesie.) Daß ein europäischer Dichter sich in diese Bewegung einfügt, daß ein Deutscher es tut – und mit welcher Entschiedenheit! −, auch unter diesem Gesichtspunkt gehört Tolú zu den großen Denkwürdigkeiten unserer Dichtung. In politischer Hinsicht könnte man das Buch u.a. als das bislang strikteste Bekenntnis der deutschen Poesie gegen den Rassismus werten. Jorge Artel sagt stolz: „Schwarz bin ich seit vielen Jahrhunderten. / Dichter meiner Rasse, erbte ich ihren Schmerz.“ Erich Arendt sagt:
Was wißt ihr von mir, von dem ihr nur die schändliche
Haut kennt, dies rissige Fell, angewachsen
dicht überm Herzen, das blutet und blutet
in heißeren Stößen als eures und das doch
nur Leid kennt…
Miguel Otero Silva singt:
Ich bin der Neger Lorenzo
Neger aus Tuy, ein Schwarzer, Schwarzer.
Nacht voll Seele. In meiner Brust
die schlafende Trommel.
Erich Arendt singt:
Wann wird unser schwarzes Herz auflachen?
Nicolás Guillén feiert die Schönheit der Negerin:
Mehr als dein Haupt weiß dein Bauch,
ebensoviel wie deine Schenkel.
Das ist
die starke schwarze Anmut
deines nackten Leibes.
Erich Arendt feiert sie mit nicht geringerer Inbrunst:
Im Mittag
flügelschmal spannt sich
ihr schwarzer Leib. An ihrer
Schlankheit mein Ohr,
ich fühl das Rauschen
von Palmen in einem
unaufhaltsamen Licht, und tiefer
der ungehobenen
Rotmuscheln Tönen.
Dabei darf man nicht an eine direkte Rückwirkung der nachdichterischen Tätigkeit auf das eigene Werk des Dichters denken; sie setzte erst ein, als sich die Bildwelt von Tolú bereits formiert hatte. (Ob die spanische Poesie und in welchem Maße Einfluß auf Arendts späteres Werk genommen hat, müßte untersucht werden. Kenner bestätigen mir, daß Arendt heute der führende Nachdichter spanisch-sprachiger Poesie ist, in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht. Er hat u.a. nachgedichter: Rafael Alberti, Vicente Aleixandre, Pablo Neruda, Miguel Hernández, Luis Cernuda, Nicolás Guillén, Jorge Guillén und zuletzt, den manche für die große Offenbarung neuerer südamerikanischer Poesie halten, César Vallejo, Heinz Czechowski hat indessen vor einer Überschätzung des Einflusses z.B. PabIo Nerudas auf die Lyrik Arendts gewarnt und nachdrücklich auf die Bedeutung Klopstocks und Hölderlins für die Flug-Oden und Aegäis hingewiesen. Nachdenklich mag immerhin stimmen, daß sich der Siebzigjährige der Übertragung des legendär schwierigen Werkes des spanischen Klassikers Luis de Góngora gewidmet hat, als diente er seinem Bruder.) Tolú bereitet die Nachdichtungen vor, auch in dieser Hinsicht ein problematischer Grenzfall? Der Band mag um so schwieriger einzuordnen sein. Mit dem Exotismus des Fin de siècle hat es nichts gemein. Wie wenig hier die Unterschiede begriffen sind, dokumentiert ein freundschaftliches Spottgedicht zweier namhafter jüngeren Lyriker (Sarah Kirsch und Karl Mickel) mit dem Titel „Erich Arendt in den Tropen / nach einem Gemälde Werner Tübkes in den Versen Georg Maurers“, in dem es u.a. heißt:
Im Stiefel
Spiegelt sich die Pupille des Jaguars, der in der Astgabel lauert
Wo sein fleckiger Leib zwischen den Orchideen verborgen ist.
Metallisch schimmernde Frösche und Pflanzen
Entklimmen dem Tümpel am Fuße der fernen Gebirgskette
Über der in eisiger Höhe die Kondore kreisen
Im Auge des Dichters, obwohl ihm der Urwald den Blick sperrt.
Inmitten des Urwalds plündern Indianer den wilden Cacao-Baum:
Hinter dem Stamm der biegsame Leib der Mulattin
Die trägt im Haar die scharlachnen Federn des Kardinal-Vogels
An ihren Ohren saugen Schmetterlinge.
Sie bannt in die Beuge des Baums den Jaguar
Arendt zu schützen. Fliegende Hunde und Kolibris
Schwirren durch die Lichtung…
Das ist lustig; aber die Bilder verscherzen die Wirklichkeit der südamerikanischen Gedichte Arendts fast so gut wie vollkommen, sie träfen den Exotismus der Dauthendey und Willy Seidel, u.U. einiges bei Paul Zech. Die Zurückweisung wird noch entschiedener nach der Lektüre der Neufassung von Tolú (zuerst in dem Sammelband Aus fünf Jahrzehnten), gekennzeichnet durch Intensivierung mittels Versachlichung. Einer der Wesenszüge Arendts ist der der ständigen Selbstqualifizierung, der sich nicht nur in der sprunghaften Weiter- und Höherentwicklung seiner Poesie um 1955 kundtut, sondern auch in permanenten Verbesserungen und Wiederverbesserungen seiner älteren Gedichte wie auch der Nachdichtungen. Die Änderungen an Tolú sind so gravierend, daß man sich fragen muß: Ist es überhaupt noch dasselbe Buch? Daß der „Tag der wilden bittren Nesseln“ von 69 ein ungleich reiferes Werk ist als das Tolú von ’55, daran kann kein Zweifel sein. Der häufige Vergleich der Fassungen gehört zum nicht mühelosen Umgang mit Erich Arendts Poesie, wohlgemerkt, der gedruckten Fassungen; die ungedruckten Varianten werden dank Erich Arendts peniblem Reinlichkeitsempfinden in der Regel vernichtet.
Vergleich der Fassungen – ach, was verlangen wir? Wie so vieles unserer besten Lyrik ist auch der Gedichtband Tolú bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal oberflächlich von unserer Literaturwissenschaft in Erwägung gezogen worden. Ernsthaftere Darlegungen über Arendt gibt es bislang fast ausschließlich aus der Feder von Lyrikern: Georg Maurer, Heinz Czechowski, Günther Deicke. Dabei hatte Georg Maurer bereits im Januar I956 in seinem berühmten, die neuere Lyrik-Kritik begründenden Referat auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß den Rang von Tolú nachdrücklich hervorgehoben – in unausgesprochener Polemik mit Meinungen, die der noch um ihr Gesicht ringenden jüngeren Lyrik der DDR die artifiziell häufig noch effektvollere der Bundesrepublik entgegenhielt, Meinungen, mit denen man sich heute lächerlich machen würde. Maurer sagte damals:
Und nehmen wir einmal das sogenannte ,Planetarische‘ gewisser westdeutscher Lyrik, das sich mit Vokabeln ferner Städte sowie mit exotischen und astronomischen Vorstellungen Raumweite geben will, so können wir dem die Dichtung Erich Arendts entgegenhalten, die das Heiße und Glühende ferner Zonen mit dem heißen und glühenden Herzen der Unterdrückten zusammenschweißt vor allem in Tolú, einer Dichtung über ein Negerdorf…
Ist den Lesern es zu Bewußtsein gekommen, daß es dieses Buch Tolú seit nunmehr 21 (einundzwanzig) Jahren gibt, und zwar: gedruckt: „Was wißt ihr!“ ruft Arendt im Namen seiner Neger-Helden den Weißen zu. Was wißt ihr! könnte der Dichter im Namen seines Werks der Literaturwissenschaft zurufen. Soll ich zitieren, was z.B. Reclams kleine Deutsche Literatur im Überblick 1965 und später über den Autor von Tolú, der Flug-Oden, des Gesang der sieben Inseln uns mitzuteilen weiß? Ich zitiere: „Neben Dichtern der älteren Generation wie Erich Arendt (geb. 1903; 1952 Bergwindballade) und Max Zimmering („Im herben Morgenwind“, 1952) meldeten sich bald jüngere Lyriker zu Wort.“ Zimmering wird in dem rund 340 Seiten starken Werkchen immerhin viermal erwähnt und zudem ansatzweise charakterisiert – von Arendt weiß man nicht mehr und nicht weniger als dieses eine Mal zu berichten und daß sich neben ihm bald jüngere Dichter zu Wort gemeldet haben. Das Bändchen, von dem die Rede geht, ist unter der Mitwirkung von mindestens zehn Germanisten zustande gekommen – gehörten sie zu den Erzürnten, als der Verfasser dieser Notizen vor einer Weile in Sinn und Form mit einer Frontal-Polemik gegen die Germanisten aufwartete. Möglicherweise ist ihnen bei der Lektüre meiner Notizen deutlich geworden, welch ein interessantes Objekt ihren forscherischen Bemühungen bislang entgangen ist. (Daß Tolú eines der fesselndsten Werke unserer Lyrik ist, fesselnd in vielerlei Beziehung, dies darzulegen war die eigentliche Absicht des Autors, wie es ihm übrigens auch als Kritiker „ohne wissenschaftlichen Ansatz“ in der Regel um solche Aufmerksamkeit erbittenden Demonstrationen geht.) Lange schon ist die Zeit herangereift, das Werk Erich Arendts darlegend und deutend zu vermitteln. Statt dessen aber wird der Öffentlichkeit eine Kapitulationserklärung überreicht. Friedrich Dieckmann in Sinn und Form:
Ein Opus, dazu bestimmt, die Germanisten des dritten Jahrtausend in Bewegung zu setzen.
Währenddem hat für westdeutsche Germanisten wie Volker Klotz, Gregor Laschen u.a. das dritte Jahrtausend offenkundig schon begonnen. Daß sie nicht das letzte Wort über Erich Arendt behalten, ist, wie gesagt, vor allem einigen Lyrikern – übrigens verschiedener Generationen – der DDR zu danken, sehen wir von dem einen nicht genug zu lobenden Germanisten Rüdiger Bernhardt ab. Freilich gilt trotz deren Anstrengungen immer noch (besser: schon wieder), was Maurer 1956 feststellte: „Der Schatz unserer besten fortschrittlichen Lyrik ist noch nicht in das allgemeine Bewußtsein gehoben, es wird noch von Schwärmen von Eintagsfliegen umsummt und verdunkelt, die bei allen Gelegenheiten auftauchen!“ Und Maurer fuhr fort:
Es ist Sache der Literaturkritik und des Publizierens, bereits eine Tradition des Neuen zu schaffen.
Auch diese Worte sind aktuell geblieben.
Ein letzter Blick auf das, was dem Band Tolú folgte! Das späteste Gedicht des Bandes ist datiert: 1950. 1954 setzen die Gedichte ein, mit denen Arendt eine neue und höhere Qualität seiner Poesie findet, entstehen die Gedichte „Meeresstille“ des Bandes Gesang der sieben Inseln und die „Ode I“ der Flug-Oden. Tolú entstand im wesentlichen ab 1948. Die Ausgabe von 1955 wird bereits als „revidierte Fassung“ bezeichnet. Der Gesang der sieben Inseln erschien freilich zwei bis drei Jahre vor den Flug-Oden. Das hat einige Mißverständnisse über Weg und Ziel der neuen Arendtschen Dichtung begünstigt. So wurde hin und wieder – auch vom Verfasser dieser Notizen – der Gesang der sieben Inseln vor allem aufgrund seiner sehnsüchtig fernwärts gewandten Hiddensee-Gedichte einseitig als Dokument der Resignation des Dichters gewertet. Flug-Oden dagegen als eine neuerliche Hinwendung zu den bedeutenden und brennenden Themen der Zeit begrüßt. Der Sammelband Aus fünf Jahrzehnten führt derartige, die beiden Bücher gegeneinander ausspielende Interpretationen ad absurdum. Die Entstehungsdaten zeigen nämlich, daß das „weltzugewandte“ Werk in den gleichen Jahren 1954 bis 1957/58 wuchs wie das „weltabgewandte“; die Arbeit an bei den Komplexen ist offenkundig wechselweise vorangetrieben worden, wobei die Funken von einem zum anderen gesprungen sein dürften. Bei jeder neuerlichen Interpretation ist vorauszusetzen, daß sich die beiden Bücher sehr viel direkter und inniger bedingen, als es bisher angenommen worden ist. Das würde vor allem eine Neu-Bewertung des Gesangs der sieben Inseln bedeuten, der weniger als Werk der resignativen Gesten denn als diffizile Übung und Vorbereitung der Sensibilität – auch des Lesers! – vor und während des Aufbruchs in die kosmischen Regionen der Flug-Oden begriffen werden müßte, vor und während der Auseinandersetzung mit jenem schwierigen Thema, das Arendt im Untertitel zu den Flug-Oden ohne poetische Umschweife genannt hat: „Der Mensch inmitten von Zeit und Raum.“ Daß ein desillusionierender politischer Schock mit zu den Voraussetzungen dieses Weges gehört, soll nicht bestritten werden: der XX. Parteitag der KPdSU hatte die Möglichkeit einer zur Menschenfeindlichkeit pervertierten Bürokratie auch im Sozialismus enthüllt. Gegenüber der Erschütterung durch den 16. Juli 1945, dem Datum der ersten Atombombenexplosion, und der Erschütterung durch die Einsichten der modernen Physik spielt aber sogar jener politische Schock eine eher sekundäre Rolle bei den neuen poetischen Entscheidungen Arendts. Das „Grundgefühl tiefer Melancholie“, das Dieckmann in Arendts Werk „wesen“ fühlt, hat im Leben des Dichters nicht nur einmal und nicht nur von der einen Seite her Nahrung erhalten. Im Gesang der sieben Inseln und anderem geht es keineswegs im wesentlichen um die Demonstration des „Unwillens“ gegenüber der speziellen „Epoche… in die“ sich Arendt „verschlagen findet“. Dies hieße die Leistung Arendts gering veranschlagen, nicht anders, als wenn man behaupten würde, bei den jahreszeitlich geordneten Hiddensee-Poesien handele es sich lediglich um eine moderne Variante zu „The Seasons“ des guten alten James Thomson. Als Demonstration des „Unwillens“ hätte eine melancholische Wendung zu den „Jahreszeiten“ der abgelegenen Insel durchaus genügt, von der Geschichte zur Natur. Aber dem sommerlichen Höhepunkt der „Ernte“ auf Hiddensee („das Lächeln / Wochen am Himmel stand / Im Windlosen schwebend, / ein Drache von Gold…“) folgt ein Winter, der die „Winterleere der Welt“ bringt: die Insel wird zum Übungsfeld einer poetischen Empfindsamkeit, die das Leben (ein begrenztes) des Erdballs und des Kosmos erfahren will. (Welche naturwissenschaftlichen Theorien, z.B. C.F. von Weizsäckers, dabei mitspielen, müßte ein anderer prüfen.) Die Hiddensee-Bilder weisen am Ende nicht nur auf Herbst und Winter, sondern darüber hinaus auf die Erdzeitalter:
O hartes Glazial,
kein Blut einer Sonne.
Vorbereitet durch ein Gedicht wie „Verlorene Bucht“ in Tolú wird die poetische Umsetzung der Vorstellung angestrebt: Die Erde – ohne Menschen; um schließlich die noch radikalere poetisch formulieren zu können: Der Kosmos – ohne Erde. Dem „Fluggeborenen“, den Arendt in den Flug-Oden anspricht, ist die Erde nur noch ein sehnsuchtsvoller Schmerz im Raum und im „Steinen und Welken der Zeit“. Das muß ertragen werden, zunächst einmal vom Dichter:
… und in der Muschel
endloser Nacht
hohl ein Rauschen blieb
das keiner mehr vernahm…
Der diese Erfahrungen, die zweifellos heute keine abseitigen sind, in seiner Dichtung durchlebt hat, dem wird auch die Landschaft der Erde anders erscheinen. Er wird sie gleichsam mit dreifachem Auge sehen – Begriffe wie „Pessismismus“ oder „Optimismus“ verlieren in diesem Zusammenhang ihren Sinn −, so wie es in Arendts Beitrag zur Lyrik der sechziger Jahre geschieht, in Aegäis („Da erst / begann / das Singen: / Spätfels / Geduld!“), in Arendts Beiträgen zur Lyrik der siebziger Jahre: Feuerhalm und Memento und Bild; keine Kapitel sind sie eines anderen Buches, wie mancher gewähnt hat, sondern nur auf andere Weise vertrackte, auf neue Weise einfache Kapitel, geprägt auch von der leidenschaftlichen Auseinandersetzung des bald Fünfundsiebzigjährigen mit der Todesnähe („Bald / vorm Gesicht / das Leersegel, / breit gespannt“), die sich u.a. in der bildhaften Benennung des Nichts kundtut wie auch im demonstrativ vorgeführten Versagen jeglicher Bildhaftigkeit: „… dies war / nichts als und / unabänderlich Nirgendwo / Haltlos Verschweben.“) Die heftige Verzweiflung angesichts der Unausweichlichkeit des Todes hat zur Voraussetzung ein entsprechend intensives Engagement des Dichters für das Leben; es ist die Voraussetzung des gesamten Werkes von Erich Arendt, das man, wenn man will, als ein einziges großes Gegenspiel zu den Gesten z.B. eines Gottfried Benn interpretieren kann.
PS.: Der Band Geschichte der Literatur der DDR stand dem Verfasser noch nicht zur Verfügung.
Adolf Endler, 1972–1976, aus: Adolf Endler: Den Tiger reiten, Luchterhand Literaturverlag, 1990
Zwischen Juni und September 1962 schrieb ich an einem Liederzyklus YERMA nach Versen aus Federico García Lorcas gleichnamigen Drama in der deutschen Übertragung von Enrique Beck. Mich befriedigte dieser Zyklus noch nicht, ich wünschte mir eine Lorca-Huldigung als großes Vorspiel. Ich überwand meine jugendliche Scheu und rief den Dichter Erich Arendt an, weil ich wußte, daß nur er mir darin weiterhelfen kann (vergessen wir nicht, daß es jene Jahre waren, da man überhaupt erst der neueren spanischen Dichtung gewahr wurde). Erich Arendt umfing mich mit einer solchen Herzlichkeit am Telefon, daß ich glücklich die Einladung, in seine Treptower Wohnung zu kommen, annahm.
Dort spielte ich am Flügel meinen Zyklus vor und fand in den entliehenen Büchern schließlich das Lorca-Gedicht „Die Stille“ prädestiniert als Vorspiel für meinen YERMA-Zyklus. 12.11.1962 ist das Datum der Stille-Vertonung, also kenne ich Erich Arendt ganze 15 Jahre!
Ich sah bei meinem ersten Besuch die begehrte Stuttgarter HÖLDERLIN-Ausgabe. Dieses Interesse an Hölderlin erfreute ihn so, daß er beim Rütten & Loening-Verlag noch eine Ausgabe zum Autorenrabatt für mich bestellte. Es war die Zeit, da ich wegen meiner „politischen Einstellung“ das Stipendium an der Humboldt-Universität verloren hatte (und also rechnen mußte). Der Mauerbau hatte das Studienklima enorm verändert, brauchte man doch nicht mehr zu fürchten, daß jemand von dieser Universität zur anderen „Freien Universität“ in der gleichen und doch nicht gleichen Stadt wechseln konnte.
In meinen Tagebüchern taucht seither unregelmäßig der Name Erich Arendt auf; unregelmäßig, weil ich das Aufzeichnen nur sporadisch betreiben kann, das Notenschreiben frißt alle Muße auf.
Die älteste Eintragung geht zusammen mit dem Hinweis auf das Teetrinken – bis dahin kannte ich nur Kaffee. Nun notierte ich zwei Earl Grey-Teesorten und danach (Anfang 1964), „daß ihm die norddeutsche Heimat – obwohl in ihr gebürtig – nie als richtige Heimat erschienen sei. Erst im Maintal fand er eine Landschaftszugehörigkeit zu fühlen. Von den uninteressant kerzengerade stehenden Bäumen im preußischen Flachland pflegte er gern zu sagen: „Rührt euch, auf daß ihr Bäume werdet!“
Unter dem 25.1.1964 steht neben anderem:
Am 20.12.1963 fand ein unverhoffter Besuch bei mir zu Hause statt (ich hatte völlig ausnahmsweise nicht geheizt gehabt), Mit Hannelore Teutsch, einer ihm bekannten Studentin, suchten wir in meiner Hinterhaus-Gegend treppauf und treppab, hofein und hofaus nach „ungardisierten“ Fenstern und vermuteten dahinter leerstehende Wohnungen! Ich spielte ihm den Yvan Goll-Zyklus „Abendgesang“ vor, dessen Texte er mir im Herbst 1962 gegeben hatte, und sein Vorlesen des Gedichts „Blaublütige Rose“ wird mir immer unvergeßlich bleiben.
In diesem 1964er Jahr gab mir Erich Arendt die gerade entstehenden Agäis-Gedichte. In seinem Bildband-Reisebericht GRIECHISCHE INSELWELT verfolgte ich den Grad der Verformung:
Gestern, vorm Tag,
wie Wenden des Kopfes wie
Wissen im Gelbgras,
die Schlange, aug-
häuptiges Auge,
sah ich.
aaaaaadem
dunklen Donner
der Bienen.
Am Morgen begrüßt wie immer
im dürrsten Gras am Heiligen
See eine winzige Giftschlange,
blinzenden Auges, den Tag und
flüchtet vor unserem Schritt,
raschelnd, wie zurück in die
vergangene Zeit.
die an nackten Steinstränden
ganze Städte aus Blau be
wohnen.
Immer wieder ging es Erich Arendt darum, daß ich Dichtung kennenlerne, Dichtung, die durch die Grenzen der DDR vom Kennenlernen ferngehalten wird. Neben Yvan Goll war die zweite große Begegnung für mich: Paul Celan!
Im Jahre 1966 komponierte ich die TODESFUGE für Sopran und sechzehnstimmigen Chor. Mit der Uraufführung dieses Vokalstückes 1967 in Hilversum (als Ergebnis des internationalen Gaudeamus-Kompositionswettbewerbes) begann mein eigentliches Nach-außen-treten als Komponist; wenn auch mir in Tönen, denn Reisen gab es nicht! Paul Celan schickte mir als Antwort auf meine Vertonung seinen Gedichtband ATEMWENDE. Am 14. Dezember 1967 schrieb ich an Paul Celan und fingierte einen Herzenswunsch Arendts lediglich als den meinen:
Erich Arendt liegt erkrankt in der Charité, rief mich eben an und bat mich, daß ich ein Gedicht von ihm ins Französische für den 8. Internationalen Salon der Poesie in Grenoble übertragen lasse. Ich versprach es und hätte mir seinen Zorn eingehandelt, würde ich ihm gesagt haben: ich schreibe an Celan! Bitte verzeihen Sie mir diesen Übermut, aber ich möchte Erich Arendt in seinem stark angegriffenen gesundheitlichen Zustand damit überraschen.
Beigelegt ist das Gedicht ohne Überschrift, das er mir eben telefonisch durchsagte…
Wer an die biographische Grenzlage Paul Celans denkt, wird sich nicht verwundern, daß dieses Ansinnen ungehört blieb.
Im Jahr der TODESFUGE vertonte ich auch erstmals ein Gedicht von Erich Arendt. Sein Dichtwerk verschließt sich vor wilden Komponisten-Zugriffen! Beim „Kretischen Mahl“ aber konnte ich „zubeißen“. In der Druckausgabe nannte Erich Arendt später das 1963 entstandene Gedicht nur noch „Mahl“. Jeder zweite Intervallschritt ist aus einer großen Terz gebildet – so erreichte ich jene Helligkeit, die durch Arendts ÄGÄIS Dichtungen leuchtet.
Als Erich Arendt sein Napoleon-Gedicht schrieb, schaute ich gerade herein. Ich sagte, daß das Wie-zum-Vertonen gedichtet sei, nur der Titel wäre schon durch Schönberg blockiert. Auch der Untertitel „Elba“ gefiel mir nicht recht – so einigten wir uns auf die Schlußzeile als Titel „sintflutbestanden“. Meine Vertonungssucht ließ mich sogleich fragen, ob nicht ein paar Änderungen möglich seien? Aus „Waterloo – hattens aus Staubfibeln gelernt“ wurde „Waterloo – wir hattens aus Staubfibeln gelernt“, aus „Am Ufer zurückgelassen die tönerne Amphore“ wurde „Am Ufer rückgeholt tönern die Amphore“. So dicht beim Ändern dabeizusein, das machte mir ungeheuerlich Freude – wie Erich Arendt die Wortfolgen „abschmeckt“, „abklang“ und rhythmisch „abwog“!
Die Vertonung wurde ein Triptychon für Klavier, Tenor und Horn und entstand in den letzten 1967-Tagen in Dresden-Klotzsche. Triptychon sollte nicht etwa „gebildet“ klingen, sondern auf die Sonderheit von drei Solostücken hinweisen: zuerst spielt das Klavier, dann als Scharnier kurz Tenor, Horn und Klavier hintereinander, als nächster Soloteil folgt das Arendtsche Gedicht mündend in das zweite Scharnier: alle drei Interpreten musizieren zum Wort „sintflutbestanden“ gemeinsam, um im beschließenden Horn-Soloteil ruhig auszuklingen. Der Pianist Dieter Brauer bat mich nach der Rundfunkproduktion, aus dem großen Klaviersoloteil eine Konzertétude (SINTFLUTBESTANDEN) zu entwickeln.
Nun nähern wir uns einer Zeit, in der mich nahezu alle Künstler in der DDR schier aufregten, daß sie den Stagnationserscheinungen in diesem ihrem Lande nichts (oder so gut wie nichts) entgegensetzten. Jeder strickte in seiner eigenen Mausefalle, schielte und spekulierte nach bzw. mit dem Westen, flüchtete ins Westfernsehen und vergaß, wo er eigentlich lebt, vergaß, daß er aufgerufen ist, das Gewissen (oder wenigst der gärende Teil) seiner Mitbürger zu sein. In diesem erregten Zustand erreichte mich Franz Fühmanns Brief vom 31.12.1972 mit der Bitte, einer Freundesmappe zu Arendts 70. Geburtstag etwas beizusteuern. Ich tats nicht oder vielmehr: ich zog meinen Glückwunsch unvorgezeigt wieder zurück.
Nun will ich heute diesen nicht abgesandten Geburtstagsgruß vom 11.3.1973 nachreichen, weil er sich jetzt retrospektiv erklärt, damals hätte er als Verletzung aufgefaßt werden können. Ich schrieb diesen Gruß während eines Spazierganges von Warnemünde Richtung Stolteraa-Steilküste, also einer echt Arendtschen Umgebung:
Erich Arendt, ich laufe an der Warnemünder Ostseeküste entlang. Sonntag Nachmittag. Osterspaziergangsstimmung, was die Sonne und die Menschen betrifft. Geeigneter Anlaß, an Ihren bevorstehenden 70. Geburtstag zu denken. Die See, der Strand und die Sonne – Synonyme Ihrer Dichtung. Und die Menschen? Einst Ziel und Zwecke Ihrer Arbeit und ihres Lebensverlaufes wo sind sie heute? Sie sind unsichtbar geworden (ein Punkt meines Schweigens, gegenüber so viel Nähe in vergangenen Jahren). Ich bin in einem Alter, da mich diese Frage in all ihrer Gespaltenheit mehr interessiert, als die introvertierte Suche nach einer Metapher, um einer Konkretheit zu entgehen. Daher mein Kopfschütteln über Ihre Sympathie an Stockhausens Sternengang… Da ist mir ihr Albatros-Flug näher!
Warum ziehen Sie sich und auch andere Ihres Alters ins Nebulöse zurück? Warum müssen wir Dreißigjährigen (wie viele sind’s denn noch?) immer nur streiten? Oder glauben Sie im Ernst, daß dieses Allegorie-Dichten und Nur-zu-Hause-äußern irgend einen Sinn hat? Ich frage das voller Interesse, da diese Art zu leben natürlich etwas Verführerisches an sich hat. Warum Ihre Flucht nach innen und mein Drang nach außen? In einer Zeit, da es Verdächtigungen bis an die Existenzgrenze zur Folge hat?
Aber für Sie und andere bin ich das Erfolgssonnenkind in Ost und West, weil Sie den Mut zur Individualität in meiner Altersklasse nicht zu erkennen vermögen. Es ist schade, so allein zu sein, bei so viel Gegenströmung…
Ich grüße Sie herzlich in Ihrem Geburtstagsjahr
als Ihr treuer Freund Tilo.
Schon im Jahr darauf half mir Erich Arendt, die deutsche Übersetzung von Antonio Buero Vallejos PINTURAS NEGRAS zu Ende zu bringen. Er lag im Krankenhaus und konnte meinem Termin für die „SCHWARZEN BILDER – Ein Melodram um Goya für Sprecher, Marimbaphon und elektronische Klänge“, kaum entsprechen. Nach der Uraufführung im Dresdner Galeriekonzert des Senders Stimme der DDR verabschiedete Erich Arendt am 16.12.1974 den Text: wir hatten den Dichter in das von Huchel geerbte Wilhelmshorster Haus gebracht, und dort erfolgte – assistiert von meiner Frau – die endgültige Textfassung, indes ich mit unserer Tochter einen Schneemann baute und das Eis im Goldfischbecken aufschlug, das so durchsichtig wie Glas war. Diese Fassung kam dann am 26. April 1975 anläßlich der Wittener Tage für neue Kammermusik zur westdeutschen Erstaufführung.
Liebenswert ist Erich Arendts unvermindert anhaltende Jugendlichkeit, seine Begeisterung für alles, was noch nicht verfestigt ist, keine Maximen, sondern höchstens Gewohnheiten „auf Zeit“, kein Hang zur Aura, eher ein Untertauchen in die Trends der Jugend bis hin zum Jeansanzug.
Sein Äußeres erinnert an Max Ernst: diese lebendigen Augen, das weiße Haar und diese Erregtheit, ohne auch nur im geringsten nervös zu wirken. Es gibt keine Marotten. Skeptisch wird auf den geschaut, der Erfolg hat. Daß Arendt im Verlaufe seines Lebens selbst Erfolg schichtet, das hat er nie beobachtet, damit hat er nie spekuliert. Erfolg ist ihm so fremd, daß es ihn nun auch nicht stört, wo er eingetreten ist.
Aber immer ging es ihm um die Verbreitung von Dichtung, die ihm wesentlich erschien. Jahre überließ er mir die dreibändige NELLY-SACHS-AUSGABE, weil er wußte, daß ich sie über die Lektüre hinaus nutzen würde. So konnte er sich mit über die KINDERMESSE (Zum Gedenken der im Dritten Reich ermordeten Kinder) freuen, in deren Schlußteile Nelly-Sachs-Texte eingearbeitet sind.
Und als Vicente Aleixandre in diesem Jahr Nobelpreisträger wurde, da konnte man in deutscher Übertragung nur eine einzige Ausgabe von Erich Arendt und seiner Ehefrau Katja Hayek-Arendt aus dem Jahre 1963 nennen! Ich kann diese 15 Jahre nicht beschreiben, ohne gleichzeitig an Katja Hayek zu denken, die parallel mit unserem Jahrhundert altert und an den beschriebenen Arendtschen Eigenschaften den prägenden Anteil hat. Ihr verdanke ich ebensoviel wie ihm, weshalb es mir in der Mitte der sechziger Jahre ungeheuer schwerfiel, das Brot unendlichen Verstehens in dieser Bindung aufgezehrt zu sehen.
Doch ich schweife von Vicente Aleixandre ab, von dem Arendt im Nachwort schrieb:
In Sprache, Formgebung, Metapher und Vision gehört Aleixandre zu den extremsten und fruchtbarsten Erscheinungen der Weltdichtung.
Und auch ich würde Aleixandre – wie so viele Deutsche – nicht gekannt haben, wenn Katja Hayek-Arendt mir damals nicht die Rowohlt-Paperback-Ausgabe geschenkt hätte (die es in der DDR „natürlich“ nicht zu kaufen gab).
Erich Arendt bewohnt einen ehemaligen Laden in dem noch heute mit Mietskasernen überwucherten Prenzlauer Berg. Die eingangs für die Studentin Hannelore Teutsch beschriebene Wohnungssuche wurde zum Wohnsitz auch für ihn, was ich damals nicht übersah. Vor dem Fenster stehen schwatzende Weiber oder lärmende Kinder, dahinter wird gedichtet, übersetzt, werden Freunde empfangen, wird im Autolärm Mittagsschlaf gehalten. Und als Erich Arendt beim 70. Geburtstag vom Staat gefragt wurde, was für „einen“ Wunsch er habe (die Zeit der drei Wünsche liegt schon lange zurück), da hat er geantwortet: „Ich wünsche mir, informiert zu sein!“ Man fragte, was das sei? Arendt: „Die ZEIT, den MERKUR und einiges andere in meinen Briefkasten. Für die Finanzierung sorge ich selbst!“ Was dies bedeutet, das kann nur ein DDR-Bürger ermessen; ich meine zweierlei: diese Zeitungen nicht im Briefkasten zu haben und sich „nur“ dieses vom Staat zu wünschen (bei einer Ladenwohnung, denn Wohnungen werden auch staatlicherseits zugewiesen).
Als sich die DDR-Regierung anmaß, Wolf Biermann nicht wieder in die DDR hineinzulassen, da überraschte denn doch die Anzahl der dagegen Protestierenden. Mein nicht abgesandter Geburtstagsbrief von 1973 war also zu pessimistisch ausgefallen. Was sich aber innerhalb weniger Monate danach ereignete, das konnte ich auch noch nicht am 15. April 1977 übersehen, als ich zu Erich Arendts Geburtstag ging und sagte: „An Ihren 75. Geburtstag werden alle denken, darum ist es mir wichtig, Ihnen bereits zum 74. zu gratulieren!“ Ich ahnte damals nicht, daß wir auf den Tag genau nur noch ein Vierteljahr DDR-Bürger sein würden…
Tilo Medek, 23.12.1977, aus: Gregor Laschen und Manfred Schlösser (Hrsg.): Der zerstückte Traum • Für Erich Arendt, Agoara Verlag, 1978
ERICH ARENDT
Schonungslos
Erblüht und vergilbt,
entblättertes Blümelein
zwischen Stämmen
grusliggrünes Gras
naturfrisch in zartfühlender Hand
hart grabschen rotlackierte
Fingerspitzen
der schläfrige Wind
umweht blutüberströmte
Elefantenhauer
Peter Wawerzinek
Uwe Berger: Zwei Dichter unserer Zeit. Zum 50. Geburtstag von Peter Huchel und Erich Arendt
Aufbau, Heft 4, 1953
Helmut Ullrich: Lobpreis irdischer Schönheit. Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Erich Arendt
Neue Zeit, 13.4.1963
Georg Maurer: Erich Arendt zu seinem 60. Geburtstag
Sonntag, 15.4.1963
Nachgedruckt in: G. M., Essay I. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1968
Günther Deicke: Dichter und Weltfahrer. Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Berliner Zeitung, 16.4.1968
Elke Erb: Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Sonntag Nr. 16, 1968
Günther Deicke: Poetische Sprache unserer Solidarität. Erich Arendt zum 70. Geburtstag
Neues Deutschland, 15.4.1973
Günter Gerstmann: Der geistigen Welt der Väter verpflichtet
Neue Zeit, 15.4.1973
Hinstorff gratuliert seinem Autor Erich Arendt zum 70. Geburtstag
trajekt 7, VEB Hinstorff Verlag, 1973
J(ürgen) Sch(midt): Ein lähmendes Gefühl ist das. Dem Dichter und Übersetzer Erich Arendt, fünfundsiebzig Jahre alt, zu Ehren
Stuttgarter Zeitung, 16.9.1978
Gregor Laschen/Manfred Schlösser (Hg.): Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag
Agora, 1978
H. U.: Kunde von Siegen und Niederlagen durch die Poesie
Neue Zeit, 15.4.1978
Hubert Witt: Der flutharte Traum. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sinn und Form, Heft 2, 1983
Hans Marquardt/Hubert Witt: Himmel und Erde. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sonntag, 17.4.1983
Uta Kolbow: In Raum und Zeit
Berliner Zeitung, 15.4.1988
Uwe Grüning: Erinnerungen an Erich Arendt
Ostragehege, Heft 30, II/2003
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