Erich Arendt: Zeitsaum

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Erich Arendt: Zeitsaum

Arendt-Zeitsaum

TIEFENWÄRTS
das Gewaltige,
Meerblau
steil
ummuschelt.

Erdschwere
unter dir an dir
der magnetische
Kern und
mit stöhnendem Motor
du fliegst
ins formelzerdehnte
Nichts.
aaaaaaaaaaaaaaaAlle Gipfel
aaaaaaaaaaaaaaasind verraten
aaaaaaaaaaaaaaain ihrem Schlaf.
Du
im Wellenwurf die
Asphaltspirale
hinauf.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaVon deinen Rädern
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaam Weg liegt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaPlatons Baum,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagefällt.

 

 

 

Beiträge zu diesem Buch:

Joachim Günther: Über die Schwierigkeiten des DDR-Lyrikers Erich Arendt
Neue Deutsche Hefte, Heft 2, 1980

Anton Krättli: Bruckstücke eines großen Traums. Bücher von und über Erich Arendt
Neue Zürcher Zeitung, 17. 6. 1982

 

Strukturen und Erfahrungen im lyrischen Werk Erich Arendts

Das Lyrische Schaffen von Erich Arendt läßt sich weder eindeutig bewerten noch in irgendeine formalisierte Richtung einordnen. Seine Poesie ist sensuell vital und zugleich intellektuell distanziert, sie ist surrealistisch phantasievoll in ihren Gedankengängen und gleichzeitig zutiefst klassisch in ihrer Gestaltung; schließlich wirkt sie politisch engagiert und bleibt dennoch privat in der Intimsphäre verankert. Das Wesentliche an den Gedichten ist jedoch, daß sie von Anfang bis Ende konsequent und kompromißlos auf der Suche nach der sich stets wandelnden Wahrheit unseres Zeitalters sind. In jeder Phase ihrer Entwicklung spricht die Lyrik von Erich Arendt ihr Mißtrauen gegenüber den vereinfachten Urteilen aus, sie bekämpft sowohl menschenfeindliche Ideologien und Handlungen als auch das falsche Bewußtsein der bürgerlichen Literatur; das letzte tut sie nun schon erfolgreich seit mehr als fünf Jahrzehnten. Zu tragenden Elementen dieser dynamischen Poesie werden vor allem ontologische und ästhetische Widersprüche, die sich im sozialen und politischen Raum abspielen und somit unmittelbar auf das Bewußtsein des Dichters einwirken. Es ist aber keine vordergründige Gelegenheitsdichtung, die dabei entsteht. Arendt verarbeitet seine Erfahrungen und Begegnungen mit der Realität durch Hinwendung zur kulturhistorischen Quelle der angesprochenen Widersprüche und Konflikte. Die Bewältigung zeitgenössischer Probleme hat bei Arendt meistenteils einen kulturgeschichtlichen Hintergrund. In dieser Hinsicht ist dem Dichter die griechische Antike ebenso vertraut und nutzbar wie romanische Kulturen Europas oder präkolumbianische Kulturen der südamerikanischen Indios. Nun ist aber Erich Arendt alles andere als ein ,poeta doctus‘, er hält von den „Bewohnern des Elfenbeinturms“ ebensowenig wie von seinen politischen Gegnern, ihn fasziniert vor allem das Dionysische, das brutale und widerspruchsvolle Leben, in das er eingreifen will und das er mitgestalten oder vielleicht sogar mit seiner Lyrik zu verbessern vermag. Allerdings, er wirkt dabei auch nachdenklich, oft sensibel, immer sehr kultiviert. Während seiner zahlreichen, teils nicht ganz freiwillig unternommenen Reisen, konnte Arendt Bekanntschaft mit Menschen und Kulturen verschiedener Länder und Kontinente machen, er blieb dabei prinzipiell auf alle Fragen seiner Zeit offen, und so ist es eigentlich noch bis heute. Arendt geht mit seinen Gedichten nicht nur wesentliche ontologische Probleme an, er ist auch immer dort, wo Zeitgeschichte zustande kommt. Nicht selten sieht er sich gezwungen, mit ihr einen harten, dennoch konstruktiven Dialog aufzunehmen.
Der 1903 in Neuruppin geborene Erich Arendt war in seiner Jugend in verschiedenen Berufen tätig, er versuchte sich als Zeichner, Bankangestellter, Erzieher und Journalist. Seine ersten poetischen Versuche hatte Herwarth Walden in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Der Sturm abgedruckt. Dem Expressionismusverfechter Walden war es gelungen, um sein Blatt namhafte Lyriker wie August Stramm, Else Lasker-Schüler, Paul Zech, Albert Ehrenstein u.a. zu versammeln, seit den zwanziger Jahren gehörte auch der junge Arendt diesem Kreis an. Die Dichter dieses expressionistischen Kreises strebten eine innere Erneuerung der Dichtkunst an, indem sie großen Wert auf solche Phänomena wie Rhythmus, Wortklang, das autonome poetische Bild usw. legten. Die Theorien Waldens lehnten prinzipiell die gedankliche und sprachliche Logik der traditionellen Dichtung ab und gaben den assoziativen Wortkonstruktionen absoluten Vorrang. Theoretische Konzeptionen und starke künstlerische Persönlichkeiten der „Sturmleute“ haben auch zweifelsohne den jungen Erich Arendt geprägt. Es gab zwar in seinem weiteren Schaffen Phasen, wo er von diesen Einflüssen Abstand zu nehmen versuchte, bald kehrte er aber reifer und lebenserfahrener zu seinem künstlerischen Ursprung zurück. Ein Gedicht aus dem Jahre 1927–1968 erneut gedruckt in AUS FÜNF JAHRZEHNTEN – zeigt, wie eigenartig und bewußt die damaligen Poesien Arendts waren:

VERLASSEN FLEHEN

und schwarzblank übersinken vogelrauschen
hin zum land
die
himmel
voller furchen erden fahl
und blüten schmerzen scharen schatten wurm
hoch

verlassen flehen
halmen ranken
in erdenfrüher stunde
sinkt
ein stein
leis
beten blumenrinden augen
leere blätter
eine nacht
herab.

Gerhard Wolf, ein beachtenswerter Kenner der Arendtschen Lyrik, behauptet in seinem Nachwort zu GEDICHTE (1973) „Auf das Wort gebracht“, daß schon die frühen Gedichte Grundelemente und Hauptansätze des ganzen späteren Schaffens von Arendt enthalten. Die poetischen Texte aus den zwanziger Jahren arbeiten mit Schlüsselworten wie „Nacht“, „Vogel“, „Stein“, „Meer“, „Bucht“, „Sturm“, „Wolken“, es sind also Begriffe, die auch das Spätwerk Arendts entscheidend bestimmen. Anhand dieser Schlüsselworte gelingt es dem Autor, seinen weltanschaulichen Standpunkt in der sich stets verändernden Landschaft von Ereignissen und Lebenserfahrungen festzuhalten. Zwar wird seine persönliche Haltung in den Wirrnissen der Zeit oftmals mit der enttäuschenden Realität konfrontiert, der Dichter fühlt sich ihr aber oftmals ausgeliefert. Im Gegenteil, er versucht mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Realität in Griff zu bekommen. Mit seinen Schlüsselworten chiffriert Arendt aber nicht die äußeren Ereignisse seiner Zeit, sondern deren geistige Signatur. So erscheint dann manchmal die Wirklichkeit seiner Texte ein wenig irreal, der Einfluß von André Breton und seinen surrealistischen Gesinnungsgenossen ist durchaus zumutbar, Arendt kommt es jedoch nicht so sehr auf eine „ästhetische, als vielmehr auf eine gesellschaftliche Revolution an.“ Ähnlich wie Walter Benjamin hielt nämlich Arendt den Surrealismus für eine gewagte Probe der spontanen Befreiung der Kunst vom bürgerlichen Konformismus, wobei beide überzeugt waren, daß künstlerische Freiheit noch lange nicht der gesellschaftlich-sozialen Befreiung gleichzusetzen ist.
Immerhin übernimmt Arendt von den Surrealisten die Assoziationstechnik, die kühne Metapher, die Theorie des poetischen Bildes, und nicht zuletzt auch die ganze innere Dynamik des Gedichtes; diese Merkmale kennzeichnen auch heute noch seine besten Texte. Verworfen hatte der Dichter dagegen das surrealistische-dadaistische Dogma der alogischen und nichtkommunizierenden Sprache. Das Letzte ist sicherlich auf die ideologische und weltanschauliche Entwicklung Arendts zurückzuführen. Die Tatsache, daß Arendt schon in den zwanziger Jahren die politische Funktion der Kunst erkannt hatte, verdankt er seiner Annäherung an die Arbeiterbewegung. Zur gleichen Zeit als Arendts erste Gedichte erscheinen, wird er auch 1926 Mitglied der KPD, und seit 1928 arbeitet er aktiv mit dem von Johannes R. Becher gegründeten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller zusammen. Es war allerdings nicht einfach gewesen, die avantgardistische Poetik Arendts für die Aufgaben der politischen Lyrik zu adaptieren, die überzeugenden Resultate ließen auf sich warten, was zu mancher Verzweiflung und Schaffenskrise führte. Zufolge der nazistischen Machtübernahme in Deutschland begab sich auch Erich Arendt in die Emigration. Es beginnt nun für ihn ein sehr intensiver und erfahrungsreicher Lebensabschnitt. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Schweiz geht Arendt nach Spanien und nimmt dort an der Verteidigung der demokratischen Republik vor dem Faschismus teil. In einem Interview für die Zeitschrift Neue Deutsche Literatur gibt Arendt zu, daß erst der unmittelbare Kampf gegen den Faschismus ihn zu einem entschlossenen politischen Schriftsteller gemacht habe. Aufgrund seiner Erlebnisse in Spanien versucht Arendt sein poetisches Programm umzumodellieren, seine Gedichte werden jetzt sachlicher und konkreter, sie sprechen von Grenzsituationen wie Leiden, Kämpfen und Sterben, ohne expressionistischer Rhetorik, aber immer noch mit dem gewohnten, diesmal jedoch der Situation angemessenen Pathos. Der Kampf gegen den spanischen und gleichzeitig deutschen Faschismus wird nun zum Hauptthema vieler Gedichte aus den Jahren 1938–1945.
Um die Eigenart des spanischen Bürgerkriegs anschaulicher und überzeugender darzustellen, greift der Dichter nicht selten zu alten spanischen Volksmotiven, er bedient sich auch gerne poetischer Mittel, die aus der spanischen Kulturtradition kommen. Arendt sucht Inspirationen bei Góngora, Cervantes, Goya aber auch bei Lorca, Hernández und Alberti. Unter diesen Einflüssen werden seine Gedichte offener, sensueller, zugleich aber auch eindrucksvoller und kompromißloser. Goyas Schrecken des Krieges veranlassen ihn zur Auseinandersetzung mit der gerade erlebten grausamen Gegenwart. Diese „Bürgerkriegstexte“ wirken dennoch nicht hoffnungslos. In den Spanischen Gedichten finden wir Anklage, Zorn, Grausamkeit, Tod und Stolz, es fehlt jedoch Verzweiflung und Resignation. Texte wie „Die Hände“ sprechen von den Händen, die der Faschismus dem Volke abgehackt habe, ein anderes Gedicht „Toter Neger“ schildert den sinnlosen Tod im Kampf um eine falsche Sache, schließlich in „Ein Bauer schreibt aus dem Schützengraben“ betont Arendt, daß der Mensch nicht für den Krieg geschaffen ist, daß er den Kampf nur in äußerster Bedrohung seiner Existenz aufnimmt und auch dann vor allem an seine Familie, seine Arbeit und an seine Zukunft denkt. Dieses Gedicht entstand im Jahre 1938, zu einem Zeitpunkt also, da in der Heimat des Dichters menschenfeindliche Ansichten eines Ernst Jünger und anderer Kriegsbarden ungestört das Volk auf einen nazistischen Weltkrieg vorbereitet haben.
Ein aufmerksamer Leser der Arendtschen Lyrik, Heinz Czechowski, hat in seinem Nachwort zu AUS FÜNF JAHRZEHNTEN (1968) einmal festgestellt, daß in den spanischen Gedichten das poetisch rhetorische ,Ich‘ des Dichters völlig in den Hintergrund rückt, die Texte wirken demnach depersonalisiert, das Private fällt zugunsten des Politischen aus. Eine große Rolle wird dagegen der spanischen Landschaft beigemessen, sie bildet nicht nur den Plan, auf dem der unerbittliche Freiheitskampf ausgetragen wird, sie wird auch teilweise zum Gegenstand dieser Kämpfe. Sehr überzeugend wirkt sich das in solchen Gedichten wie „Brücke in den Pyrenäen“, „Francos Dorf“ oder „Barcelona 1938“ aus, außerdem beweisen diese Schilderungen nochmals die oft von den Kritikern hervorgehobene Bildkraft der Arendtschen Lyrik. Kriegsreminiszenzen und Bilder der spanischen Landschaft bleiben auch den späteren Gedichten Arendts erhalten, allerdings ändert sich dann die Konsistenz und Funktion dieser Elemente, die äußere Landschaft verwandelt sich jedoch erst im Spätwerk in eine innere Landschaft, die dann zum Teil mit der inneren Biographie des Autors gleichzusetzen ist, wir kommen aber darauf noch zu sprechen.
Nach dem Zusammenbruch der Spanischen Revolution begibt sich Arendt vorerst nach Frankreich, um dann später nach Südamerika zu gehen. Seinen Exodus chiffriert der Dichter mit neuen Symbolen und Zeichen. Zum Leitmotiv der Dichtung, die jene Fluchterfahrungen verarbeitet, wird das Meer und die oft ziellose Wanderung. Immer häufiger tauchen in den Gedichten antike Symbole wie Ulysses, Odysseus oder die Amazonen auf. Aus jenen Zeichen entsteht dann mittlerweile ein neues intellektuelles Spannungsfeld der Arendtschen Lyrik. Gleichzeitig greift auch Arendt zu alten, klassischen Formen, er entdeckt die Ballade und macht sich das Sonett zu eigen. Von den zahlreichen Balladen der vierziger Jahre gilt dem Text „Der Albatros“ aus dem Jahre 1941 besondere Beachtung. In dieser Ballade umschreibt der Autor sein Emigrantenschicksal, doch der dort geschilderte Albatros ist kein verzweifeltes Geschöpf, er ist ein Vogel des „Zornes“, der wie ein Pfeil durch den Sturm der Zeit jagt und stets auf dem Wege in die Freiheit ist, somit wird dann der Arendtsche Albatros zum Symbol eines unermüdlichen und unbezwingbaren Freiheitskämpfers. Das Schicksal eines verbannten Freiheitskämpfers widerspiegelt auch das 1950 entstandene Sonett „Ulysses’ weite Fahrt“ aus Band GEDICHTE 1973.

Nicht nur von ungefähr getrieben und verschlagen,
vollendet er die große Fahrt. Zur Sendung nimmt
er Wind und Stillen, ins Unbekannte noch zu tragen
sein Lächeln, wo nur Menschenblut den Tag bestimmt.

Von Schmerz gewölbt, sein Blick an Horizonte rührte,
lebendig wurde da der Fels, der Ödheit Raum!
Sein Mund den wilden Feigenstamm zum Sang verführte,
und Früchte trugen friedvoll Mensch und Nacht und Baum.

Ich aber steig ins Fischerdorf der Balearen
hinab aus todeshartem Graun, wo Priester segnen
den Schuß im Dunkeln, wo der Hände Mut verfällt,

und finde auf den Stirnen wieder Glanz, den klaren
der Unerschrockenheit: Noch tönt der Fels der Welt:
Ulysses’ Lächeln kann ich hier in jedem Mann begegnen!

Der Ulysses von Arendt ist ein Bote der ethischen und ästhetischen Sensibilität, der auf der Suche nach Harmonie und innerer Ruhe, die sich im permanenten Kriegszustand befindende Welt durchquert, sein empfindsames Lächeln gibt aber den Menschen ihre verlorene Hoffnung wieder und verhilft die grausige Zeit zu überleben. Das Ulysses-Sonett enthält, wie kaum ein anderes Gedicht von Arendt, seine persönliche Kunstauffassung: nicht im Zerschlagen und Verneinen offenbart sich die humane Mission der Dichtung, sondern im mühevollen und sensiblen Wiederaufbauen der zertrümmerten menschlichen Hoffnung ist ihr höchstes Ziel angelegt. Diese Auffassung hatte Arendt aber kaum der Lektüre von Ernst Blochs PRINZIP HOFFNUNG zu verdanken. Sie resultiert vielmehr aus seiner Lebenserfahrung, übrigens macht gerade dieses Beispiel evident, wie Erfahrungen zu sinnprägenden Strukturen des lyrischen Schaffens von Arendt werden.
Der Aufenthalt des Dichters in Frankreich, die Begegnungen mit berühmten Kunstwerken und neuen Kunstrichtungen u.a. mit dem Surrealismus, werden zur Inspiration für manches Gedicht in der damaligen, aber auch in der späteren Zeit. Arendt ist von Gestalten wie Rimbaud, Villon, David ergriffen, er schreibt Gedichte auf Tintoretto, Breughel, Rimbaud, Van Gogh und Picasso. Diese Texte sind aber nicht als eine Flucht vor schwierigen Zeitproblemen zu werten. Im Gegenteil, der Dichter sucht und entdeckt in diesen Persönlichkeiten und Kunstwerken vor allem rebellische und revolutionäre Gedanken, sehr deutlich kommt das auch in Gedichten über die Pariser Bastille oder über J.P. Marat zum Vorschein. Zugleich gelangt der Dichter aber zu der Erkenntnis, daß Selbstverwirklichung in der Kunst nur dann sinnvoll ist, wenn sie der Befreiung des Menschen dient. Spanien, Italien und Frankreich sind Etappen einer Bewußtseinsentwicklung, die Arendt begreifen ließen, worin die wirklichen, sozialen und gesellschaftlichen Konflikte des Zeitalters liegen und weshalb sie eine ständige Basis für Auseinandersetzungen der Völker und Künstler bilden, ohne Zweifel ist auch hier der Gedanke an die Befreiung vorrangig.
Die historische Situation in Europa zwingt den kompromißlosen Dichter zur Flucht nach Südamerika, auf der Suche nach einem Asyl hält sich Arendt eine längere Zeit im Urwalddorf Tolú in Kolumbien auf. Er lebt dort sehr intensiv, er ist ergriffen von der Exotik des Landes, ihn faszinieren die Probleme der Menschen eines fast unbekannten Kulturkreises. Zugleich setzt er aber die politische und antifaschistische Tätigkeit fort. In Kolumbien erweitert Arendt auch seine Kenntnisse der lateinamerikanischen Literatur, er liest Mistral, Neruda und Asturias, studiert die Kultur und Sitten der einheimischen Indios. All das gibt ihm neue Perspektiven für sein Lyrisches Schaffen, teils in Amerika, teils nach der Rückkehr entsteht eine seiner eigenartigsten poetischen Leistungen, nämlich der Zyklus TOLÚ.
Tolú ist für den Dichter eine Welt der unverfälschten Leidenschaften, wo der Mensch und Natur eine harmonische Einheit bilden. Arendt ist tief vom Lebensrhythmus dieser Menschen beeindruckt, ihre Sitten und Bräuche, vor allem aber ihr natürlicher Tanz, in dem sich alle Gefühle offenbaren, wird für den europäischen Poeten zum Impuls für neue Dichtungen, zugleich behält er aber im Augenmerk seiner Gedichte die soziale Not der südamerikanischen Indios. Die DDR-Kritiker betonen, was wir bereits schon eingangs angedeutet haben, daß in den TOLÚ-Gedichten eine weitere qualitative Wandlung in der Schilderung der Landschaft eintritt; sie bildet demnach nicht mehr ausschließlich den Hintergrund, sondern übernimmt nun auch eine strukturelle Funktion, indem sie durch äußere Kontraste auf innere, nicht selten auch sozialbezogene Konflikte hinweist.
Kurz, das beschreibende Element fällt zugunsten eines sehr plastisch formulierten Diskurses aus. Eine vollkommene Verinnerlichung der Landschaft erreicht aber Arendt erst im Spätwerk. Sehr überzeugend äußerte sich diesbezüglich der Literaturhistoriker Walter Urbanek:

Wenn Erich Arendt eine Landschaft unter fremden Himmel zum lyrischen Gegenstand macht, wird deutlich, wie weit sich selbst das oft als unzeitgemäß betrachtete Landschaftsgedicht von den Produkten der Traditionalisten unterscheiden kann und an künstlerischer Dichte gewinnt.

Nach Europa kehrte Arendt 1950 an Bord des polnischen Schiffes Sobieski zurück und ließ sich in der DDR nieder. Noch während der Fahrt schreibt er an einem programmatischen Gedicht „Gruß an Europa“, in dem er die Jahre seiner Verbannung kritisch reflektiert und mit Unsicherheit, dennoch optimistisch seiner Zukunft im neuen Deutschland entgegensieht. In der DDR erscheinen dann auch bald seine Emigrationsgedichte: 1951 TRUG DOCH DIE NACHT DEN ALBATROS ein Jahr später die BERGWINDBALLADE und 1956 der Zyklus TOLÚ. In diese Zeit fällt auch Arendts intensive Arbeit an Nachdichtungen. Mit seinen Übersetzungen machte sich Arendt nicht nur um die Dichtung der spanischen Zunge verdient. Seine fast kongenialen Nachdichtungen, z.B. Nerudas, erweitern auch die Horizonte der deutschen Poesie, indem sie für Konfrontationen und Anregungen sorgen. Arendts eigenes poetisches Schaffen steht dagegen vor einer neuen Entwicklungsphase, die ganz im Zeichen der Klassischen Formen der Ode, Elegie und des Hymnus steht.
Es ist nicht verwunderlich, daß Arendt nach vielen Exkursen in die fremdländische Kultur aufs Neue seine eigene literarische Tradition entdeckt. Nicht zufällig greift er auch zu den Meistern der Ode und Elegie, Klopstock oder Hölderlin, er sieht bei ihnen nicht nur das Artistische der Form, ebenso nahe liegt ihm auch das humane Gedankengut dieser aufklärerischen Poeten der Vergangenheit. So wie seine klassischen Vorgänger preist auch Arendt den menschlichen Genius, der sich über die Erdfläche erhebt, um mehr zu sehen und tiefer die Dinge der Welt zu begreifen. All diese Verehrung der menschlichen Leistung wird zum Gegenstand der berühmten Arendtschen FLUG-ODEN. Es ist ein Zyklus von zehn Oden und vier Elegien, in diesen vierzehn Gedichten reflektiert der Dichter seine Überlegungen zum Thema der Kosmologie und Existenz des modernen Menschen. Arendt konzentriert und verifiziert auch zugleich seine persönlichen Lebenserfahrungen, erstmalig stellt er sie aber in einen neuen Kontext, indem er sie mit Mythen und Archetypen konfrontiert. Das Hauptanliegen dieses Zyklus ist die Auseinandersetzung des Menschen mit der ihn umgebenden realen Wirklichkeit und mit dem Kosmos seiner Innerlichkeit. Über das Selbstverständliche des Alltags hinwegsehen, sich über das Unrecht, über das Böse und Unmenschliche der zerstrittenen Welt zu erheben, das ist das utopische Ziel der FLUG-ODEN. In diesen Großgedichten spricht der Dichter Persönlichkeiten aus der Vergangenheit und Gegenwart an, die zu Symbolen des Sieges über den Konformismus ihrer Epoche wurden. Und so wird die „Ode II“ Antoine de Saint-Exupéry, dem Flieger der Anden gewidmet, dem Mann, der seine menschliche Pflicht auf sich nahm, und unter schwierigsten Bedingungen das tat, was er für seine Aufgabe hielt, er besiegte somit seine eigenen Schwächen.

Erde!… erdumspannendes Leben!
rauschender Sturzflug… hinab!
– und die im Leeren dich ansahn,
aus dem Felsigen unten, dem frühen
Antlitz der Welt: denkende Linien,
sie wachsen, Fluten- und Nachtgeschlagene:
Wunden öffnen sich dir…
Dich zu umfangen, schon werfen
laubtiefe Meere Dunkel
schreiende Munde blattlos sich
empor. Auseinanderfahren, tauben-
flatternde Schrecken, die Berge, und,
dem Weltenschatten jäh enttaucht,
hell um deine Stirn ragt
der Firnen Licht: mädchenhafter
Tolima! Silberne Nacktheit
Nevada!

Und löst den Flughelm… oben,
in deren Höhlung
du hinzogst, die Leere wird
Feste: Spiegel und Scheitelpunkt
der erinnernden Dinge.
[…]
Und birgst in deiner Hände Muschel
der ungeborenen Stunden so zerbrechliche
Perle… auf schlummernden Liden
verblassen
die Tiefen der Nacht.

Unter den Widmungen finden wir auch Oden auf Chagall und Picasso, auf jene Künstler also, die den Mut aufbrachten, sich den stereotypen Kunstauffassungen ihrer Gesellschaft entgegenzustellen. Die „IV. Elegie“ rühmt Albert Einstein, in diesem Falle würdigt Arendt einen Mann, dessen Genius und Mut unser Denken entscheidend verändert haben. Schließlich wird die „Ode VI“ den Aufständischen der Warschauer Gettoerhebung aus dem Jahre 1943 gewidmet. Auch diese Freiheitskämpfer, die um ihre menschliche Würde zu retten, einen hoffnungslosen Kampf eingehen, stehen bei Arendt in der Reihe jener, die mit ihrem Handeln der Epoche ein Wahrzeichen setzen.

Wahllos türmen
die Schrecken wieder,
verstümmelten Leibes,
am Horizont.

Und in der Tages-Mitte,
hohl, über Warschau stand
das eiserne Auge.

Da färbten
auf dem Marktplatz sich
die Gebete alt und grau.
Und in der spinnenhaften Dämmerung
um Turm um Dach und Stein
starb auf des Menschen Stirn
das Licht.

Doch aus den Sterbetrümmern,
geschlossen und unvergeßlich, sieh
die Ghettohand:
kämpfende Finger
in Rauch und Stahl,
im nackten Fall des Himmels!

Streu in den Wind
die Asche! Trinke,
Ruhm der Stunde
zum Gedächtnis, der Toten
ungeschmälerten Wein!

Die Oden und Elegien schließen eine pathetisch-existentielle Etappe im Schaffen von Erich Arendt ab. Das Existentielle bleibt zwar neben dem Politischen und Privaten weiterhin ein Grundelement seiner Dichtung, es kommt aber nicht mehr in einer so klaren und eindeutigen Form zur Sprache.
Ende der fünfziger Jahre macht der Dichter eine längere Reise ins südliche Europa, er geht hier in Griechenland, auf Kreta und Zypern den Spuren unserer Kulturtradition nach, und sucht in den alten Mythen eine Bestätigung seines modernen Daseins. Die Fahrt durch das Mittelmeer und die Ägäis wird zum wesentlichsten intellektuellen Abenteuer des lebenserfahrenen Poeten. Arendt kam nach Griechenland als ein völlig geformter und bewußter Dichter, trotzdem erlebt er hier eine tiefe Erschütterung, eine Art poetischer Illumination. Er hat plötzlich Dinge gesehen und Gefühle entdeckt, deren Existenz er bisher nur ahnte, nun kann er sie begreifen und aussprechen. Antike Motive und mythologische Erscheinungen treten zwar schon in den früheren Dichtungen Arendts auf, dort waren sie aber nur als Symbole oder Mittel zur Umschreibung des menschlichen Schicksals gedacht. In dem 1967 erschienenen Gedichtzyklus ÄGÄIS werden diese Mittel thematisiert, sie beweisen die Identität von Stoff, Struktur und Erlebnis in der Dichtung, man sieht in den großartigen Gedichten, wie diese Ebenen ineinandergehen, wie Landschaft, Erfahrung und Kultur verinnerlicht werden, um dann als einheitliche Gedanken- und Formstruktur zum Ausdruck zu kommen. Sinnprägend für die Dichtung war vor allem das Erlebnis der ägäischen Landschaft. Arendt äußerte sich hierzu in dem Bildband von 1966 SÄULE KUBUS GESICHT:

Wie nirgends sonst haben in dieser ältesten Mittelmeerlandschaft Gegenwart und Vergangenheit solch befruchtende Einheit vollzogen; alle Phasen der Geschichte sind in ihrem Raum gleichzeitig da, in einem lebendigen Nebeneinander, und machen ihr Gesetz aus… Der alte Gegensatz Natur-Kultur, hier ist er aufgehoben, hier wurde er zu einem einmaligen, unerhörten Zusammenklang gebracht. In dieser alten, jungen Landschaft erwuchs in einem schweren Prozeß voller Gefahr, Tragik, Scheitern und endlosem Mühen ein Gelingen, ein Maß für das Leben, die Dinge und das Handeln, das ganz des Menschen ist. Alles ursprünglich Wilde, Elementare, triebhaft Dunkle schmolz ganz mit einer menschlich hellen Geistigkeit.

Arendts Fahrt durch die Ägäis ist zugleich eine Reise in Raum und Zeit, wobei die letzte Struktur unbestimmbar bleibt, indem sie ferne Vergangenheit und jüngste Gegenwart miteinander verknüpft.

ORPHISCHE BUCHT

Meergerandet, groß
um den Felsen, stet
und stet, das weiße Auge
blickt. Die fühlbare Ferne.
Die Haut. – Möglich
alles: Im
Schnittpunkt, weither, der Sekunde
eine Welle von Eisen.
Knirscht.

Wurzelstumm
dein Tag, rede, Berg,
Eulenflucht aus der Zeit
an deiner Stirn.
aaaaaaaaaaaaaDie sah
im Neigen der Felsen
meergetrieben
das Haupt.
Singen.

Berg, seit
der Zerrissene schrie,
du zähltest
die Todesenge,
aaaaaaaaaaaaFurcht.

Die Topographie der Ägäisgedichte ist zwar konkret erfaßbar, dennoch bezieht sie sich oftmals auf Landschaften und Ereignisse, die weit in der Vergangenheit liegen und doch gegenwärtig sind. „Steine von Chios“, „Kolonna auf Samos“, „Delos“, „Troja“, „Oia auf Thira“ zeichnen nur einige Etappen der Arendtschen Wanderung durch Raum, Zeit und Kultur auf.
Man könnte manchmal mit dem Gedanken spielen, daß diese sonderbaren Wanderungen des Dichters eine Flucht vor aktuellen Problemen der Gegenwart bedeuten. Manche vermuten sogar, daß Arendt sich vom politisch engagierten Dichter zum zeitlosen Ästhetiker „entwickelt“ hat, dem jedes unmittelbare eingreifen in die politische Wirklichkeit fremd ist. Auf dergleichen Spekulationen antwortete Arendt folgenderweise:

In den neuen Gedichten… da wird Landschaftliches zu Politischem und Existentiellem. Oder es ist, wie in „Famagusta“, die Spannung zwischen Türken und Griechen dargestellt in einem historisch-gesellschaftlichen Prozeß – aber immer aus dem Erlebnis des Geschauten, des mit Schrecken Gesehenen. Es geht nicht darum, mit Hilfe poetischer Mittel irgend etwas zu verschlüsseln oder zu verschleiern wie manchmal vermutet, keineswegs, sondern es geht mir darum, meinen adäquaten poetischen Ausdruck zu finden für alles, was zu lyrischer Aussage zwingt – auch für Diffiziles. Dabei, und das möchte ich hier anfügen, erhebt sich die Frage, ob ich über heutige politische Ereignisse schreiben würde. Ja, doch nur, sofern ich sie direkt erlebe wie im spanischen Krieg. Allein auf Zeitungsnotizen hin kann ich kein Gedicht schreiben.

Wie politisch aktuell Arendts Dichtungen sind, beweisen auch seine kühnen und polemischen Texte aus den sechziger und den siebziger Jahren. Unbewältigte Vergangenheit – „Nach dem Prozeß Sokrates“, „Marina Zwetajewa“ – aber auch unmittelbare Gegenwart werden vom Dichter angesprochen und verarbeitet. Aus dem Grunderlebnis eines Polenaufenthaltes im August 1968 entsteht das Gedicht „Łeba“, dessen Gedankengänge weit weg von Polen abstreifen.

Mit toten Glocken
auch hier!
Läuten, es
läutet und –
aaaaaaaaaadas Ohr lauscht:
aaaaaaaaaakein Staubmund-
aaaaaaaaaaGesang
aaaaaaaaaanur tiefer im

Sand-
Innen
aaaadie mahlenden
aaaaKetten,
aaaablindrollend
aaaaTürme.

Nachts träumt
im Hof
mit zugewachsenem Lid
die Angst:
aaaaaaaaStirnblut-gezeichnet
aaaaaaaadie Herde:
aaaaaaaahält den Fliehenden nicht:

Hirt!
Erschlagen die
Stadt! In den
Straßen das Irr-
Amputierte. Ihr
Heiligen auf der Brücke
gesteinigt von Licht.

aaaaaaaaaaaaaaaaaWir standen…

Nun,
in Zellen-
Engnis, gekreuzigt,
Kein Atem
im Stein.
Wo denn ist
Wahrheit! Zu Boden die
Flugschwinge:
federgeschleißt.

Prüf mit den Zähnen
den Silberling:
Der Tag
erwartet sein Urteil.

Du gehst,
im Arm kein Hoffen, hinab
zum Fluß:
aaaaaaaaWir standen…
aaaaaaaaFahne
aaaaaaaader Haut wir…

Verscharrt ist
das hell-
sichtige Wort:
Libussa.

Man sieht an diesem Beispiel, wie eine private Ferienerfahrung plötzlich zur dringenden politischen Angelegenheit wird, die dazu auch noch eine historische Dimension annimmt.
Erich Arendt gehört in die Reihe derjenigen Poeten, die wie Gottfried Benn, Ivan Goll oder der Pole Jaroslaw Iwaszkiewicz, den Gipfel ihrer künstlerischen Möglichkeiten erst im hohen Alter erreichen. Dies bezeugen auch die neuesten Gedichtbücher Arendts FEUERHALM (1973) und MEMENTO UND BILD (1976/77). In den Spätgedichten, die zugleich das Beste sind, was die DDR-Lyrik in den letzten Jahren überhaupt zu bieten hat, ist eigentlich alles vollkommen, meisterhaft reduzierte Gedanken, die mit einem Wort die Kompliziertheit der Dinge erschließen, der unverfälschte Ton, die berühmte Bildkraft, all das ist adäquat und bis ins Kleinste durchdacht. Zugleich bleibt Arendt wie immer für neue Tendenzen und Probleme offen. Er studiert die Poetik von Paul Celan und versucht so manche Celansche Assoziation weiterzudenken, bleibt aber dennoch souverän und eigenständig. Es wird augenscheinlich bei der Lektüre solcher Gedichte wie „Prager Judenfriedhof“, „Niezurück“ oder „Königsblau“.

KÖNIGSBLAU
aaaaaaaameerstrich-
aaaaaaaaverstählt.

Und dann
auf sonnheißem Stein
der Leib,
und in dir
die Gärten in dir
Ulme und Lichtpunkt
ein Gruß:
aaaaaaaadas gräserne Zart
aaaaaaaader Morgen,

Oft, ja, die Schwermutgröße
der Wasser! ein
unentwegtes Allein, tief
im Labyrinth
deines Auges und auf-
rauschen die Todesbäume
des Mittags.

Noch nicht das Entufern! das
randlose Meer!

aaaaaaaaGlashell:
aaaaaaaadie felsige Freude!

Im Zerlegen und Wiederneuaufbauen von Sprachstrukturen, eröffnen sich nun für den erfahrenen Meister klassischer Formen neue Möglichkeiten, die sich keineswegs ausschließlich auf Ausdrucksmittel beziehen, es sind eben neue Probleme, die man einfach anders angehen muß. Die Architektur des Gedichtes erinnert nun wieder an Arendts Sturmversuche, die Wortreihen werden lang und der deskriptive Satz aus der Emigrationszeit verschrumpft oft zur abstrakten Metapher. Trotzdem gibt es in der Arendtschen Lyrik Dinge, die unverändert bleiben, sie betreffen nicht so sehr das Äußere, als vielmehr das Innere dieser Dichtung, es ist in erster Linie das konsequente progressive Weltbild, weiter die dynamische Geschichtsauffassung, schließlich auch das Festhalten an Freiheitsidealen in jeder politischen Situation. Diese Komponente, die gewissermaßen die Identität von Leben und Dichten bei Arendt bestimmt, erreicht ganz besonders im Spätwerk eine starke persönliche Prägung. In Texten wie „Niobe“, „Feuerhalm“, „Etrurien“, „Erkanntest“, „Hafenviertel“ reflektiert der Autor noch einmal seine Erfahrungswelt, ganz auf die Gegenwart eingestellt entziffert er in mythologischen, historischen und künstlerischen Ereignissen einen Teil seines Daseins, das über Generationen hinaus, das Bewußtsein der Epoche mitbeeinflußt. Gedichte von Zwetajewa, Halas, graphische Gebilde von Carlfriedrich Claus, Skulpturen von Wieland Förster erwecken beim späten Arendt eine Sehnsucht nach jener Kunst, die durch ihre harmonische Einfachheit die Weltentfremdung moderner Menschen überwindet. Sein eigenes lyrisches Schaffen bewältigt politische, gesellschaftliche und ästhetische Entfremdungen mit einer Intensität, die ihn ebenso glaubhaft macht wie sein persönliches mutiges Engagement. Politische, gesellschaftliche, private und ästhetische Erfahrungen werden deshalb zu heteronomen Strukturen der gesamten Arendtschen Dichtung, die nie, nicht einmal in den schwierigsten Tagen des geistigen und politischen Terrors ihre Identität aufs Spiel setzen.

Stefan H. Kaszynksi, aus: Gregor Laschen und Manfred Schlösser (Hrsg.): Der zerstückte Traum • Für Erich Arendt, Agora Verlag, 1978

2.2 Sinn und Form 

2.2.1 Neuanfänge
Peter Huchel wird im Anschluß an seine Kriegsgefangenschaft durch die sowjetische Besatzung beauftragt, eine Hörspielabteilung beim Rundfunk einzurichten. Er scheint dazu geeignet, da er zwischen 1934 und 1941 seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Hörspielen bestritt und da er außerdem bereits bei der Literarischen Welt Redaktionserfahrung sammeln konnte.51 Er wird als Dramaturg und Lektor 1945 eingestellt:

Huchel startete eine neue Karriere beim Rundfunk. Erstens, weil er sich aktiv beim kulturellen Neuaufbau Deutschlands einsetzen wollte, zweitens, weil er keine andere Wahl hatte: er hatte keine Entlassungspapiere [aus der Kriegsgefangenschaft, S. W.] bekommen.2 

Wegweisend wird für ihn die Begegnung mit Becher. Huchel interviewt ihn für den Rundfunk über die Tagung des PEN-Clubs in Kopenhagen.3 Bei einer anderen Gelegenheit fällt er Becher positiv auf, als er anläßlich einer Lesung Bechers überraschend eine kurze Rede improvisieren muß.4 Becher wirbt Huchel für den Posten des Chefredakteurs einer zu gründenden Zeitschrift „Maß und Wert“, die schließlich den Namen Sinn und Form erhalten wird. Uwe Schoor hat die Jahre, in denen Sinn und Form unter der Chefredaktion Huchels erschien, ausführlich dargestellt.5 Im Dezember 1948 erscheint das erste Heft, angetreten mit dem Anspruch „die repräsentative literarische Umschau – nicht nur für die Ostzone – sondern für ganz Deutschland zu werden.“6 Ein hochgestecktes Ziel, das in den Jahren, in denen Huchel Chefredakteur war, allerdings wohl erfüllt wurde.
In dem Gespräch mit Johannes R. Becher, das Peter Huchel anläßlich der Tagung des PEN-Clubs in Kopenhagen 1948 führt, sind sich beide einig, welch negative Wirkung die Abschirmung der deutschen Literatur hatte und hat. Huchel bilanziert:

Wie sehr unsere Literatur unter der geistigen Isolierung gelitten hat, wie sehr dieses Abgeschnittensein von der Welt eine ungünstige Atmosphäre erzeugte für jedes geistige Schaffen, das bedarf keiner Erwähnung. […] Denn ohne eine internationale Fühlungsnahme muß unsere nationale Literatur verkümmern.7

Um Sinn und Form tatsächlich zu einem Forum des Gesprächs zwischen den Literaturen zu machen, muß Huchel Mitarbeiter heranziehen, die Kenntnis und Welterfahrung einbringen.
Am 26. Juni 1950 stellt Peter Huchel einen freien Mitarbeiter „[i]n seiner Eigenschaft als bedeutender Autor und als Übersetzer aus dem Spanischen und Französischen“8 ein – es ist Erich Arendt, der erst im Januar des gleichen Jahres New York verlassen hat. Suzanne Tolivier führt an, daß die Arendts erst im Sommer 1950 die DDR erreichen.9 Zu der Vereinbarung über Arendts Mitarbeit muß es also bereits kurz nach dessen Ankunft gekommen sein. Monica Huchel vermutet, daß sie über den Kulturbund zustande kam.10 Ob Arendts Tätigkeit für Sinn und Form vielleicht schon aus dem Exil vorbereitet wurde, ist unwahrscheinlich. Dies erscheint mir auch insofern fraglich, als sich Arendt erst nach seiner Rückkehr in die DDR entschied, als literarischer Übersetzer zu arbeiten. Bemerkenswert ist, daß Huchel ihn auch als Übersetzer aus dem Französischen einstellt. Von Arendt sind keine Übersetzungen aus dem Französischen zu diesem Zeitpunkt bekannt und auch in den fünfziger Jahren wird er ausschließlich aus dem Spanischen übersetzen.
Ihr Exil hatte Erich Arendt und seine Frau Katja Hayek-Arendt zuerst über die Schweiz nach Spanien (Mallorca) geführt. Nach der Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg als Frontberichterstatter und Organisator einer „Fliegenden Bücherei“, flieht Arendt nach Frankreich, wo er schließlich interniert wird, aber flüchten kann. Die Rettung ist ein Visum nach Kolumbien. Nach der Überfahrt wird er wegen seiner Teilnahme am Bürgerkrieg zeitweise in Curacao und Trinidad interniert, bevor er mit seiner Frau nach Kolumbien weiterreisen darf, wo er die politische Arbeit wieder aufnimmt. Diese Jahre sind bereits mehrmals ausführlich dargestellt worden, sowohl was die politischen Aktivitäten als auch die eher alltagspraktischen Strategien, wie die berühmte Gründung einer Pralinenproduktion, anbelangt.11
Zwar hat Arendt zum Zeitpunkt seiner Bestätigung als freier Mitarbeiter von Sinn und Form noch keinen eigenständigen Gedichtband publiziert, doch liegen die Manuskripte seiner Exil-Lyrik schon in den Verlagen. 1951 wird bei Rütten und Loening Trug doch die Nacht den Albatros erscheinen, ein Jahr später bei Dietz Bergwindballade. Gedichte des spanischen Freiheitskampfes. Während des Exils wurde er mit einem Friedenspreis der „Internationalen Literatur“, Moskau, die zeitweise von Johannes R. Becher redigiert wurde, ausgezeichnet.12 Im Winter 1948 erscheint Huchels erster Gedichtband Gedichte. 1951 wird Huchel mit dem Nationalpreis III. Klasse ausgezeichnet.
Susanne Tolivier macht darauf aufmerksam, daß es Huchel ist, der Arendt in Sinn und Form eine erste Publikationsmöglichkeit in der DDR gibt.13 Noch 1950 erscheinen die Gedichte „Karibische Nacht“, „Indiogötter“, „Vergänglicher Tag“ und „Trinklied im Heft“.14 Parallel dazu publiziert Arendt auch in der Weltbühne, dort allerdings nur essayistische Beiträge.
Peter Huchels Verdienst um das Werk Arendts in dieser frühen Phase nach dem Exil ist wohl größer, als bislang angenommen wurde: Aus einer Bemerkung in einem Brief einige Jahre später geht hervor, daß Huchel es war, der sich beim Aufbau-Verlag und Rütten und Loening für die Veröffentlichung von Arendts Gedichten stark gemacht hat.15 Bei Rütten und Loening erscheint dann wie bereits angeführt 1951 Trug doch die Nacht den Albatros. Uwe Grüning, der mit beiden Dichtern befreundet war, schreibt hierzu in einem Brief an den Verfasser:

Huchel der Redakteur sah sehr wohl Arendts Begabung und förderte sie, war stolz, auch Arendt entdeckt zu haben.16

Huchel widmet ihm und seiner Frau ein Exemplar seines ersten Gedichtbandes „Für Katja und Erich Arendt mit den herzlichsten Gedanken! Peter Huchel Wilhelmshorst, im August 50“.17
Arendt ist bis zur Ablösung Huchels als Chefredakteur insgesamt fünfmal mit eigenen Gedichten in Sinn und Form vertreten. Derart häufig publizieren ansonsten nur Huchel selbst, Becher und Brecht, die eine Sonderstellung einnehmen und deren Tod in die Zeit von Huchels Chefredaktion fällt, sowie Bobrowski und vielleicht Hermlin. Arendts Präsenz in Sinn und Form wurde bislang wahrscheinlich auch deswegen unterschätzt, weil in den Personalbibliographien zu Arendt merkwürdigerweise nicht alle Veröffentlichungen von Übersetzungen in der Zeitschrift aufgeführt werden. Erich Arendt ist insgesamt mit 15 Übersetzungs-Konvoluten im Heft vertreten. Die übersetzten Texte stammen von 11 Autoren. (Dabei dominieren deutlich Nicolás Guillén, Rafael Alberti und Pablo Neruda.) Bis auf zwei Ausnahmen, nämlich Albertis Drama Kriegsnacht im Pradomuseum und Zalameas Der große Burundún-Burundá ist tot, handelt es sich bei allen Texten um Gedichte.18 Um die Bedeutung der Übersetzungsarbeiten von Arendt auch quantitativ einschätzen zu können, ist es hilfreich zu wissen, daß der Umfang der Übersetzungen mehr als 150 Heftseiten beträgt. 

2.2.2 Ohne Publikum und Einkommen
Der Beginn der Zusammenarbeit scheint sich nicht einfach zu gestalten, wie sich dem ersten erhaltenen Brief Arendts an Huchel vom 17.10.1950 entnehmen läßt. Da der Brief Zeugnis gibt von Arendts Enttäuschung und von seiner Wahrnehmung des Literaturbetriebs beziehungsweise der gesellschaftlichen Realität, die ihn nach seiner Rückkehr aus dem Exil erwartet, sei er im Folgenden ausführlich zitiert: 

Lieber Peter Huchel:
auch Sie wollen meinen Kummer mehren – ich weiss, Sie sind im Schachspiel nur der Bauer, auf den ich gesetzt habe, wie immer, der zwischen windigen Läufern, wiehernden Springern, unmenschlich harten, klobigen Türmen schwer das Feld halten kann. Aber trotzdem, mehr hätte ich schon erwartet! Vor allem da ich, den faulen Lauf der Welt ahnend, Ihnen sagte: Wenn es unmöglich meine Gedichte UND den Neruda zugleich zu bringen, diesen für eine spätere Zeit zurückzustellen. Erinnern Sie sich? Nun bin ich bereits ein halbes nasses, kaltes, menschenarmes Jahr hier, noch kräht kein Hahn nach mir, da ich noch nicht gekräht, und der Bauer hält dem Hahn die Kehle zu. Dieses Mal rückte wenigstens ein anderer Bauer, der sich auf Hirse versteht, ins Feld. Hoffentlich ist es das nächste Mal nicht der king oder sein reitender Bote oder weiss der Teufel wer. Das wäre schlimm! Und die Spaniengedichte hätten so gut einen achtungsgebietenden Wind gebraucht
[…]19

Erich Arendt ist dem Publikum und wahrscheinlich auch vielen im Literaturbetrieb der DDR als Dichter nicht präsent. Seine Publikationen vor einem Vierteljahrhundert im Sturm führten zu keinem eigenständigen Gedichtband und sind wahrscheinlich vergessen. Die Publikationen aus der Exilzeit, die er ja fernab der Zentren der Exilliteratur verbrachte, sind nur verstreut zugänglich.
Hier zeigt sich ein Problem, mit dem Arendt Zeit seines Schaffens zu kämpfen hatte: Nicht primär als Übersetzer wahrgenommen zu werden, sondern als Dichter. Zugrunde liegt Arendts Klage, daß im 5. Heft des Jahrgangs 1950 zwar umfangreiche Übersetzungen von Pablo Neruda erscheinen, jedoch keine Gedichte von Arendt selbst.20 Daher tritt er in der DDR zuerst als Übersetzer und nicht als Dichter in Erscheinung.

Dieses Mal rückte wenigstens ein anderer Bauer, der sich auf Hirse versteht, ins Feld.21

Dieser andere Bauer ist Bertolt Brecht. Von ihm nimmt Huchel nämlich in das angesprochene Heft einen Text auf, der ihn als ausgesprochenen Hirse-Kenner ausweist, „Tschaganak Bersijew oder Die Erziehung der Hirse“.
Aber auch Arendts Formulierung „Sie sind im Schachspiel nur der Bauer“ scheint einiges von zukünftiger Entwicklung zu enthalten; andererseits hat Huchel zu diesem Zeitpunkt noch große Freiheiten, wie er den Kurs des Heftes bestimmt. Arendts Enttäuschung und ihr Ausmaß wird verständlicher, wenn man weiß, daß er schon seit 1946 intensiv versucht, Gedichte (mittels Alexander Abusch) in der SBZ und dann in der DDR zu veröffentlichen.22
Am 23.12.1950 schickt Arendt eine Überarbeitung des Gedichts „Dürre“ sowie Änderungen zu „Karibische Nacht“. Huchel druckt daraufhin vier Gedichte Arendts, worunter sich „Dürre“ allerdings nicht befindet. Diese Vorpublikation ist dann endlich die erste Lyrikveröffentlichung Arendts in der DDR.23
Übrigens arbeitet nicht nur Erich, sondern auch Katja Hayek-Arendt, abgesehen von ihrer beständigen Teilhabe am Übersetzungswerk ihres Mannes, 1950/51 als Übersetzerin für Sinn und Form. Im gleichen Heft wie die Neruda-Übertragung erscheint eine Prosa-Übertragung von André Stil, später dann noch eine von Louis Aragon.24
Die Arendts haben zu Beginn der fünfziger Jahre mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Statt der von Huchel taxierten 450,- Mark Einnahmen allein durch Aufträge von Sinn und Form monatlich, verdient Arendt nur ca. 300,- insgesamt und kann daher finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen. Er bittet Huchel um Hilfe. Dieser reagiert ausgesprochen praktisch und schlägt den Arendts ernsthaft vor, doch ein „intimes Literatencafé“ in der Künstlerkolonie Grünau zu eröffnen, was bei deren Talenten doch kein Problem sei.25 Was Peter Huchel wahrscheinlich nicht weiß, ist, daß Katja Hayek-Arendt und Erich Arendt in Barcelona tatsächlich schon einmal ein Restaurant eröffnet hatten.26 Am Tage der Eröffnung brachte sich allerdings ihre Geschäftspartnerin um, so daß beide mittellos das Restaurant nicht betreiben konnten, sondern vom Verkauf des Inventars leben mußten.27 Eine Reaktion auf Huchels Vorschlag ist nicht erhalten.
Auf die Initiative von Johannes R. Becher erging 1945 der „Ruf an die deutschen Emigranten“. In der Folgezeit entwickelt sich das „geistige Deutschland“ zum Staatsgründungsmythos der DDR.28 An Paul Merker schreibt er aus dem Exil:

Wir freuen uns so sehr, daß unsere Arbeitskraft gebraucht wird; denn nach so langem Brachliegen der wesentlichen Fähigkeiten, die der hiesige Existenzkampf drosselte, wird das Leben in Berlin trotz der Schwierigkeiten, von denen wir sehr gut wissen, sie wieder einsetzen; und das Leben wird einen Sinn haben29

Arendt erinnert sich an seine Erwartungen an den neuen Staat:

Wenn ich im Osten bin, dann trete ich in den Traum real ein, den ich als politischer Mensch geträumt habe.30

Neben dem Aufbau einer antifaschistischen-demokratischen Ordnung ist es die neue Rolle und Wertschätzung des Intellektuellen und Künstlers, die die DDR und insbesondere Berlin zum Anziehungspunkt macht. Arendt kommt in die DDR und glaubt eine „neue[] enthusiastische[] Generation, die Horizonte errichtet“,31 vorzufinden. Statt dessen wird ihm nahegelegt, den Dichterberuf nicht als Broterwerb auszuüben, sondern sich auf das Übersetzen zu verlegen. Dieser Rat stammt von Leo Zuckermann, dem Sekretär Piecks, den Arendt aus Paris kannte.

Ihr müßt in die Übersetzung hinein gehen, Übersetzer verdienen hier enormes Geld. Ich zuckte innerlich zusammen, als dieses das Argument war, was man machen sollte.32

Erich Arendt fehlen der Platz und die Anerkennung als Dichter in der neuen Gesellschaft. Er will sich an die Behörden mit der Bitte wenden, „einmal grundsätzlich die Situation des Dichters in der Republik zu überprüfen und an entsprechender Stelle zur Sprache zu bringen.“33 Bei Becher beklagt er sich: 

Lieber Hannes […] P.S.: Bei dieser Gelegenheit möchte ich Dich fragen, ob Du einmal nachforschen lassen kannst, weshalb ich zu keiner, Dir gewidmeten Veranstaltungen [sic] geladen wurde, noch überhaupt geladen werde, wenn wichtige Kongresse, Veranstaltungen sind, die für mich als Schriftsteller von Interesse sind?34 

Zwar wird Arendt in den folgenden Jahren noch nicht in die Akademie aufgenommen, zumindest findet er aber Anschluß an den Literaturbetrieb und erste Anerkennung: 1952 erhält er (neben zum Beispiel Victor Klemperer) den Nationalpreis III. Klasse, der seine finanziellen Schwierigkeiten gemildert haben dürfte. 1953 wird er Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR. Vermuten darf man aber, daß der Mythos vom „geistigen Deutschland“ bei Arendt gründlich destruiert wird: Als Dichter ist kein Auskommen möglich, so nimmt er (zwangsweise) die empfohlene Rolle des Übersetzers ein. Aber noch nicht einmal dieser Kompromiß erweist sich als tragfähig. Hinzu kommen politische Bedenken gegen den antifaschistischen Staat und seine Funktionäre, mit denen Huchel und Arendt konkrete Konfrontationen erleben. Darüber wird in einem späteren Abschnitt noch zu sprechen sein. 

2.2.3 Der Redakteur und sein Autor (1)
Wie der Briefwechsel zwischen Huchel und Arendt zeigt, unterzieht Huchel Arendts Texte einer strengen und kritischen Prüfung; keineswegs besitzt dieser – abgesehen von den Übersetzungsarbeiten – als ständiger Mitarbeiter ein (quasi selbstverständliches) Recht auf Veröffentlichungen. So führt Arendts folgendes Gedicht, das er ein Jahr später zur Publikation einreicht, „Gruß an Europa“ zu einer harschen Kritik Huchels: 

Hoffentlich nehmen Sie mir meine Worte nicht übel, ich sehe eine große Gefahr für Ihr Schaffen, wenn Sie es sich so leicht machen wie bei dem Europa Gedicht. Ich kann schlecht an dieser Arbeit herumstreichen, mit Einzelheiten ist es da gar nicht getan, ich finde das Gedicht viel zu lang, es ist immer auf höchste Tonart gestimmt, es ist nicht durchkomponiert. Weniger wäre hier mehr, ein alter Fehler von Ihnen, über den wir schon oft gesprochen haben.35

Huchels Kritik verwirft das derzeitige Schaffen Arendts; er bemängelt darüber hinaus die Anhäufung von schmückenden Wörtern und die bedenkliche Nähe zu anderen Lyrikern, schließlich „die Zeilen leben oft nur noch vom Handwerk.“ Huchels Kritik an Arendt geht hier weit über das hinaus, was sich ein Redakteur gegenüber seinem Autor wohl gewöhnlich erlaubt. Das legt nahe, daß sich Huchel in dieser Zeit tatsächlich als Förderer und kritischer Begleiter des Werks von Arendt sieht. Aus Huchels Brief geht auch hervor, daß dieser häufiger mit Arendt über dessen Werk und vermeintliche Schwachstellen spricht. Hinsichtlich des Gedichts „Gruß an Europa“ hat Arendt sogar ausdrücklich um Umarbeitungsvorschläge gebeten:

Am besten mit Streichungen, Unterstreichungen, Bemerkungen, Vorschlägen […] Lieber Peter: schreiben Sie aber um Himmels willen dieses Mal wirklich oder lassen Sie schreiben! Fahren Sie mit der Klaue des Königstigers hinein in meinen „Gruss an Europa“! Der Dschungelpanther wird Ihnen Dank wissen!36

Arendt nimmt den Text trotz der prinzipiellen Kritik Huchels in seinen Gedichtband Bergwindballade auf, allerdings kürzt er ihn in späteren Ausgaben stark. 

GRUSS AN EUROPA
(An Bord des „Sobieski“) 

I
Eisharter Schrei der Möwen,
grausam wie immer,
hat an die tragische Helle
dieser Küsten gerührt. So,
über Felsöden und Buchten
verführte jeder kommende Tag
die Morgenwolke Tod
zu bitterem Lächeln: Vor
durchlöcherter Wand, die Augen
bindenlos, die Freunde standen
aufrecht im Wind aus spitzem Blei.
[…]

Wie Feuer und Erde
Stern und Luft groß sind
und nottun den Wäldern, dem
stilleren Wachsen von Erz
und Fels, so ist
dem Menschen sein Name geworden,
der Sicherheit gibt, Frieden dem
sich neigenden Korn, wenn
überm Erdhorizont
die eiserne Braue des Todes blickt.

[…]37

Da eine Vorpublikation aus diesem Band zeitlich nicht mehr möglich scheint, schickt Huchel am 5.11.1951 eingesandte Gedichte zurück und hofft auf einen Beitrag im nächsten Jahr, zu dem es aber auch nicht kommt. Erst 1954 druckt er wieder zwei Gedichte von Arendt.38 Auf den Übersetzer Arendt will Huchel allerdings nicht verzichten: 1950/51 ist Arendt mit Übersetzungen von Guillén, Alberti und Neruda im Heft vertreten. Im Heft 2 (1951) bekommt er die Gelegenheit, gleich 7 verschiedene Lateinamerikanische Autoren in Übersetzungen vorzustellen.39 Für die Jahre 1950 und 1951 liegen zehn Briefe zwischen Arendt und Huchel vor.40 Mit Huchels vorläufiger Absage der Publikation der Gedichte aus der Bergwindballade am 5.11.1951 reißt dieser Briefwechsel jäh ab. Bis 1955 ist Arendt dann nur noch einmal mit Übersetzungen im Heft vertreten, und zwar im 4. Heft 1952, in dem Gedichte von Pablo Neruda erscheinen. In einem kurzen Gruß am 21.11.1953 lobt Huchel die Neruda-Übersetzung des Canto General von Arendt, der im gleichen Jahr erscheint:

Lieber Erich Arendt, ich erhielt heute Pablo Nerudas Canto General und möchte nicht versäumen, Ihnen für die grossartige schöpferische Leistung, die Sie mit dieser Übertragung vollbracht haben, meinen Dank, ja meine Bewunderung auszusprechen.41

Arendts Übersetzungen erscheinen in dieser Zeit allerdings in den Heften des Aufbau. Arendt wird aber nicht etwa bei Sinn und Form als Übersetzer abgelöst. In der Periode, in der er nichts liefert, ist die lateinamerikanische Lyrik nicht vertreten.
Auf Huchels fundamentale Kritik an Arendts eigenen Arbeiten ist keine Reaktion Arendts erhalten. Inwieweit man also von einer echten Verstimmung im Verhältnis beider sprechen kann, ist unklar. Arendts Mitarbeit nimmt auf jeden Fall deutlich ab. 1952 ist er nur einmal im Heft präsent, 1953 überhaupt nicht. 1954 publiziert Huchel wieder zwei Gedichte von Arendt.42 Anläßlich dieser Publikation liegen keine Briefe vor. Peter Huchel und Erich Arendt reisen im Juni 1954 zur Tagung des PEN-Clubs nach Amsterdam. Die Delegation der DDR wird des weiteren von Arnold Zweig, Bertolt Brecht, Hans Mayer, Jan Petersen und Erwin Strittmatter gebildet.43 1955 bedauert Arendt es, daß er wohl dieses Jahr nicht zur PEN-Tagung nach Wien fahren könne/dürfe.44
Im Mai des gleichen Jahres hat Arendt nach dem Besuch einer Vorstellung im Friedrichstadt-Palast eine rückblickend überaus interessante Begegnung. Er macht die Bekanntschaft eines Nachwuchsautors, der sich bei ihm nach Publikationsmöglichkeiten erkundigen möchte. Arendt verweist ihn an Huchel und Sinn und Form. Der nicht mehr ganz junge Nachwuchsautor ist Johannes Bobrowski.45

2.2.4 Realität und Utopie

Die Geschichte meiner Generation ist die Geschichte vom Aufstieg und Verfall einer Idee, die sich als Utopie herausstellte. Der Traum von der klassenlosen Gesellschaft, der uns junge Menschen im Denken und Handeln bewegte, wurde in dem Maße zu einem Alptraum, in dem die Wirklichkeit des Kommunismus nicht mehr mit seiner Idee übereinstimmte.46

– so bilanziert Hans Sahl rückblickend. Sowohl für Huchel, als auch für Arendt, liegt die Abkehr vom Kommunismus in den fünfziger Jahren. Huchel, der bis dahin Sinn und Form relativ frei von äußeren Eingriffen leiten konnte, druckt im ersten Heft des Jahrgangs 1952 Brechts Verteidigung von Barlachs Werk:

Also wurde ich zu Becher zitiert, der mich beschimpfte.47

Huchels Entscheidungsfreiheit wird eingeschränkt, er muß Becher nun bei umstrittenen Artikeln um Druckgenehmigung bitten.48 Die folgende Entwicklung kann nur kurz skizziert werden.49 An Jahnn schreibt Huchel am 26.3.1952: 

[…] Dazu kommt, daß ich seit der Übernahme der Zeitschrift durch die Deutsche Akademie der Künste nicht mehr die volle Aktionsfreiheit besitze, die ich vorher hatte. Besonders in letzter Zeit habe ich […] manches einstecken müssen, und es ist nicht immer leicht, die Zeitschrift auf der gewohnten Höhe zu halten. Ich blicke oft mit Schmerz auf die ersten beiden Jahrgänge zurück. Ich hoffe aber, daß eine endgültige Aussprache mit Becher manches klären wird.50

Huchels Situation spitzt sich zu, als er einen Beitrag anläßlich des Todes von Erich Weinert aufnimmt, in dem Marcel Reich-Ranicki Becher indirekt angreift. Reich-Ranicki, der noch unter Marceli Ranicki schreibt, trifft Becher empfindlich:

Zum Unterschied von Becher oder Brecht, Toller oder Wolf hat Weinert es nämlich verstanden, sich der Versuchung des Expressionismus zu widersetzen, der in den ersten Nachkriegsjahren so fatal auf die damals entstehende deutsche revolutionäre Dichtung einwirkte […]51

Hinzu kommt die Formalismus-Debatte, die sich an die Oper Johann Faustus von Hanns Eisler knüpft, von der Huchel Teile ins Heft nimmt. Huchel wird gekündigt, kann dann durch die Intervention Brechts doch Chefredakteur bleiben, muß aber jeden Beitrag vom Präsidium der Akademie gegenzeichnen lassen.
Diese Auseinandersetzung fällt in die Zeit nach der geschilderten Distanzierung Arendts von Sinn und Form, inwieweit Arendt sie also wahrnahm oder Anteil nahm, ist nicht zu rekonstruieren.
Die Mühen der Ebenen führen bei beiden noch nicht zur Destruktion der gesellschaftlichen Utopie. Huchel bereist mitten in dieser Auseinandersetzung die Sowjetunion. Im Anschluß an diese Reise erscheint 1955 das Gedicht „Moskau“:52

MOSKAU –
Gedanken bei der Maidemonstration
1953 auf dem Roten Platz 

Wie die Sonne die steinerne Scheibe des Monds überschimmert,
der Nacht noch spendend Wärme und Glanz, so schimmert, Moskau,
dein Licht im Antlitz geknechteter Völker, die nicht mehr willig
beugen den Nacken ins rissige Joch.

Unverwundbar ist dein Bild in der Hoffnung der Völker.
Wer will Dich brennen? wer schleifen die Mauern?
Wer will die Morgenröte löschen mit einem Eimer Wasser?
Deine Feinde streichen wie Füchse im Gras.

Aus deinen alten Toren, Moskau, schreitet der junge Tag.53 

Erich Arendt scheut sich nicht, in seinen Gedichtband Bergwindballade (1952) den Stalin gewidmeten Zyklus „Wir haben im Rücken einen Freund“, der anläßlich des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution zuerst in Internationale Literatur erschien, wieder aufzunehmen. Huchels Reaktion in Sinn und Form auf Stalins Tod, läßt wenig von einer kritischen Beobachtung sehen: 

Stalin hat seine Gedanken verwirklicht und damit den Anbruch einer neuen Epoche: der Mensch, frei von Hunger und Ausbeutung, wird endlich sichtbar. Das ist sein Vermächtnis, das bis in die fernsten Tage Zeugnis ablegen wird für die Größe seines Gewissens, für die Größe seines Genies.54

Im Erich Arendt-Archiv der Akademie der Künste befinden sich drei politische Aufrufe von Arendt aus dieser Zeit, die seine politische Überzeugung veranschaulichen. Einige Schlüsselpassagen aus einem Aufruf zur Solidaritätsbekundung mit der Sowjetunion zeigen, daß die Einschätzung der tagespolitischen Lage in erster Linie aus dem Geist des Antifaschismus entspringt, den die Sowjetunion für sich beanspruchen kann: 

Heute, nach kurzem Atemholen der Welt, wächst die Gefahr der Barbarei und des Krieges erneut, man schickt sich an im Dienst des Dollars die Erde einzuäschern.

Denn die Völker wissen, sie haben es erfahren, dieses Land [die Sowjetunion, S. W.] wacht, ist die entscheidende Balvarte des Friedens, und das Leben der Völker ist ihr heilig wie das eigene.

Und aus jedem auf ihm [dem 20. Parteitag der KPdSU, S. W.] geäußerten Wort gehen Sicherheit und Kraft und Fürsorge aus, nicht nur für den Bürger des Sowjetlandes, sondern für alle.55

Bereits der folgende Parteitag der KPdSU, insbesondere Chruschtschows Geheimprotokoll wird zeigen, welcher Art diese Fürsorge war. Noch scheint die Konstellation zwischen den beiden deutschen Staaten für Arendt eindeutig, wie aus seinem Aufruf gegen „das Kriegsgesetz des Generalvertrages“56 zu ersehen ist:

Westdeutsche Freunde […] 

Ich spreche zu Ihnen als ein zutiefst Besorgter, als ein deutscher Dichter, der vor nicht langer Zeit in seine Heimat zurückkehrte und bei Ihnen, meine Freunde, die gleichen gewissenlosen Mächte erneut das Unheil vorbereiten fand wie vor zwei Jahrzehnten überall im deutschen Land.

[D]ie Stunde ist so ernst, wie sie schon einmal war: 1932.57

Andererseits hatten sowohl Arendt als auch Huchel – siehe oben – ihre Erfahrungen mit der SED gemacht. Bei Huchel reichen diese bis in die Rundfunk-Zeit zurück:

Die Zusammenarbeit mit den sowjetischen Offizieren war nicht immer einfach, aber alles in einem doch recht kollegial, was aber aufhörte als ausgesprochene SED-Funktionäre mehr und mehr […] ins Geschäft kamen […] Ich wurde kaltgestellt.58

Erich Arendt erlebte die erste Desillusionierung gleich nach der Rückkehr: 

Es brauchte eine Zeit, bis ich mich gefangen hatte. Nämlich, der Zusammenprall mit kleinen Ereignissen, die mich an die Vergangenheit des Nazismus erinnerten. Worte von Jungen mit Blauhemden […] politischen Jungs und Jünglingen anstelle mit Braunhemden, die aber das gleiche sagten; zum Beispiel nur: vor einem Kunstgewerbeladen Unter den Linden, da war das Nachtcafé von Van Gogh ausgestellt, eine Reproduktion und noch ein anderes Bild von ihm, da sagten sie, das ist ja alles Formalismus, das muß man vernichten, das darf man hier doch nicht ausstellen! Solche kleinen Ereignisse hatten mich erstmal in Verwirrung gebracht und in eine Beobachtungssituation.59

Als Erich Arendt in die DDR kommt, muß er feststellen, daß Weggefährten, die parteipolitisch aktiver waren als er und denen er viel zu verdanken hat, allmählich Opfer von Schauprozessen werden.60
Arendts Kontakte zu Artur London und Noël Field wurden bislang vernachlässigt: Nach der Niederlage der Internationalen Brigaden (März 1939) flieht Erich Arendt mit seiner frisch operierten Frau Katja aus Spanien. Die späte Flucht wird möglich durch die Hilfe Artur Londons, der eine Ambulanz zur Verfügung stellt.61 In Frankreich angekommen, nimmt sich Herta Field, die Frau von Noël Field, der Kranken an. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten schließt sich ihr dann Artur London wieder an. Noël Field bringt Katja und Erich Arendt zu einem Unterschlupf, von wo sie nach Paris weiter fliehen. Auch dort besteht Kontakt zu Noël Field und zu seiner Hilfsorganisation (Unitarier-Komitee). Möglicherweise arbeitet Arendt dort sogar mit und lebt von der Unterstützung, die er dort bekommt.62 Anna Seghers und Noël Field helfen ihnen, nach Marseille zu reisen.63 Von dort aus gehen sie nach Bilbao und schiffen sich nach Südamerika ein. Arendt gehörte also nicht zum Kreis um Field oder London, hatte aber beiden viel zu verdanken, da es sich ja um eine lebensbedrohende Situation handelte. Im Exil steht Arendt in Kontakt mit Paul Merker, der hilft, eine antifaschistische Organisation aufzubauen.
Noël Field, amerikanischer Staatsbürger, ehemaliger Diplomat und ein Jahr älter als Erich Arendt wird in den Jahren 1949 bis 1952 zur Schlüsselfigur, an der die Kommunistische Partei ihre Schauprozesse aufhängt. Wie schon aus den Begegnungen mit Arendt hervorgeht, arbeitete Field vor allem in der Betreuung von Flüchtlingen. Erst in Spanien, dann in Frankreich und schließlich in der Schweiz. Finanziell wurde er von der amerikanischen Regierung unterstützt. Ihm wurde vorgeworfen, daß er Kommunisten für den amerikanischen Geheimdienst anwerben wollte. Er und seine Frau wurden gefoltert und bis 1954 inhaftiert. Zahlreiche seiner Freunde und Bekannten wurden beschuldigt, mit ihm und dem amerikanischen Geheimdienst gemeinsame Sache gemacht zu haben. Vor allem in Ungarn und Bulgarien kam es zu Schauprozessen.
Artur London wurde im Slánský-Prozeß mitangeklagt. Arendt wird noch bevor er die DDR erreicht mit diesem Teil der parteikommunistischen Wirklichkeit konfrontiert. Aus Kolumbien kommend, endet seine Schiffsreise in Genua. Von dort reist er nach Prag: 

In Prag versuchte ich, Artur London anzurufen. Ich hörte dann nur, er war stellvertretender Außenminister geworden. Und da hieß es, eine Frauenstimme sagte, Herr London sei nicht hier. Es ist genau das gewesen, wie ich auch zu Paul Merker nachher in Berlin nicht rangekommen bin. Es waren schon, das wußte man ja nicht, die Vorbereitungen des Slánský-Prozesses im Gange.64

Arendt versucht noch mehrmals Kontakt mit Paul Merker zu bekommen. Merker war auch seine Ansprechperson bei der Vorbereitung der Rückkehr aus Kolumbien. 

Ein großer Schnitt, ein Messerschnitt durch meinen ideellen Traum, geschah mit den Prager Prozessen. Da tauchte der, den ich sehr gut kannte und als treuen Genossen erlebt hatte, Noël Field ständig auf. Und ich wußte bevor Chruschtschow gesprochen hat bereits wieviel Lüge, wieviel Verbrechen in diesen Prager Prozessen waren […] Ich wußte, daß Artur London, der einer der saubersten, ganz sich einsetzenden Kommunisten gewesen ist, der den Rückzug der Brigaden als letzter in Spanien gedeckt hat im Schnee, mit einem Maschinengewehr, daß das kein Verräter war, sondern daß der Prozeß in Prag der Verrat war an der Idee des Sozialismus. Und diese Dinge, die in anderen Ländern parallel liefen, haben mich von der Realität des Landes, in dem ich nun lebte, entfernt.65

Artur London widmet Arendt 1968 den lyrischen Prosatext „Hafenviertel II“. Er trägt am Ende die Widmung „Für Gérard“. Arendt entschlüsselt diesen Vornamen als den Decknamen für Artur London in Spanien.66 So deutlich wie kaum ein anderer Text dieser Jahre der DDR-Literatur verurteilt „Hafenviertel II“ die stalinistischen Schauprozesse und Umtriebe: 

Aschenleiber dann kranzlos… der kam, sich zu opfern bereit, zu leben, doch anderer knöcherner Macht dereinst Opfer, ein verleumdeter Engel, er kam hier zu Noël, spätrer Verleumdung Gefährte, als hätte Leiden Vernunft unter der Gleichung LÜGE MACHT.67

Wie die Archive der Staatssicherheit gezeigt haben, waren auch in der DDR solche Prozesse geplant.68 Zu ihnen kam es nicht, sehr wohl aber zu einem Geheimprozeß gegen Paul Merker. Dieser wurde 1950 aus dem Zentralkomitee und der Partei ausgeschlossen und im Dezember 1952 als imperialistischer Agent verhaftet. Ihm wurde der Kontakt zu Field vorgeworfen, sowie (im Geheimprozeß) sein Eintreten für jüdische Belange. 1955 wurde er zu weiteren acht Jahren Gefängnis verurteilt. Im Frühjahr 1956 erfolgte dann die Freilassung aus der Haft, jedoch keine Rehabilitierung.
Die Prozesse dienten dazu, theoretische und praktische Alternativen zum Kurs der Partei und der jeweiligen Parteiführungen auszuschalten. Dazu gehörte auch, daß sich die Akteure gegenseitig belasteten. So denunzierte Anna Seghers, die ja für Arendt eine wichtige Rolle zusammen mit Field auf der Flucht spielte, Paul Merker mit „dubiosen Aussagen“ als Field-Agent.69 Arendt greift diese Prozesse, beziehungsweise später dann allgemeiner den Komplex Macht/Lüge wiederholt auf. Dabei benutzt er Kennzeichen der Kassiberliteratur. So ändert er 1980 den Titel „Nach dem Prozeß Sokrates“, der den aufmerksamen Leser stutzig hätte machen müssen, da das Geschilderte nicht mit dem Sokrates-Stoff übereinstimmt, in „Nach den Prozessen“ um: 

[…]
aaaaaaaaaDie da
handeln, an Tischen,
mit deiner Hinfälligkeit,
allwissenden Ohrs,
ledernen
Herzens ihr Gott, sie
haben das Wort:

aaaaaaaaaWorte,
gedreht und
gedroschen: Hülsen
gedroschen, der
zusammengekehrte Rest.

Gehend im Kreis
der erschoßnen Gedanken

[…]
70

Arendt selbst spielt in der Partei keine derartige Rolle, als daß er selbst bedroht wäre (andererseits hatte er in Unkenntnis der politischen Lage ausgerechnet Norden, Merker und London als politische Gewährsmänner beim Antrag zum Eintritt in die SED angegeben).71 Gerade durch die Distanz zur Parteiorganisation ist er zum „unsicheren Patron“ geworden. Er wird nach seiner Rückkehr verpflichtet, für zwei Jahre die Grundorganisation zu besuchen, um seine ideologische Zweifelsfreiheit zu garantieren.72 Arendt meldet sich tatsächlich nach den zwei Jahren wieder, nimmt das Parteibuch aber schließlich nicht mehr an.73

2.2.5 Der Redakteur und sein Autor (2)
Arendts dritte und vierte Publikation in Sinn und Form führt im Vorfeld wieder zu Unstimmigkeiten mit Peter Huchel. Erich Arendt erwartete die Publikation einiger seiner Gedichte im ersten Heft 1956. Angekündigt waren zwei „Flug-Gedichte“74 (eine Elegie und eine Ode aus dem Zyklus „Flugoden“), außerdem ging Arendt davon aus, daß ein Liebesgedicht (vermutlich: „Über Asche und Zeit“), das Huchel schon knapp ein Jahr vorlag,75 in diesem Heft publiziert wird. Interessanterweise ist es Katja Hayek-Arendt, die sich schriftlich, und ohne Arendts Wissen, bei Huchel über das Ausbleiben der Veröffentlichung beschwert.76 (Dies könnte wiederum auf das Liebesgedicht „Über Asche und Zeit“ hindeuten, da es ihr gewidmet ist. Zudem war Katja Hayek-Arendt an den Übersetzungen Arendts, auch ohne daß sie im Impressum aufgeführt wurde, stark beteiligt. Die ausbleibende Veröffentlichung und Honorierung von Jorge Zalameas „Der große Burundún-Burundá ist tot“ ist dementsprechend ebenfalls ein Grund für Unstimmigkeiten in dem Brief.)77
Huchel antwortet nicht Katja Hayek-Arendt sondern Erich Arendt („Aber wohin […] käme ich, wenn die Frauen sämtlicher Autoren ihr Klagelied über redaktionelle Vorgänge anstimmten […]“)78 Wie schon 1951 andere Texte, hält er nun das Liebesgedicht für noch nicht publikationsfähig: 

Öffnen wir nun auch die letzte harte Nuß: es ist das Liebesgedicht, über das wir immer einmal sprechen wollten, weil darin noch Sprach- und Bildüberlagerungen sind. Sie haben mir eine neue Fassung geschickt; die Arbeit ist also noch im Fluß. Ich möchte nicht behaupten, daß sie an diesem langen Gedicht acht Jahre arbeiten sollten, wie es einmal Baudelaire an einem kleinen Gedicht getan hat, – aber warum drängen Sie auf Veröffentlichung einer Arbeit, mit der Sie selbst offensichtlich noch nicht ganz einverstanden sind? Auch hier – ich muß es Ihnen sagen, lieber Arendt, – lasse ich mich von rein freundschaftlichen Gefühlen leiten. Was mich anbelangt, so war ich stets in meinem Leben für eine fruchtbare Kritik dankbar. Und was bringt es ihnen letzten Endes ein, wenn ich einen nicht ganz ausgereiften Arendt veröffentliche!79

Als Huchel 1951 zum ersten Mal die Publikation bestimmter Gedichte Arendts ablehnte, in kritischer Verbundenheit, aber bestimmt, war Arendt in der DDR noch vollkommen unbekannt, bedrängt von Existenzsorgen, sowohl finanzieller Art, aber auch in Hinsicht auf seine Zukunft als Künstler. Jetzt steht er in seinem 53. Lebensjahr, ist Nationalpreisträger und anerkannter Übersetzer. Fünf Bücher hat er veröffentlicht und publiziert regelmäßig in Neue deutsche Literatur, ist also auf Sinn und Form als Publikationsort eigener Gedichte nicht unbedingt angewiesen. Gerade auf diesem Hintergrund ist seine Reaktion beeindruckend und wohl auch typisch für ihn. Er sucht den Dialog mit Huchel: 

Sie wissen, dass ich, fast schüchtern, fragte, wann nun nach fast einem Jahr das Liebesgedicht erschiene, da Sie es auch für Heft I versprachen, nur müssten wir uns […] noch einmal wegen einiger Stilfragen zusammen hinsetzen. Ich selber begrüßte Ihre freundschaftliche Bereitschaft zu einer Kritik. […] Auch heute besteht, nach wie vor, der Wunsch, Ihre Kritik fruchtbar zu gestalten, und das geht allerdings nur am Gedicht selber. Vergleichten Sie die verschiedenen Fassungen des Liebesgedichts, so würden Sie, oft an der gleichen Stelle, geringere Änderungen finden. Da würde ein Hinweis von Ihrer Seite gewiss entschieden weiterhelfen können. Sie verstehen die Schwierigkeit, sich von diesem oder jenem Bild zu trennen, da kann nur ein sachliches Gespräch eingreifen. Ich hoffe, Sie werden in nächster Zeit […] dafür einmal Zeit finden!80

Tatsächlich veröffentlicht Huchel im vierten Heft des Jahrgangs „Über Asche und Zeit“. Huchels Kritik ist aus seiner Perspektive als ein Ringen um beständige Qualität anzusehen. Für die Wertschätzung des Werks Arendts zeugt, daß er, als ehemaliger Preisträger, 1956 Erich Arendt und Johannes Bobrowski für den Fontane Preis vorschlägt.81
Leider sind alle Manuskripte, die Anlage der Korrespondenz waren, nicht mehr bei den Briefen auffindbar. Daher läßt sich der Einfluß von Huchels Kritik nur indirekt aus den Briefstellen andeuten.
Arendts bisherige Reaktionen auf Huchels Einwände gegen gewisse gestalterische Eigenarten zeigen, daß Arendt bereit ist, seine Texte, auch auf die Kritik hin, zu verändern. Ein Beispiel für eine derartige Überarbeitung, läßt sich aus den beiden Briefen ermitteln. Huchel schreibt Arendt, daß er bereit sei, die „beiden Flug-Gedichte zu bringen, obwohl mich jetzt der ,Eisenkern‘ genauso stört wie damals die ,sensenden‘ Neger; die beiden Gedichte sind für Heft 3 [1956, S. W.] vorgesehen.“82 Tatsächlich aber werden zwei Gedichte aus den Flugoden erst im 6. Heft 1957 publiziert. Dabei handelt es sich um die „VI. Ode“ und die „IV. Elegie“. Arendt hatte Huchel jedoch „eine Ode (Nachtflug)“83 zur Publikation zukommen lassen, dieser wollte aber aus dem ganzen Konvolut wählen. Bei der erwähnten Ode handelt es sich um die „III. Ode“. Auf sie könnte sich auch Huchels Kritik am Bild des Eisenkerns beziehen, das in der 5. Strophe dieser Ode, allerdings nicht wörtlich, vorkommt. Arendt ist hier vielleicht auf die Kritik Huchels eingegangen, denn statt „Eisenkern“ heißt es

[…]
wie die heillose Schwärze
abwärts getrieben
des Stollens, wo am eisernen Erdkern
der Schatten eines Mannes gräbt
[…]84

Huchels Kritik am „Eisenkern“ könnte mit der Bildkomposition zusammenhängen. Stringenter scheint mir aber eine andere Vermutung: Huchel selbst benutzt das gleiche Bild nämlich schon 1952 in „Chronik. Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“, die in Sinn und Form veröffentlicht wurde.85 Dort heißt es in der ersten Strophe: 

Und heulend riß im wankenden Turm
Und Quadern schleudernd das Gemäuer,
Als berste des Erdballs Eisenkern.
O Stadt in Feuer!86

Arendts Konzept des poetischen Dialogs schließt Motti, Widmungen und Intertextualitäten ein. Sein, sich immer wieder verjüngendes Werk, das ja zugleich von großer Selbstreferenz und großer Inkohärenz gezeichnet ist, gibt davon Zeugnis. Huchel hingegen versucht den Abstand, insbesondere zu lebenden Lyrikern, ostentativ zu wahren. Uwe Grüning berichtet daher von einer Konfrontation zwischen beiden, die vielleicht auf poetologischer Differenz beruht. Huchel, „der in Fragen des geistigen Eigentums außerordentlich streng dachte, [fürchtete, S. W.] unveröffentlichte Texte anderen zu zeigen. Er erzählte mir, wie Arendt einmal eine Wendung von ihm übernommen, sie auf seine Intervention dann gestrichen habe:

Seitdem zeige ich niemanden mehr ungedruckte Texte.87

Bei dieser „Wendung“ kann es sich aber nicht um den „Eisenkern“ gehandelt haben, da Huchel „Chronik“ bereits veröffentlicht hatte. Norbert Randow berichtet von einem ähnlichen Mißtrauen bei der Lyrikerin Jutta Petzold,88 die Arendt keine Texte mehr vorlesen wolle, da sie ebenfalls Angst um ihr geistiges Eigentum habe.89 Arendt waren solche Vorstellungen wohl befremdlich.
Die Publikation der erwähnten Gedichte hat sich wahrscheinlich durch die rasche Aufnahme des umfangreicheren „Über Asche und Zeit“ verzögert. Daß Arendt und/oder Huchel sich dann doch für eine andere Ode entscheiden, kann mit den Entwicklungen in Ungarn zu tun haben. Arendt schreibt an Huchel am 10.7.1956, daß die Flugoden schnell erscheinen müßten, um neben der literarischen Wirkung auch eine politische zu haben.90 Im Zusammenhang mit der Niederschlagung der antistalinistischen Entwicklung des Kommunismus in Ungarn, die für viele linke Intellektuelle den Bruch mit dem Parteikommunismus bedeutete, läßt sich die „VI. Ode“ durchaus auch lesen: 

[…]
Wahllos türmen
die Schrecken wieder,
verstümmelten Leibes,
am Horizont.

[…]
Da färbten
auf dem Marktplatz sich
die Gebete alt und grau.
Und in der spinnenhaften Dämmerung
um Turm um Dach um Stein
starb auf des Menschen Stirn
das Licht
.91

Auch diese zweite Unstimmigkeit hinsichtlich von Veröffentlichungen zeigt eine gewisse Kontinuität in der Zusammenarbeit der beiden. Arendt selbst äußert sich in den Briefen nirgends über die Veröffentlichungen Huchels. Und nachdem Peter Huchel nicht mehr Erich Arendts Chefredakteur ist, beschränken sich seine Reaktionen auf das Werk des anderen auf diplomatische Hinweise „Jedenfalls seine Gedichte im letzten Jahresring sind SEHR schön.“92

2.2.6 (Gescheiterte) Projekte
Die Zusammenarbeit von Huchel und Arendt scheint sich auf das Verhältnis des Redakteurs zu einem, besonders verbundenen, Autor und Übersetzer zu beschränken. Arendt flicht in seine Briefe immer wieder Schilderungen seiner privaten Situation ein. Huchel dagegen ist in seinen Briefen immer sachbezogen. An Persönlichem wird zugelassen, was im Zusammenhang mit der Arbeit steht, häufig ist von Krankheiten, die die Strapazen und Ärgernisse in der Redaktion begleiten, die Rede. Auch persönliche Begegnungen scheinen eher die Ausnahme zu sein (Arendt befindet sich in diesen Jahren oft monatelang auf Hiddensee, um dort zu übersetzen). Daher wundert es nicht, wenn abgesehen von der Zusammenarbeit bei Sinn und Form, keine gemeinsamen Projekte und Unternehmungen nachweisbar sind.
Aus dem Briefwechsel ist der Werdegang einiger durchgeführter und gescheiterter Vorhaben für Sinn und Form abzulesen. Dies ist auch insofern nicht ohne Bedeutung, da es eine Einschätzung erlaubt, welche Projekte Arendt als Auftragsarbeit durchführt und welche er selbst, aufgrund besonderer Wertschätzung oder sogar poetologischer Nähe, vorschlägt. Die Veröffentlichungen von Pablo Neruda und Rafael Alberti sind Vorabpublikationen der von den Arendts besorgten Ausgaben bei Volk und Welt sowie Insel (Leipzig). Arendt entscheidet selbst, welche Texte er für geeignet hält und schickt sie Huchel, der eine Auswahl trifft.93
Die erste Übersetzung, die Arendt einzig für Sinn und Form anfertigt, ist Zalameas „Burundún-Burundá“. Diese wir zum Dauerthema in den Briefen zwischen dem Herbst 1955 bis zum Frühjahr 1957. Charlotte Narr, Huchels Sekretärin fordert diesen namens Huchel am 26.9.55 auf, Zalamea zu übertragen. Inwieweit Arendt den Autor vorgeschlagen hat, ist unklar. Zumindest hat er nicht an eine Publikation für Sinn und Form dabei gedacht: 

Sie wissen von meiner Krankheit und dass dieser leidige Zalamea mich sechs Wochen Arbeit gekostet hat […] Übrigens drängt Zalamea und fragt an, was mit der Veröffentlichung ist und wie er zu seinen Rechten (Geld) kommen könnte. Was soll ich ihm berichten? Auf dem Kongress hatte er so gut wie sicher die Gewissheit, sein Burundun käme in Sinn und Form heraus und damals, durch die dringliche Intervention Hermlins, schien auch Ihnen eine schnelle Veröffentlichung ratsam. Ich machte bereits meine Bedenken geltend.94

Huchel nimmt die Zalamea-Übertragung kurz darauf ins 2. Heft 1956 auf.95 Die Auseinandersetzung um diese Übersetzung soll aber noch ein ganzes Jahr dauern. Dabei geht es um die Honorierung der Übersetzung. (Statt der von Arendt eingeforderten 75,- Mark pro Druckseite kann Huchel aufgrund von Sparmaßnahmen nur 15,- zahlen.) Diese für Arendt (und sicherlich auch für den Chefredakteur Huchel) unbefriedigende finanzielle Situation ist möglicherweise auch der Grund, daß er nur noch eine weitere „exklusive“ Übersetzung für die Zeitschrift durchführt.96
Dabei geht es um ein Werk Albertis, das ausdrücklich für die Publikation in Sinn und Form übersetzt wurde und zudem auch Arendts einzige Übersetzung eines Bühnenstückes ist: Albertis Einakter Kriegsnacht im Pradomuseum. Aber auch bei diesem geht die Initiierung mit auf Arendt zurück und – auf Brecht. Huchel schreibt mahnend an Arendt:

Besonders Brecht legt sehr großes Gewicht darauf, daß der Einakter Albertis in Sinn und Form, wie es auch von Ihnen vorgeschlagen wurde, erscheint.97

Das Exposé der Übersetzung geht dann auch nicht an Huchel sondern direkt an Brecht, mit dem Arendt die Übersetzung für Mai 1956 vereinbart.98 Brecht war von Hermlin auf das Stück aufmerksam gemacht worden, da dieser eine Ergänzung zu Die Gewehre der Frau Carrar suchte, um ein abendfüllendes Programm zu haben. Hermlin habe das Manuskript auch an Arendt gegeben.99 Gedruckt wird das Drama erst ein Jahr später im 4. Heft 1957.100
Einige geplante Übersetzungen werden nicht durchgeführt, beziehungsweise abgebrochen. Huchel läßt Arendt im Februar 1951 zwei Manuskripte von Romm und Casanova zur Begutachtung zukommen. Den Beitrag von Casanova empfiehlt Arendt nicht zu veröffentlichen, da er zu sehr auf der Linie der französischen kommunistischen Partei sei. Alexander Romms Artikel über El Greco und die Aufgaben der Kunst, befürwortet er.101 Allerdings will nicht er, sondern Katja Hayek-Arendt den Beitrag übersetzen. Im März 1951 fordert Huchel die Übersetzung möglichst schnell an. Zu einer Publikation kommt es aber in Sinn und Form nicht.102
In einem Brief vom 18.2.1951 teilt Arendt Huchel mit, daß er Gállegos Buch Canaima teils für Sinn und Form übersetzt habe.103 Aber auch diese Übersetzung ist nie erschienen.
Zu den gescheiterten Projekten Arendts für Sinn und Form gehört ein Beitrag zum Tode Johannes R. Bechers. Wie bereits an einigen Briefstellen verdeutlicht, scheint Arendts Verbundenheit mit Becher bis zu dessen Tode gedauert zu haben. Allerdings war es die Verbundenheit eines freien Geistes, der Auseinandersetzungen mit Becher in seiner Position als freier Übersetzer und Autor wohl kaum zu führen hatte. Arendt hat zwar keine Prosawerke geschrieben, als Essayist schuf er, meist in Form von Nachworten aber bemerkenswerte Dichterporträts. Bei Becher glückt ihm das nicht:

Lieber Peter:
Ich bin am Ende. Ganze fünf Tage der vorigen Woche sass ich über dem Becher-Beitrag. Und die Nächte waren auch nur noch mit Gedanken daran erfüllt. Und als dann alles fertig war, gefiel es mir überhaupt nicht und ich liess es sein, etwas neues zu beginnen, was das gleiche Schicksal haben würde! Ich kann eben so nicht schreiben. Wenn in meiner Verbundenheit mit Becher einmal ein oder das andere Gedicht hervorgeht, gut und schön. Und es wird auch sein. Es tut mir leid, Deinetwegen aber auch um die schöne Zeit, die unnütz vertan wurde von mir, da ich wie immer tief in anderen Arbeiten stecke
.104

2.2.7 Reise nach Nessebar
Arendt fordert Huchel schon seit ihrer ersten Bekanntschaft 1950 in Briefen immer wieder auf, gemeinsam mit ihnen zu reisen, zu kuren, doch nach Hiddensee in Urlaub zu kommen… Huchel reagiert in den Briefen auf diese Einladungen nicht. Ein weiterer Hinweis, daß Arendt es war, der in diesen Jahren privat ein engeres Verhältnis suchte.
Privater wird das Verhältnis wahrscheinlich ab Mitte der fünfziger Jahre. Insbesondere Katja Hayek-Arendt und Monica Huchel verstehen sich gut, Erich Arendt wird als gebildeter und angenehmer Gesprächspartner geschätzt. Monica Huchel meint, daß man sich schon bald häufig sogar wöchentlich traf.105 Ab 1956 duzen sich Huchel und Arendt in den Briefen. Eine gemeinsame Reise kommt dann schließlich doch, wenn auch unter bedrückenden Bedingungen zustande. Im Herbst 1961 planen Peter Huchel und seine Frau Monica eine Reise nach Sizilien.106
Durch den Mauerbau wird diese Reise unmöglich gemacht. Katja und Erich Arendt wollten eigentlich zur gleichen Zeit nach Paris. Beide Ehepaare entscheiden sich, den Urlaub gemeinsam in Nessebar (Bulgarien) zu verbringen. Postkarten an Johannes Bobrowski und Ludvík Kundera zeugen von diesen Wochen:

Huchel u. seine Monica, die auch hier sind, retteten uns an dieses Meer […]107

Lieber Bobrowski, auf dem Weg nach Sizilien traf ich in der Karawanserei Nessebar Arendts, die nach Paris reisten. Auch im alten Thrakien reifen die Feigen und schreien die Esel. Herzlichst Ihr Peter Huchel Ihre Monica Huchel 

Liebe Freunde: frei nach Heine: die Esel u. Kamele schrein, sie wollen nicht französisch sein, weil das eine Schande ist – und so halten wir es mit ihnen u. grasen den Dünensand Thrakiens ab u. trösten uns mit sauren Weinen. Aber die Landschaft ist grossartig u. das Meer unverwüstlich gestimmt – und so langsam auch wir. 

In Herzlichkeit alles Gute Ihnen Ihre Erich u. Katja Arendt108

So trainierten wir in den Dünen hier Wettlauf mit den Kamelen, gingen jedesmal als Sieger hervor u. hoffen, wie die Zeitungen so schön sagen, auf ein weiteres. –109

2.2.8 Das Ende bei Sinn und Form
Seit 1960 ist Arendt Mitglied des PEN-Zentrums der DDR. Das folgende Jahr 1961, in dem auch die Reise nach Nessebar stattfindet, ist politisch und auch für die Beziehung zwischen Huchel und Arendt ein intensives. Im Teilnachlaß in Utrecht wird ein Sonderdruck aus der Neuen Rundschau aufbewahrt (Heft 3/1961), der Huchels handschriftlichen Zusatz trägt:

© Copyright by: Peter Huchel Truely yours and many kisses for Katja!

Der Sonderdruck umfaßt die Gedichte „Sibylle des Sommers“, „Chiesa del Soccorso“, „In der Bretagne“ sowie „Südliche Insel“. Beim letzten Gedicht ergänzt Huchel einen anderen Schlußvers. Auf diesen wird bei der Textanalyse in Abschnitt 3.1.1 eingegangen werden.
Im Januar fahren Huchel und Arendt gemeinsam, mit Bobrowski, nach Weimar, um am nationalen Kongreß für Frieden und Abrüstung teilzunehmen.110 Huchel hält die Eröffnungsrede, muß im Verlauf des Kongresses aber „den offiziellen Wortführern der Partei Platz machen.“111
Der gemeinsame Freund Norbert Randow wird im Februar 1961 verhaftet. Arendt und Huchel stehen politisch außerhalb der öffentlichen Vorgaben, ebenso wie künstlerisch jenseits der Doktrin des Bitterfelder Weges.
Huchels Position in der Akademie und als Chefredakteur von Sinn und Form wird zusehends schwächer. Mit Brechts Tod hat er seinen gewichtigsten Fürsprecher schon 1956 verloren. Huchels Gestaltung der Zeitschrift, geprägt von „Zurückhaltung und Beschaulichkeit, die etwas von der Art englischer Lords an sich hat“,112 so zumindest Kurt Hager, ist zunächst für die SED-Führung nur ein kleinerer Dorn im Auge: Sie richtet sich gegen den sogenannten „philosophischen Revisionismus“, zu dem zum Beispiel Harich, Janka, Bloch und Loest gerechnet wurden. Diese antistalinistische, aber keineswegs antikommunistische Systemkritik stellte wohl eine größere und akutere Bedrohung dar, als der Disput, ob Sinn und Form nun eine literarische Zeitschrift oder ein kulturpolitisches Organ sei. Deutlich war aber, daß diese Auseinandersetzung noch geführt werden müßte. Bis 1958 bekam die Zeitschrift auch noch insofern Rückendeckung durch den Herausgeber Becher, als dieser das weltoffene Konzept der Zeitschrift ja mit begründet hatte. Nach dessen Tod gewinnt Abusch, als neuer Kulturminister, an Einfluß. Mit dem Mauerbau ist auch die kulturelle Öffnung nach Westen Geschichte und Huchels Konzept von Sinn und Form nicht mehr haltbar. Von Abusch geht dann im Februar 1962 auch die Kritik an Huchel und der Zeitschrift aus. Vorgeworfen werden ihm Ästhetizismus, Nichtbeachtung der sozialistischen Gegenwartsliteratur, fehlende marxistische Literaturkritik und überhaupt die Ignorierung der kulturellen Entwicklungen in der DDR.113 Auf der Plenartagung der Akademie am 30.5. wird einstimmig, in Abwesenheit Huchels, beschlossen, die Konzeption des Heftes zu ändern. Bei einer Aussprache zwischen u.a. Huchel, Bredel und Hermlin wird vorgeschlagen, Hermlin als gleichberechtigten Chefredakteur einzusetzen. Dieser lehnt aber ab. Die Akademie beschließt am 25.6., Bodo Uhse als Chefredakteur einzusetzen und Huchel pro forma daneben, mit festem Einkommen, aber de facto ohne weitere Beteiligung am Heft. Huchel ist empört und kündigt noch während des Gesprächs am 27.7. Die Kündigung wird zum Jahresende akzeptiert, damit Uhse Zeit zur Einarbeitung bekommt.
Interessanterweise wird Huchel aber auch dann noch nicht vollständig fallengelassen: Er und seine Frau Monica sollen danach das neue Akademie-Jahrbuch redigieren. Huchel lehnt dies ab.
Mit einem ebenso provokanten wie inhaltsstarken Doppelheft 5/6 (1962), in dem sich der intellektuelle Anspruch der letzten vierzehn Jahre von Sinn und Form fokussieren, beendet Huchel seine Redaktionstätigkeit. Gedichte von Arendt sind in diesem Heft nicht vertreten, wohl aber im 3. Heft des Jahrgangs („Delos“). Huchel legt das Doppelheft vor der Drucklegung nicht Bredel vor, sondern umgeht ihn aus verständlichen Gründen: Das (mittlerweile legendäre) Heft beginnt mit Brechts „Über die Widerstandskraft der Vernunft“, es folgten Beiträge von Sartre, Aragon, Mayer, Fischer, Krauss… Celan, Eich und Aichinger waren mit Lyrik vertreten.
Was als stilles Ausscheiden aus dem Amt des Chefredakteurs von Seiten der Akademie gedacht war, wird spätestens damit zur offenen Konfrontation. Bredel sieht diesen Abgang als „Loyalitätsbruch sondergleichen“.114 Huchel ist nicht zu Kompromissen bereit, auch wenn sich seine eigene Situation damit extrem verschlechtert: Weder eine Reise nach Italien wird ihm gestattet, noch bekommt er eine Altersrente (wie ursprünglich vereinbart.) Auch die Einladung zur Gruppe 47 kann er nicht wahrnehmen. 

Stefan Wieczorek: Erich Arendt und Peter Huchel. Kleine Duographie sowie  vergleichende Lektüren der lyrischen Werke, Textum Verlag, 2001

 

ELGERSBURG
Für Erich Arendt

Berghänge,
Straßen mit Spiegeln
An Kreuzungen:
Weiterungen des Glücks.

Jakob van Hoddis
Fand hier kein Grab,
Aber Vergessen vielleicht
In der Zinkschen Kur- und Badeanstalt.

Vergessen nicht.

Nicht einmal das
Vergaßen sie ihm: daß dem Bürger
Vom spitzen Kopfe
Der Hut fiel,
Wie ers gesagt hatte.

Aber das Wasser
Des Brunnens vorm Pfarrhaus,
Aus dem schon Goethe
Getrunken haben soll? –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaVielleicht,
Daß diesem der Hut
Vom Kopf fiel, als er sich bückte,
Zu trinken?

Heinz Czechowski

 

 

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Uwe Berger: Zwei Dichter unserer Zeit. Zum 50. Geburtstag von Peter Huchel und Erich Arendt
Aufbau, Heft 4, 1953

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Helmut Ullrich: Lobpreis irdischer Schönheit. Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Erich Arendt
Neue Zeit, 13.4.1963

Georg Maurer: Erich Arendt zu seinem 60. Geburtstag
Sonntag, 15.4.1963
Nachgedruckt in: G. M., Essay I. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1968

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Günther Deicke: Dichter und Weltfahrer. Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Berliner Zeitung, 16.4.1968

Elke Erb: Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Sonntag Nr. 16, 1968

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Günther Deicke: Poetische Sprache unserer Solidarität. Erich Arendt zum 70. Geburtstag
Neues Deutschland, 15.4.1973

Günter Gerstmann: Der geistigen Welt der Väter verpflichtet
Neue Zeit, 15.4.1973

Hinstorff gratuliert seinem Autor Erich Arendt zum 70. Geburtstag
trajekt 7, VEB Hinstorff Verlag, 1973

Zum 75. Geburtstag des Autors:

J(ürgen) Sch(midt): Ein lähmendes Gefühl ist das. Dem Dichter und Übersetzer Erich Arendt, fünfundsiebzig Jahre alt, zu Ehren
Stuttgarter Zeitung, 16.9.1978

Gregor Laschen/Manfred Schlösser (Hg.): Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag
Agora, 1978

H. U.: Kunde von Siegen und Niederlagen durch die Poesie
Neue Zeit, 15.4.1978

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hubert Witt: Der flutharte Traum. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sinn und Form, Heft 2, 1983

Hans Marquardt/Hubert Witt: Himmel und Erde. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sonntag, 17.4.1983

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Uta Kolbow: In Raum und Zeit
Berliner Zeitung, 15.4.1988

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Uwe Grüning: Erinnerungen an Erich Arendt
Ostragehege, Heft 30, II/2003

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 12 + KLG + UeLEX +
Kalliope
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