HÖLDERLIN AN SUSETTE GONTARD
Am Kreuzweg wohnt
und dicht am Abgrund die Halbheit
und gibt uns Rätsel auf. Wer aber muß
fallen?
Wir oder sie?
Da kann unser eigenes Wort uns
unten zerschmettern
oder uns hier ergänzen
Kein leicht zu sagendes.
Nämlich nur unser Leben
ist dieses Wortes Mund. Wo er sich auftut
kann seiner Stimme Strenge gütiger sein
als jene lautlose Milde die liebevoll
dich dich dich
und dich und mich und uns beide
vorüberführen will an der eigenen Antwort
Nah ist und leicht zu lieben
die Lüge
und trägt einen bunten Rock
aus vielen Farben.
An uns aber liegt es daß wir
nicht verlieren die Farbe unserer Würde
daß wir nicht aufgeben
das Unteilbare:
unser eines angeborenes Recht
Nämlich der es nicht hütet
der büßt es ein
denn leicht färbt ab auf uns
auf dich sogar und auf mich
bis in die Herzen die Rostschicht
die unsere Schwächen verdeckt
die zähe falsche Haut
aus Staub und aus welken Blättern
des Vorsichhintuns
Ein Wort aber könnte sein
das risse sie weg
das führte aus jedem Verstohlensein deine Wahrheit
zurück in ihr Eigentum
das immer noch du bist
Sonst brächte kein Hauch mehr
kein Wind von den Gipfeln der Zeit
dir Linderung
und keine Ahnung des Seins
von dem was sein könnte
schenkte die Wahrheit dir wieder:
Nur sie kann du sein
Denn das meiste
ertrotzt sich der Mensch nur mit Schmerzen
Auch du bestehst nicht quallos
im Gegenwind deiner Zeit
Doch wenn du
nicht mehr du sein wolltest
wenn du nicht länger
stündest zu dir
die du bist
und auch nicht länger
zu deiner Freiheit
und nicht mehr
zu denen die in dir wohnen
den Richtungen deines
eigenen Bildes…
was
dann
zwischen den Trümmern
bliebe von dir
und von einem
der dich kennt und
dich liebt?
Schon in den frühen Gedichtbänden Erich Frieds und auch in seinen streitbaren politischen Sammlungen tauchten immer wieder Liebesgedichte auf, bis schließlich der 1979 erschienene Band Liebesgedichte sich ganz dem Thema widmete und – mit einer Auflage von inzwischen fast einer Viertelmillionen – eine große Leserschaft gewann. Die Gedichte suchen die heutigen Orte der Liebenden auf, auch wenn sie vom Beton der inneren oder äußeren Landschaften manchmal schon ganz zugeschüttet zu sein scheinen. Freundlich und manchmal heiter beschreiben sie die Gefühle und behutsamen Gespräche außerhalb von Konsum und Medienwirrwarr.
Verlag Klaus Wagenbach, Ankündigung
Wer jemals verliebt war, oder wer zur Zeit verliebt ist, der muß dieses Buch lesen. Es ist wunderschön wie der Autor Worte findet für die Liebe und das Leid das manchmal dazu gehört. Dies ist ein Buch das mit der/dem Geliebten gelesen werden sollte um die Tiefe der Worte in den Augen des/der Partner(s)-in zu sehen. Absolut empfehlenswertes Buch, eine Sammlung die Spaß macht und die Liebe pulsieren läßt.
Ich bekam das Buch von meiner Muse geschenkt. Es berührt mich immer noch so sehr, das mir manchmal Tränen in die Augen steigen, wenn ich darin lese, und dabei an meine inzwischen verlorene Liebe denke. Ein Buch für Menschen die sich sehr lieb haben. Erich Fried beschreibt Gefühle so treffend, dass man glaubt besser kann man es nicht ausdrücken. Ich bin durch meine Geliebte zum Erich Fried Fan geworden.
sitze ich weder als realer Beobachter noch als Leser gern. Wenn es um sehr intime, sehr persönliche Begegnungen zwischen zwei Menschen geht, ist ein Dritter störend – uns so habe ich mich bei den sehr explizit erotischen Gedichten zunehmend unbehaglich gefühlt – ich möchte einfach nicht dabei sein, wenn Erich Fried oder sonst jemand seinen Kopf in den Schoss der Geliebten legt und sie dann dort mit der Zunge berührt oder in der Badewanne ihren Urin trinkt! An manchen Ermahnungs-Gedichten – die Liebe im politischen Kampf nicht zu vergessen („Kein Unterschlupf“) und an den Kampfansagen gegen eine verspießerte Prüderie („Krank“ oder „Schwein des Anstoßes“) ist auch die Zeit vorübergegangen. Auf der anderen Seite enthält der Band eine Reihe von wirklich wunderschönen, zeitlos bleibenden und wirkenden Liebes- und Liebeskummergedichten – nicht nur das zu Recht berühmte und in zahlreichen Anthologien abgedruckte „Was es ist“ („Es ist Unsinn, sagt die Vernunft – Es ist was es ist, sagt die Liebe…“) sondern auch „Nachhall“, „Letzte Stunde“ und etliche mehr. Wenn man eine Anthologie als einen Korb versteht, aus dem sich jeder die Früchte herausnehmen darf, die ihm behagen, dann kann ich durchaus empfehlen, genau hinzuschauen und auszuwählen.
Erich Fried ist ein Meister der Tabubrüche; mit nüchterner Eleganz beschreibt er die alltäglichen Dinge des Lebens; was sich an Frivolitäten in unser aller Phantasie abspielt. Beeindruckend ist dabei seine schlichte Ehrlichkeit, man glaubt ihm, weil man selber alles schon einmal gedacht, gefühlt oder gewollt hat. Zwar sind seine Gedichte keine sublimen Meilensteine höchster Lyrikkunst, aber diesen Anspruch wollen sie auch gar nicht erheben. Diese Auswahl aus Frieds Gedichten, meist reimlose, sprachspielerische Verse, zeigt den Autor als einen Großmeister der intelligenten Erotikdichtung.
Lachen, Weinen, Schmunzeln, Nachdenken – Fried deckt alle diese Bereiche ab. Und bleibt dabei immer so lebensnah, dass man das Gefühl hat er berichtet über MICH. Ich lese eigentlich keine Gedichte, da ich den Menschen persönlich kennen muss und seine Beweggründe und Motivation für seine Lyrik verstehen möchte. Doch Fried beeindruckt mich zutiefst. Wunderschöne, zeitlose Lyrik, die auch Jahre nach seinem Tod stets aktuell ist und sein wird.
− Rede auf der Trauerfeier des Wiener Burgtheaters am 11. Dezember 1988. −
Vom Dichter Erich Fried soll zuerst gesprochen werden, aus diesem Anlaß und an dieser Stelle. Von ihm her nämlich ist alles gekommen, was wir erlebt haben mit ihm und durch ihn: vom unablässigen Strömen der Sprache, das Körper und Geist des Gezeichneten in jedem Augenblick durchzog. Strom der Sprache, genauer noch: Strömen der zärtlich geliebten Wörter, denen Erich Fried ihr Geheimnis ablauschte, ihren Nebensinn, ihre Widersprüche.
Dessen war er sich immer bewußt. Leben und Sprechen, Leben und Schreiben waren ihm eins. Er hat noch in den letzten Momenten, in der Intensivstation, unlesbare Aufzeichnungen gemacht. Er hat bis zuletzt als ein Schreibender gelebt.
Das war ein „Ausdruckszwang“: auch in einem Sinne, den der von Fried politisch mißbilligte, doch heimlich bewunderte Lyriker Gottfried Benn beschrieben hatte. Es war eben dies Ausdruckszwang, und es war doch ganz anders beim Schreiben und Dichten von Erich Fried. Aber das Benn-Prinzip einer „monologischen Dichtung“ hielt Fried nicht allein für undenkbar, sondern vor allem für unmenschlich. Der Dichter braucht die Anrede, den oder die Partner, er will Sprecher sein für die Sprachlosen. Vor allem für ihr sprachloses Leid. Kaum bei einem anderen Lyriker unter meinen Zeitgenossen habe ich so stark wie bei Erich Fried die Wahrheit begriffen, die Goethes Dichter Torquato Tasso in die Verse zusammendrängt:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.
Ein Gott der Sprache und der Dichter. Und das Sagen des Dichters war verstanden als ein stellvertretendes Sprechen: im Zorn und in der Liebe, in der Freundschaft wie der Einsamkeit.
Auch dies hat er natürlich gewußt, Erich Fried, und er hat es gesagt und aufgeschrieben in den drei qualvollen letzten Jahren der Krankheit. Ein Gedicht schickte er mir am 4. Februar 1986: als wir dabei waren, seine Geburtstagsfeier im Wiener Konzerthaus zum 65. Geburtstag vorzubereiten. Keiner von uns war damals sicher, daß Erich dabeisein würde. Auch er nicht. So entstand das Gedicht „Hilfe“.
HILFE
Nacht für Nacht
suche ich Trost und Ermutigung
in den Gedichten
Toter und Lebender.
Nacht für Nacht
enttäuschen mich ihre Gedichte
weil ich bei ihnen so wenig
Trost und Ermutigung finde.
Nacht für Nacht
helfen mir ihre Gedichte
weil sie Ermutigung suchen
und Trost wie ich.
In diesen zwölf Zeilen ist eine ganze Poetik enthalten, nicht allein das poetische Bekenntnis eines Leidenden. Es umschreibt vielmehr wesentliche Züge aller Dichtung: ganz im Sinne des Goetheschen „zu sagen, wie ich leide“. Auch die Dichtung, das wußte Fried, und er hat auch das gesagt, muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen. Erbauliche Trostgedichte sind verlogen, sind: schlechte Literatur. Den Trost gewähren die Dichter, das verstand der Kranke in seinen ruhelosen Nächten, durch ihr Suchen nach Trost.
Leiden nämlich bedeutet immer auch zugleich: Leben. Erich Fried war kein Dichter des Lamento und der Jeremiaden. Er wollte ein Dichter des ganzen Lebens sein, in all seinen Erscheinungsformen: mit Ausnahme der Gewalt. Er war ein heiterer Mensch, auch als Leidender, auch zuletzt noch. Seine Liebesgedichte waren es wirklich. Leben, Lieben und Dichten, auch das hat er selbst ausgesprochen, waren untrennbar für ihn.
Untrennbar war auch für ihn der Zusammenhang zwischen dem dichterischen Benennen unwürdiger Zustände, und dem Versuch, die menschliche Würde gegen Unwürdiges zu verteidigen.
Leid war ihm nicht gleich Leid. Es gab das Leid aus der Notwendigkeit menschlicher Begrenzung. Und es gab das Leid – nicht der Freiheit, sondern der Unfreiheit. Da, mußte gesprochen werden.
In einem seiner bedeutendsten Gedichte, das er selbst auch für besonders wichtig hielt, offenbart der Satz
es ist wie es ist
all seine Zweideutigkeit. Einmal Notwendigkeit; dann aber auch einen Zustand, einen status quo, der durchaus nicht verdient, so zu bleiben, „wie es ist“. Hier wird Erich Frieds Dichten zum Inbegriff des Widerstehens.
In einem Fernsehfilm über ihn, den ich vor kurzem sehen konnte, wird Fried durch einen nicht besonders scharfsinnigen und auch nicht besonders gutwilligen Dialogpartner gefragt: ob denn nun alles unbedingt „politisch“ sein müsse. Dabei wurde Frieds Gedichtband Liebesgedichte mit spitzen Fingern und gleichsam strafend emporgehalten. Erich Fried antwortete gelassen, als ein geschulter Dialektiker: „Aber das ist doch bereits eine politische Frage!“
Welchen Widerstand aber hat er gemeint, der Dichter Erich Fried? Und was hat ursprünglich, gleichsam als stellvertretende Lebenserfahrung, den Willen zum Widerstand in ihm erweckt?
Hier muß vom Österreicher Erich Fried gesprochen werden und von dem Juden dieses Namens. Fried wurde hier in der Stadt am 6. Mai 1921 geboren. Kleine jüdische Leute. Sechs Jahre später, am 15. Juli 1927, gab es einen Aufstand des Volkes in dieser Stadt gegen politisches Unrecht: es brannte der Justizpalast. Erich Fried hat immer wieder betont, daß er in seinem Leben, als ein Sechsjähriger, mit diesen Vorgängen, und wohl auch mit dem Verhalten seiner Umwelt, die erste überpersönliche Regung von Empörung und Zorn verband. Man darf ihm das glauben. Wir wissen heute alle, seit Sigmund Freud uns beim Erinnern half, daß viel mehr in unseren ersten Lebensjahren gespeichert wurde, als wir ahnen möchten. Ich selbst verbinde in meinem Leben die erste überpersönliche Empörung mit den Berichten über die Abschlachtung der Rosa Luxemburg. Damals war ich elf.
Es sind nicht immer die quantitativ besonders abscheulichen Untaten, die unser Fühlen treffen. Die Affäre des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus in Frankreich. Die Ermordung von Jean Jaures zu Beginn, und der Liebknecht-Luxemburg gleich nach dem Ende eines Ersten Weltkriegs. Der Brand des Justizpalastes mit dem Wüten der Meute des Wiener Polizeipräsidenten Schober, und fast sechs Jahre später der Berliner Reichstagsbrand. Dergleichen vergißt man nicht als Zeitgenosse. Hier gibt es keine Verjährung.
Der brennende Justizpalast: er bedeutet, von heute aus gesehen, vor allem auch eine Kontinuität großer österreichischer Literatur. Von Karl Kraus zu Elias Canetti. Von Elias Canetti zu Erich Fried.
Karl Kraus war niemals größer, seit er die Letzten Tage der Menschheit beenden konnte, als in jenen Sommertagen des Jahres 1927. An den Plakatsäulen konnte man, versehen mit der Unterschrift „Karl Kraus“, einen einzigen Satz lesen, worin der Polizeipräsident Schober zum Rücktritt aufgefordert wurde. Der dachte nicht daran. Er habe, wie er mitteilen ließ, „Nur seine Pflicht getan“: wie so viele vor ihm und nach ihm.
Elias Canetti hat berichtet, wie seine eigene schriftstellerische Erweckung – Die Fackel im Ohr – mit zwei Erfahrungen zusammenhing: mit dem Wirken von Karl Kraus, und mit dem Anblick der Masse im Angesicht des brennenden Justizgebäudes. Hier entstand, in dieser Konstellation, Canettis späteres Hauptwerk Masse und Macht, das so wenig gelesen wird, und das man so dringend lesen sollte, wenn man sich Sorgen macht über alles Künftige.
Freilich gab es auch eine andere österreichische Literaturreaktion auf den Brandtag. Heimito von Doderer ließ uns wissen, wie er das brennende Gebäude des Rechts und der Rechtsprechung damals erlebte. Als eine „Geruchssymphonie“.
Dann der Februar 1934, der März 1938. Frieds Vater wird von einem Nazi ermordet. Die Mutter, aus alter österreichischer Juristenfamilie, protestiert im Gerichtssaal gegen den Mörder und wird verhaftet. Es gibt aber Hilfe in Wien wie in England, wohin Erich Fried geflohen war. Lord Louis Mountbatten, Mitglied der Royal Family, der später selbst ermordet wurde, besorgt das Visum für die Mutter: im letzten Augenblick.
Dann das Exil. Die fremde englische Welt. „Die englischen Verhältnisse damals waren nicht die besten; die englischen Regierungen waren schwachsinnig.“
Das sagt, beim Rückblick auf damals, der Professor Robert in dem Theaterstück Heldenplatz von Thomas Bernhard.
Heimatlos mit siebzehn Jahren. Wieviel Englisch hat er gekonnt, als er 1938 in London ankam? Er war noch jung. So konnte das Exil zur Erweckung führen. Zuerst Hilfsarbeiter, das Übliche, doch bereits auch das Unübliche: Milchchemiker oder Glasarbeiter. Auch Bibliothekar. Und die neue Sprache: damit ein neues Strömen der Sprache in ihm selbst. Es beginnt die Arbeit des Nachdichters Erich Fried. Der Lyriker spezialisiert sich auf Dramatisches: T.S. Elliot, John Synge. Vor allem die Bekanntschaft, dann Freundschaft mit Dylan Thomas erzeugt eigene neue Möglichkeiten für den Ausdruckszwang. Den Gedichten Frieds haben später Leute, die selbst nicht dichten können, aber genau wissen, wie das auszusehen habe: ein deutsches Gedicht, vorgeworfen, er schreibe englische Gedichte in deutscher Sprache.
Man könnte mit einer englischen Redensart darauf gegenfragen, was daran schlecht wäre. Dergleichen hat es immer gegeben. Stefan George begann mit Mallarmé-Gedichten als Vorbild seinen Weg als deutscher Dichter. Erwähnenswert ist der absurde Vorwurf deshalb, weil Fried selbst geantwortet hat. Er bekannte sich zu dem Mann aus Wales, zu Dylan Thomas. Die Bühnenfassung von Unter dem Milchwald (Under Milk Wood) wurde dank dem Übersetzer Erich Fried ein großer Erfolg auf den Bühnen deutscher Sprache.
Aber da war mehr. Fried bekannte, seine Freundschaft mit dem genialen Waliser, der mit 39 Jahren sterben sollte, habe auch mit gemeinsamer Bewunderung für große Schriftsteller der englischen Sprache zu tun: für Joyce, für Hopkins, für Cummings. So wurde der lyrische Typ der Fried-Gedichte möglich. Es hat immer Besserwisser gegeben, die meinten: das seien überhaupt keine Gedichte. Weil die Texte von Erich Fried in der Tat wenig Gemeinsames haben mit dem wohlbekannten, oft wunderschönen Gedicht einer deutschen Einsamkeit und Innenwelt.
Erich Frieds Gedichte suchen die Gemeinschaft auch dort, wo sie von Einsamkeit berichten. Es sind demokratische Gedichte. Das klingt banal, doch es gibt keinen besseren Ausdruck. Gedichte eines wahrhaft demokratischen Menschen. Daher sind sie bisweilen rüde, vulgär, plebejisch. Sie legen es oft darauf an, daß gelacht wird. Auch Nonsens ist ihnen, die Umgang hatten mit Angelsachsen, nicht fremd.
Es ist richtig, was Wieland Schmied gesagt hat: „Durch Fried hat die deutsche politische Lyrik einen neuen Stellenwert erhalten“. Aber man hat auch in Großbritannien schließlich gewußt, wer sich da immer wieder zu Wort meldete: in Sachen des für Engländer so fremden Kontinents wie in Angelegenheiten seines nunmehr zur Heimat gewordenen Exillandes. Nach Erichs Tode erschien im Observer nicht etwa ein Nekrolog oder ein Feuilleton, sondern ein Leitartikel: Da sei eine große Stimme verstummt.
Sprechen wir auch von dem neuen deutschen Shakespeare, den er uns vermachte. In Gesprächen und in Briefen aus den letzten Jahren kommt er immer auf jene Stücke zurück, die er gern noch nachgedichtet hätte. Sie strömten bereits in ihm. Aber da war keine Nachfrage, erst recht kein Auftrag. Ich hatte mir immer eine Nachdichtung der Tragödie Eduards II. von Christopher Marlowe gewünscht, weil das Original des Elisabethaners unendlich stärker ist als die Bearbeitung durch Brecht. Fried hätte es gern geleistet. Damals reichten die Kräfte noch aus. Aber kein Auftrag und Bedarf. Irgendwann wird man den Shakespeare von Erich Fried entdecken. Das Werk eines Dichters, der vollkommen die beiden Sprachen kannte. Vorerst pflegt man sich am Regiepult und in der Dramaturgie selbst über die Texte herzumachen.
Das Werk eines österreichischen Juden, der zum Emigranten werden mußte. Da gibt es die Gemeinsamkeiten des Erlebens, die Fried mit Canetti verbanden, mit Joseph Roth, der in Paris zugrunde ging, mit Jean Améry, der nicht mehr leben wollte.
Fried wollte leben, jeden Augenblick noch. Ein Todfeind des Todes sozusagen: mit aller Zweideutigkeit dieser Formel. Darin verwandt dem Denken von Canetti, dem diese Nähe erwünscht war. Es gibt aber noch tiefere Zeugnisse der einstigen österreichisch-jüdischen Symbiose. Die kleinen Wiener Juden um das Jahr 1920 trugen immer noch die Erinnerung mit sich an bäuerliche Kindheiten der Eltern und Voreltern im Riesenreich der Habsburger. Vieles von dem, was den einzigartigen Zauber Gustav Mahlers ausmacht und der Geschichten Franz Kafkas, mit den Soldatenweisen und Dienstbotenliedern, den Landärzten, Knechten und Lakaien, lebt weiter auch in den Gedichten und Geschichten von Erich Fried. Auszählverse, Kinderreime, Liebe und Landschaft und Sterben.
Ein Gedicht von Erich Fried, das erkennt man sogleich. Es hat „Stil“: im Sinne von Goethes Definition.
So war es längst fällig, den Dichter Erich Fried auch im Namen Georg Büchners zu ehren. Daß er das noch erleben konnte, im Oktober 1987, ist für uns alle, für seine Freunde, ein Grund zur Freude. Daß seine Rede einigen der Festteilnehmer die festliche Stimmung verdarb, war vorauszusehen. Erich hat bisweilen, wenn er polemisierte, unrecht gehabt, weil er falschen Informationen oder der Suada irgendwelcher Fundamentalisten zu gläubig gefolgt war. Er konnte weder gut lügen, noch mißtrauisch abwägen. Allein mit seiner Büchner-Rede war er durchaus im Recht. Fried hat seine Freunde niemals verleugnet. Auch dort nicht, wo er mißbilligte. Nicht Rudi Dutschke, nicht Ulrike Meinhof.
Erich Fried war immer ein Denkspieler. Was wäre, wenn…: er wurde nicht müde, dies Spiel in Gedanken zu versuchen. Das war nicht Flucht aus der Wirklichkeit, sondern Sehnsucht nach einem würdigeren Leben. Auch dies gehört zu einer Denktradition von Juden in Österreich. Das ist Kafka und Joseph Roth, Hermann Broch und Elias Canetti.
Bei Fried diente bisweilen das Spiel zur Demaskierung von Lügen und Phrasen. So auch in der Büchnerpreisrede von 1987. Er holte den Rebellen des „Hessischen Landboten“ und Dichter des „Woyzeck“ zu sich in die Gegenwart. Wie hätte Büchner als Zeitgenosse Erich Frieds gelebt und gehandelt? Büchner forderte den Aufruhr: gegen Aristokraten und Bourgeois, nicht zuletzt gegen intellektuelle Weißwäscher. Flucht, Steckbrief, illegaler Grenzübergang und Exil. Dann der Tod mit 23 Jahren.
Der Büchnerpreisträger Fried sah ihn nicht allein bei den Achtundsechzigern, sondern auch an der Seite seiner Freunde Rudi Dutschke und UIrike Meinhof. Er sah ihn nicht, ausdrücklich nicht!, an der Seite von Mördern und Bombenwerfern. Leise sagte er, man konnte es jetzt im Film wieder sehen und hören, daß Büchner sich in einem solchen Augenblick abgewendet hätte von den bisherigen Freunden.
Läßt man solches Denken des Anachronismus überhaupt zu, so wird man in Büchners Lebenszeugnissen und Werken nichts finden, was dieser Hypothese widerspricht. Das Denkspiel genügte aber, um Zorn zu erregen im Darmstädter Festsaal. Zwischenrufe und Türenknall. Dabei hatte Fried nichts anderes getan, als zu demonstrieren, daß die großen Dichter nicht erbaulich sind, und ganz sicher keine Mitläufer.
Damals, vor einem Jahr im Herbst, war er bereits seit langem ein Sterbender. Er wußte es. Mehr als drei Jahre hat er bewußt weitergelebt wie bisher, so gut es ging: arbeitend, reisend, Zuspruch zu geben, Unsinn entwirrend, wohl auch einmal Verwirrung stiftend, wenn man ihn falsch unterrichtet hatte. Weiterdichtend vor allem.
Erich war ein reiner, ein heiterer Mensch. In diesen letzten Jahren hat er gezeigt, was das sein kann: Menschliche Größe.
Sein Grab liegt auf dem alten viktorianischen Friedhof von Kensal Green in London. Fried hat ihn gut gekannt, auch aus der Literatur. Gern rezitierte er den Schluß eines Gedichtes von G.K. Chesterton, auch als eigenes Credo. Da heißt es:
For there is good news yet to hear and
fine things to be seen,
Before we go to Paradise by way of
Kensal Green.
Man versteht: gute Nachrichten wird es auch weiterhin geben und Schönes wird man auch weiterhin sehen können: bevor einer sich auf den Weg macht ins Paradies: mit dem Umweg über Kensal Green.
Eben dies sagt auch Erichs wohl programmatisches letztes Gedicht am Schluß seines letzten Gedichtbandes von 1988:
STATT EINES NACHWORTS
Auch was ich gegen das Leben
geschrieben habe
ist für das Leben geschrieben.
Auch was ich für den Tod
geschrieben habe
ist gegen den Tod geschrieben.
Erich Fried: Ehre seinem Andenken. −
Hans Mayer, 1988, aus: Hans Mayer: Über Erich Fried, Europäische Verlagsanstalt, 1991
FÜR ERICH FRIED
Durchbitterung,
Hölderlin halbumschlungen, die
Stille der Nacht.
Er sasz da unter der Lampe,
las in meinen Gedichten, das
Florpapier raschelte.
Ich blickte in sein Gesicht, las
ab, worüber er schwieg. Später
strich er zwei Zeilen und schrieb
seine Korrektur darüber.
Ich bewahre die Blätter, seine
Hand gräbt eine Mulde ins Tischtuch.
Nachts war Regen, ein stiller
Gast, bewegte die sanften Augen, blickte
mich an.
Nachts war Regen,
ein kompromiszloser Geist wo alle kriechen.
Friederike Mayröcker
Lesung von Erich Fried am 25.9.1986 im Literarischen Colloquium Berlin
Hannelore Schlaffer: Erich Fried und Marc Anton, Merkur, Heft 569, August 1996
Herta Beck: Besuch bei Erich Fried
Klaus Wagenbach und Erich Schwarz Lesung zum 72. Geburtstag von Erich Fried am 6.5.1993 in der Werkstatt der Staatlichen Schauspielbühne Berlin.
Detlef Berentzen: Ein gebrauchter Dichter. Eine Textcollage zum 15. Todestag von Erich Fried
Christiane Jessen, Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach (Hrsg.): ERICH FRIED. Eine Chronik. Leben und Werk: Das biographische Lesebuch
Erich Fried Tage – Internationales Literaturfestival
Erich Fried – Wir sind ein Tun aus Ton
3sat.de, 2.5.2021
Rolf Becker für Erich Fried zum 100.
YouTube, 6.5.2021
Alexander Knief: Grass-Stiftung zeigt digitale Schau zu Erich Fried
Weser Kurier, 3.5.2021
Stefan Siegert: Schau’s dir an!
junge Welt, 14.4.2021
Joachim Leitner: Dem Zweifel zweifelnd trotzen
Tiroler Tageszeitung, 4.5.2021
Jürg Halter: Als Politdichter, Liebesdichter oder Erinnerungsdichter: Sagen, was ist – mit Erich Fried
Tagblatt, 5.5.2021
Björn Hayer: Erich Fried zum 100. Geburtstag: Liebe, und immer wieder Liebe
Frankfurter Rundschau, 5.5.2021
Moritz Gathmann: „Lieber Michael Kühnen…“
Cicero, 6.5.2021
Beatrix Novy: Verzweifelter Humanist zwischen zwei Sprachen
Deutschlandfunk, 6.5.2021
Jan Süselbeck: Der unversöhnliche Philanthrop
taz, 6.5.2021
Klaus Bellin: Verse gegen Lüge, Unrecht und Gewalt
neues deutschland, 5.5.2021
Jens Dirksen: Erich Fried schuf Poesie aus radikaler Opposition heraus
WAZ, 5.5.2021
Bernadette Conrad: Kunst zur Veränderung der Welt
Berliner Zeitung, 6.5.2021
Thomas Wagner: Der Stören-Fried
Die Welt, 6.5.2021
Hubert Spiegel: Der Überlebenshilfekünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2021
Caroline Fetscher: „Man muß mit jedem reden“
Der Tagesspiegel, 6.5.2021
Erich Fried Liebesgedichte vorgetragen von Frank Hoffmann mit dem Jazztrio mg3.
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