Erich Fried: Unverwundenes

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Erich Fried: Unverwundenes

Fried-Unverwundenes

DIE WAHRHEIT VON DER WAHRHEIT

Die Wahrheit sagen
das kann heißen: getötet werden
Aber nie wird – so heißt es –
die ganze Wahrheit getötet

Nur Menschen, nackt
das Gesicht nicht mehr erkennbar
oder noch in ihren Kleidern
wie schlafend, gar nicht viel Blut

oder nur Asche
verpackt in braunen Karton
oder halb Verweste
in später entdeckten Gräbern

Aber fast unversehrt
wächst die Wahrheit aus jedem Rest
der übriggeblieben ist
und lebt – sagt man – von neuem

Nur trägt sie nicht mehr die Schuhe
ihres Sprechers, die man ihm auszog
und nicht sein Hemd
mit den rotbraunumrandeten Löchern

und auch keine stinkenden
gestreiften Sträflingshosen
Die Wahrheit steht herum
nackt und ein wenig frierend

Wo immer sie steht
sie steht nie wieder wirklich ganz da
Etwas von ihr bleibt tot
bei ihren Toten

 

 

 

Erich Frieds letzter Gedichtband,

erschienen wenige Monate nach der späten Anerkennung durch den Georg-Büchner-Preis und kurz vor seinem Tod.
Wir verwinden vieles, sagt man. Was aber, so fragen diese Gedichte, bleibt unverwunden? Die Auf- und Abrechnungen? Unsere zu bunten Träume? Die alten Bilder, die quer durch die neuen, sogenannten unvergeßlichen gehen?
Und wie vermischt sich das von uns Unverwundene mit unseren jetzigen Absichten, mit dem Kampf gegen die Zumutungen der Zeit oder mit der Trauer über diejenigen, die immer den Kopf oben behalten?

Klaus Wagenbach Verlag, Klappentext, 1988

 

Beitrag zu diesem Buch:

Alexander von Bormann: Zugemutete Zeit
Neue Zürcher Zeitung, 23. 11. 1988

 

Goethe, Celan, Grass u.a. –

„Um Deutlichkeit muss man sich immer bemühen“

Joern Schlund: So wie man das Private nie ganz vom Öffentlichen trennen kann, so kann man auch Ihre Liebesgedichte nicht als unpolitisch abtun. Schriftsteller wie Sie, Böll und Grass1 waren immer auch politisch wichtig.

Erich Fried: Günter Grass hatte eine sehr wichtige Funktion. Er hatte den Deutschen beigebracht, dass ein Schriftsteller für seine politische Meinung auch ruhig investieren darf. Er hat sich dann leider bei der Jugend und bei der Linken eine Zeitlang unbeliebt gemacht, weil er zum Vietnamkrieg [keine] – obwohl ihn der nicht gefreut hat –, aber zu den Protesten dagegen eine negative Einstellung hatte.
Vor allem auch seine Haltung zum Israelkrieg: Er war gegen die Palästinenser. Als der Sechstagekrieg (1967) war, da hat er gesagt, es sei die letzte Chance der Deutschen, ihre Kollektivschuld zu sühnen, wenn sie jetzt eine Freiwilligen-Armee für Israel aufstellen. Das war meines Erachtens eine Verkennung der Umstände. Er wusste auch nicht, was dann ein israelischer General in seinen Memoiren geschrieben hat, dass Israel nie wirklich einen Moment in Gefahr war, sondern dass die Regierung bei der Bevölkerung nur diesen Eindruck erweckt hat, um sie zum heftigen Mitmachen zu stimulieren.
Dieser Eindruck hatte die unangenehme Folge, dass einige ältere Leute verzweifelt sind, weil sie geglaubt haben: „Jetzt geht es uns wieder an den Kragen, wie unter Hitler.“ Und meine Tante Juli aus Barsch, die den Krieg und die Ermordung ihrer zwei Kinder überlebt hat und trotzdem noch Lebensmut hatte, die hat sich am Vorabend des Sechstagekrieges umgebracht, weil sie geglaubt hat, jetzt gehe es wieder los. Diese Regierungspropaganda der Zionisten würde ich auch nicht so ohne Weiteres verzeihen.
Weil sich der Günter Grass gegen meine und Peter Weiss’ Vietnamgedichte2 gewendet hat, besonders in seinem Gedichtband Ausgefragt, und weil er auch mit den Studenten einen Krach hatte, die ihn ausgezischt haben, hat er dann in einem Gedicht geschrieben: „… aber es kostet wessen Geld, diese Elite geistreich und zischend heranzuziehen.“ Das war im Grunde Springer-Propaganda. Deswegen haben Studenten eine Zeitlang Günter Grass abgelehnt. Bekanntlich hat er sich vor zwei, drei Jahren mit seiner Heilbronner Erklärung3„Heilbronner Begegnungen“ kam; beide Male unterzeichnete Grass zusammen mit prominenten Aufrüstungsgegnern die sogenannten „Heilbronner Erklärungen“ (u.a. mit dem Aufruf zur Wehrdienstverweigerung). eigentlich auf den Standpunkt gestellt, den er damals so hart bekämpft hat. Ich habe das auch unterstützt. Wir sind heute auch nicht mehr böse aufeinander. Denn seine Aktionen gegen mich waren nie von persönlicher Feindschaft geprägt, sondern nur aus politischem Pflichtgefühl. Daher habe ich es ihm auch nie übel genommen.

Schlund: [Und] die mangelnde Klarheit [der] Gedichte [von Paul Celan]?4

Fried: Viele seiner […] Gedichte sind schwerer verständlich. Nun ist es aber so, dass man das nicht tadeln kann. [Celan] hat oft bei mir Gedichte vorgelesen. Er hat sie allerdings nie erklärt. Dazu bedarf es dann erklärender Bücher, wie zum Beispiel das von Marlies Janz Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Ein großartiges Buch, aber erst mit diesem Buch kann man die ganze Großartigkeit von Paul Celan verstehen. Er ist also das, was die Engländer „ein Dichter für Dichter“ nennen. Aber zum Beispiel sein Gedicht über Rosa Luxemburg ist viel schwerer verständlich und eindeutig viel besser als meine Gedichte.

Schlund: Wonach beurteilen Sie das? Was sind Ihre Kriterien?

Fried: Erstens, weil ich mir alle Finger abschlecken würde, wenn ich sein Gedicht geschrieben hätte statt meines. Das ist schon ein ganz sicheres Kriterium. Also, wenn ich das Gedicht „Du liegst im großen Gelausche, umbuscht, umflockt“ über Rosa Luxemburg geschrieben hätte, dafür gäbe ich all meine Rosa-Luxemburg-Gedichte. Aber er hat es geschrieben und nicht ich. Zweitens ist es weniger leicht verständlich als meines.5
Im Grund genommen schreibt man ein Gedicht für sich selbst und hofft dann, weil man nicht grundverschieden ist von den anderen Menschen, dass ein Gedicht, das man geschrieben hat, einem oder einigen anderen Menschen auch etwas sagen kann. Und wenn man es anders macht, dann schreibt man von vornherein mit einer manipulativen Absicht, und das ist schlecht.
Natürlich hält jeder Mensch, der manipulieren will, das, woran er glaubt, für eine gute Sache. Erst die politischen Gegner, also die Linken bei den Rechten und die Rechten bei den Linken, sehen, dass das Manipulieren nicht so gut ist.
Warum ich das Gedicht Celans für objektiv besser halte ist: die Veränderung, das In-die-Tiefe-Gehen des Inhalts von der Aussage und vom Gefühl her und die gleichzeitige Veränderung, die sich in der Sprache ergibt, die geht bei Celans Rosa  Luxemburg-Gedicht ganz und gar zusammen.
Während es bei mir nur Ansätze sprachlicher Vertiefung gibt, in dem Moment, in dem ich mich gedanklich und gefühlsmäßig vertiefe, aber es geht nicht so sehr zusammen wie beim Paul Celan. Deswegen finde ich seine Gedichte, obwohl schwerer verständlich, vielfach besser als meine.

Schlund: Sie wollen nicht manipulieren. Das bedeutet Ehrlichkeit, Genügsamkeit. Es muss mir behagen, ich muss klarkommen mit der Komposition. Aber es gibt eine Spannung zwischen dem Bemühen um Deutlichkeit und dem Interesse am eigenen Wohlbefinden über das Produkt auf dem Papier.

Fried: Um Deutlichkeit muss man sich immer bemühen, glaube ich. Aber Paul Celan hat das nicht geglaubt. Aber ich glaube es. Aber man darf sich nicht grenzenlos darum bemühen und nur innerhalb dessen, was die eigenen Einfälle, die eigenen Gefühle, die eigene Gedanken hergeben, bewegen. Man kann nicht jedes Gefühl allzu deutlich machen; man kann nicht jeden Gedanken allzu deutlich machen, weil manche Gedanken kompliziert sind. Weil man einem Dichter auch nicht vorschreiben kann, dass er über Gedanken und Gefühle erst dann schreiben darf, wenn all diese Gedanken und Gefühle schon längst ab  geklärt sind.
Schiller6 hat zwar gesagt: „Dichter hüte dich im Schmerz, den Schmerz zu besingen“, aber Schiller war im Allgemeinen ein sehr schlechter Lyriker, was man in Deutschland nicht weiß. Goethe war ein besserer. Hölderlin, von dem Schiller sehr wenig gehalten hat, war ein noch besserer. Matthias Claudius7 war auch ein besserer Lyriker. Aber Schiller war ungeheuer hochmütig. Das sieht man auch an seiner Bemerkung über Matthias Claudius: „Matthias Claudius ist ein vollkommener Niemand.“ Claudius war natürlich ein besserer Lyriker als Schiller; dafür hat Schiller sehr gut Prosa geschrieben und war auch ein guter Dramatiker. Im Allgemeinen ein besserer als Goethe. Bis auf den „Faust“ natürlich, der in einer anderen Kategorie steht.

Das Interview führte der bildende Künstler und akademisch verankerte Autor Joern Schlund (1934–2017) 1986 in London für seinen Film Gespräche mit Erich Fried.
Aus: Erich Fried / Joern Schlund: Weltbausteine, Möglichkeiten des Überlebens. Bilder, Texte, Gespräche, Münster: agenda Verlag 1994 (gekürzt).

 

Lesung von Erich Fried am 25.9.1986 im Literarischen Colloquium Berlin

 

 

 

Hannelore Schlaffer: Erich Fried und Marc Anton, Merkur, Heft 569, August 1996

Herta Beck: Besuch bei Erich Fried

Klaus Wagenbach und Erich Schwarz Lesung zum 72. Geburtstag von Erich Fried am 6.5.1993 in der Werkstatt der Staatlichen Schauspielbühne Berlin.

Detlef Berentzen: Ein gebrauchter Dichter. Eine Textcollage zum 15. Todestag von Erich Fried

Christiane Jessen, Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach (Hrsg.): ERICH FRIED. Eine Chronik. Leben und Werk: Das biographische Lesebuch

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Erich Fried Tage – Internationales Literaturfestival

Erich Fried – Wir sind ein Tun aus Ton
3sat.de, 2.5.2021

Rolf Becker für Erich Fried zum 100.
YouTube, 6.5.2021

Alexander Knief: Grass-Stiftung zeigt digitale Schau zu Erich Fried
Weser Kurier, 3.5.2021

Stefan Siegert: Schau’s dir an!
junge Welt, 14.4.2021

Joachim Leitner: Dem Zweifel zweifelnd trotzen
Tiroler Tageszeitung, 4.5.2021

Jürg Halter: Als Politdichter, Liebesdichter oder Erinnerungsdichter: Sagen, was ist – mit Erich Fried
Tagblatt, 5.5.2021

Björn Hayer: Erich Fried zum 100. Geburtstag: Liebe, und immer wieder Liebe
Frankfurter Rundschau, 5.5.2021

Moritz Gathmann: „Lieber Michael Kühnen…“
Cicero, 6.5.2021

Beatrix Novy: Verzweifelter Humanist zwischen zwei Sprachen
Deutschlandfunk, 6.5.2021

Jan Süselbeck: Der unversöhnliche Philanthrop
taz, 6.5.2021

Klaus Bellin: Verse gegen Lüge, Unrecht und Gewalt
neues deutschland, 5.5.2021

Jens Dirksen: Erich Fried schuf Poesie aus radikaler Opposition heraus
WAZ, 5.5.2021

Bernadette Conrad: Kunst zur Veränderung der Welt
Berliner Zeitung, 6.5.2021

Thomas Wagner: Der Stören-Fried
Die Welt, 6.5.2021

Hubert Spiegel: Der Überlebenshilfekünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2021

Caroline Fetscher: „Man muß mit jedem reden“
Der Tagesspiegel, 6.5.2021

 

 

 

 

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Knollenfried“.

 

Erich Fried Liebesgedichte vorgetragen von Frank Hoffmann mit dem Jazztrio mg3.

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