– Zu Hilde Domins Gedicht „Brennende Stadt (Beirut)“ aus Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. –
HILDE DOMIN
Brennende Stadt
(Beirut)
Die brennende Stadt
brennt lautlos
Ich sehe sie jeden Abend
mit immer neuen Namen
der Ansager
vorläufig
sagt Abend für Abend den einen
Ich kann das abstellen
vorläufig
Zumindest im Wachen
Dies ist eines von zwei Gedichten, die Hilde Domin „Fernsehgedichte“ nennt. (Das andere heißt „Napalm-Lazarett“.) Was sie da sieht, hat ihr offenbar der Bildschirm gezeigt. Daher kein Lärm, kein Krachen:
Die brennende Stadt brennt lautlos.
Sie sieht sie jeden Abend, aber ihr fallen dabei immer andere Städte ein, die gebrannt haben, die brennen könnten oder – wer weiß? – brennen werden. Deshalb sieht sie die Stadt mit immer neuen Namen brennen. Deshalb steht der Stadtname Beirut nur in Klammern.
Gewiß, der Ansager sagt nur den einen Namen. Aber Hilde Domin schiebt zwischen Subjekt (Ansager) und Prädikat (sagt) fast gewaltsam das Wort „vorläufig“ ein: Es muß nicht nur die eine Stadt bleiben, die da brennt.
Qualvolle Einsicht und Aussicht. Die Dichterin sagt in der nächsten Zeile kunstlos einfach:
Ich kann das abstellen.
Natürlich, sie kann die lautlos brennende Stadt auf dem Bildschirm abstellen, auch den vom Ansager allabendlich quälend wiederholten Stadtnamen Beirut, womöglich auch das unerträgliche Denken an die vorläufig weit entfernte Zerstörung. Die Zerstörung selbst kann sie nicht abstellen, kann ihr kein Ende bereiten. Nur dem Bild, dem Denken, dem Mitfühlen kann sie entrinnen, indem sie „das“ abstellt.
Aber auch das nur „vorläufig“. Sie gebraucht das Wort zum zweiten Mal. Wieder, wie vor drei Zeilen, steht es allein in einer Zeile, so daß man wieder vorher und nachher eine kleine Pause machen muß. Und dann kommt die letzte Zeile, mit großem Anfangsbuchstaben, also stark abgesetzt: „Zumindest im Wachen“. Die verdrängten Bilder konnten also nicht ganz und gar abgestellt werden. Nicht im Traum, vielleicht nicht einmal im Tagtraum, der ihr andere Stadtnamen brennend in den Sinn kommen läßt.
Nur diese drei letzten Worte „Zumindest im Wachen“ kommen zur Aussage hinzu, daß „es“, also das ganze Grauen, auf dem Bildschirm – nur auf ihm! – abstellbar ist. Aber diese kurze, unpathetische Einschränkung macht alle Hoffnung, dem Unerträglichen zu entrinnen, zunichte. Nicht nur der Brand von Beirut wird damit unentrinnbar, nein, auch der Brand jeder anderen Stadt, auch der, in der die Dichterin wohnt, auch der, in der wir oder unsere Kinder wohnen.
All dies in einem Gedicht von zehn Zeilen; davon hat eine sechs Worte, eine fünf, alle anderen noch weniger. Zwei bestehen nur aus dem Wort „vorläufig“.
Hilde Domin schreibt meistens kurze Gedichte. Ihre Form ist einfach, die Aussagen sind sehr klar, eindringlich, ohne je aufdringlich zu sein. Nicht durch überladene Worte, sondern durch dringende und drängende Bilder und Gedanken. Die Bilder sind alltäglich oder befremdlich und originell, furchtbar oder zart. Zuweilen erinnert die Offenheit und Eigenwilligkeit dieser Gedichte an Else Lasker-Schüler, aber sie kommen ohne deren Aufwand aus. Immer wieder, mit den Jahren in immer knapperen Aussagen, geben sie auch Auskunft von dem, was die Verfasserin gelitten hat. Dann schmerzen sie oft, aber sie sind nie wehleidig.
Erich Fried, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988
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