DIE BÄUME DER DICHTER
Freunde ohne Arg,
Begleiter, als kein andrer
mehr mitkam; sie fielen:
Rilkes Pappel, Hölderlins Eichen,
die Nußbäume Werthers,
Joseph Roths Weiden im Sumpf.
Die Rauchbäume Celans
kann man nicht fällen.
Länderweit blieben sie stehn.
In den Himmel sind sie gewachsen,
wachsen –
er sah sie, damit wir sie sehn.
ist es meist der langsame Satz, der mich am tiefsten und nachhaltigsten bewegt. Der an Eigenes rührt, das in langer und wohl auch langsamer Arbeit freigelegt wird. Wobei ein Gedicht wiederum ein Geheimbezirk eigener Art ist“, schreibt Erika Burkart in einem Brief an den Verleger. Die hier versammelten 64 neuen Gedichte versuchen die Zeit anzuhalten, in der Natur die Geheimnisse einzufangen, die sich in die Menschenwelt als Mysterien einschreiben. Sie sind Verdichtungen einer unverwechselbaren Atmosphäre, Konkretisierungen eines lyrischen Kosmos, die subtile, zarte Gebilde, von getragener Sprache und mit eindringlichen Bildern entstehen lassen.
Ammann Verlag, Klappentext, 2002
Die 1922 in Aarau geborene Erika Burkart ist sicher die bekannteste Schweizer Lyrikerin. Sie war ein paar Jahre als Lehrerin tätig, bevor sie 1953 anfing, Gedichtbände zu veröffentlichen. Ihre Werke wurden oft mit Schweizer Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt 2005, mit dem sporadisch für das Lebenswerk verliehenen Grossen Schillerpreis. Erika Burkart lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Ernst Halter, im Haus ihrer Kindheit, in Althäusern, im Aargauer Freiamt. Das ist für das Verständnis der Gedichte hilfreich, da diese ehemalige (nicht pompöse) Sommerresidenz der Äbte des Klosters Muri, mit seinem märchenhaften und weitgehend naturbelassenen Garten, zentraler Ausgangs- und Drehpunkt der Dichterin ist. – Langsamer Satz erschien 2002 und enthält die drei Abteilungen „Das Licht im Baum“, „Schönheit und Schrecken“ sowie „Erinnern innere Zeit“. Die Lektüre führt mich (den Stadtmenschen) zunächst hinaus aufs Land, dorthin, wo ich früher in den Sommerferien spielte, auf Feldern und im Wald. Erika Burkart schafft es, mit wenigen Worten eine ganze Landschaft einzufangen, horizontal, vertikal und auch in die Tiefe des Bildes hinein. Eine Kostprobe:
MANN IN DER LANDSCHAFT
Der Horizont ein Strich,
Feld-Marken: keine.
Unter schwindelerregendem Himmel
geht er –, und sein Gehen
ist der Weg.
Du weiter Gott und einziger Baum.
Endet der Weg, kommen die Wölfe,
die Nacht kommt, ihr Engel,
der die Botschaft vergass
im Flug.
Erika Burkart ist nicht nur beschreibend und in Verklärung deutend, oft mahnt sie ganz konkret und leidet beim Anblick der zerstörten und verschwindenden Natur:
Tatort-Ödnis. Wunde im Wald. Licht, das entblösst, ist kein Trost. (aus: „Holzschlag“).
Allerdings wäre es zu einfach, wenn man Erika Burkart auf die Zuflucht in der Natur reduzieren würde, es gibt etliche Gedichte, in denen sie sich über die Schulter blicken lässt, so etwa in „Erste Niederschrift“, wo man Zeuge ihres Dicht-Prozesses wird oder in „Regendunkel. Nebenraum“, wo Vergangenheit und Gegenwart in ihrem Haus eins werden, vor allem aber auch im dritten Teil, wo sie, wie alle grossen Dichter, eigene Erfahrung zu allgemeingültigen Chiffren verarbeitet. Es erstaunt mich daher nicht, wenn sie Joseph Brodsky, dem Nobelpreisträger aus dem Jahre 1987, ein Gedicht widmet, in „Das Geheimnis der Hecke – acht Tanka“, auf eine uralte, japanische Gedichtform zurückgreift oder zu Beginn des dritten Teils den polnischen Autor Andrzej Stasiuk zitiert, der sich selbst auf Brodsky bezieht. All das sind Elemente einer grossen und grossartigen Dichterin, die beinahe ihr ganzes Leben einer Lyrik anvertraute, die Leichtigkeit und Schwere gleichzeitig in sich trägt und von Entschleunigung aus ihrem eigenen Märchen erzählt. Als Ausklang dieser ziemlich lang gewordenen Rezension mag das Gedicht „Sternschnuppe“ dienen, wo das Wesen von Erika Burkarts Lyrik sehr schön zum Ausdruck kommt.
Aus einem Sternbild
in fremde Felder.
Solange sie aufscheint,
kannst du noch wünschen –
wunschlose Trauer
dein Anteil am Flug.
Erika Burkart war nicht nur „unsre Dichterin“, wie man sie hier genannt und damit das Numinose ihres Wesens gleichsam eingemeindet hat, nicht einfach „Prinzessin“ oder „Moorfee“ oder was alles gut gemeinter Klatsch ihr andichtete – und sie sich in den ersten Jahren gefallen ließ, sie war ein Mensch, dessen Strahlung kaum jemand nicht erlegen ist – muss man doch zunächst Mensch sein, um Dichter zu werden.
Ihre Persönlichkeit schien oft widersprüchlich – und war von einer entwaffnenden Geschlossenheit und Spontaneität. Die Dichterin hatte, wie man heute leichthin sagt, Charisma. Doch auch Stalin und Hitler sollen Charisma besessen haben. Also was? Paulus im 1. Korintherbrief, 12,4, bezeichnet damit die verschiedenen Gaben, die Gott den Menschen verliehen hat. Unsrem Verständnis näher kommt Charisma als Gabe der Chariten oder Grazien, der Göttinnen der Anmut: eine gewinnende Aura oder Strahlung, die man hat oder nicht. Erika Burkart besaß diese Gabe, sie erhellte bereits ihre Kindheit.
Das Mädchen wuchs in Angst und Armut auf, immerhin unter dem Schutz der Mutter und mit der Möglichkeit, sich in eine damals noch halbwilde Natur zu flüchten. Die Frau und Dichterin lebte bis zuletzt unter kargen Umständen – und sie besaß die Garderobe einer Prinzessin (hier trifft das Wort), acht Schränke voller Kleider und Mäntel, Schals zuhauf, und sie trug ihre Sachen mit der Selbstverständlichkeit der Hochgeborenen. Wenn es um ihre Ausstaffierung ging, kannte sie nicht Schranken noch Skrupel, doch Eitelkeit war ihr wesensfremd. Aus kostbarsten Seiden- oder Brokatstoffen geschneiderte (➙ Cécile Hoffelner), von ihr entworfene Kleider, weiße, schwarze und graue Pelzmäntel und -mützen, Handschuhe, weiße und schwarze Stiefel waren nicht nur schön; sie schenkten ihr den Schutz, den sie als Kind hatte entbehren müssen.
Erika Burkart besaß wie große Künstler meist ein gerüttelt Maß an sacro egoismo. Er war ihrem Werk geschuldet. Sie hatte immer wieder – und sie benutzte – Diener und Dienerinnen, die für sie viel Alltägliches und alles Technische sowie den Kram erledigten, den Ruf und Ruhm mit sich bringen. Es brauchte starke Persönlichkeit, Entschiedenheit, Einsicht und Achtung vor ihrem Werk und Charakter, um ihrem Anspruch, wenn er zu weit ging, standzuhalten und klar Nein zu sagen. Wiederum konnte sie sich gleich einer Schwester einem andern Menschen zuwenden und sich in ihn hineinversetzen. Ihre Rollen als Aufrichterin Verzweifelter, Erweckerin einsamer Seelen, Förderin und Ratgeberin von jungen Lyrikern und Gravitationszentrum der Dichtung waren ihr Natur.
Erika Burkart hat verschiedene Strategien des Selbstschutzes entwickeln müssen. Die älteste war, ein braves Kind zu sein oder sich in einen stillen Winkel des Hauses oder der Landschaft zu flüchten. Als Lehrerin vermied sie Konflikte durch vorbildliche Pflichterfüllung und zuvorkommende Höflichkeit gegenüber dem „Herrn Inspektor“. Später habe ich es erlebt, dass sie jemandem nach dem Mund redete, etwa seine literarischen Stolperversuche übers Bohnenlied lobte, nur um ihn wieder los zu sein. Der oder die Betreffende verabschiedete sich in der Meinung, eine Gesinnungsgenossin gefunden zu haben und in ihrem oder seinem Genie endlich erkannt worden zu sein. Die Folge waren Korrespondenzen, die sich noch eine Weile fortschleppten.
Erika Burkart verwirklichte in ihrem Leben zahlreiche Postulate des Feminismus und vertrat Grundforderungen der Ökologie, viel zu früh für die auf stete Mehrung ihres Vermögens und Wohlstands fixierten Zeitgenossen. Sie war eine moderne, bei aller Anlehnung an den Gefährten selbständige Frau mit starkem Selbstbewusstsein – für beide ein Glück. Doch es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, für den Feminismus – in ihren Augen ein Abstraktum – zu kämpfen. Für ökologische Anliegen erwärmte sie sich genau so weit und so lange, wie sie ihre Landschaft betrafen. Doch sie hat aus ihren in nächster Umgebung gewonnenen Erfahrungen Schlüsseltexte über die Zerstörung der Natur geschrieben. Denn sie sah tiefer, im Kleinen das Große und Ganze; sie sah im umgehauenen Baum die Wälder stürzen.
Erika Burkart liebte Schönheit, ihre eigene, unter deren Auszehrung durch die Krankheit sie schwer gelitten hat – doch die Ausstrahlung blieb ihr in Leid und Krankheit. Sie liebte es, fotografiert zu werden, obwohl sie dann zuweilen die Prinzessin auf der Erbse spielte; ihr Leben und, ab Album Nr. 14, unser Zusammenleben ist in 72 gewissenhaft von ihr geführten Fotoalben dokumentiert, und nicht selten erlauben einzig ihre ständig wechselnden Roben Rückschlüsse auf den Fotografen und die Zeit der Aufnahme. Doch was Erika Burkart im Grunde liebte, war die Schönheit, nicht die Frau vor dem Waschtischspiegel. Trat ihr ein schönes Wesen entgegen, war es für sie beinahe schon gut; Enttäuschungen konnten nicht ausbleiben. Gleichzeitig hat sie sich den Verschupften und Zukurzgekommenen zugewendet, ihren „Nächsten“, wie sie geschrieben hat, als wäre sie dazu berufen. Sie war eine Meisterin im Schenken; ihre Geschenke beglücken, weil sie sich selbst im anderen damit beglückte.
Erika Burkart nahm Bewunderung, Verehrung und Huldigung als Selbstverständlichkeit entgegen, doch sie kassierte sie nie. Sie empfing sie mit Anmut, vielleicht mit einem Anflug von Koketterie, die sie noch schöner erscheinen ließ. Hochmut war ihr ein Fremdwort, Berechnung verstand sie als Lösung einer Mathematikaufgabe. Krankheiten des Nächsten machten sie ungeduldig, denn Krankheit war ihr Privileg. Die Krankheiten andrer aber gingen ihr nahe.
Erika Burkart war ein Wesen mit hocherotischer Ausstrahlung – eine Männerfrau. Frauen konnten ihr innige Freundinnen sein, mehr nicht. Ihre Beziehungen zu Männern waren unbelastet von Moral, sie hatte sie nicht nötig, denn hohe Ansprüche mussten erfüllt sein, eine Annäherung bis zu dem Punkt, den man früher „Einklang der Seelen“ nannte, bevor sie sich jemandem frei zusprach. Sie hat mehrmals bemerkt, ihr sei in der Liebe nie Unziemliches widerfahren; ihre Ausstrahlung ließ es nicht zu. Glück und Prüfung war, dass auch für ihren Gefährten die selbst verantwortete Liebe schwerer wog als Moral oder Vorschriften. Erika einmal zu mir: „Wenn deine Eltern mit euch Kindern eines Sonntagnachmittags in der Gartenwirtschaft gesessen hätten… und du acht, ich vierundzwanzig“ – kurzes Zögern, lächelnd –, „denn hett ich diich verfüert, für immer. Soone Bueb!“ Ein Scherz; sie hatte Buben viel zu gern, um ihnen als Erlkönigin „ein Leids“ anzutun. Männerfrauen lieben Buben. In den Gedichten spricht sie von sich häufig in der Er-Form.
Erika Burkart lebte der Liebe und liebte alle Liebenden und erwartete ganz selbstverständlich, dass man ihr die Liebe zurückgab. Eins ihrer Lieblingszitate stammte aus Puccinis Tosca. „Vissi d’arte, vissi d’amore.“ Sie hat sich an die zwei Gravitationszentren ihres Lebens, Liebe und Kunst, geklammert, als sie nur noch lispeln konnte. Sie hat auf ihren, wie sie ihn nannte, „Allerliebsten“ gewartet wie er auf sie; sie hat die Pflegerinnen darauf vorbereitet, dass er „bald, bald“ kommen würde.
Kaum zu fassen: Colliers, Bürsten, Kämme, Lippenstifte, Handspiegel, Schreibhefte, Bleistift, Radiergummi, Lineal, Lesebrille, Griffelschachtel, Klebeband, Scheren, Büroklammern, Hunderte von Vogelfedern und die innig blauen Gefäße in den Fenstern haben sie überdauert.
Erika Burkart war, um Schillers Begriff zu benutzen, eine naive Dichterin; sie war die einmal wieder Gestalt gewordene Ganzheit, die alles Lebendige zu Beginn mitbringt. Wie sie diese zu bewahren vermocht hat, bleibt ihr Geheimnis. Sie kannte an sich selbst den Menschen in seinem Widerspruch nicht – und mochte sie sich noch so oft widersprochen haben. Das eine wie das andre blieb für sie wahr, genauer: Dieses und jenes schlossen sich zum einen, in welchem für sie die Wahrheit wohnte. Leben ist immer ein Widerspruch. Der Teilchenphysiker kennt das Phänomen als duale Erscheinungsform der Materie – Korpuskel und Welle. Verlässt er seine scheinsouveräne Position, schließt sich der Widerspruch lautlos zum Ganzen: Das eine ist das andre.
Erika Burkart wurde zur Sage, nicht weil sie in einem sogenannt verwunschenen Haus wohnte, das aus Reparaturen und Anstrengung zusammengestückt war und von Zweier Willen aufrechtgehalten wurde. Sie verkörperte in lebenslanger Schwäche – ihr Herz war halb so groß wie ein normales Menschenherz – eine Naturkraft.
Vor mir sehe ich einen Sonnenuntergang, wie wir beide zur Teestunde ihn vom Wohnzimmer aus Hunderte Male beobachtet haben. Die Sonne ist unter, die Wolken, die Erika geliebt und aus denen sie ihre Tiere, Chimären und Dutzende Gedichte gelesen hat, sind brandrot, violett und lila angeleuchtet. Plötzlich erlischt die Strahlung, ausgeknipst, und wir sind allein in der kalten grauen Dämmerung. Ich gebe ihr ein Gedicht mit.
ANTIPHYSIK
Die Zeit isst sich auf.
Was wurde, ward nicht,
was wird, bleibt aus,
was werden sollte
bleicht zum wesenlosen Wenn.
Zersprungen die Feder,
die Rückwärtsuhr schlägt.
Die Spiegel erstatten den Raum,
Verbrechen finden die Täter nicht,
jeder kommt aus dem Krieg,
die Feueröfen öffnen den Schlund.
die Schläfer spülen den Lehm aus dem Mund,
und kehren über die goldene Brücke
zu Sichel und Seder zurück.
Es graut der erste Tag.
(Menschenland, 2010, S. 115)
Ernst Halter aus Ernst Halter: Das Alphabet der Gäste. Ein Versuch zu erinnern die Lebenden und die Toten, Limbus Verlag, 2021
Roman Bucheli: Erika Burkart gehörte zu den verborgensten und zugleich bedeutendsten Dichterinnen dieses Landes
Neue Zürcher Zeitung, 5.2.2022
Gertrud Leutenegger: „Schreibe, lebe, liebe“
Neue Zürcher Zeitung, 5.2.2022
Julian Schütt: 100 Jahre Erika Burkart: Wer Gedichte dieser unvergesslichen Schweizer Autorin liest, altert besser
Luzerner Zeitung, 5.2.2022
Simone Meier: „Glamour, mon amour“: Zwei gar nicht so ungleiche Geburtstagskinder
Aargauer Zeitung, 5.2.2022
Carola Wiemers: Die Schweizer Lyrikerin Erika Burkart und ihre Inspirationsquelle
Deutschlandfunk, 8.2.2022
Simon Leuthold: Die Gräser im Garten gaben ihr Halt
SRF, 8.2.2022
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