Erika Burkart: Nachtschicht / Ernst Halter: Schattenzone

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Erika Burkart: Nachtschicht / Ernst Halter: Schattenzone

Burkart-Nachtschicht / Halter-Schattenzone

DISTANZEN

Die Durststrecken
immer länger,
die Freude ein Punkt,
die Liebe ein Funke,
erlöschend im Flug.
Wo er schwand,
ein schwarzer Stern,
Fixstern Erinnern,
herz-eigen und
sphärenfern.

Erika Burkart

 

GOTT IST EIN DUNKLER PUNKT,
wär er ein Stern,
ich seh ihn nicht.
Was kann ich ihm bedeuten?
Laß du mich, Liebster, nicht allein.
Gibt es das Nichts?
Ich muß es wissen,
die schwerste Stunde kommt.
Sind wir ein Wellenschlag,
ein Funkenwurf durch finstern Raum
von hier zu den Plejaden?

Ich möchte Schnee,
ein weißes, letztes Meer,
und fern am Horizont
der Brand der Küsten, wo ich einst gelebt.
Dann laß mich schlafen.

Ernst Halter

 

 

 

Wider das Große Schweigen.

– Zu den letzten Gedichten von Erika Burkart. –

Die Publikation von NACHTSCHICHT ist keine Verwertung von Überbleibseln, noch ist sie der Verblendung des Nachlaßhüters zu danken, dem jede Zeile „seiner“ Dichterin heilig ist, sondern – durchaus nüchtern – der Bedeutung dieser hinterlassenen Texte. NACHTSCHICHT ist die bewegendste und in der Diktion modernste Gedichtsammlung Erika Burkarts, das Skript einer Sterbenden, die sich selbst beobachtet und begleitet, solange die Worte sich einstellen und die Hand gehorcht:

… mein Zimmer diesseits
des traurigen Traums,
den zu vergessen,
ich mich erinnere
schriftlich.
(„Herbstlicher Gast“)

Erika Burkart hat NACHTSCHICHT, den dritten Teil der „Schmerztrilogie“, ihrer schweren chronischen Krankheit abgerungen, die ihr tagsüber kaum eine Stunde Ruhe ließ und sie nachts mit Alpträumen quälte; abgeschlossen hat sie das Buch nicht mehr. Das Konvolut, beschriftet „Nachtschicht. Gedichte 2008/9“, besteht aus 59 Blättern, davon 55 in Bleistiftschrift auf karierten A4-Blättern und vier Ausdrucken aus zwei Dateien von 2008 und 2009. Transkribiert, zum Teil entziffert und erfaßt habe ich das Manuskript auf 67 Blättern. Aus einem handgroßen Entwurfsbüchlein habe ich „Verzweiflung“ übernommen. Dazu zwei weitere Textfragmente, von denen später die Rede sein wird.
Da die Gedichte in verschiedenen Entwicklungs- und Bearbeitungsstadien liegen geblieben sind, wird der Zustand der jeweiligen Handschrift vermerkt. Die Zwischentitel wie auch die Komposition der vier Kapitel stammen von mir. Anmerkungen zu einzelnen Gedichten, Äußerungen der Schreibenden, Kommentare zu Inhalt und Textgestalt, Konjekturen sowie, falls möglich, ungefähre Datierungen finden sich zusammengefaßt am Schluß des Bandes.

Sechzehn Texte können als abgeschlossen gelten; sie liegen in einer schwach oder nicht korrigierten, regelmäßigen und gut lesbaren Reinschrift vor; einige wurden später noch einmal leicht überarbeitet oder ergänzt. Ihnen stehen zweiundvierzig Entwürfe gegenüber. Notiert sind sie in der für die Dichterin charakteristischen, teils flüchtigen, teils kraftvollen, nicht selten wilden Entwurfsschrift mit zahlreichen Verweisnummern, Radierungen, Streichungen, Hinweispfeilen und Überschreibungen. Sie bieten die größten Schwierigkeiten, konnten jedoch bis auf drei Unklarheiten entziffert werden. Sie stammen im allgemeinen aus der letzten Zeit und weisen auch die meisten Reimsequenzen auf. Vier Reinschrift- und Entwurfsblätter sind abgebildet.
„Denn diese Krankheit ist gottlos.“ Der Vers aus Erika Burkarts Requiem für ihre Mutter „Ort der Kiefer“ (DAS LICHT IM KAHLSCHLAG) traf für den, der sie betreute und pflegte, auch auf die Krankheit der Dichterin zu. Ohne tödlich zu sein, drängte sie ihr Opfer langsam, unausweichlich in den Tod durch Erschöpfung, Unterernährung und Verzweiflung. Damit war auch der Titel NACHTSCHICHT dieser Gedichtsammlung gegeben. Der Großteil der Gedichte ist nachts entstanden, am Schreibtisch, um den Schmerzen in den Hintergrund zu drängen – eine Leistung, erbracht mit zähem Willen und größter Tapferkeit und das letzte Dokument der Lebensleidenschaft: von Erika Burkart: im Gedicht Zeugnis zu geben von allem, was sie anging. Je kleiner die Hoffnung war, zu genesen, desto größer, rücksichtsloser wurde die Freiheit des Ausdrucks – im Umgang mit Menschen wie mit Texten.

Gedichte entstanden, die, frei von jeder Berücksichtigung formaler Traditionen, bemüht einzig um schonungslose Genauigkeit, zu selbstgeschaffenen rhetorischen Formen und Formeln fanden. Diese wurden jedoch nicht kunstvoll eingesetzt oder weiterverwendet, sondern in den Abgrund des Lebens gehämmert („Erinnern“). Wortwiederholungen, Wortspiele, Wortpaare, Gegensatzpaare, Satzfragmente, willkürliche Sprünge aus der ersten in die dritte oder zweite Person des Subjekts, brüske Objektwechsel, Reime, die auf den ersten Blick einem Album mit naiver Dichtung entnommen scheinen – und unzählige Reimsequenzen. Die wohl eindrücklichste Sequenz, in „Reime der Todesangst“, erhellt schlagartig den Sinn dieses mnemotechnischen Behelfs, der zugleich als Chance eines neuartigen poetischen Sprechens in harten Fügungen wahrgenommen wird:

Blumen leuchten mit Eigenlicht,
indes die Schwelle ins Haus zerbricht,
für immer erlosch mein Gesicht.

Die drei Reimwörter zwingen drei Konstanten dieser Dichterexistenz in scheinbarer Willkür zusammen: das Licht, geliebt und jeden Morgen erhofft als Spender des Lebens, die von Kindheit an lastende Bedrohtheit der bergenden Außenschale Haus und das Gesicht, den ersten Ausdruck der eigenen Persönlichkeit.
Alles, das Nächst- und Fernstliegende, hat die Schreibende zusammengerafft, aufgehäuft zu einem Damm gegen den an flutenden Wortschwund, das drohende Vergessen, das sie bewußt als das Verstummen im Tod vorauserlebte. Dennoch blieb das Gesagte Gedicht, selbst auf Entwurfsblättern. wo die Einteilung in Verszeilen aufgegeben wurde, da die ausrinnende Zeit zum Notar zwang. Der Rhythmus der Diktion trug sicher bis zuletzt und hat die Verseinheiten klar erkennen lassen. Die Innenschau und die Freiheit der Bildfindung blieben im hoch persönlichen dichterischen Kosmos verankert und sind selbst in den letzten Gedichtentwürfen nicht schwächer geworden, so im folgenden Gedicht, das als Entwurf mit genau einer Korrektur vorliegt:

DER BLAUE VOGEL

Blau: die Erfindung eines verschollenen Gottes,
wirft er von fern,
immer ferner,
einen Vogel
aus der Ewigkeit in die Zeit.

Aufgrund der Entwicklung der Schriftzüge kann man davon ausgehen, daß im allgemeinen – jedoch nicht immer – die ersten Gedichte im Konvolut die ältesten sind. Sie setzen wahrscheinlich im Frühjahr 2008 ein.

Mit Sicherheit erst in der letzten Leidenszeit entstanden die Gedichte mit Reimsequenzen. Eine kleine, „erfolgreiche“ Operation unter Vollnarkose am 3. September 2009 hatte gewisse Hirnfunktionen dauerhaft geschädigt. Kurz darauf erzählte mir Erika Burkart mehrmals, sie müsse in Reimen denken. Gewisse Wörter waren nur noch über Reim und Assonanz abrufbar.
Vom Reim angezogen wurden selbst Namen, die während der Kindheit eine Bedeutung gehabt hatten, sich jedoch nicht mehr mit einer Erinnerung verknüpfen ließen. So – durch „roh“ und „froh“ – das geheimnisvolle „Munderloh“ in „Verlorene Wörter“, Name eines Dorfs im Oldenburgischen –, wohl aus einem deutschen Kinderbuch, das die Dichterin früh gelesen haben mußte. Auch Komposita, welche die Hauptelemente einer Aussage oder eines Eindrucks bündeln, wurden gegen Wort- und Bildverlust aufgeboten: Eisgraupelregen („Wind“), Winteralpträume („Bord am Weg zum Bergwald“), Eissplitterklirren („Einschneien abends“), Vorzeitgekräut („Meer“), Linden-Altblätter, Nebelnachtfeuchtes („Nebelfrühe“), Staubfäden-Haar („Herbstblätter“), moorsumpf-alt („Erdgeschichte“) feinscharf Schwarzschildkäfer („Sommerzeitliche Morgenfrühe“), Schwarzherz („Das Erlöschen“).

In Konditionalsätzen wurde das umgangssprachliche „wenn“ nunmehr meist unterdrückt. Ausnahmen sind Absicht. „Wenn“ signalisiert dann keine reale kausale oder temporale Bedingung, sondern beklemmende Angst:

… wenn kein Halm sich regt

wenn die Katzen schlafen und
die Vögel verstummt sind, schlägt der Blitz ein

(„Das Alter“).

Erika Burkart hatte „wenn“ nie gemocht, vielleicht weil Konditionalsätze nicht besonders elegant sind und erst noch umständlich eine von außen bestimmte Bedingtheit signalisieren. Ersetzt wurde es durch die Inversion von Subjekt und Prädikat: ,Hätte ich gerufen‘ statt ,Wenn ich gerufen hätte‘. Kommt es zu Satzreihungen, können Unklarheiten entstehen, da Haupt- und Nebensätze oft nur durch Komma getrennt sind. Ziel solchen Sprechens – und dem affirmativen Charakter von Erika Burkarts Dichtung angemessen – wäre eine Hauptsatzsprache, in der die Feststellung der Fakten und deren Reflexion verschmolzen und als getrennte Denkbewegungen aufgehoben würden.
Das Halten der Zeilen auf derselben Höhe, hie und da bereits die Orthographie des Einzelworts, bereitete nun Schwierigkeiten. Die Dichterin, extreme Linkshänderin, hatte noch mit der „schönen“, „lieben“ Hand schreiben gelernt. Dies rächte sich: Die Schrift begann zu zerfallen und lief aus dem rationalen Zügel.

Ich habe mich entschieden, die zwei letzten, mehr oder weniger vollständigen Gedichte oder Gedichtentwürfe von Ende Oktober und Anfang November 2009 einzufügen, als der Dichterin das Schreiben kaum noch möglich war: titellose Notate, [„An Georges Wenger“] und [„Herbstblätter“]. Der erste Text – auf einem Briefbogen – ist ein Dokument der Verzweiflung, da der Dichterin der Grund ihrer Existenz, das Wort, allmählich unter den Füßen versank. Noch versuchte sie sich mit einfachsten Reimen in die Sprache zu retten.

Ich kann nicht mehr beten,
bin im Schlaf an mein eigenes Grab getreten.
Deine Bilder begleiten mich fort und fort,
bleiben Heimat. Noch sind sie ein Ort.

Alles noch einmal,
winzig und zart,
anderer Art als die Welt –

Die Winterfrau sagt:
Die frieren, sollen sich lieben,
zählt Eulen und Meisen, die ihr geblieben.

auch Deine Bilder. Schilder der Seele,

Wir lesen und schauen, können wenig verstehn
vom Werk; nur Hülle und Herz sehn…

[„All Georges Wenger“] ist die einzige mir bekannte Gedicht-Epistel Erika Burkarts, eine Notlösung, da sich Sätze in Prosa offenbar nicht mehr zu Papier bringen liegen. In [„Herbstblätter“] wird ein letztes Mal der seherische Blick durch die Oberfläche in einigen fast spielerisch hingesetzten Metaphern wirksam; Wörter, die nicht mehr ausgeschrieben wurden, habe ich sinngemäß ergänzt.

Dem jisei (Todesgedicht ) der japanischen zen-buddhistischen Tradition bestürzend nahe kommen einige Verse von Mitte November 2009, die sich auf einem losen A5-Blatt finden. Mit unsicherer Hand hat die Dichterin, damals bereits im Krankenhaus, in immer neuen, durchgestrichenen Ansätzen ein Herbstbild festzuhalten versucht, das in äußerster Raffung ihre Partizipation am Lebendigen mit Grunderfahrungen ihrer Kindheit vereint. Vor dem inneren Blick hatte sie die Aussicht von ihrem Schreibtisch durch die bereits entlaubten Bäume. Sie sieht in dem durch Staunen erweiterten Raum, wie schwarzweiße Kühe ins Pilz-Holz (den kleinen, 1991 von mir gepflanzten Wald) trotten und

… bevor sie im Wald verschwinden,
noch einmal sich drehen
ins Licht, den Raum, wo noch immer
die Sterne des Kindes stehen.

Die „Sterne des Kindes“, angerufen im letzten Lebensjahr der Dichterin: Sie ist sich selbst und den prägenden Eindrücken und Erfahrungen ihrer Kindheit treu geblieben. Wohl hat sich die Thematik ihrer Gedichte erweitert, und betritt sie in den Kapiteln „Wortverlust – Weltverlust“ und „Nemo“ (d.h. Wind/Tod) von NACHTSCHICHT ein neues, unabsehbar weites, letztes Feld. Doch die Art der Betrachtung und Reflexion dessen, was an sie herantritt, hat sich nie geändert. Der Blick durch die Oberfläche der Dinge und des Lebendigen hat seine bald trauervolle oder empörte, bald blitzhaft erhellende Kraft der Transzendierung des Hiesigen durch Metapher und kontrastierende Gegenüberstellung nie verloren. Was wechselte, war der Vordergrund; die „Sterne des Kindes“ sind unverrückt geblieben.

Das Gedicht „Meer“ ist in seiner umfassenden Betrachtung und Durchdringung des Gegenstands eines der wenigen „Weltgedichte“ in Erika Burkarts Werk – und Neuland für eine Dichterin, die dem Element Wasser immer mißtraut hat. Nun wird es mit einer atemberaubenden Sprachbewegung, welche das ganze, rührend abgezirkelte poetologische Brauchtum abschüttelt, hereingeholt und in eine Kaskade von Bildern verwandelt. Der Grund der lebenslangen Wasserscheu wird klar: Das Meer steht für das Verschlungenwerden im Tod, damit neues Leben werde. Nun ist dessen Zeit gekommen, und grad weil es „Wahnsinn“ ist, „vom Meer berichten zu wollen“, muß darüber geredet werden. Die plötzlich aufreißende Vision vom Anfang und Ende des Lebendigen im Meer ist nun, kurz vor dem großen Dunkel, möglich. Zugleich bietet „Meer“, Metapher nach Metapher und gipfelnd im Oxymoron „Weltsprache Schweigen“ (genau in der Mitte des Gedichts), eine Folge sich steigernder Erkenntnis- und Glücksmomente und eine kaum überbietbare Fülle von Sprache auf. Ein Vergleich mit seinem Pendant, dem Gedicht „Ein Indianermädchen sieht die Sonne aufgehn“ (DIE WEICHENDEN UFER), macht deutlich, wie stark sich die Wahrnehmung aus dem Mythischen ins Hiesige – und bereits in ein Jenseitiges verschoben hat.

Erika Burkarts Dichtung bedachte ein weites Feld, ganz selbstverständlich und in großer Freiheit. Kannte sie etwas, hatte sie sich damit beschäftigt, es sich zu eigen gemacht, konnte es ihr zu Bild und Wort werden, bezog sie eindeutig Stellung – aus ihrer Sicht. Wenn sie im Gedicht „Bord am Weg zum Bergwald“ schreibt:

In Enziansternen
öffnet die Erde die Augen

sind die beiden Metaphern ,Enziansterne‘ und ,Augen der Erde‘ weder philosophisch noch ökologisch oder spekulativ zu verstehen oder nur als evident einprägsame Funde zu schätzen. Sie dienen der Erkenntnis; sie sind eines der wichtigsten Erkenntnisinstrumente dieser Dichtung, sie sprechen eine unter Einsatz der ganzen Persönlichkeit über Jahrzehnte gewonnene Erfahrung der Teilhabe am Ganzen gültig aus. Sie treffen zu. Daß die Erde in Enziansternen die Augen öffnet, ist wahr. Die kurzstengeligen tiefblauen Enziane schaffen mit fünf ausstrahlenden Kronblättern ganz selbstverständlich den Bezug zum kosmischen Begriff des Sterns; zum andern sind Blumen in unwirtlicher Umgebung eines der beglückendsten Zeugnisse für das Erwachen des Lebens. Erika Burkart hat sich zeitlebens wesenhaft mit Blumen und Sternen identifiziert. Sie war eine leidenschaftliche Botanikerin, und Blumenfreuden, etwa über den Blauen Himalaja-Scheinmohn (Meconopsis betonicifolia), gehörten zu ihren brennendsten, kindlichsten Freuden.

Teilhabe kann man nicht abschütteln wie die letzte Mode oder Ideologie. Sie ist die Voraussetzung unsrer Existenz, anders gesagt: der Grundvertrag, den die Schöpfung, organisch wie anorganisch, mit uns bei unsrer Geburt geschlossen hat und der uns das Recht gibt, hier zu sein. Der letzte Punkt dieses Vertrags lautet: „Tod“. In der Teilhabe und deren strikter Bezogenheit auf das sprechende, verantwortliche Ich gründet auch die standhafte Wandlungsfähigkeit von Erika Burkarts Dichtung. Sie trägt immer das Signum ihrer Persönlichkeit. Sie ist die Kraft der Verwandlung des Äußeren in ein Inneres, des Anderen oder Fremden in ein Eigenes – und dieses Eigene, Innere bleibt unbeirrbar bei sich. „Dauer im Wechsel.“ Erika Burkart mochte in hohem Alter wohl weltscheu oder weltmüde werden; schöpfungsmüde ist sie nie geworden:

… noch übe ich mich in Zeichen und Kerben,
höre Echo hauchen,

möchte Vogelsilben verstehn,
möchte nicht in die bessere Welt gehn,
bitte den Schmerz
um das Wort, das trifft.
(„Das Atmen der Horen“)

Ernst Halter, Vorwort, Juli 2010

 

Nachtschicht

versammelt die letzten Gedichte von Erika Burkart, 58 Texte und Entwürfe einer Sterbenden, die sich selbst mit schonungsloser Genauigkeit beobachtet, „solange die Worte sich einstellen und die Hand gehorcht“.
Im zweiten Teil des Bandes, Schattenzone, nimmt der Schreib- und Lebensgefährte Ernst Halter nach Jahrzehnten des gemeinsamen Gesprächs, in 42 Gedichten Abschied von Erika Burkart.

weissbooks.w, Klappentext, 2011

 

Du Vogel Schlaf

– Tod und Liebe: Erika Burkarts letzte Gedichte. –

„Wahnsinn, vom Meer berichten zu wollen“, schreibt die im Jahr 2010 gestorbene Schweizer Lyrikerin Erika Burkart in einem ihrer letzten Gedichte. Und trifft damit Vermessen- wie Verwegenheit aller gescheiterten und geglückten Meeresgedichte. Wenn aber schon der Versuch, diese nur scheinbare Unendlichkeit zu erfassen, Wahnsinn ist – wie verrückt muss es dann erst sein, vom Sterben berichten zu wollen.
Denn das Sterben ist jener Ozean, von dessen anderem Ufer wir noch nicht einmal eine Landkarte besitzen. Und selbst wenn es Berichte von dort gibt, sind sie in der Sprache des Lebens verfasst. Dieser aporienhafte Atem fließt durch die Gedichte aus den letzten zwei Schaffensjahren von Erika Burkart und die ihres Lebensgefährten Ernst Halter, die auch das letzte, von der Lyrikerin sprachlos erlittene Lebensjahr umfassen.
Nachtschicht und Schattenzone heißt der sehr persönliche, aber nicht zu private Doppelzyklus über Erika Burkarts Sterben, den Ernst Halter als Lyriker und Herausgeber gleichsam einfühlsam und präzise gestaltet hat: ein todtrauriges und, nicht weniger, ein glühend lebensdichtes Dokument von der Grenze zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit – und von der Reichweite der Liebe. Weil ein solches Dokument nur in engster Verzahnung von Erleben und Schreiben entstehen kann, wird in dieser Besprechung das Ich der Gedichte den Autorenpersönlichkeiten gleichgesetzt.
Beklemmend ist es, wie Halter seine sterbende Frau beschreibt:

selbst der rote Schal,
dein Schutz und Trost: Geschmier.

Aber sein Schmerz ist es zuallererst, um die Zumutung zu wissen, die dieser Zustand für die Sterbende bedeutet. Vier Monate vor ihrem Tod hält er eine so verzweifelte wie erhabene Zwiesprache:

Du Vogel Schlaf,
schlag sie in deine Flügel,
trage sie weg von Medikament und Matratze,
aus den Fesseln schlage sie,
schließ ihr dein dunkles Tor auf,
nimm sie an der Hand.
Führe sie einen letzten Wintertag lang,
Schnee im Haar und Nacht,
durch dein grenzenloses Land.

„Gefährdet sind, die sich lieben“, heißt es einmal bei Burkart. In all diesen Gedichten steckt größte Gefahr. Sie äußert sich in der Angst der Schwerkranken, zur Last zu fallen; in der Angst des gesunden Partners, den siechenden Körper nicht mehr zu ertragen, ihn im gefühlsmäßigen Abstandnehmen zu verraten. Immer wieder schwingt die Gefahr in den Gedichten mit, die Liebe könne noch vor dem Leben enden.
Nichts funktioniert hier nach Hölderlinschem Notfallplan: Denn das Rettende bleibt aus. Sprache – das vermitteln diese Abschiede in Versen – kann nicht retten, aber sie kann, ist sie konzentriert genug, Trost zusprechen, auch für einen unstillbaren Schmerz:

Wie sonst ertrügen wir, unbegreifend,
so selig wie bang,
lebenslang Kinder
des Todes zu sein?

Weder bei Halters noch bei Burkarts Gedichten gibt es formale Zwänge, intellektuelle Hinterhalte oder poetologische Positionen. Wörter sind hier Partikel der Schöpfung, nicht einer sprachskeptischen Literarizität. Burkart ist so sternengläubig wie Nelly Sachs, so blütentrunken wie Paul Celan, und sie benutzt, was ihr an Diktion und Komposita nahe ist.
Aber nichts legt dieser Band so fern wie den Ruf nach Stilmitteln. Das Verfahren ist ein phänomenologisches. Die Sprache dieser feinziselierten Abdrücke des Todes im Leben gewinnt ihre Poesie aus der Empfindungsgenauigkeit und aus den Räumen der mal heiligen, mal furchtbaren Stille, die jedes der knapp gesetzten Worte umgibt. Sie „bitte den Schmerz / um das Wort, das trifft“, schreibt Burkart. Darin wird sie erhört. Selbst mit einfachen Reimen geschieht darum oft Wesentliches. Umso mehr beeindruckt dies nach Ernst Halters Anmerkung, seine Frau habe sich nach einer Operation vergessene Worte oft nur noch durch Reime zurückerobern können.
In „Altersfreuden, Altersfrust“ trifft der Wortverlust auf einen eindrücklichen Reichtum der Bilder:

Wenn jedes Wort
eine Geschichte ist,
an Adressen schreiben,
die es nicht mehr gibt.

Erika Burkart hat ihr Leben lang am gleichen Ort gewohnt. Zuletzt ist es Halter, der an eine Adresse schreibt, die es nicht mehr gibt. Und trotzdem haben beider Gedichte die wundersame Kraft anzukommen.

Astrid Kaminski, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.2011

Unter schwarzen Sternen

– Erika Burkart und Ernst Halter im lyrischen Zwiegespräch. –

Ein Jahr nach Erika Burkarts Tod am 14. April 2010 ist ein dichterisches Vermächtnis einzusehen: ihre Gedichte aus den Jahren 2008 und 2009 mit dem Titel Nachtschicht, manche als Reinschrift, andere im Entwurfstadium hinterlassen. Dazu fügen sich als Entsprechung die Verse ihres Ehemanns Ernst Halter, der in Schattenzone Abschied nimmt. Auf dem Umschlag des Gedichtbandes stehen die gleich lautenden Majuskeln der Vornamen, die beiden E, einander gegenüber – in sanfter Berührung und zugleich in Distanz. Wer zu sehen versteht, erfasst darin wesentliche Züge des lyrischen Duetts.

Weltmüde, aber nicht schöpfungsmüde sei Erika Burkart in den letzten, von einer langwierigen Krankheit gezeichneten Lebensjahren geworden, schreibt Ernst Halter in seinem Vorwort. Kaum einer anderen Dichterin oder einem anderen Dichter bedeutete die Teilhabe an der Schöpfung so viel wie ihr. Sie stand dem Baum nicht nur gegenüber, sondern wuchs in ihn hinein, wie auch die Erde in Enziansternen für sie die Augen öffnete. Die Grenzen hoben sich auf. Noch einmal hatte die Dichterin paradiesisches Dasein verwirklichen können, zugleich aber in „standhafter Wandlungsfähigkeit“ eigene Gegenwart und Wirklichkeit einbezogen. Im Gedicht wollte sie „Zeugnis geben von allem, was sie anging“, und dies bis zuletzt, bis die Kräfte sie verliessen. So sind die hinterlassenen Gedichte Stimmen aus jenem Raum vor der letzten Pforte.
Wovon spricht Erika Burkart? Die Zeichen ihrer dichterischen Landschaft scheinen nicht weggewischt zu sein: Blumen, Bäume, das Licht und der Nebel, die Vögel, Moor und Mond, die Erde und die Schnee-Musik, die Gestalt der Mutter – alles, was ihr Blick aus dem Fenster erfasst hat und was seit je in der Herzkammer geborgen war, ist noch einmal da. Aber die Sterne sind dunkel geworden:

Unsre Existenz zwischen Sternen,
deren Fernen Schönheit vortäuschen;
in unüberbrückbaren Leeren
weltalte Scheinkörper, Bälle aus Gas und Gift,
steinerne Totenmonde

Jene Tonart wird angeschlagen, die schon immer im Untergrund angeklungen hat, aber sich nun unüberhörbar behauptet. Mitleidlos, ja rebellisch registriert die Dichterin die condition humaine, vor allem aber ihren eigenen Zustand des Verfalls und Zerfalls. Die Angst packt sie, „nicht mehr von dieser Erde zu sein, / Partikel eines Atoms / in einem zum Nichts zerfetzten, / Niemand zugehörigen Alles“. Aus dieser Angst heraus gewinnt das Meer, das kaum je in ihrer Dichtung erschienen ist, eine neue und zugleich uralte ambivalente Bedeutung. „Wahnsinn, / vom Meer berichten zu wollen“, schränkt sie zu Beginn dieses Gedichts, das fast als eine Ode zu betrachten ist, realistisch ein. Das Faszinosum gründet für sie in der Feststellung:

das Meer
hat keine Sprache, ist da, Verweigerung
Rettung, Mutter und Tod

Sie selbst indessen fürchtete, die Sprache zu verlieren, über die sie einst so grossherzig geboten hatte. Wortverlust wäre für sie Weltverlust gewesen. Dagegen errichtete sie, wie dies Ernst Halter darlegt, verzweifelt einen Damm. Mit der häufigeren Verwendung von Reimen und Assonanzen, aber auch mit den von ihr schon immer geschätzten poesievollen Komposita schuf sie sich mnemotechnische Stützen, die manchen Versen einen eigentümlich düsteren Reiz verleihen und bisweilen eine merkwürdige Inkohärenz erzeugen. Immer aber ist Schreiben „Wildern, / Schauen und Schildern, / Leben als Sprechen in Bildern“. Die Furcht, die Erika Burkart in diesem Kampf gegen den Wortschwund angetrieben hat, lässt sich vergleichen mit jener eines Komponisten vor dem Verlust der Töne oder eines Malers, dem Farben und Formen in die Leere entschwinden. Hell und klar stand indessen die Kindheit vor ihren Augen, der Gegenzauber, welcher Nemo – Niemand – zu bannen wusste. Im „einsamen Kind“, das sie gewesen war, erkannte sie sich, nunmehr an der Schwelle des Todes stehend, ein letztes Mal in aller Innigkeit. Denn sie, „die Sterne des Kindes“, blieben ihr.
„Gefährdet sind, die sich lieben“: Erika Burkarts Satz treibt auch im Grundwasserstrom von Ernst Halters Gedichten dahin. Seine 42 Verse der Trauer um die Gefährtin fügen sich in jene reiche Tradition ein, die zuvor schon Friederike Mayröcker oder Gerhard Meier aufgegriffen haben. Wer zurückbleibt, steht am Ende einer gemeinsamen Welt, die mit dem Tod des andern zerfällt. Jeder kehrt wieder in seine eigene Einsamkeit zurück. Die Gegenstände schweigen, kein Widerhall lässt sich barmherzig vernehmen. Aus diesem Wissen heraus sind Ernst Halters Verse entstanden. Es sind würdige Antworten auf die Zäsur, die der Tod gesetzt hat, Zeugnisse einer Fassungslosigkeit. Auch ihm drohte in der „Todeszone“ ein Wortverlust:

und ob den kargen Worten „sieh“, „ach, lass“
kommt uns die Sprache abhanden,
wächst das Ungesagte die Stimme zu

Er wartet und weiss, dass auch sie wartet – „ein Schacht ist die Nacht“.
Langsam nur tastet er sich in die Sprache, ins Leben zurück. Das heisst auch, sich aus dem Bereich der Gefährtin heraus zu bewegen, Schritte in einem neuen Gelände zu wagen, das von keinen Spuren gezeichnet ist. Der Blick fällt in dieser Zeit auf scheinbar geringe Dinge: „Dein Pullover im Nordwind“, „ein Bleistift unterm Tisch“. Im Ohr klingen „die kleinen Wünsche“ der Sterbenden nach, er lauscht ihrem Atem, tastet nach dem Ärmel ihres „Todeshemds“. In den unauffälligen Gesten bündelt sich die Erinnerung an ein gemeinsames Leben und Schaffen, das unwiderruflich der Vergangenheit angehört.

Wie aber ist das Jetzt beschaffen? Die Bilanz fällt unbestechlich aus:

Nach dir bin ich
derselbe und ein anderer.

Wenige Wochen nach dem Tod der Dichterin hält Ernst Halter in diesem Gedicht fest:

In deinem Hinterland
war ich nur blinder Gast
du sahst mich wohl,
ich sah dich nicht,
nichts gab es zu berühren,
ich hörte keine Schritte,
fand nicht die Spur im Sand
und stieg zurück ins Licht.
Ich lebe.

Mythische Bilder orphischer Herkunft stehen hinter solchen Zeilen, aber zuletzt behauptet sich der lapidare Satz aus unverhüllter Gegenwart: „Ich lebe.“
Wenn es eine Gemeinsamkeit zwischen Erika Burkarts Nachtschicht» und Ernst Halters Schattenzone herauszustellen gilt, so ist es das Bekenntnis zur unbeschönigten Bestandesaufnahme. «Es ist, was es ist“, hätte Erich Frieds Kommentar gelautet. „Gesagt ist ’s / und nichts gesagt, / Worte bleiben Worte“, hält Ernst Halter in aller Skepsis fest.

Beatrice Eichmann-Leutenegger, Neue Zürcher Zeitung, 19.5.2011

Auge in Auge mit Anfang und Ende

VERZWEIFLUNG

Wie in den Morgen kommen,
wenn gegen vier
der Tod mit zehrenden Schmerzen
aus den Sterbelöchern der Welt
mich überfällt?

Wie sprechen über ein solches Gedicht – über Gedichte „einer Sterbenden“, wie es im Vorwort von Ernst Halter heisst? Die Texte, ein Jahr nach Erika Burkarts Tod veröffentlicht, sind allesamt Zeugnisse ihres langsamen Verlöschens. Solange die Krankheit es zuliess – auch noch im Spital, auf dem Sterbebett –, hat die Dichterin dem Tod ihre lyrische Stimme entgegengehalten. Es sind Beschwörungsformeln geworden: gegen Schmerzen, Erschöpfung, Ängste und Einsamkeit.
Noch einmal nimmt ihre Lyrik den Schrecken an die Hand. Kontrastierend eingeflochten in der Vorahnung des Endes:  Erinnerungsbilder des Anfangs, der Kindheit. Sie lösen noch immer dieselbe Wahrnehmung aus, die ihnen früher gelang, nahe beieinander liegende Impressionen der Glückseligkeit und der Todesangst.  Durch den Kontext gewinnen sie eine neue Qualität: da, wo Erika Burkart von Blumen spricht, von Bäumen und dem Wind, erscheinen die Zeilen wie aus einer Handvoll Wörter in die Luft geworfen und federnd wieder aufgefangen. Und doch umgibt sie jetzt ein nach Trost suchender, dunkler Klang.
Im Gedicht „Auge in Auge“, einer Rückschau auf Gelebtes und auf die Mutter, heisst es – buchstäblich – am Schluss:

… das Kind
im brusthohen Gras stand,
Auge in Auge mit den Blumen.

Ganz anders der Tonfall im auszuhaltenden Leid. Seine Stimmung ist dumpf und schwer, der Ruf nach der Mutter voller Angst: „Reiche mir, Mutter, die Hand…“, heisst es in einem Vers über den allmählichen Verlust der Wörter. Klagend, ja bitter die Schmerzworte: „Leidend wird man zum Kind oder Tier…“
Das Werk der Erika Burkart erweist sich in diesem Bändchen als lyrisch zusammengefasst und wohlkomponiert. Man sollte, angesichts der Intimität, nicht zu viel sagen über diese  nachgelassenen Gedichte, vielmehr sollte man sie lesen. Und wenn doch sprechen, dann nur leise. Und flüsternd anzumerken wäre, dass der zweite Teil des Buches mit Gedichten von Ernst Halter, Trauerversen über den Verlust der Lebensgefährtin, in einem separaten Band hätte erscheinen sollen. Das letzte Gedichteweinen der Lyrikerin nämlich hätte seinen ausschliesslichen Platz durchaus verdient.

Silvia Hess, schweizer monat, September 2011

EINS:

Vor eineinhalb Jahren, am 14. April 2010, ist die Schweizer Dichterin Erika Burkart (*1922 in Aarau) in Muri (AG) gestorben. Erschienen sind nun ihre letzten 58 Texte, zusammen mit 42 Gedichten ihres Ehemanns, Lebenspartners und Schreibgefährten Hans Halter.
Wie in einer Nachtschicht verfasst oder aus einer Schattenzone heraus ranken sich Stimmen – feine, dünne, spinnwebige, erdige, lichte – in den Tag hinaus. Daraus erwächst ein Zwiegespräch, welches sich, stets eingedenk des Strudels des Todes, nochmals dem Leben widmet. – Was ist aber das Leben in der Dichtung? Es ist immer gesteigerte, veredelte, konzentrierte Wirklichkeit.
Bei Erika Burkart besteht die Schöpfung aus Blumen, Wäldern, Mooren und den Jahreszeiten, die beseelt sind von ihren Elementarkräften, von Elfen, Kobolden, Vogelfrauen, Wurzelwesen und Faunen. In den zwittrigen Dämmerstunden kommen diese Naturwesen zum Vorschein. Der Kosmos wird dann vom Kleinsten aus in das Weltall gespannt: In einem weissen Mantel aus Rauhreif zeigt sich die Schneekönigin, der Winter, Enziansterne liebäugeln mit dem Sternenzelt am Himmel, ein zerzaustes Federbüschel im Garten zeugt vom Schicksal eines nah gewesenen Engels, und etwas Mauseknöchelzartes wird zum Skelett des Universums. Die Dinge entledigen sich in Burkarts Dichtung ihrer Stofflichkeit und können zu kosmischen Signaturen werden. Über das Zeichenhafte wiederum zeigt sich gesteigerte Wirklichkeit. Mikrokosmos und Makrokosmos fallen darin zu einer Raumbildzeit zusammen. – Burkart zeigt aber auch bissigen Humor, wenn sie etwa gegen keuchende Jogger und Biker andichtet, die, „den Starrblick über dem Lenker dicht an der Stoppuhr“, blind durchs Unterholz krachen und in solcher Verfassung natürlich nichts sehen, weder Mohrenfalter noch Moosglöcklein.
Ich betrachte Erika Burkart als eine Art Raumfahrerin durch Naturwelten. Das Transzendente fand sie in einer Feder oder in einer Blüte oder in einer Sternschnuppe. Manchmal denkt man beim Lesen an Adalbert Stifters sanftes Gesetz, manchmal an Eichendorffs Wünschelrute, oft auch an Prousts Vermögen, Kindheitsräume und Paradiesträume durch die Zeit hinaufzubeschwören. Aber es war ja und bleibt Erika Burkart, die hier, von Alter und Krankheit gezeichnet, das Bord am Weg des Lebens noch einmal mit Sprache säumt:

Alles aus. Wie Kreide
Von einer Schülertafel gewischt.
Fahlgrauer Schiefer, ein Stein in Scherben,
doch unverloren
Sprache und Schrift;
Noch übe ich mich in Zeichen und Kerben,
höre Echo hauchen,
möchte Vogelsilben verstehn,
möchte nicht in die bessere Welt gehen,
bitte den Schmerz
um das Wort, das trifft.

(Erika Burkart, aus: „Das Atmen der Horen“)

Ob es einen Gott gebe im Kosmos, der „ein Ohr hat für menschliches Stammeln“, fragt sich Burkart in einem anderen Gedicht. Dazu passt der Respons von Ernst Halter. Der letzte Trost liegt bei diesem Gedicht im „Du“, darin gibt es vielleicht eine menschliche Bleibe.

Nun liegst du eingekrümmt
In der letzten Nacht.
Unsere Hinfälligkeit – du,
unsre Liebe – du,
unsre Schönheit und Trauer – du.
Ich bin belehrt, was das heisst:
Mensch:
Ein grenzenloser Punkt,
wenn er hindurchtritt.
(Ernst Halter, aus: „Ich hüte deinen Atem“)

Ihre Kindheit verbrachte Burkart in Althäusern (Freiamt, AG) im sagenumwobenen alten Haus Kapf, der ehemaligen Sommerresidenz der Äbte von Muri. Ihr Vater hatte dort eine Gastwirtschaft geführt. Nach ihrer Ausbildung arbeitete Burkart während gut 10 Jahren als Primarlehrerin. Ab 1955 war sie freie Schriftstellerin. Nach längeren Auslandaufenthalten in Italien, Spanien, Frankreich und Irland lebten Erika Burkart und Ernst Halter wieder im Haus Kapf. Burkart gilt heute als bekannteste Lyrikerin der Schweiz. Ihr Werk, darunter mehr als zwanzig Gedichtbände, wurde mit zahlreichen Preisen, u.a. dem Grossen Schillerpreis (2005), ausgezeichnet.

Steffen Lietz, Neuland, Nr. 7

 

„Ist er mir noch böse?“

– Hilde Domin und Erika Burkart. –

Als Erika Burkart 1971 den Ida-Dehmel-Preis der GEDOK in Hannover entgegennehmen durfte, hatte sie ein schönes Kleid für die Feier im Koffer mit (Erika hat als Frau mit eingeborenem Geschmack schöne Kleider immer geliebt). Hilde tritt ins Hotelzimmer (ich war aus einem Grund, der mir entfallen ist, abwesend, wahrscheinlich trank ich an der Bar mit Dieter Fringeli, der die Laudatio hielt, Whisky). Als die Zeit gekommen war, in den Festsaal hinunterzusteigen, treffe ich meine Frau in ihrem verschwitzten Reisekleid im Zimmer. In Tränen. Ich fragte sie, warum sie das schöne Kleid wieder in den Schrank gehängt habe. Sie erzählt mir etwa das Folgende: Hilde sei ins Zimmer getreten, habe sie, strahlend im Prinzessinnenkleid, vorgefunden und ihr eine belehrende, fast drohende Strafpredigt gehalten. Sowas schicke sich nicht in diesen schweren Zeiten (3 Jahre nach ’68), vor allem für Dichterinnen nicht, auch sei es viel zu gefährlich (!!). Sie solle es bitte sofort wieder ausziehen.
Dann folgte also die Feier „im Straßenkleid“ (alle anderen Teilnehmerinnen waren festlich angezogen). Erika verstimmt und bedrückt. Es war übrigens gar kein Prinzessinnenkleid, nur mir kam es so vor: Hellblau mit eingewebten Goldfäden und weiten Ärmeln. Erika hatte es im Ausverkauf in Muri für 70 Franken erstanden. Es kleidete sie jedenfalls wunderbar.
Ich hatte eine ausgewachsene Wut im Leib. Noch am selben Abend ging ich zu Hilde in ihr Zimmer und machte meinem Zorn Luft; sie war ganz verdattert, doch irgendwie akzeptierte sie’s von mir. In den folgenden Jahren war Hildes erste Frage an Erika jedes Mal:

Ist er mir noch böse?

Ach nein, Hilde war eine reizende, in vielem rührende Frau und eine große Dichterin; auch ihre Frankfurter Poetikvorlesungen zeugen von einem tiefen Verständnis des dichterisches Prozesses und seiner gesellschaftlichen Verantwortlichkeit. Und selbst großen Dichterinnen ist es erlaubt, menschlich-allzumenschliche Züge zu haben.
Auch das Folgende zeugt davon: Hilde hat einmal im Gästezimmer des Hauses Kapf übernachtet. Erikas damals noch lebende Mutter, Miggi Burkart, brachte ihr das Frühstück ans Bett, und draußen herrschte Wetter mit Aussicht. Es muss um 1970 gewesen sein. Miggi Burkart starb 1972.
Auch das hat Hilde nie vergessen, wie Erikas Mutter zu ihr mit dem Frühstückstablett ans Bett getreten war, und hat bei jeder Begegnung von dem großen Glück jenes Morgens gesprochen, als sie, umsorgt von einer echten Mutter und mit Sicht auf die Schweizer Alpen, das Frühstück habe genießen dürfen.
Es folgten etliche Begegnungen. Jedes Mal, wenn Hilde in der Schweiz war, rief sie an. Zum letzten Mal trafen sich Erika und Hilde eines schönen Frühlingabends in Kappel am Albis. Hilde Domin war damals 95. Ich geleitete meine Frau in den Speisesaal, wo Hilde wartete, und ging dann spazieren. Erika erzählte mir nachher, sie hätten wenig gesprochen, einander an den Händen gehalten und in die Augen gesehen – im Wissen, dass dies wohl die letzte Begegnung sein würde. Als ich nach etwa einer halben Stunde zu ihnen trat, sah Hilde mich staunend an und sagte:

Wer ist denn der schöne junge Mann? Ach, du bist’s, Ernst. Bist du mir immer noch böse?

Bedenke ich das tapfere und gefährdete Leben von Hilde Domin, wage ich es, mit einem Gedicht zu schließen, das ich ihr hiermit widme. Hilde hat dies alles erfahren müssen. Wider Willen, gejagt vom Menschen vernichtenden Wahn jener Zeit.

SCHREIBEN
Für Hilde Domin

Mit dem Meißel
dem Pinsel
mit Federkiel Waterman
dem Stylo
mit der Remington Olivetti
auf dem Mac über Fax per E-Mail
SMS und Interchat
die Straßen füllen sich dennoch
bis ins dritte und vierte
Geschoß mit Trostlosigkeit

Big und Bang und Blackout
mit dem Finger
in die Asche
auf ein altes T-Shirt
Mozart und Marilyn
unsere Botschaft
durch Windsbraut
Flaschenpost
„hier haben wir gewartet“

an Keinen, an Einen
in der Blitzglocke über dem nächtlichen Meer

Wie immer
mit der eigenen
roten
Tinte

Ernst Halter, aus Marion Tauschwitz (Hrsg.): Unerhört nah. Erinnerungen an Hilde Domin, Kurpfälzischer Verlag, 2009

 

 

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Roman Bucheli: Erika Burkart gehörte zu den verborgensten und zugleich bedeutendsten Dichterinnen dieses Landes
Neue Zürcher Zeitung, 5.2.2022

Gertrud Leutenegger: „Schreibe, lebe, liebe“
Neue Zürcher Zeitung, 5.2.2022

Julian Schütt: 100 Jahre Erika Burkart: Wer Gedichte dieser unvergesslichen Schweizer Autorin liest, altert besser
Luzerner Zeitung, 5.2.2022

Simone Meier: „Glamour, mon amour“: Zwei gar nicht so ungleiche Geburtstagskinder
Aargauer Zeitung, 5.2.2022

Carola Wiemers: Die Schweizer Lyrikerin Erika Burkart und ihre Inspirationsquelle
Deutschlandfunk, 8.2.2022

Simon Leuthold: Die Gräser im Garten gaben ihr Halt
SRF, 8.2.2022

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Nachruf auf Erika Burkart: NZZ

 

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