Erinnerungen an Thomas Brasch

Play with fire

Mashup von Juliane Duda zu der Kategorie „adhoc“

adhoc

Manchmal saß er da an der Spree, auf einer Treppe, wo ihn niemand vermutete. Er saß dann so lange, bis er den Jauchegestank nicht mehr aushielt. Aber ihm kamen dabei die besten Gedanken. Und er schrieb dort, nach eigener Aussage, auf dieser, seiner Privattreppe, die für ihn wichtigsten Gedichte. Genau die wollte ich haben! Von meiner Existenz als Büchermacher, als Kleinverleger, hatte er gehört und dass ich ein Brechtbuch zustande gebracht hatte und dass auch Heiner Müller mir Verse für einen Erstdruck in Buchform kurz vor seinem Tod gegeben hatte – das schindete Eindruck.

Trotz neuer, neutralisierter Umgebung: der Sumpf der Drogen war für Thomas nicht trockengelegt. Wie eine Diva war er launisch und unberechenbar. Er schottete sich ab, arbeitete ernsthaft an seinen Shakespeare-Übersetzungen. Er konzentrierte sich auf eine Sache, und man spürte, dass der Raubbau am eigenen Körper und das Leben im Zehn-Achtel-Takt Spuren hinterlassen hatte. Er ließ einen nach Belieben hängen; dann rief er eines Sonntags morgens halb acht an – wahrscheinlich nach einer durchkoksten Nacht −, um mir ganz selbstverständlich mitzuteilen, dass er eine Idee habe „für die Art von Büchern, die du machst“.
Zweieinhalb Jahre hatte es gedauert, doch dann hatte ich es – Unveröffentlichtes von Thomas Brasch, den Gedichtzyklus „zwei offne Fenster ODER ein liebes paar“. Weitere zweieinhalb Jahre vergingen, bis das Buch praktisch umgesetzt wurde. Währenddessen pendelte ich zwischen Verzweiflung und Euphorie und war kurz davor, alles hinzuschmeißen. Denn die Suche nach Illustrator war mehr als tausend Canossa-Gänge für den Verleger. Wie konnte ich es dem Dichter Recht machen, wer konnte es als Maler mit Herrn Brasch aufnehmen?
Penck, den ich zuerst vorschlug („Alte Ost-Verbindungen“, versuchte ich zu locken), redeten wir uns beide aus. Dann kam Thomas mit Paul Wunderlich, seinem alten Kumpel aus Hamburg („ich brauche Paul bloß anzurufen“, meinte er). Aber mit dem surrealistischen Touch für die Klarheit seiner Sprache wollte ich mich nicht anfreunden. Nina Hagen sollte es richten! Schöne, verrückte Idee, aber Nina war zu sehr auf ihrem eigenen Trip. Zwischendurch wurde es ganz absonderlich: Kim, der Kneiper aus dem Van Gogh, wo man Thomas spät abends meist bei einem Wodka-Absacker antreffen konnte, malte doch auch. („Den setzen wir ran, den zieh ich mit“, sagte er.) Sodann sollte es seine sechsjährige Tochter machen („nicht diese Kunstscheiße“).
Was ganz Gewagtes fiel mir ein: Ich fuhr zu Gottfried Helnwein auf sein Schloss bei Bonn, und in Gegenwart von Antje Vollmer trug ich beim Nachmittagstee aus Meißner Porzellantassen mein Anliegen vor. Heinwein war nicht abgeneigt, sich auf Herrn Brasch einzulassen, aber da gab es ein Problem. Die Verdächtigungen, dass er in Scientology-Machenschaften verwickelt sei, ließen ihn nervös und unverbindlich sein. Wahrscheinlich hätte ich mit Heinweis Beteiligung – nach dem Motto: politisch korrekt ist uns lieber als große Kunst – kein einziges Buch an eine deutsche Bibliothek verkauft, dafür aber um so besser in Amerika… Thomas war bei Heinwein nicht abgeneigt („Guter Maler“) sagte er – und vor Skandalen fürchtete er sich sowieso nicht). Von Tomi Ungerer erhielt ich einen handgeschriebenen Brief. Er kannte und schätzte das Werk von Brasch, war aber zu sehr in eigene Sachen vertieft.
Sendepause. Zuletzt wollte es Thomas selber machen („Mit Illustrationen vom Autor“ tönte es diesmal im Brustton der Überzeugung). Da drehte ich ab und legte mein Veto ein. Weitere Sendepause für ein Jahr. Eines Nachts torkelte er mir im Vollrausch auf den Stufen des Van Gogh entgegen. Den ausgestreckten Zeigefinger wie eine Pistole auf mich gerichtet, sagte er: „Du schuldest mir noch ein Honorar – und ein Buch.“ Dass er die Sache doch nicht ad acta gelegt hatte, machte mir Hoffnung.
Wieder vergingen Monate, doch ich hörte, dass etwas Ernsthaftes in seinem Leben passiert sei. Thomas hatte eine Herzoperation hinter sich, und er musste ganz und gar vom Alkohol ablassen. Das machte ihn nicht nur ruhiger, sondern auch berechenbarer. Wir saßen nachmittags im Ganymed, Thomas trank frisch gepressten Orangensaft ohne Wodka, und ich sagte nur: „Strawalde wäre gut“. Darauf Thomas: „Strawalde ist in Ordnung.“ Ein bisschen kam es mir wie ein Dialog aus einem Beckett-Stück vor. Als hätte es den Knatsch vorher nie gegeben. Der Hintergrund war, dass Thomas Brasch als Regie-Student Strawalde aus alten Zeiten von der Filmhochschule Babelsberg her gut kannte, und dass er sein filmisches Werk überaus schätzte. Der Rest, Jürgen Böttcher als Maler aus Dresden und von Welt, war Vertrauen.
Das Buch entstand innerhalb weniger Wochen. Ich vermittelte für Strawalde eine Ausstellung beim Kunstverein HERZATTACKE, und mit der Vernissage war die Buchpremiere von „zwei offne Fenster ODER ein liebes paar“ verbunden. Thomas sollte anlässlich dessen zum ersten Mal aus dem Buch lesen, was er dann auch widerstrebend gern tat. Vorher war allerdings Signierstunde bei ihm am Schiffbauerdamm angesagt. Es war ein Dezemberabend, und es war arschkalt. Aber Thomas hatte trotzdem alle Fenster weit geöffnet. Mehr als zwei Fenster! Mit seinen 200-Watt-Glühlampen wurde das Zimmer taghell…
Zur feierlichen Stunde legte er Musik auf. „Play with Fire“, hieß das Lied, ja doch, die Botschaft! Keine CD, sondern knisterndes Vinal. Die Stones-Scheibe mussten wir damals schon gehört haben, schoss es mir durch den Kopf. Micks Stimme schallte Richtung Friedrichstraße. Die Boxen waren voll aufgedreht, es schepperte regelrecht, und die unter uns Sitzenden im „Ganymed“ müssen sich so ihre Gedanken gemacht haben. Da wohnte kein Leisetreter. Polizeisirenen heulten. Sie galten hoffentlich nicht uns. Wäre auch egal gewesen. Hier unterschrieb kein Papiertiger – ein Mensch der Poesie.

Thomas Günther, Kunst+Kultur, 2006

Absturz in die Zeit

− Zögerliche Bemerkungen zu Thomas Brasch. −

1946 ostwärts aus England in die SBZ. 30 Jahre später mit Katharina Thalbach und Tochter Anna westwärts. An einem Tag im Dezember – frühmorgens gegen 6 Uhr Ausreise – Ankunft mit der S-Bahn in Berlin-West. In der Mauerstadt. Auf der Insel inmitten der Landschaft heutigen Vergessens. Da sollte ein neues Leben beginnen. Und es begann.

Hatte Brasch sich noch tags zuvor in Berlin-Ost vom Staatsoberhaupt der DDR Honecker händeschüttelmäßig verabschiedet, füllte sich in der schlafensmüden Westberliner Morgenfrühe schnell sein Terminkalender. Telefonate. Verabredungen mit bekannten Künstlern. Gespräche über neue Verträge im Land der kapitalistischen Geschäftigkeit. Eine Umtriebigkeit, die lange Zeit anhalten sollte und dazu beitrug, dass er selbstbewusst, ambitioniert und torpedogesteuert in der 1. Liga der literarischen Szene landete. Sein Gedicht „Der schöne 27. September“ verrät, dass ihm die eigene Rasanz nicht immer geheuerlich gewesen sein muß. Darin berichtet ein ICH (so beginnt jede Zeile), was es an diesem Tag ausnahmsweise alles nicht getan hat. Schon daher hinken die Vergleiche mit Kleist und Hölderlin, die für den Fall Brasch gern und oft herbeizitiert werden, denn hier, das muß man sehen, geht jemand anders – vor allem offensiver – zu Werke.
Also folgt, was folgen muß: Veröffentlichungen in großen, wichtigen westdeutschen Verlagen, Theateraufführungen an großen Bühnen, sogar Filmproduktionen. Und Bier trinken mit Bukowski in Never Yorck. Und natürlich schreiben schreiben schreiben. Plötzlich schwimmt ein bis dahin fast nicht veröffentlichter Autor von Erfolg zu Erfolg und wird zeitweise das, was man eine Berühmtheit nennt.
Während in der DDR eine öffentliche Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten politisch verhindert wird (was im Nachhinein eine andere Art Auszeichnung ist), avanciert Brasch in der BRD als Fremder mit dem bösen blick, als Exote, als Dissident hofiert, vereinnahmt und gefeiert zum Star, der selbst auf spielfilmischen Terrain glänzt. So kommt es, dass er wenige Jahre später, zwar angeätzt doch in der Erfolgsrolle gefangen, selbst Franz-Josef-Strauß die Hand schütteln muß, um den Bayrischen Filmpreis in Empfang zu nehmen. Wie Brasch überhaupt von Preis zu Preis stolpert: Kleist-, Lessing-, Gerhard Hauptmann-, Schiller-Gedächtnis-Preis usw. Nur kein Büchnerpreis. Nein, Büchnerpreis nicht. War vielleicht zu jung. Wäre vielleicht noch gekommen, wenn… ja… wenn da noch was gekommen wäre.
Aber mit dem Mauerfall – obwohl Hoffnung und Traumerfüllung zugleich – versiegt die künstlerische Schöpferkraft und der Weg zum Tode führt über den Verlust der Themen zu Drogenkonsum, Krankheiten und in die Selbstzerstörung. In den 90ern also schweigen. Mehr und mehr schweigen. Öffentlich schweigen. Oder nicht mehr schreiben. Oder nicht mehr schreiben können. Oder sich mit Übersetzungsarbeiten die Zeit vertreiben. Oder er hatte, was man als Außenstehender selten weiß, seine Foren der Sprache, der Bühne, der filmischen Bilder verloren. Trotz nun offener Stadt. Trotz des nun geöffneten Landes. Trotz der Rückkehr an den Schiffbauerdamm, die Urstätte der ostdeutschen Dramatik. Trotz trotz trotz…
All das sind keine Gründe und erst recht keine guten Gründe für den Rückzug in die Innerlichkeit des Verzweifelns, für den Absturz in die Zeit, fürs Sterben. Es sind – wie banal das klingt – Fetzen des Lebens. Biographische Fetzen eines Lyrikers, Dramatikers, Novellisten, Filme- und Theatermachers in der Hochkultur deutscher Misere, die, eingeritzt in die Lebenshaut, Spuren in seinen Werken hinterlassen hat. Heftige Spuren, Deftige Spuren. Ja, selbst groteske und komische Spuren, die wir in der Biografie eines glücklichen Bürgers – Leben und Tod des Peter Göring wiederentdecken dürfen. Dann nach dem Sturz in das Totenhaus bleibt irgendwann nur noch das Werk und nichts als das Werk.

In offiziellen Kulturversionen und im Feuilleton zählt Thomas Brasch zu den wichtigen Autoren der deutschen Nachkriegsgeneration, was zweifelsohne stimmt, weshalb in Berlin eine von der „Bundeszentrale für politische Bildung“ geförderte Festveranstaltung stattfindet. So ist es in der BRD nun mal, so war es in der BRD immer. Ob seine zuweilen aufsässige Kunst wirklich interessiert, ist oft zweitrangig, wenn man damit auch sich selbst feiern kann, zumal dann, wenn der Autor tot ist. Denn die maßgeschneiderten Kategorien, die speziell der deutsche Kulturbetrieb für Thomas Brasch hat anfertigen lassen, wollten schon damals nicht passen. Wenn sich die genialen Aufsässigen aber weder verschweigen noch tot kritisieren lassen, feiert man sie eben. Nun kann sich der Tote wenigstens nicht mehr wehren. Darum wird dieser Tage – knapp vier Jahre nach seinem Tod – aufflammen, was zu Jahrestagen immer aufflammt: Erinnerungsrituale, Lobpreisungen, das Preisen der Lobpreisungen und ihrer Preiser. So fängt eine Veranstaltung meistens an. Da muß man durch.
Aber war Brasch auch aufsässig genug? Die Frage muß erlaubt sein, wenn seine Aufsässigkeit und widerspenstige Wildheit immerzu gefeiert wird. Sie muß auch erlaubt sein, wenn da einer offensichtlich für die Permanenz seiner ästhetisch-stilisierten Konfrontationen gegen die gesellschaftlichen Verhältnis, in denen er lebt, von offizieller Seite gelobt, gesponsert und ausgezeichnet wird. Da öffnet sich die Schnittstelle, an der die Meisterwerke zu Komplizen der Macht werden. Denn wenn ein Dichter einen Schrei ausstößt, so ist das oft nur ein schöner Braten für das unendliche Publikum. Oder für das Feuilleton. Solch ein Braten verlangt aber danach, geschmort zu werden. Auf dem Fest der Schakale. Im Blutrausch des Hais. Oder im Auge des Taifuns. Ansonsten hört man diese Schreie gerne.

Mir bleibt all das erspart. Ich kenne Brasch nicht, ich lerne ihn erst kennen. Angekommen in seinen Tagebüchern muß ich sofort an Rolf-Dieter-Brinkmann denken. Spüre Wesensverwandtschaften in der radikalen Ablehnung des alltäglichen Draußen. Diese fast körperliche Abneigung gegen Gespräche. Dem Hass aufs Banale wie dem Hass auf die gesellschaftlichen Zustände. Über RDBs Gedicht „ich gehe in ein anderes Blau“ hat Hans Zischler 1982 für den WDR einen Film gedreht. Im Zug liest Frau (Katharina Thalbach) im Gedichtband Westwärts ½ von BRINKMANN und trifft irgendwann auf MANN (THOMAS BRASCH). Oder sie träumt ihn, das weiß ich nicht mehr so genau. Die Wesensverwandtschaft scheint also offensichtlich.
Auch Brinkmann wurde nach der Publikation seines Romans Keines weiß mehr (1968) vom westlichen Betriebssystem Literatur umjubelt gepuscht gehypt. Ihm stand ebenso wie Brasch ein kometenhafter Aufstieg bevor. Nur hat Brinkmann es verstanden, sich mit seiner berühmt gewordenen Maschinengewehrperformance als Affront gegen die Literaturpäpste 1969 in der Akademie der Künste selbst zum Outsider zu küren, um ein paar Jahre später in direkter Konfrontation mit einem Londoner Autobus in die ewigen Jagdgründe einzugehen. Der andere, Thomas Brasch, ist am 3. November 2001 mehr oder weniger eines natürlichen Todes gestorben, eines Todes, der mit Herzversagen attestiert wird. Und wie immer wird behauptet viel zu früh. Aber meines erachtens stirbt ein Dichter selten zu früh, die meisten sterben zu spät. Sein Nachlaß, darunter ein aus Tausenden von Seiten umhergeisterndes Riesenkonvolut über den Mädchenmörder Brunke, zeigt, dass Brasch bis zu seinem Tode seine Kritik an der Schieflage der Gesellschaft aufrecht erhielt. Er war zuletzt – als es stiller um ihn wurde – dann doch Dichter, Anarchist mit Utopierest, Spieler, vor allem aber ICHomane auf exzentrischen Umlaufbahnen, der zuletzt an seinen künstlerischen Visionen zweifelte.

NICHTS NICHT NICHTS IST GESCHAFFT
von meinen Plänen gewaltig der Welt
ein großes Leben aus den Adern reißen
was ist daraus geworden weniger noch als
auf eine Bahnsteigkarte passt…

Brasch und Brinkmann waren zu Lebzeiten berühmt. Jeder kannte sie. Sie waren sehr bekannt und wurden schon wieder vermisst. Keiner gibt ihnen mehr die hand. Längst kann man beide wieder als Geheimtip lesen. Und das ist etwas, das mir in Zeiten entleerter Hyperkommunikation, Handy-Wahnsinn wie des ewigen Hypes literarischer Wunder sehr gefällt.

Paul M Waschkau, NNU.extra 1, 2005

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