KINDHEIT
Marie-Luise Gansberg: Ich will dich zur Familiengeschichte befragen. Du stammst aus dem Proletariat. Sind die Mitglieder deiner Familie klassenbewußte Arbeiter gewesen?
Christa Reinig: Mein Großvater wars auf alle Fälle. Er war Spartacuskämpfer, ob mit oder ohne Waffe in der Hand. Ich weiß es nicht. Solche Dinge werden in Familiengeschichten gewöhnlich aufgebauscht. Das nach meinem Großvater älteste Familienmitglied, mein Onkel Willy, war Stalinist. Er war es schon zu Anfang des Dritten Reiches. Durch ihn habe ich zum ersten Mal den Namen „Stalin“ gehört. Sein Spruch war: „Laß nur die Nazis alles zerstören, Stalin kommt und baut alles wieder auf.“ Unglaublich, was es in der Familie für politische Streitigkeiten gegeben hat. Eine meiner Tanten war vorübergehend mit einem SA-Mann verlobt. Meine Mutter war Christin, ich bin lange Zeit das einzige getaufte Kind in der Familie gewesen. Die Grundstimmung in der Familie war kommunistisch. Aber ich frage mich, ob es das war, was wir heute als kommunistisch verstehen würden. Vielleicht waren wir nach den heutigen Ansichten anarchische Kleinbürger gewesen.
Gansberg: Aber dieser Onkel Willy hat sich auf Stalin berufen?
Reinig: Das waren seine Sprüche. Aber „klassenbewußte Arbeiter“, das sind wir wohl alle nicht gewesen.
Gansberg: Wenn du Angaben zur Biographie gemacht hast, dann zähltest du gewöhnlich auf, daß du auf dem Bau gearbeitet hast, in der Fabrik. Auch wenn du dann eine bürgerliche Intellektuelle wurdest, hast du deine Herkunft nie verleugnet. Was verdankst du deiner Klasse?
Reinig: Subjektiv gesehen einen ungeheueren Snobismus. Raus aus dem Dreck, etwas Besseres werden, nach Höherem streben. Objektiv gesehen eine Freiheit, die ich in einer bürgerlichen Familie nicht gehabt hätte.
Gansberg: Worin bestand diese Freiheit?
Reinig: Zunächst einmal darin, daß ich ein Wunschkind bin. Meine Mutter wollte ein Kind haben, aber sie wollte nicht heiraten, das ist etwas, das sich bereits im Kleinbürgertum nicht verwirklichen läßt oder nur mit großen Tragödien. Dann gab es einen Streit zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter. Meine Großmutter wollte mich haben. Ich wurde geklaut. Ich erinnere mich daran, daß ich von irgendeinem Familienmitglied mitgenommen und zu meiner Oma gebracht wurde. Nach einiger Zeit erschien meine Mutter mit riesigem Getöse, ich hörte sie schon in der Tür schreien und dann nahm sie mich wieder mit nach Hause. Ich glaube, es war im Grund eine politische Auseinandersetzung. Als ich getauft wurde, wurde die jüngste meiner Tanten jugendgeweiht, es war ein Kampf um meine Seele. Sollte ich eine christliche oder eine kommunistische Seele bekommen? Eines Tages war ich groß genug, ich glaube, es war in meinem sechsten Lebensjahr, daß ich mich ein für alle Male für meine Mutter entschied. Dann hörte das Geklautwerden auf. Auch die Familienkräche hatten ein Ende. Übrigens hatten auch die anderen weiblichen Familienmitglieder nicht danach gestrebt, sich zu verheiraten. Erst nach dem Krieg sahen sie zu, daß sie unter die Haube kamen, und die Kinder sollten eingesegnet werden, aber sie waren nicht getauft. Plötzlich war die christliche Familie wieder gefragt.
Gansberg: Es war überhaupt keine Schande, ein uneheliches Kind zu bekommen?
Reinig: Überhaupt nicht. Meine Mutter ist selbst ein uneheliches Kind gewesen.
Gansberg: Und hat nicht darunter gelitten?
Reinig: Sie nicht und ich auch nicht. Meine Mutter redete mich im Scherz mit „Du dreckiger Bankert“ an. Das fand ich lustig. Oder sie gab mir einen Apfel mit den Worten: „Für meinen Bankert.“ Das Wort „Bankert“ war für mich ein Kosewort. Als ich dann erfuhr, was das Wort „Bankert“ für ein Schimpfwort ist, war ich dagegen abgehärtet. Für mich war es ein zärtlich-liebevolles Mutterwort. Meine Mutter war sehr klug. Ich glaube, sie hat sich dabei etwas gedacht. Ich glaube, sie wollte mir beibringen: Ich liebe dich, mein dreckiger Bankert. Und wenn die anderen dieses Wort zu dir sagen, dann kränkt es dich nicht.
Gansberg: Wie alt war deine Mutter, als du geboren wurdest?
Reinig: Dreiundzwanzig Jahre.
Gansberg: Was war deine Mutter für ein Mensch?
Reinig: Was soll ich sagen? Sie ist mir zu nahe.
Gansberg: Immer noch?
Reinig: Ich kann versuchen, sie von mir wegzuschieben. Laß mich überlegen. Ein Mensch hat positive und negative Eigenschaften. Sie war sehr klug. Aber sie war ungerecht. Jedenfalls in meinen Angelegenheiten. Ich war für sie der wichtigste Mensch auf der Welt. Alles mußte beiseite gefegt werden um meinetwillen. Hauptsache, ich bekam meinen Bonbon. Ich glaube, daß meine Mutter für mich das geleistet hat, was gewöhnlich die Frau dem Manne leistet. Bedenke die Karriere, die ich zurückgelegt habe: Ich habe gearbeitet, und wer hat mir das Essen gekocht? Ich kam nach Hause und stellte die Beine unter den Tisch. Ich habe studiert. Und meine Mutter war die berufstätige Hausfrau, die der Studentin das Studium ermöglicht hat, das Geld hinzuverdient, die Wäsche gewaschen und wiederum das Essen auf den Tisch gestellt. Ich hatte ein allgemeines Empfinden: Meiner Mutter verdanke ich soviel. Aber was im einzelnen ich ihr verdankte, darüber habe ich mir so wenig den Kopf zerbrochen wie irgendein Macker. Hauptsache, der Muttertag wurde nicht vergessen. Die Blümchen mußten stimmen. Und wenn ich gearbeitet, studiert und gegessen habe, hatte ich Zeit zu schriftstellern. Aus den Knochen meiner Mutter habe ich mir meine Karriere aufgebaut. Sie hat sich für meine Karriere geopfert. Dann bekam sie Krebs. Ich wurde zum Institutsdirektor gerufen. Es hieß, daß mir ausnahmsweise der Prüfungstermin verlegt werden kann. Auf Grund der besonderen Umstände, daß meine Mutter im Sterben läge, könnte ich die Prüfung erst im nächsten Jahr ablegen. Darauf antwortete ich: Nein, ich mache die Prüfung hier und heute, das ist das letzte, das ich für meine Mutter tun kann. Sie soll noch miterleben, daß ich meine Prüfung mache. Ich will alles dransetzen, sie zu bestehen. Meine Mutter soll stolz auf mich sein. Das sagte ich nicht wörtlich, aber das war mein Gedanke, als ich der Direktion die Gewährung abschlug. Dann hat meine Mutter auf dem Sterbebett meine Diplomarbeit korrigiert.
Gansberg: Was sie vielleicht selbst hätte werden können, das hat sie dich werden lassen. Du schilderst ja in dem Roman Die himmlische und die irdische Geometrie, daß sie mathematisch sehr begabt war.
Reinig: Sie war mir so sehr voraus. Ich hab mit achtzehn noch Karl May geschmökert. Und sie hatte einen Bücherschrank mit Tolstoi, Dostojewski, Zola, Victor Hugo. Und sie war bitterarm. Das kannst du nennen, sie hatte sich diese Bücher „vom Munde abgespart“. Und ich sagte verächtlich: Ach, dieser langweilige Quatsch, und las meine Krimis und Schmöker. Später sagte ich dann: Hör mal, du hast doch irgendwo diese Anna Karenina, kannste mir das nicht mal raussuchen? Dann antwortete sie: „Das ist das Buch, das du nicht gewollt hast, jetzt mußt du es lesen, denn du willst was werden.“ Sie hatte auch den gleichen Snobismus: Besser sein als die anderen. Das dachten die anderen aber auch. Unglaublich, was die Arbeiter in meiner Fabrik für gute Bücher lasen. Natürlich gabs auch die, die Courths-Mahler lasen.
Mechthild Beerlage: Gab es auch eine Rangordnung unter den Arbeitern, gestaffelt nach Vorarbeitern und anderen Arbeitern?
Reinig: Nein – oder ja! Am Anfang gab es den Ehrgeiz, sich auszuzeichnen. Ganz schlimm gesagt: die Gefallsucht. Sich vom Chef loben lassen, sich innerhalb des Betriebs emporzuarbeiten, das, was man Stehkragenproletariat genannt hat. Es gab ein allgemeines Streben, das in einen Konkurrenzkampf ausartete: Die einen Arbeiter kamen nach oben, die anderen blieben unten. Die Leute machten sich nie bewußt, wie klein ihre Chance war, aber die kleine Chance, die sie hatten, nutzten sie mit gnadenlosem Eifer. Das war der Augenblick, als ich in der Fabrik Krach bekam. Ich war nicht so perfekt wie die anderen. Eine Arbeiterin hat mich dem Direktor gemeldet, Sie hat ihm meinen Pfusch gezeigt. Er war sichtlich verlegen, und meine ganze Wut richtete sich auf meine Mitarbeiterin. Es ist damals so vieles für oder gegen mich gelaufen. Ich glaube, daß dieser Augenblick, da die Kollegin mich „verriet“, meinen Entschluß, zur Arbeiter- und Bauernfakultät zu gehen, gefestigt hat.
Gansberg: Einzelne wollten aufsteigen, bürgerliche Karrieren machen. Aber den Gedanken: Wir befreien uns als Kollektiv, den Solidaritätsgedanken, den gab es nicht?
Reinig: Es gibt die proletarische Einigkeit im Nichtarbeiten, das ist der Streik. Eine umgekehrte politische Aktion, mehr und besser arbeiten, um die Kapitalisten zu schädigen, würde nicht funktionieren. Es gibt den Ehrgeiz des einzelnen Arbeiters. Ein Onkel brachte sich als Autodidakt das Maschinenbauzeichnen bei. Er machte Erfindungen, aber als er vom Betrieb gefördert werden sollte, lehnte er die Förderung ab. Warum tat er das? Meine Mutter machte Karriere, sie ist von einer Putzfrau zur Bürobotin aufgestiegen. Hatte sich das gelohnt? Eine meiner Tanten wurde anläßlich des 20. Juli verhaftet und kam ins KZ Ravensbrück. Sie war völlig unpolitisch. Sie interessierte sich gar nicht für die Sache, für die sie doch den Kopf hinhalten mußte. Am besten waren die dran, die nur redeten und schwätzten. Der schon erwähnte Stalin-Onkel wurde zur Wehrmacht eingezogen. Er schrieb einen Brief, der mir vorgelesen wurde: Rußland wunderbar! Sobald der Krieg zu Ende ist, werden wir hierher umsiedeln. Dieses Neue Leben in Rußland hätte doch nur stattfinden können, wenn sein geliebter Stalin den Krieg verloren hätte. Es macht mir den Eindruck, wir waren alle schizophren. Ich ging damals zur Berufsschule. Mit meiner Vernunft faßte ich eine literarische Zukunft ins Auge, wenn nicht Autorin, dann Buchhändlerin oder Verlagslektorin. Aber mit dieser überklebten Ideologie erwog ich auch ein Schicksal als deutsche Landfrau. Wir waren zweiseitig, wir hatten ein Innenfutter und ein Außenfutter.
Gansberg: Aber ihr konntet nicht anders?
Reinig: Es war eine Krankheit. Im Hinterkopf hatten wir alle die Möglichkeit zu überleben. Mein Onkel, der mehrfach erwähnte, hatte sie nicht. Als Stalin kam und ihn befreite, hat er abgeschaltet. Die Politik war für ihn erledigt. Er hatte nicht das bekommen, was er wollte.
Gansberg: Im DDR-Staat wollte er nicht mitmachen?
Reinig: Nein, durch die Grenzziehung kam er in den französischen Sektor. Es war ihm Wurscht. Er wollte mit dem, was in der DDR geschah, nichts zu tun haben. Wir haben ihn verspottet: „Du dachtest wohl, du wirst gleich Minister.“
Gansberg: Wie hast du als Kind den Faschismus erlebt? Warst du im BDM?
Reinig: Ja, und zwar freiwillig. Ich staune immer über die Leute, die behaupten, sie seien in die Hitlerjugend hineingezwungen worden. Eines Tages mußten wir uns im Kreis aufstellen und sagen, warum wir in den BDM eingetreten sind. Ich habe meine Antwort gekannt und das Blaue vom Himmel heruntererzählt vom großen Führer und dem Deutschen Reich. Und ein Mädchen hat gesagt: Ich bin in den BDM eingetreten, damit ich eine Lehrstelle bekomme. Darauf wurde ihr von der „Führerin“ das heilige Halstuch vom Halse gerissen. Sie wurde an Ort und Stelle aus dem Raum gejagt und schlich heulend davon. Ich erinnere mich, daß ich sie dumm fand. Wie konnte sie sich das einbrocken? Für mich war etwas anderes wichtig, daß ich meiner Familie eins auswischen konnte. 1936 bin ich freiwillig in die Hitlerjugend eingetreten. Meine Familie hat fürchterlich darunter gelitten. Die Kinder in unserem Haus, auch in der Nachbarschaft, waren bewußte Antifaschisten. Sie waren doch meine Spielkameraden, plötzlich verdroschen sie mich. Es gibt hier eine Erinnerung, die habe ich vielleicht schon mal erzählt. Aber es lohnt sich, sie noch einmal zu erzählen. Aus unserem Haus wurden zwei kommunistische Frauen verhaftet. Sie kamen nach Sachsenhausen. Meine Freundin Dorchen Gresch erzählte mir die ersten Geschichten über Sachsenhausen. Sie zeichnete einen kleinen Kreis auf einen Heftdeckel und sagte: „Und das Fleisch, das sie zu essen kriegen, ist nicht größer als so.“ Dieses Unvergeßliche, das Fleisch als Kreis auf den Heftdeckel zeichnen, habe ich einmal in einer Geschichte verwendet. Wenn wir Schule spielten, war Dorchen Gresch gewöhnlich unsere Lehrerin. Wir saßen auf den Treppenstufen. Dorchen, mit geziertem Getue, tritt vor uns hin und flötet: „Heil Hitler, liebe Kinder.“ Darauf schrien die Kinder, die die Schüler spielten: „Heil Käse, Heil Bockwurst!“ Und ich wollte sie alle übertrumpfen und schrie: „Heil Moskau!“ Darauf sagte Dorchen: „Christa, über Heil Moskau scherzt man nicht, merk dir das!“ Während ich mich beschämt wieder auf meine Treppenstufe setzte, kam Herr Ruthenberg, dessen Frau nach Sachsenhausen verschleppt worden war, herauf und verteilte an uns alle Bonbons. Ich dachte bei mir: Die Bonbons habt ihr mir zu verdanken. Er ist heraufgekommen, weil ich „Heil Moskau“ geschrien hab.
Das ist wieder das Thema Schizophrenie. Ich hatte mich gegen meine täglichen Spielkameraden entschieden und bekam plötzlich neue Freundinnen, eben die Mädchen aus dem BDM. Ich hatte keine Uniform, meine Mutter hatte mir so ein lächerliches braunes Jäckchen verpaßt. Das war bald dreckig, und die Knöpfe hingen herunter. Die anderen sahen, daß ich nicht zu ihnen gehörte, aber ich wollte es lange nicht wahrhaben. Es waren die Töchter von Bäckermeister und Schlächtermeister und kleinen Ladenbesitzern. Sie luden mich zu sich ein. Aber ich durfte nicht einmal ihren Kaufmannsladen betreten, geschweige, daß sie mich in die Wohnung mitgenommen hätten. Ich wurde in den Hof bestellt, wo sie dann mit mir spielen wollten, das heißt, wo ich dann mit ihnen spielen durfte. Ich war immer in der Nähe des Gekränktseins. Einmal bin ich in Tränen ausgebrochen, und sie fragten: Was hast du denn? Ich sagte: Mir ist was ins Auge geflogen. Sie sollten nicht wissen, wie sehr sie mich kränkten. Sie tatens ja nicht absichtlich. Sie begriffen nur, daß ich eine von der anderen Seite war. Und sie waren entschlossen, mich loszuwerden. Einmal sagte eine „Führerin“ zu mir: Ich habe deine Adresse verlegt. Komm nach dem Dienst zu mir und gib sie mir. Da endlich fiel mir der Groschen! Wenn sie meine Adresse nicht hatten oder nicht haben wollten, dann konnten sie mich nicht zum nächsten Dienst einladen – ich war frei. Ich ging davon, wie ich gekommen war. Keine Schwierigkeiten, von einem Tag zum anderen nicht mehr in der Hitlerjugend zu sein.
Gansberg: Und wie erging es den antifaschistischen Kindern?
Reinig: Die Eltern brachten sie in die christliche Jungschar, damit sie nicht von der Hitlerjugend vereinnahmt werden konnten. Sie kamen nach Hause und sangen die frommen Lieder, die sie gelernt hatten: „Herr Jesus, meine Zuversicht!“ Und die Eltern verhöhnten und verlachten ihre Kinder und sagten das Spottwort: „Herr Jesus, meine Kuh färzt nicht!“ Auch die antifaschistischen Kinder wurden irritiert.
Gansberg: Wie alt warst du, als du wieder ausgetreten bist?
Reinig: Es war 1940, also dreizehn oder vierzehn Jahre. Wenn sie bei den Abenden ihre Stühle im Kreis zusammenstellten, dann saß ich schon im Abseits, ein bißchen außen vor. Dann bekam ich die Aufgabe, ein Brett irgendwohin zu tragen. Da fühlte ich mich verarscht. Sie wollten mich loswerden, und ich wollte raus. Da waren wir uns einig.
Gansberg: Und wie war es 1945? War das die große Befreiung, oder war das Elend so groß?
Reinig: Das Jahr der großen Befreiung war für mich 1944. Ich will versuchen, mich verständlich zu machen, denn es war nichts als ein Gefühl: Ich habe wie in einem Rausch gelebt. Mich hat das Kriegsende gar nicht interessiert, sondern ich habe die Kaputtmache, dieses Durchmorschen des Systems als erlösend empfunden. Ich war in Berlin und bekam ganz schön was auf den Kopf, war auch ausgebombt, aber ich war fröhlich. Ich schäme mich, ich hab’ im Luftschutzkeller nicht geheult und nicht gezittert. Manchmal war bei uns nichts los. Dann bin ich durch die brennende Nacht gelaufen, dahin, wo was los war. Mein zweites schönes Jahr war 1947. Hier bin ich mit vielen meiner Altersgenossen einig. Trotz unserer verschiedenen Schicksale und obwohl es noch nichts zu essen gab und die Wohnungen noch immer kaputt waren und wir froren: Aber wir waren glücklich. Und 1945 war das Jahr der größten Gefahr, der Gedanke, jetzt noch kaputtgehen, das darf dir nicht passieren. Nicht als Leiche im Straßengraben liegen, selbst wenn die Drohung durch die Russen nicht gewesen wäre, es war ein Kampf um jeden Bissen Brot, um einen Löffel Suppe. Meine düstere Voraussage, daß wir alle nach Sibirien kommen, hat sich dann nicht bewahrheitet, und das war auch was wert. Dann kommt das Jahr, das immer vergessen wird, das Jahr 1946. Gefühlsmäßig ist es ein Nichts. Aber gedächtnismäßig war es doch das Jahr, in dem die ständige Todesdrohung aufgehört hat. Aber das machte mir depressive Gefühle. Es gab keine Aufregungen mehr. Das ist zu wenig gesagt. Der Augenblick der Todesgefahr ist etwas Ungeheures. Ein Aufriß. Und wenn du das gewohnheitsmäßig hast, dann wirst du süchtig. Dieses so wichtige Jahr 1946, das doch das war, was „Aufbau und Neubeginn“ genannt wird, es war für mich eine Art Entziehung. Dabei habe ich von Anfang an versucht, überall mitzumischen, nun aus meinem Leben etwas zu machen. Ich belegte Volkshochschulkurse, ich ging ins Theater, ich frequentierte Leihbüchereien, ich hackte Holz, rodete Stubben und klaute wie ein Rabe. Das Jahr 1946 war so wichtig, aber mein Gedächtnis honoriert es nicht. Dann kam das Jubeljahr 1947. Ich rannte wie besessen sinnlos durch die Straßen und dachte: Ich bin Christa Reinig, wer ist Christa Reinig, da muß ich doch dahinterkommen, wer das eigentlich ist, diese Christa Reinig.
Zurück zu 1945. Das schlimmste war das Aufweichen der Fronten. Das Durcheinander, das Nichtwissen: Wo ist dein Platz, wer sind deine Leute? Wer schießt dich über den Haufen? Rennen, gucken, wegsein. Die Realität zwischen den Kanonen. Ich klaute mit zwei anderen Frauen einen zentnerschweren Zuckersack, den konnten wir millimeterweise hochlupfen und versuchten, ihn im schwersten Granatsplitterhagel durchzuschleppen. Auf, Zuckersack hochreißen, losrennen, Zuckersack hinwerfen, dahinter in Deckung gehen und jetzt wieder auf! Dann kamen wir auf die Idee, daß wir das niemals schaffen würden. In solch einer Situation rettest du dir das Leben, dann tut es dir leid, daß du dir das Leben gerettet hast, du kannst den Zuckersack, den du im Stich gelassen hast, nie mehr vergessen.
1944, 45, 46, 47 waren die schönsten Jahre meines Lebens, und ich kann nicht sagen, warum.
Gansberg: Das ist auch schwer zu verstehen. Ich möchte aber noch nach dem Bücherschrank fragen. Du sagst, ihr habt Dostojewski gehabt; was für Chancen hattest du noch, dich zu informieren?
Reinig: Das ist das Thema „verbotene Bücher“. In der vorderen Reihe standen Goethe und Gustav Freytag Die Ahnen und in der hinteren Reihe die anderen Bücher, von denen das Kind begriffen hat: Davon darf nie die Rede sein. Die Wirkung von Remarques Im Westen nichts Neues habe ich schon einmal geschildert, aber es gab noch ein tolleres Buch, ein einmaliges Buch über den Ersten Weltkrieg: Henri Barbusse Das Feuer. Das Buch war eines meiner Lieblinge. Ich kann nicht verstehen, warum es so verschollen ist. Dann Gorki vor allem, den liebte ich sehr. Dann belauschte ich ein Flüstergespräch, das meine Mutter mit einer Nachbarin hatte. Ein ganz verboten total schweinisches Buch: Zolas Nana. Ich benutzte die Gelegenheit, es zu lesen. Es war so erzlangweilig. Als ich bis zur Mitte gekommen war und meiner Meinung nach immer noch nichts Schweinisches passiert (wer weiß, was ich damals unter schweinisch verstand), da klappte ich es zu und stellte es an seinen verborgenen Ort zurück. Dann gabs ein kommunistisches Witzbuch Roter Pfeffer. Einige dieser Witze sind mir heute noch geläufig, gelegentlich erzähle ich sie mit großem Erfolg.
Gansberg: Das war die Bibliothek deiner Mutter?
Reinig: Die hat sie sich von ihren Pfennigen als Putzfrau angeschafft. Ich war ein Schlüsselkind und war mir selbst überlassen. Ich stand vor dem Schrank auf dem Stuhl, hörte ihre Schritte auf der Treppe: tapp-tapp! In Windeseile stellte ich das Buch in den Schrank und räumte die anderen Bücher davor ein. Wenn sie zur Tür reinkam, stand ich harmlos da. Ich hatte nichts Böses getan, keine verbotenen Bücher gelesen. Mit Ausnahme von Karl May mochte ich die üblichen Kinderbücher nicht. Märchen verabscheute ich. Grimms Märchen haben mich angegraust, Tausend und Eine Nacht gelangweilt. Robinson Crusoe mochte ich nicht. Heute weiß ich, warum, weil er den armen Freitag so schlecht behandelt hat.
Gansberg: Und mit zehn hattest du schon Homer gelesen?
Reinig: Das ist eine Übertreibung, der ich mich schuldig gemacht habe, um einer literarischen Pointe willen. Ich habs versucht, aber die Lektüre der Verse fiel mir schwer, und ich gab auf. Das hat mich sehr geschmerzt. Die homerischen Gesänge kannte ich aus verschiedenen Prosaerzählungen.
Beerlage: Diese zweite Reihe im Bücherschrank deiner Mutter, sollte die auch Besuchern verborgen bleiben?
Reinig: Ich weiß nicht, ob der lange Arm des Staates sich für uns interessiert hätte. Aber es war gut, vorsichtig zu sein, nichts herauszufordern. Nachbarliches Gerede zu vermeiden. Allerdings habe ich Gespräche von Erwachsenen belauscht, in denen sie sich ihrer verbotenen Bücher rühmten. Oft waren diese Bücher unendlich langweilig. Victor Hugos Buch Die Elenden habe ich einige Male vergeblich angefangen, ehe ich es ganz durchschaffte. In diesem Buch gab es die faszinierende Gestalt eines edlen Jakobiners. In der Schule hatte ich gelernt, daß Jakobiner feige Bösewichter und Massenmörder waren. Ein Jakobiner, der ein guter Mensch ist, das hat mir sehr zu denken gegeben.
Gansberg: Was für Anregungen hast du in der Schule bekommen? Gab es Lehrerinnen oder Lehrer, die dir was beigebracht haben?
Reinig: Ich bin mehrfach umgeschult worden. Wenn es mir in einer Schule nicht gefiel, meldete ich mich ab, ohne meine Mutter hineinzuziehen. Ich behauptete einfach, daß meine Mutter aus diesem oder jenem Grund mich auf eine andere Schule schicken wollte. Die Lehrer erstaunten und meine Mutter auch. Der erzählte ich eine andere Geschichte. Die Lehrer waren leicht durchschaubar. Die Rektoren in Stiefelhosen, SA. Die Lehrer keine Antifaschisten, sonst hätten sie nicht unterrichten dürfen, die einen Mitläufer, die anderen resistent oder renitent. Einmal hatte ich mich mit einem Scherzwort geweigert, mit der Klasse loszumarschieren, um den Film Triumph des Willens ansehen zu müssen. Der Lehrer packte mich beim Ohr und zog mich bis ans Pult herunter. Es tat weh, aber ich lachte, und er lachte auch, während er das tat. Es war eine seltsame Einigkeit. Dieser Lehrer Schulz hatte uns die „Loreley“ beigebracht. Wir sangen sie nach seinem Kommando dreistimmig, ich zweite Stimme. Ich kann heute noch nicht die erste Stimme von: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Dann kam die Kristallnacht. Auf dem Schulweg hörte ich einen Jungen schreien: „Haste ooch ne jolne Uhr.“ Ein anderer schrie zurück: „Noch nich!“ Ich denke, die spinnen, komme zur Schule und sehe die Rauchsäule, was ist los? Die Synagoge in der Kleinen Auguststraße brennt. Ein merkwürdiges schnelles Begreifen. Dann sitzt Inge Rietz in der Klasse und hat eine goldene Uhr. Sie sei ihr direkt vor die Füße gefallen, sagt sie. Die Klasse ist zerstritten. Die einen sagen: Die mußt du den Leuten zurückgeben. Die anderen sagen: Blöd müßte sie sein. Ich weiß nicht, zu welcher Partei ich gehörte. Meine Vergeßlichkeit läßt mich vermuten, daß ich zur „Blöd-müßt-sie-sein“-Partei gehörte.
Dann kam wieder eine Umschulung. Ich geriet in eine katholische Schule, wo die Kinder zum Unterrichtsbeginn sich bekreuzigten, was mir sehr imponierte. Außerdem lernte ich eine Jungfrau Maria kennen. Aber das wichtigste war, daß für mich der Dreißigjährige Krieg noch einmal stattfand. In der protestantischen Schule hatte ich den Spruch lernen müssen: „Gustav-Adolf, Christ und Held, rettete bei Breitenfeld Glaubensfreiheit für die Welt.“ Nun lernte ich die andere Seite kennen. Gustav-Adolf war ein Imperialist, der Pommern für Schweden retten wollte, und der große deutsche Held, der Retter des Vaterlandes, hieß Wallenstein. Genau der Erzbösewicht aus der evangelischen Volksschule. Wallenstein mit Heiligenschein. Das gab mir wieder zu denken.
Der Rektor dieser Schule war der unverhüllteste Nazi, von dem ich Unterricht bekommen habe. Kaum war der Krieg begonnen, hießen die Polen nicht mehr Polen, sondern Polacken. Das ging nicht gut, denn wir hatten eine polnische Klassenkameradin, die sehr beliebt war. Eine besonders mutige Schülerin meldete sich und fragte, ob nun unsere Kameradin auch eine Polackin sei. Das bejahte er, und die Schülerin fragte weiter, ob er sich nicht dafür entschuldigen müsse. Als er das verneinte, gab es einen Aufruhr. Er rannte wütend aus der Klasse, die Kinder hinter ihm her. Wir standen auf dem Flur, und er hatte sich im Rektorzimmer eingeschlossen. Ich habe vergessen, die Geschichte von der goldenen Uhr zu Ende zu erzählen. Lehrer Schulz, der mit der Loreley, nahm sich die Inge Rietz vor. Am anderen Tag kam sie freudestrahlend in die Klasse. Sie hatte die Uhr dem Juwelier zurückgebracht. Er hatte sich mit seiner Frau hinter dem zerstörten Geschäft in einem Stübchen verschanzt. „Sie waren sehr freundlich zu mir“, sagte sie.
Gansberg: Du hast Entmannung einer Lehrerin gewidmet: Fräulein Martha Schicke. Wer war das?
Reinig: Fräulein Schicke hat die Abendoberschule in der DDR aufgebaut. Sie war Mathematiklehrerin. Ich gehörte zu den freiwilligen Helfern, die über Sonntag halfen, den Physik- und Chemiesaal einzuräumen. Da gab es viele Diskussionen, Probleme, die gewöhnlich nicht innerhalb des Lehrplans besprochen werden. Ich machte zum Beispiel den Vorschlag, die Mathematik umzuordnen, denn, so sagte ich, wenn alle konstanten Zahlengrößen der Natur transzendent oder imaginär sind, dann stimmt unsere Mathematik nach dem Dezimalsystem nicht. Das gefiel ihr, und sie zwiebelte mich vergeblich, um aus mir eine bessere Mathematikerin zu machen, als ich es nun einmal bin. Da sie die Schülerin von Marie Curie war, sagte sie in unserer fröhlichen Diskutierrunde, aber mit ernsthaftem Nachdruck, daß wir eigentlich das Recht hätten, uns als Enkelschüler von Marie Curie zu bezeichnen. Dann erzählte sie was von Amazonen und Matriarchat, und ich war enttäuscht und dachte: Im Grunde sind Mathematiker Phantasten und Spinner. Sie war die erste, die auf meine schriftstellerischen Arbeiten reagierte. Sie setzte sich mit Anna Seghers in Verbindung und sagte ungefähr: Es heißt doch, daß in unserem Staat Schriftsteller gefördert werden. Ich habe eine Schülerin, die arbeitet in einer Fabrik, nach Feierabend sitzt sie in der Abendoberschule, um ihr Abitur nachzuholen, und wenn sie dann noch Zeit hat, schriftstellert sie. Was ist das für eine Existenz? Fördern Sie doch mal diese Christa Reinig! Das war mir sehr peinlich. Denn ich wußte, daß ich eine Anfängerin bin und noch nicht allzuviel zustande gebracht hatte. Im Gegensatz zu Fräulein Schicke, die, da ich sie mathematisch enttäuschte, mich nun schriftstellerisch fördern wollte, wußte ich wohl, das wird eine Pleite.
Gansberg: Du hast der Frau Seghers nichts geschickt?
Reinig: Ich hab das Beste geschickt, was ich damals hatte, eine inzwischen verschollene Erzählung „Das Fischerdorf“, dazu ein paar Gedichte. Fräulein Schicke übernahm die Manuskripte und leitete sie an Frau Seghers weiter. Sie bekam einen Brief, den sie mir nicht zeigte. Ein Brief von Frau Seghers an Fräulein Schicke war ja doch ein historisches Dokument. Aber sie erzählte mir, was Frau Seghers geschrieben hatte, und war etwas süffisant. Das hab’ ich ihr übelgenommen. Aber auf diese Weise fühlte ich mich auf Anna Seghers fixiert.
Gansberg: Ihr habt euch nie getroffen?
Reinig: Viele Jahre später habe ich mit ihr mehrere Gespräche geführt. Aber da waren wir so weit auseinander, daß es sinnlos war. Ich spürte, daß meine Annäherungsversuche für sie eine ungeheuere Belastung waren.
Gansberg: Wann ist das gewesen?
Reinig: Der Briefwechsel zwischen Fräulein Schicke und Frau Seghers war 1949. Die Begegnungen waren im Jahr 1955. Ich war detektivisch an die Sache herangegangen. Ich schlich mich in den Schriftstellerverband ein und verwickelte den Pförtner in ein Gespräch. Ich sei die Abgeordnete einer Studentinnengruppe, die Anna Seghers am „Tag der Frau“ (es war also März) einen Rosenstrauß überreichen wollte. Leider wüßten wir nicht, wohin wir den Rosenstrauß schicken könnten. Der Pförtner wußte es auch nicht, und wir quatschten also weiter. Da kam eine Menschenmenge die Treppe herab. Es war nämlich Betriebsschluß, und bevor ich etwas sagen konnte, schrie er: Kollegen, weiß einer von euch die Adresse von Anna Seghers? Und wahrhaftig, wie bestellt, schrie eine Frau laut die Adresse heraus. Da drehte sich eine andere Frau um und schenkte mir einen so bitterbösen Blick, daß ich dachte: Staatssicherheit grüßt die freie Konkurrenz. Jedenfalls hatte ich nun Anna Seghers an der Angel.
Gansberg: Weißt du noch, welche Texte du ihr geschickt hast?
Reinig: Nein. Ich hatte inzwischen schon eine Menge vorzulegen. Sie gefielen ihr nicht. Sie sagte zu mir: Sie sind ein böser Mensch! Darauf hab’ ich albern aufgelacht. Dann redeten wir über Mexiko. Wir hatten gemeinsam, daß wir uns für das Schicksal der mexikanischen Indios interessierten. Auf diese Weise brachten wir einige Stunden zu, die nicht ganz unangenehm waren. Dann machte ich einen letzten Versuch. Ich hatte Peter Huchel kennengelernt, den Herausgeber von Sinn und Form. Ich kann Sie nicht veröffentlichen, sagte er, ich werde selbst angegriffen. Aber der Schriftstellerverband hat Förderstellen eingerichtet. Ich fördere die Lyriker, und Frau Seghers fördert die Prosaisten. Da war ich so unvorsichtig, ich konnte gar nicht anders, ich sagte nicht: Ach, Herr Huchel, dann fördern Sie mich mal. Ich sagte: Ich möchte von Anna Seghers gefördert werden. Dann hörte ich von der Sache nichts mehr.
Gansberg: Du hast mit Huchel auch nicht mehr Kontakt gehabt?
Reinig: Doch, privat hatte ich mit vielen Schriftstellern Kontakt. Bobrowski kann ich nennen, andere nicht. Den Schriftstellerverband habe ich außer der erwähnten Episode nie betreten. Das war mir zu gefährlich. Eines Tages besuchte mich eine Frau aus dem Westen. Eine „Wessi“ sagt man heute. Sie bestellte mir einen Gruß von einem Schriftsteller, den ich nie gesehen und gesprochen habe. Er ließ mir sagen: „Treten Sie nicht in den Schriftstellerverband ein, niemals!“ Ich war gerührt über die Hilfsbereitschaft, die für ihn nicht ungefährlich war. Nein, ich wäre auch nach meiner eigenen Einschätzung der politischen Situation nie in den Schriftstellerverband eingetreten.
Gansberg: Und der Text, für den du dann sozusagen „Berufsverbot“ bekamst, war „Das Fischerdorf“?
Reinig: Diese Geschichte, die ich Anna Seghers vorgelegt hatte, wurde dann doch im Osten veröffentlicht. Es gab dort einen „Kulturellen Beirat“, der die jungen Schriftsteller einsammelte und förderte. Ich stellte mich mit zwei Texten ein. Einen Text, den sie unbedingt ablehnen würden. Dann würden sie mich laufenlassen, und ich war wieder frei. Denn ich war mehrmals und in immer dringlicheren Aufforderungen hinbestellt worden. Der andere Text war just „Das Fischerdorf“, den konnten sie goutieren. Da ich mit dem Leiter des Kulturellen Beirats ein gutes Gespräch bekam, ließ ich ihm „Das Fischerdorf“ da, und er brachte es in einer Anthologie unter. Die nannte sich Neue deutsche Erzähler. Die offizielle Kritik verriß diese Geschichte so, daß er sie aus der zweiten Auflage herausnehmen wollte. Er wollte von mir aber einen anderen Text. Den verweigerte ich ihm mit einer frechen Postkarte. Daraufhin war die ganze Anthologie geplatzt. Sie erschien nicht mehr in der zweiten Auflage.
Gansberg: Was heißt geplatzt? Und warum erschien keine zweite Auflage?
Reinig: Meine Geschichte war ja nicht gerade der proletarische Aufschrei und auch nicht der sozialistische Realismus. Aber sie war die beste. Wenn er sie herausnahm, konnte er mit dem Rest keinen Staat mehr machen. Ich bekam Angst und brachte meine Schreibmaschine, Mantel, Schlafdecke, Bücher und wichtige Dinge rüber.
Gansberg: „Rüber“ nach Westberlin?
Reinig: Nach Westberlin.
Gansberg: Zu Freunden?
Reinig: Ja, aber ich wollte nicht fliehen. Ich glaubte nicht, daß sie einen Grund hätten, mich zu verhaften. Frühmorgens gegen sechs Uhr, so daß ich dachte, daß meine Freunde zu wecken sind, erschien ich bei ihnen und lieferte diese Sachen ab. Ich kam nach Hause vielleicht gegen neun. Meine Mutter kniete ein bißchen weinerlich vor dem Ofen und verheizte Manuskripte und westliche Zeitschriften. Ein Freund war gekommen. Arnim Juhre. Er sagte: Ach, Frau Reinig, das ist doch alles nicht so schlimm. Denken Sie! sagte meine Mutter verschnupft. Er scherzte weiter. Meine Mutter verließ einen Augenblick den Raum. Da sah mich Arnim an und sagte mit einem schrecklichen Ernst: „Horst Bienek ist verhaftet worden.“ Dann fuhren Arnim und ich nach Potsdam, um nachzuforschen, wo Horst geblieben war und was wir vielleicht tun konnten. Es war eine unvergeßliche Reise. In Potsdam hatte der Staatssicherheitsdienst grausam gewütet. Was ich an diesem Tag und dem Abend in Potsdam erlebt habe, das würde mir heute keiner mehr abnehmen. Die Leute würden es gar nicht hören wollen.
Wie wärs mit einer lustigen Geschichte. Ich war inzwischen Studentin der Kunstgeschichte und gehörte dem Kreis der Zukunftsachlichen Dichter an. Alle vierzehn Tage fuhr ich nach Westberlin. Dort in einem sogenannten Nachbarschaftsheim tagten die „ruhelosen Dichter der Zukunftsachlichkeit“, wie wir uns nannten
Gansberg: Kannst du die mal kurz beschreiben?
Reinig: Du mußt wissen, daß junge Dichter kaum Chancen zur Veröffentlichung hatten. Ab und zu konntest du ein Gedicht oder zwei in eine Anthologie einquetschen. Wenn du zum Verlag kamst, dann hieß es: Geschichten drucken wir nicht, bringen Sie einen Roman. Na, schreib mal einen Roman, wenn du zwanzig bist. Wir jungen Dichter zogen in wilden Gruppen umher und suchten Dumme, die uns zuhörten. Überall, wo nichtsahnende Leute sich zum Kulturmachen versammelt hatten, drängten wir einen Redner vom Pult und lasen unsere Texte. Und ich fand uns damals gut. Ich weiß nicht, wieviel gute deutsche Literatur nie die Chance bekam, gedruckt zu werden. Das war unsere einzige Chance: Lesungen machen.
Gansberg: Wenn du sagst „Lesungen“, war das in Westberlin?
Reinig: Nein, wir haben auch in Potsdam gelesen, in Ostberlin, im „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung“, den es ja heute noch gibt. Wir waren wie die Mäuse. Wo eine Tür offenstand, huschten wir hinein und machten uns an den Tischen breit. Ich glaube, wir haben unsere Zuhörer erfreut, zumindest waren wir nicht so langweilig wie das, was die offiziellen Kulturstellen als Literatur durchließen. Die „Zukunftsachlichen Dichter“ hatten korrespondierende Mitglieder auch in der DDR, in Dresden hatten wir einen Freund. Wir wollten ursprünglich eine Anthologie herausgeben. Das war der übliche Gruppenehrgeiz. Später erfuhr ich, daß es auch andere Gruppen gab. Aber damals wußte ich nichts von anderen Gruppen, nichts von einer Gruppe 47, die es ja auch gab. Wir waren eine eigene Welt. Wir erfanden die Poesie der Zukunft. Zu diesem Zweck legten wir uns strenge Regeln auf. Die Syntax darf keine Vergangenheitsformen enthalten. Aber auch keine Zukunftsformen. Die einzig erlaubte Zeit ist die grammatikalische Gegenwart. Rhetorik ist nicht erlaubt. Alles muß in Bildern ausgesagt werden. Aber diese Bilder dürfen nicht Allegorien sein. Zum Beispiel: „Wir küssen den Stahl, der die Brücken spannt.“ Das nimmt die Gruppenkritik hin. Zweite Zeile: „Wir haben ins Herz der Atome geschaut.“ Protest! Erstens: Grammatikalisches Perfekt. Zweitens: Atome haben kein Herz. Drittens: Herzen kann man nicht schauen, es sei denn, man schneidet einem Lebewesen, das anatomisch ein Herz hat, die Brust auf. Trotzdem habe ich das Gedicht durchgesetzt. Denn es hieß weiter: „Wir pulvern die wuchtigen Städte zu Sand und trommeln auf Menschenhaut.“ Und die Menschenhaut, die hat alles rausgerissen. Das Gedicht wurde mit Vorbehalt als „Zukunftsachlich“ anerkannt.
Gansberg: Es war wohl teilweise Unsinnspoesie?
Reinig: Im Grunde machten wir Science fiction. Nebenbei machten wir alles. Und wir waren poetisch. Ich glaube, wir hätten sehr wichtig sein können. Das ist nicht nur uns verlorengegangen. Das ist für die deutsche Literatur eine verspielte Chance.
Gansberg: Gibt es diese Texte noch? Ich könnte mir vorstellen, daß sich vielleicht Literaturhistoriker dafür interessieren?
Reinig: Inzwischen gibt es Doktorarbeiten über die „Zukunftsachlichen Dichter“. Aber entgegen dem allgemeinen Vorurteil gibt es die literarische Nachwelt nicht. Du wirkst in deiner Zeit oder nicht. Das war die Zeit von 1947 bis 1952. Im Jahr 1968 fuhr ich zu einer Literatentagung nach Innsbruck. Dort hatten sie einen Stand mit modernen amerikanischen Popzeitschriften eingerichtet. Ich sah sie zum ersten Mal, und es war wie ein Schock. Ich erkannte: Das waren wir vor fünfundzwanzig Jahren. Und wir waren besser. Vielleicht, weil wir keinen Öffentlichkeitsdruck hatten, weil wir spinnen konnten, was wir wollten. Wir waren auch unglaublich verblasen. Wir identifizierten uns mit unseren Lieblingsdichtern und gaben uns ihre Namen. Wir hatten einen Stefan George, einen Ezra Pound. Wenns nach mir gegangen wäre, dann wäre ich Droste gewesen. Aber ich dachte, halt mal die Klappe, sonst verlachen sie dich. Da sagte ein Freund zu mir: Und du bist unsere Hilda Doolittle. Ich dachte, wer ist denn das? Heute wäre ich stolz darauf, die Hilda zu spielen. Aber damals war sie mir zu klein. Jeder von uns wollte doch der oder die Höchste sein.
Beerlage: Du hast gesagt, die treibende Kraft in der Gruppe war, daß sie keine Öffentlichkeit hatte. Deshalb konntet ihr so hochfliegend sein. Wars nicht auch Angst vor der Öffentlichkeit?
Reinig: Nein. Wir haben alles versucht. Es gab keinen Verlag, in dem nicht die Anthologie der „Zukunftsachlichen Dichter“, die Gedichte von Günter Sobisiak, von Joachim Uhlmann, von Christa Reinig herumlagen. Meistens gab es nicht einmal eine Antwort. Wir hatten ein Sparschwein, jeder steckte das Geld hinein, das doch nie für die begehrte Druckerpresse ausreichte. Wir schufen eine Zeitschrift Evviva Future!. Die war mit sechs Durchschlägen in die Schreibmaschine gehämmert worden. Wir hatten auch Maler und Graphiker, die Fotos ihrer Werke reinklebten. Die Zeitschrift wurde nur verliehen. Wir machten eine Liste von Leuten, die uns interessierten und von denen wir vermuteten, wir könnten sie interessieren. Nach einiger Zeit holten wir das Exemplar wieder ab und baten um eine milde Gabe, damit die Kosten für die nächste Zeitschrift, Auflage sieben Exemplare, herauskommen konnte. Das meiste Geld bekamen wir von Gottfried Benn. Er war unser treuer Kunde, und er fand uns gut. Wir hatten einen ungeheueren Ernst, die literarische Öffentlichkeit mitzuformen. Einmal besuchte ich einen etablierten Dichter. Er sagte: Du, es ist ein sehr gutes Buch erschienen. Das war eine Sensation, daß um 1950 herum ein gutes Buch erschien. Ich stürzte mich drauf, und der Titel hieß: Wo warst du Adam? Na, dieser Adam stank mir ja nicht gerade nach Zukunftsachlichkeit. Ich blätterte es auf und las was über den Zweiten Weltkrieg, der Schnee von vorgestern. Ich sagte: „So was wird ja denn auch gedruckt.“ Da war mein Freund schwer beleidigt, denn er wurde ja auch gedruckt. Die Tradition der deutschen Literatur der fünfziger Jahre wollten wir nicht. Wir wollten die Tradition der Expressionisten, die Menschheitsdämmerung. Wir wollten etwas ganz Bestimmtes durchkämpfen. Aber eben als unseren eigenen Stil.
Gansberg: Eure Vorbilder waren die Expressionisten?
Reinig: Ja, die Expressionisten waren gewissermaßen „unsere Leute“, wir wollten sie aus ihrer historischen Ecke herausholen und sie mit uns und uns mit ihnen durchkämpfen.
Gansberg: Und ihr habt keine Geldgeber gehabt?
Reinig: Nein, nichts, niemand, das wars ja.
Gansberg: Es war letztendlich ein Zufall, daß ihr euch nicht durchsetzen konntet. Wenn ihr einen Mäzen gefunden hättet…?
Reinig: Ich frage mich, warum dieser Zufall für uns nicht eingetreten ist.
Gansberg: Ihr konntet euch wohl nicht verkaufen.
Reinig: So ist es.
Gansberg: Das heißt, du konntest dich damals nicht verkaufen, aber später doch.
Reinig: Ich glaube, daß für mich viel über die Politik gelaufen ist. Ich frage mich, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht hinter der Mauer gesessen hätte. In dem Augenblick, als mein persönliches Dasein am allertraurigsten war. Getrennt von Verwandten und Freunden, ohne die immer vor Augen stehende letzte Chance, schnell und mit rauchenden Sohlen nach Westberlin rüberzurennen, da plötzlich klingelte es an meiner Tür, und die westlichen Literaten, Lektoren, Verleger interessierten sich für das östliche Schmuddelkind. Es hat viele Schriftsteller gegeben, die niemals diese Chance bekamen. Die deutsche Literatur hat ein besseres Schicksal verdient als das, was draus geworden ist.
Beerlage: Für dich trat also der sogenannte „Dissidenteneffekt“ ein.
Reinig: Damals gab es das Wort gar nicht. Aber es gab die Sache. Wir waren Dissidenten und nicht allein in der östlichen Richtung. Meine westlichen Freunde waren dasselbe wie ich, nur in der westlichen Richtung. Sie waren West-Dissidenten. Auch sie haben auf ihrer Seite der deutsch-deutschen Grenze nicht dem entsprochen, was die Verleger, die Lektoren, die anerkannten Gruppen unter deutscher Literatur verstanden.
Gansberg: Ich frage dich jetzt nach zwei DDR-kritischen Texten, einmal nach der „Japanischen Bittschrift“, zum anderen nach dem Gedicht „Hört weg“. Vielleicht sagst du mal was über die „Japanische Bittschrift“.
Reinig: Die ,Japanische Bittschrift“ hieß ursprünglich die „Chinesische Bittschrift“, und die imaginäre Insel nannte ich Tai-Nan. Aber dann hat mir Mao Tse-tung die Petersilie verhagelt. Es gab eine deutsch-chinesische Freundschaft, die hätte mich gleich in den Staatssicherheitskeller abgeschleppt. Also wurde etwas Japanisches draus. Dagegen konnten sie nicht an. Ich zog mich auf Japan zurück und schilderte eine Gerichtsbarkeit, die so grauenhaft ist, daß die Todesstrafe einer Begnadigung gleichkommt. Der Hintergrund zu dieser Allegorie war die stalinistische Abschaffung der Todesstrafe und die Prahlerei, wie gut und gerecht der sozialistische Staat seine unvorschriftsmäßigen Bürger bestraft.
Gansberg: Hast du das vor DDR-Bürgern gelesen?
Reinig: Ja, und vor SED-Genossen. Die guckten ganz schön dumm aus der Wäsche, denn das Ganze war leicht durchschaubar. Aber sie konnten nicht an mich heran. Japan war imperialistischer Staatsfeind.
Gansberg: Es gab also einen aktuellen Anlaß, oder hast du einfach im allgemeinen die stalinistische Praxis kritisieren wollen?
Reinig: Der aktuelle Anlaß war die Diskussion um die Abschaffung der Todesstrafe. Wenn ich den Text vorlas, konnte eigentlich jeder das Thema genau erkennen.
Gansberg: Nach meinen Recherchen ist der Text erst 1960 in blätter + bilder erschienen, wahrscheinlich in Westberlin oder in Westdeutschland.
Reinig: Entstanden ist der Text 1949.
Gansberg: Nun das Gedicht: „Hört weg!“
Reinig: Das war ein Wutausbruch. Es war nicht für die Veröffentlichung bestimmt. Ich konnte es nicht in eine „Zukunftsachliche“ Gruppenvorlesung einbringen. Denn allein die Imperativform „Hört weg!“ war nach unseren selbstauferlegten Regeln streng verboten. Das Gedicht war ein „rhetorisches Gedicht“, nicht bildhaft genug. Die „schwülen Ampeln“ eine verbotene Metapher. Also nichts für die „Zukunftsachlichkeit“, aber auch nichts, das im Osten bekannt werden durfte. Ich studierte damals. Ein solches Gedicht gemacht zu haben, hätte mich zwar nicht gerade nach Workuta gebracht, aber mit Sicherheit wäre ich von der Uni relegiert worden. Es gab also gar kein Publikum für dieses Gedicht. Es gibt eben Fälle, wo ich dachte, das laß ich raus, obwohl es keine Leser und Hörer haben wird. Nun denn, hört weg!
Beerlage: War dir zu diesem Zeitpunkt klar, daß du lesbisch bist, und hast du dich damit auch identifiziert, denn du sprichst ja alle Outsider an?
Reinig: Da muß ich erst einmal nachdenken. Historische Datierung: 1951. Ja, das war die Zeit dieses Gedichts. Wir hatten schon einmal das Thema Schizophrenie. Da ist sie wieder. Einerseits bin ich Arbeiter- und Bauernstudentin mit einem gesellschaftlichen Anspruch. Andererseits bin ich asozial. Die Leute, die ich in dem Gedicht aufzähle, sind meine Leute. Aber ich bin nicht bei ihnen. Ich bin bei Walter Ulbrichts Roten Garden.
Gansberg: Hast du es in Westdeutschland vorgelegt in deiner Gruppe?
Reinig: Westdeutschland war ein anderes Land, weiter weg als Amerika. Meine Gruppe war nun eine Westberliner Gruppe. Die korrespondierenden Mitglieder gab es nicht mehr. Auch keine Ausländer. Um 1948 gab es Korrespondenzen mit deutschsprachigen Ausländern, Amerikanern. Davon war nichts geblieben. Der Westberliner Topf stand auch ohne Mauer zum Kochen auf dem Feuer. Ich war die einzige Nichtwestberlinerin in der Gruppe. Es entstand in dieser Gruppe, wurde aber von den Mitgliedern nicht abgesegnet. Ich saß damit zwischen allen Stühlen. In Ostberlin durfte niemand etwas von meiner Westberliner Dichterexistenz erfahren. Ich war vielleicht etwas leichtfertig.
Gansberg: Die Sammlung Die Steine von Finisterre wurden 1960 gedruckt. Damit konnte in der DDR bekannt werden, was du da machtest.
Reinig: Ja. Damals fühlte ich mich nicht stark genug, das Gedicht zu veröffentlichen. Es war in der Eremiten-Ausgabe von 1960 nicht drin. Aber 1963 ist es dann bei Fischer abgedruckt worden.
Gansberg: Mußtest du auch 1963 noch mit Repressalien rechnen?
Reinig: Ich rechnete mit Schwierigkeiten. Aber anders ging es nicht. Ich fühlte mich ungeheuer stark. Ich wußte, daß ich gut bin. Mich einfach umzubringen, dazu war nicht mehr die Zeit. Die Zeit mit Chruschtschow war schon schlimm genug, gerade weil ungeheure Machtkämpfe losgingen, und viele von uns Kleinen glaubten, sie könnten sich aus den Schützengräben herauswagen. Und dann stellten sie fest, daß sie eins aufs Dach bekamen. Meine Chance war zu veröffentlichen. Diese Chance bekam ich durch Wagenbach, der damals Lektor im S. Fischer Verlag war. Wagenbach mußte mich durchkämpfen. Goffy Fischer hat mir selbst gesagt, daß er es nicht wollte. Dafür hat er etwas anderes für mich getan. Als meine Verleger Gottfried und Tutti Fischer mit ihrem Oldsmobile vor meinem Betrieb parkten. Ich war damals Kustodin in Diensten der Stadt Berlin. Und die Leute liefen zusammen und schrien: Wo kommt dieses Auto her, und zu wem wollen diese Leute? Und ich sagte: Die kommen zu mir, das sind meine Leute. Das war wieder ein Pluspunkt für mich, und eine Menge Pluspunkte haben mir dann die Ausreise aus der DDR ermöglicht.
Maßgeblich war, daß meine Grundkonzeption stimmte. Ich wollte keinen Streit im unteren Kollektiv. So daß die Parteigruppe oder die Gewerkschaft oder die FDJ sich um mich versammelt und sagt: Christa, wir müssen dich kritisieren. Ich wollte bis oben durchschmoren. Ich wollte, daß die im Zentralkomitee sich mit mir beschäftigen. Ich wollte das kleine Christachen sein, bis zu dem Augenblick, da es mir gelingt; nach ganz oben durchzubrechen, daß es kracht. Das ist nicht mit Versehen oder mit Zufall geglückt. Darüber habe ich mir jahrelang den Kopf zerbrochen und gleichsam Punkte gezählt, Pluspunkt für mich, Minuspunkt in einer falsch gelaufenen Angelegenheit. Einmal traf ich auf der Straße einen Typ aus dem inzwischen verstorbenen Kulturellen Beirat. Er sah mich scheel an und sagte: „Ich hab’ da ein Buch gesehen von einer gewissen Christa Reinig, bist du das?“ Das gefiel mir gar nicht. Aber er hat mich anscheinend nicht verpetzt. Und dann kam der große Augenblick.
Gansberg: Wie sah der aus?
Reinig: Ich sitz’ an meinem Arbeitsplatz. Die Tür geht auf. Herein tritt ein Fremdling und sagt: „Guten Tag, ich bin der Assistent von Professor Hager.“ Ich dachte, das ists! Und wurde gleich saufrech. Aber ich hatte den Namen Hager nicht ganz mitgekriegt. Ich wußte nicht, daß das im Augenblick der große Intellektuellenschlächter war, der den halben Schriftstellerverband umgesäbelt hatte. Es stand im Neuen Deutschland. Aber das zu lesen war mir zu langweilig. Und dieses Zufallsmoment der Begriffsstutzigkeit, „wer ist denn Herr Hager, ich hätts wirklich gern gewußt“, bekam ich wieder als einen Pluspunkt auf meine Rechnung. Irgendwie hat ihnen meine Wurstigkeit imponiert. Ich hatte nicht das Empfinden, daß ich im Keller landen würde. Außerdem fühlten sich die Unteren Ebenen umgangen. Das gefällt denen da unten gar nicht, daß sie in Sachen Christa Reinig Direktiven bekommen. Das hatte ich übrigens schon mehrmals herausbekommen. Die Rechnung: „Mein Freund, der Herr Minister“ und „Meine Genossen im Zentralkomitee“ und „Das werde ich dem Johannes R. Becher melden!“ geht niemals auf. Sondern die kleinen Leute mußt du auf deiner Seite haben. Die müssen ganz verärgert sein: Wie kommen denn die da oben dazu, uns Vorschriften zu machen? Und außerdem unsere harmlose Christa, die uns so ans Herz gewachsen ist. Wenn die plötzlich weg wäre, dann fehlte uns was. Das sind Stimmungen. Aber mit denen mußt du rechnen. Und plötzlich sind sie ein Wind, mit dem du nach Westen segelst, obwohl die Leute, die dir diesen Wind gegeben haben, das nicht wollten. So hat sich meine Ausreise nach dem Westen aus kleinen Punkten und günstigen Winden ergeben.
Gansberg: Die Ausreise nach dem Westen bekamst du 1964 anläßlich des Bremer Literaturpreises.
Reinig: Ja.
Gansberg: War die Publikation der Finisterre-Texte 1960 tatsächlich so gefährlich?
Reinig: Ja. Das haben sie aber nicht mitgekriegt.
Gansberg: Weil das so ein kleiner Verlag war?
Reinig: Und mit einer Auflage von 200 Stück. Aber ich habe von da an mit allem gerechnet, und da traf ich auch den Typen auf der Straße, der das mitbekommen hatte. Aber die Große Aktion in Sachen Christa Reinig mit Genossen Hager und dem Zentralkomitee ging erst 1963 los. Da waren einige dieser Gedichte mit anderen, neuen, im S. Fischer Verlag erschienen.
Gansberg: Eine Frage zur „Ballade vom blutigen Bomme“, Gibt es da ein reales Vorbild?
Reinig: Es gab einen Bomme Redzinski aus der Gladowbande. Er war ein Krimineller. Die Gladowbande wurde vor Gericht gestellt und bekam die Todesstrafe, obwohl die doch abgeschafft sein sollte. Räuberhauptmann Gladow und Bomme wurden hingerichtet. Ich habe auch auf den Räuberhauptmann Gladow ein Gedicht gemacht… Aber das gefiel mir nicht, und ich warf es weg. Dann wollte ich, angeregt von Oscar Wildes „Ballade im Zuchthaus von Reading“, mal ein richtiges Zuchthausgedicht machen. Ich fing mit den Innereien einer Gefängniszelle an: „Eisentür und Eisenbett.“ Da es gereimt werden soll, kommt ja nichts weiter heraus als: „Dicht daneben das Klosett.“ Und da wußte ich, daß ich die tragische Empörung nicht durchhalten konnte. Es wurde ein lustiges Gedicht und eine Parodie auf die Ballade Oscar Wildes.
Gansberg: Und mit diesem Gedicht bist du auch herumgezogen und hast es vorgetragen?
Reinig: Und bebildert. Ich hatte mein Manuskript zu einem Büchlein gebunden und farbige Scherenschnitte dazu gemacht. Die Guillotine in rot und schwarz. Und dies Gedicht wurde sehr schnell veröffentlicht.
Gansberg: Beim Höllerer in seiner Anthologie Transit?
Reinig: Ja, Höllerer verdanke ich meinen Durchbruch.
(…)
Die literarische Spielfigur „Christa Reinig“ kennt einen schlimmen Traum, der wiederkehrt:
Ich bin die Hexe, die unten steht und auf die Fragen des Inquisitors (oder modernerweise der Inquisitorin) antworten muß. Es ist ein Zwang. Ich kann keine Fragen stellen, aber ich muß immer Rede stehen, selbst wenn ich der einzige Mensch in der Wüste bin, würde ich in die Leere des Weltalls hinein antworten.
So steht es in ihrrem letzten Roman Die Frau im Brunnen aus dem Jahre 1984.
Als Anfang September 1985 zwei Literaturwissenschaftlerinnen aus Marburg mit dem Kassettenrecorder anrückten, wurde für Christa Reinig der fiktionale Alptraum zur Realität. Die beiden Frauen, Professorin die eine, Studentin die andere, schrieben an Untersuchungen über Reinig und erwarteten von ihrer Autorin umfassende Auskunft über Leben und Werk. Sie fragten drei Nachmittage lang, dann waren drei Kassetten à neunzig Minuten mit Fragen und Antworten gefüllt.
Christa Reinig stellte sich der Befragung. Wir merkten allerdings bald: Sie war nicht begeistert, verhielt sich aber professionell und diszipliniert, wie es ihrem preußischen Charakter entspricht.
Die Reinig-Kommentare, die uns nach der Abreise um die Ohren gehauen wurden, waren saftig. „Ihr habt mich zum Objekt gemacht“; „Ich werde nie wieder ein Interview geben!“; „So muß einer Unschuldigen zumute sein, die vor dem Staatsanwalt steht.“ Sie hatte das Interview als Verhör erlebt.
Es erfolgte die Transkription der Ton-Kassetten. „Du kennst doch Citizen Kane von Orson Welles?“ fragte mich Christa Reinig. „Diese Kane-Gedächtnis-Bibliothek mit dem großen Tresor – in so was gehören diese Interviews!“ Top Secret.
Einverstanden. Ich freilich hatte schon angefangen zu drängeln. Die Substanz der Aussagen beeindruckte mich so stark, daß ich zur Veröffentlichung riet. Damit schien es nun nichts zu werden.
War es auch bei ihr Einsicht in die Substanz des Textes, war es die Ergänzungsbedürftigkeit der gesprochenen Antworten? Plötzlich wurde Christa Reinig verführt und herausgefordert. In wenigen Wochen überarbeitete sie den gesamten Text.
Sie, die sich von uns wissenschaftlichen Quälgeistern zum Objekt gemacht fühlte, vollzog nun einen Positionswechsel, der zugleich eine Annäherung war. Bei der Text-Revision überließ sie sich noch einmal der Erinnerung, machte nun sich selbst zum Objekt.
Die gesprochene Fassung des Interviews ist unter dem Zeitdruck des laufenden Kassettenrecorders entstanden und formuliert. Zudem ist Christa Reinig ein stark mimischer, gestischer Mensch. Der Aussagekern war fast immer klar und eindeutig, die Formulierung aber oft tastend, unsicher, unscharf. Es wurde ins „off“ gesprochen. Es gab zahllose Wiederholungen, viele Sätze waren nicht zu Ende formuliert. Die Sprech-Fassung ist sehr spontan, oft drastisch und hart.
Der neue Text, der hier im Druck vorliegt, läßt, bis auf wenige gestrichene Passagen, die Substanz der Aussage unangetastet. Er ist jedoch durchgängig stilistisch überformt, inhaltlich angereichert, präzisiert, verdeutlicht. Manches ist neu hinzugekommen. So liest sich etwa die Bildbeschreibung des tibetischen Thangka zugleich fast wie ein Abriß der buddhistischen Lehre, wie ein kleiner Essay über Buddhismus.
Die Gespräche mit Christa Reinig erweisen sich als Dokument zur Literatur- und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, als Werkstattbericht, als Kommentar zur eigenen Produktion und zu den Werken anderer Schriftsteller/innen. Und sie geben zugleich Blicke frei auf das Leben einer Person, die weiblich ist, aus dem Proletariat stammt, eine bedeutende Schriftstellerin ist, die sich herausnimmt, Frauen statt Männer zu lieben, und schließlich auch noch dem radikalen Flügel der Frauenbewegung angehört. Fünf Gründe, um vom Patriarchat in die Pflicht genommen, bestraft zu werden. „Wir Frauen sind die Daneben“, formuliert sie einmal.
Handelt es sich bei diesen Gesprächen immer um authentisches Material für die Literaturgeschichte? Wie steht es um die Dialektik von Dichtung und Wahrheit?
Unmerklich wird die Schriftstellerin Reinig, die reale Person zur literarischen Figur, zum „Pseudonym Christa Reinig“, wie es Helmut Salzinger genannt hat. Spielerisch tauscht eine Person mit der anderen Stimme und Identität. Mechthild und ich saßen abends im Hotelzimmer, tranken Rotwein und resümierten die Gespräche des Nachmittags. „Aber da“, sagte eine von uns, „da hat sie uns doch geleimt! Das ist ja ,fiction‘, Reinig-Legende!“
Was hatten wir erwartet?
Christa Reinig hat die Tonband-Gespräche gründlich redigiert. Jetzt hatte sie gegen eine Publikation nichts mehr einzuwenden. Nach einem harten Hin und Her waren wir einig geworden. Und so kann dieser Dialog, der auf weite Strecken Reinig-Monolog ist, doch noch als eine kleine Festgabe zu ihrem 60. Geburtstag erscheinen.
Es sollte wohl so sein.
Marie-Luise Gansberg, 6. August 1986, Vorwort
– Vorwort
– Kindheit
– Schriftsteller-Existenz – Ostberlin, Westberlin
– Schriftstellerin in der Bundesrepublik
– Literarische Produktion
– „Die himmlische und die irdische Geometrie
– Frauenbewegung
Lothar Köhn: Zeit der Weiblichkeit?
Lothar Jordan, Axel Marquard, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Erlebnis und Kritik, 1988
Anne Hahn: Mein kleiner Buchladen: „Vergessene Bücher“ – Die Frau im Brunnen
piqd.de, 22.11.2017
Elisabeth Endres: Papier ist ungeduldig
Süddeutsche Zeitung, 6.8.1996
Irene Ferchl: Dreimal raten
Stuttgarter Zeitung, 6.8.1996
Wulf Segebrecht: Für die Stromer und wüsten Matrosen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1996
Wolfgang Platzeck: Entmannung
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 7.8.1996
Wolfgang Platzeck: Gegen das positive Denken
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 4.8.2001
Helmut Böttiger: Sachlich in die Zukunft
Der Tagesspiegel, Berlin, 6.8.2001
Peter Mohr: Der Mut zu Ausbrüchen, Aufbrüchen und Abbrüchen
General-Anzeiger, Bonn, 6.8.2001
Ulla Hahn: „Wenn mir beim Schreiben die Luft wegbleibt…“
die horen, Heft 224, 4. Quartal 2006
Peter Mohr: Papier ist ungeduldig
titelmagazin.com, 6.8.2006
Ijoma Mangold: Wucht und Weisheit
Süddeutsche Zeitung, 5./6.8.2006
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