PATIENT UND DICHTER
Dichter
Je größer das Leid
desto größer der Dichter
Umso härter die Arbeit
Umso tiefer der Sinn
Patient
Je größer das Unheil
desto härter der Kampf
Umso ärger der Verlust
desto Irrsinniger die Verdammten
Patient und Dichter
Je größer das Leid
desto kleiner der Dichter
Umso härter die Arbeit
Umso tiefer der Sinn
Je grösser das Unheil
desto härter der Kampf
Umso ärger der Verlust
desto irrsinniger die Verdammten.
Am 11. September 1991 starb in der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Maria Gugging der Dichter Ernst Herbeck, der unter dem Namen „Alexander“ bekannt geworden ist.
Ernst Herbeck gehörte zu jenen Menschen, die von dem Unglück betroffen sind, viele Jahre ihres Lebens Patient in einem psychiatrischen Krankenhaus zu sein. Besondere Umstände haben bei ihm dazu geführt, daß er in dieser Zeit ein bekannter Dichter geworden ist. Ich bin sehr dankbar, daß es mir ermöglicht wurde, in diesem Buch einen umfassenden Überblick über das Werk zu geben, das er uns hinterlassen hat. Zum besseren Verständnis dieses Werkes möchte ich hier über das Leben Herbecks, das durch seine Krankheit und deren Folgeerscheinungen geprägt war, kurz berichten.
Ernst Herbeck wurde am 9. Oktober 1920 in Stockerau, nahe bei Wien, geboren. Sein Vater war Beamter, seine Mutter Hausfrau. Er hatte eine um drei Jahre jüngere Schwester. Er besuchte Volks- und Hauptschule und ein Jahr lang die Handelsschule, war stets ein fleißiger Schüler, mußte aber wegen mehrfacher Operationen einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte die zweite Volksschulklasse wiederholen. Nach der Schulentlassung war er durch diesen angeborenen Fehler und die seelischen Komplexe, die damit verbunden waren, in der Berufsausbildung sehr behindert. Als er achtzehn Jahre alt war, erfolgte eine letzte operative Korrektur mit nicht ganz befriedigendem Ergebnis. Herbecks Sprache war nasal, die Artikulation erschwert; er redete wenig.
Herbeck hat in der Handelsschule Englisch gelernt; er lernte auch das Mandolinespielen und war ein guter Zeichner. Als Jugendlicher war er ein Einzelgänger. Er kaufte sich ein Boot, Fernglas und Kompaß und schwärmte für die Natur. Für das Lesen von Gedichten hatte er keine besondere Vorliebe; er schrieb auch keine Gedichte.
Als er zwanzig Jahre alt war, kam Herbeck zum erstenmal in psychiatrische Behandlung. Er war damals – während des Krieges – in einem Rüstungswerk als Hilfsarbeiter beschäftigt. Er soll wenig gegessen und geschlafen haben, in der Nacht wach gelegen sein und vor sich hin gezählt haben; er habe Lach- und Weinkrämpfe gehabt. Als er den Verdacht äußerte, daß er von einem Mädchen hypnotisiert werde, brachten ihn seine Eltern zum Arzt.
Vom 1. August bis 17. November 1940 befand sich Herbeck zum erstenmal an der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik. Dort gab er an, daß er mit einem Mädchen durch Morsezeichen in Verbindung stehe. Er erzeuge durch Schluckauf die Signale, und er höre die Stimme des Mädchens über jede Entfernung hinweg. Er fühle sich dadurch beeinflußt.
An der Klinik wurde Herbeck – wie es damals üblich war mit sechzig Insulinschocks behandelt und in gebessertem Zustand entlassen.
Herbeck hat hierauf ein volles Jahr zu Hause verbracht und war als Speditionsgehilfe tätig. Am 28. Jänner 1942 wurde er jedoch neuerlich an die Psychiatrische Klinik eingewiesen. Diesmal wurde er dort aber nicht mehr behandelt, sondern nach wenigen Tagen, nämlich am 18. Februar, in die damalige Heil- und Pflegeanstalt Gugging überstellt. Hier erklärte er, daß er immer noch unter einer Art Hypnose stehe, die von dem erwähnten Mädchen ausgehe. Es sei wie beim richtigen Morsen – „Striche und Punkte“ −, aber wie das gemacht werde, ohne Apparat, das könne er nicht verstehen. Die Beeinflussung höre manchmal auf, beginne aber immer wieder von neuern. Er höre das Mädchen reden, er höre auch andere Stimmen, das sei wie eine Gefühlsübertragung. Er werde gezwungen, Handlungen zu begehen, die er nicht begehen wolle, so müsse er sich zum Beispiel auf Geheiß ohrfeigen, müsse auf der Straße rechts oder links abbiegen, obwohl er geradeaus gehen möchte. Das Mädchen beobachte sein Verhalten ständig und sei über alle seine Handlungen informiert. Er kenne das Mädchen seit seinem achtzehnten Lebensjahr. Es sei kein intimes Verhältnis gewesen, ja nicht einmal eine nähere Bekanntschaft, und doch wisse er genau, daß dieses Mädchen in ihn verliebt gewesen sei. Die geschilderten hypnotischen Erscheinungen seien keinesfalls Symptome einer Krankheit; er fühle sich ja ganz gesund. Er müsse an die Realität dieser Beeinflussung glauben, da er bei klarem Verstand sei.
Diesmal wurde Herbeck mit vierzehn Cardiazolschocks behandelt. Am 28. Mai 1942 ging er heim und arbeitete wieder in einer Munitionsfabrik. Im Oktober 1944 wurde er zum Militär eingezogen, im März 1945 als wehrdienstuntauglich entlassen. Bald darauf war der Krieg zu Ende. Niederösterreich wurde von russischen Soldaten besetzt. Am 7. September 1945 kam Herbeck zum drittenmal in stationäre psychiatrische Behandlung, diesmal direkt in die Heil- und Pflegeanstalt Gugging. Er war gegen seinen Vater tätlich geworden, hatte sich selbst geschlagen und bei den Mahlzeiten das Essen abgelehnt. Auf Befragung äußerte er sich zögernd, ausweichend: „Ich bin eben noch gestört… Es geht mir allerhand im Kopf herum, ich weiß nicht, wen ich beschuldigen soll. Ich habe keine Augenzeugen. Ich möchte gerne wissen, was es mit der Hypnose auf sich hat. Die Leute müssen mich direkt hassen, und ich habe ihnen nichts in den Weg gelegt.“ Auf die Frage, warum er seinen Vater angegriffen habe, sagte er, der Vater gehe gegen ihn auch tätlich vor: „Er zersetzt mir die Nerven, er drückt mich auf den Kopf, er hypnotisiert mich auch. Er denkt so scharf, und davon bekomme ich Kopfweh…“ Sein Vater sei ein gemeiner Hund.
Diesmal wurde Herbeck mit zehn Elektroschocks behandelt und am 27. Dezember 1945 in häusliche Pflege entlassen.
Am 18. Mai 1946 wurde Herbeck nachts von der Polizei festgenommen, als er in einem Randbezirk Wiens planlos umhergegangen war und sich nicht ausweisen konnte. In der Haft enstanden Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit. Herbeck wurde deshalb, nachdem er einige Tage eingesperrt war, an die Wiener Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert und kam über die Anstalt Am Steinhof am 6. Juni 1946 nach Gugging. Er sagte, er sei in den Händen von Leuten, die ihn ausnützen wollten: „Sie wollen mich ausstellen, sie wollen mich in einen Glaskasten stellen.“ Er spüre das in den Augen. Er sagte: „Ich werde ferngelenkt. Ich weiß nicht, von wem das ausgeht.“ Auf die Frage, was er in der Nacht in Floridsdorf gemacht habe, meinte er: „Ich wollte einfach laufen, die Bewegung stärkt den Geist. Bei Tag ist das viel schwieriger. Auch die andern Menschen sind mit den Nerven schlecht beisammen und gehen mir deshalb aus dem Weg.“
In letzter Zeit fühle er sich weniger von Frauen und mehr von Männern beeinflußt: „Sie wollen mich sehen, sie wollen durch mich durchsehen, weil ich keinen Widerstand habe.“ Einige Tage später sagte Herbeck, er fühle sich als Fremdkörper in der Gesellschaft und spüre die von dort ausgehende Beeinflussung fast dauernd. Er vermute auch, daß sich in seinem Körper zuviel Elektrizität befinde. Es komme manchmal vor, daß seine Gedanken ganz klein würden. Wie ein fernes Sprechen höre er diese Männerstimmen. Man behandle ihn wie ein Versuchskaninchen. „Es ist, wie wenn ein feines Netz vor den Augen wäre.“ Dann meinte er:
Ich bin nichts mehr wert, ich kann mich nicht einordnen.
Am 14. Juli 1950 wurde Ernst Herbeck mit Beschluß seines Heimatgerichtes voll entmündigt; sein Vater wurde als Kurator eingesetzt.
Durch die verschiedenen Schockbehandlungen, denen Herbeck unterzogen worden war, hatte sich sein Befinden immer nur vorübergehend gebessert; der paranoid-halluzinatorische Zustand war chronisch geworden. Äußerlich unmotiviert traten Erregungszustände auf, Herbeck warf Teller und Geschirr zu Boden und fuhr mit dem Kopf gegen die Wand. Wenn er ins Freie kam, lief er wiederholt davon. Man hielt ihn deswegen in der Abteilung zurück. Herbeck trommelte mit den Füßen gegen die Türen und schlug Fenster ein.
Erst zu Beginn der fünfziger Jahre hatte man wirksame antipsychotische Medikamente gefunden. Unter dieser medikamentösen Behandlung beruhigte sich Herbeck, er sonderte sich jedoch von den anderen Kranken ab und hielt sich auch der ärztlichen Visite fern. Auf- und abgehend schimpfte er leise vor sich hin. Er wurde dauernd von Gehörshalluzinationen geplagt. Anderen Kranken gegenüber war er reizbar und versetzte ihnen im Zorn Schläge.
Herbeck wurde von seinen Eltern in Abständen von mehreren Monaten besucht, sie waren jedoch alt geworden und fühlten sich dadurch immer weniger imstande, ihren kranken Sohn wieder zu sich zu nehmen; infolge der fortbestehenden psychischen Störungen und der Schwierigkeiten im Umgang mit Ernst Herbeck konnten die Eltern von den Ärzten dazu auch nicht gedrängt werden. Im Jahre 1971 sind seine beiden Eltern gestorben. So kam es, daß Herbeck bis an sein Lebensende – mit einer einjährigen Unterbrechung, als er sich in einem Pensionistenheim befand – im psychiatrischen Krankenhaus blieb.
Zufällig sind Ernst Herbeck und ich fast gleichzeitig im Frühjahr 1946 in die Heil- und Pflegeanstalt Gugging eingetreten, er als Patient, ich als frisch promovierter Arzt. Wir sind hierauf 45 Jahre miteinander in Verbindung gewesen.
Ich erinnere mich an Ernst Herbeck, als er sich noch in der Aufnahmeabteilung befand, an Erregungszuständen litt und völlig verschlossen war. Als ich ihn bei der Visite einmal fragte, was er gerne tun würde, sagte er: „Bootfahren und Märchenbücher von der Seerose lesen“. Das war vielleicht das erste dichterische Wort, das Herbeck von sich gegeben hat. Ich habe es aber damals noch nicht als ein solches verstanden.
In den frühen fünfziger Jahren wurde Herbeck in eine Abteilung versetzt, in der nicht so akut Kranke untergebracht waren. Nun versuchte ich, mit ihm eine nähere Beziehung herzustellen. Er erwähnte seinen Sprachfehler. Ich redete ihm zu, sich trotz dieser Schwierigkeit nicht so sehr abzusondern. Ich pflegte damals schon viele Patienten Zeichnungen herstellen zulassen. So forderte ich auch Herbeck auf, etwas zu zeichnen, bat ihn, einen Lebenslauf zu schreiben, und veranlaßte ihn, mir schriftlich mitzuteilen, was sich tagsüber ereignet hatte. Herbeck ging willig auf solche Aufgaben ein, von deren Sinnhaftigkeit er aber wenig überzeugt schien; dennoch waren es Kommunikationsversuche, auch von seiner Seite her. Er schrieb:
Abt. 5 Gugging, 8.8.54
Geehrter Herr Oberarzt
Bemühe mich mit Pfleger und
Patienten in Fühlung zu kommen
daß sich meine Sprechhindernisse
und meine Seelischen Hämmnissen
lockern. Mit Meinen Aufenthalt
auf Abt. 5 bin ich sehr zufrieden
aaaaaWas Verpflegung anlangt habe
ich gut und reichlich. Schlafe sehr
gut. Es sind bloß einige Mit-
Patienten die auf mein Leiden
keinen Rücksicht nehmen.
aaaaaAber meine Hoffnung ist es
daß, sich mein Sprechen und
meine seelische Zurückhaltung
geben wird, daß sich den bösen
Nörglern an meinen Sprach-
fehlern beweisen kann, daß ich
selbst mitgeholfen habe zu meiner
Gesundung
aaaaaFüer Ihre Mithilfe Herr Ober-
Arzt Dankhe ich herzlich und bitte
Sie weiter um ärztliche Hilfe
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIn innerster Dankbar-
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaakeit einer Ihrer ärmsten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaPatienten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaErnst Herbeck
Ein anderesmal schrieb er:
Heute ist ein schöner heißer Sommertag
Die hoch Sommer Hitze ist fast nicht zu er-
tragen Das Thermometer zeigt 38 Grad Celsius
Ein kühles Bath wäre jetzt daß Aller-
beste. Meine Mit-Patienten vertreiben
sich die Zeit mit Kartenspielen
Ich Ernst Herbeck
Zur Zeit in der Heil & Pflegeanstalt
Gugging. Ich beschäftige mich Heuthe unter
Aufsicht eines Pflegers mit kleinen Re-
chenaufgaben.
multiplizieren, dividieren kann ich
gut, jedoch wurzelziehen muß ich erst
wieder lernen
Oder:
Ich bin heute schon sehr müde und
keine Lust vorhanden zu zeichnen
aber ich lese laut den andern Patienten vor
aus einem Buche.
Herbeck wurde nun zeitweise in der Säckekleberei beschäftigt. Er zeigte wenig Lust zu dieser Tätigkeit und stand oft lange Zeit untätig am gleichen Platz. Als ich ihn einmal bat, einen Brief an einen Freund zu schreiben, überreichte er mir tags darauf zwei kleine Zettel mit dem folgenden Text – in einer völlig „zerfahrenen“ Sprache. Wahrscheinlich war dieses Resultat situativ bedingt. Die Aufgabe, an einen Freund zu schreiben, den er nicht hatte, war ihm offenbar absurd erschienen; außerdem hatte ich ihn mit der Aufgabe allein gelassen, ihm kein Briefpapier zur Verfügung gestellt; er hatte deshalb auf die vier Seiten zweier Zettel aus einem Notizbuch geschrieben:
„Lieber Dart!
Es geht mir gut
möchte wieder laufen
aber im Barth. Bach,
komme bald heim. Ich
habe keine Heimweh ein
bißßchen Zahn. Lieber A.
half ich beim ballspiel
wieder nicht? ab. Dorf.
hole beine ab. bei Dir. Es
ist keine Zeitung da!
Zeit habe ich auch keine
dafür kann ich nichts.
Ball au. Platz 1 frei. B.
aaaaaaaaaaaaaaa6 P.
Es mag sein aber nie
abes macht sich! Dein Polti
geht nicht her. Das Herz
geht eher aber die Rad-
siehte gesehen geht auch
da sie in 30 cm abseits
zieht, Baum Gruppe an.
der Straße da ich nichts
sehr bestimmt. Der Bub
hat mehr vom Leben da
seine Mädel nicht hören.
Augenblick Liebe Es er
und weg geht durch den
Bkock gerade aus zu der
Dir. Eh’es magy ich lesen
seim. da di chere not .. −
Gurke möreder mich nie
mict de Gewehr da sie
gelt sind. geladen lob
auch imém. loben St.
mache. in deine Miart.
eher 5 Minuten zu bar.
Bad rauche nicht. Da
keime Ort. Auch keime
Bohmen“. Da Deutscher
Tagje Örfall im mopped.
Parppe. inder Art frech
ist. send ich nicht keine
Panne habe. Sie holt. – W.
mit Tags sehr darauf.
da sie nicht will. Auch war
ich eher schön E. – Ende
aaaaaaaaaauEer Alexander
gelt gabe es keines Besatz
Spatzgelt. A. Aber gilt.
Bad. da webt der wind.
schilling. Österreich alles in
Ordnung ist. dort auf
hier nicht da. Echter neu
ich neid kann es sein.
möcht nach er ham. dor
traf ich in. Dorf aufwärts
fahren CBB Bahn die hier
ist. Über grat Michael
St. Wolfgang und Attersee
Bald aufgehen die Sonne.
und dein Bart ist ab. Auch
die gefan – gernegroß. gen.
Schaft Dieb. ist bald zu
aaaaaEnde.? Dein Alexander
(15.5.60)
Herbeck hatte bald wieder zu einer besser verständlichen schriftlichen Ausdrucksweise zurückgefunden. Das Beispiel zeigt aber, wie groß seine Neigung zu schizophrenem Sprachzerfall und damit einhergehenden Neubildungen der Sprache war.
Am 6. September 1960 wurde Herbeck in eine etwa sechs Kilometer entfernte Dependance der Anstalt, den Haschhof, verlegt. Es waren dort ungefähr dreißig männliche Patienten untergebracht, lauter chronisch Kranke, die in der Landwirtschaft arbeiteten.
Bei einer Visite auf dem Haschhof bat ich Herbeck einmal in das Untersuchungszimmer, legte einen kleinen Zeichenkarton vor ihn hin, reichte ihm meinen Kugelschreiber und sagte: „Bitte, Herr Herbeck, schreiben Sie ein kurzes Gedicht mit dem Titel ,Der Morgen‘!“ Ich saß neben ihm. Herbeck schrieb: „Der Morgen“ und dann mit Unterbrechungen:
Im Herbst da reiht der
aaaaaaaaaaaaaaaFeenwind
da sich im Schnee die
Mähnen treffen.
Amseln pfeifen heer
im Wind und fressen.
Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, Herbeck ein Gedicht schreiben zu lassen. Er hatte bisher immer nur Prosatexte geschrieben. Nun lag plötzlich etwas vor mir, das nicht bloß psychopathologisch zu verstehen war; es war ein wirkliches Gedicht.
Von nun an ließ ich bei jeder Visite auf dem Haschhof Herbeck einige solcher kurzen Gedichte schreiben. Herbeck muß von Anfang an gespürt haben, wie sehr mich seine Worte beeindruckten, denn er ging immer wieder auf meine Bitte, etwas zu schreiben, ein, obwohl er auch mit mir nur wenig redete. Wenn er beim Schreiben stockte, forderte ich ihn auf, weiterzuschreiben; er befolgte diese Aufforderung. Ich legte immer die gleichen postkartengroßen Kartons vor ihn hin und borgte ihm meinen Kugelschreiber, sagte den Titel an und wartete gespannt auf das Ergebnis. Das alles spielte sich kommentarlos ab. Herbeck gab keine Erklärung zu seinen Texten. Manchmal fragte ich ihn, wie ein Wort zu lesen sei oder was es bedeute. Oft stellte mich dann seine Antwort vor neue Rätsel.
Alle die frühen Gedichte Ernst Herbecks (1960-1966) sind auf diese Weise entstanden. Später traten gewisse Änderungen sowohl in meinem Vorgehen wie auch in der Einstellung und Disposition zum Schreiben bei Ernst Herbeck ein. Herbeck fühlte sich noch nicht als ein Dichter, und er hatte dabei keine literarischen Ambitionen. Ich glaube, es war damals tatsächlich nichts anderes als ein Versuch der Kontaktnahme zwischen einem Arzt und einem Patienten mit Hilfe der von uns entdeckten Möglichkeit des Gedichteschreibens.
Die von Herbeck verfaßten Texte zeigten viele Merkmale der Schizophrenie; gleichzeitig aber waren sie Dichtung. Ich stellte fest, daß sich die schizophrenen und die lyrischen Sprachphänomene überschneiden können und bei Herbeck teilweise identisch sind. Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, daß Herbecks Schriften vielleicht nicht nur einen Kommunikationsversuch dokumentieren, sondern von allgemeinem Interesse sein könnten. Im meinem Buch Schizophrenie und Sprache (1966) publizierte ich 83 der frühen Gedichte Ernst Herbecks unter dem Pseudonym „Alexander“, schloß eine stilistische Analyse an und wies auf den möglichen literarischen Eigenwert dieser Sprachschöpfungen hin. Das Echo, das das Buch fand, übertraf meine Erwartungen: Viele Menschen waren von Herbecks Gedichten höchst beeindruckt.
Ich will jetzt keine Wirkungsgeschichte des Herbeckschen Werkes zu schreiben beginnen; aber diese allerersten Gedichte spielen in der Rezeption seines Werkes eine wichtige Rolle. Ich möchte nur einige wenige Beispiele aus jüngster Zeit hier erwähnen.
Eine amerikanische Germanistik-Studentin, Frau Melissa Monroe, kam 1983 anläßlich einer Ausstellung der „Künstler aus Gugging“ in Berlin zum erstenmal mit Herbeck-Gedichten in Berührung. Seither übersetzt sie Herbeck-Texte ins Englische und publiziert sie in amerikanischen Literaturzeitschriften. Es handelt sich dabei hauptsächlich um diese frühen Gedichte.
Frau Erika Magdalinski, eine französische Malerin, schrieb mir, sie habe vor zwanzig Jahren in Deutschland das Buch Schizophrenie und Sprache erworben, habe es jetzt erst gelesen und sei von den Herbeck-Texten stark beeindruckt. Sie bat um die Erlaubnis, vierzehn der frühen Herbeck-Gedichte mit französischer Übersetzung als einen mit Graphiken illustrierten Band herausgeben zu dürfen. Dieses bibliophile Werk ist 1990 erschienen.
Und vor kurzem hat Hans-Martin Zöllner, der Leitende Psychologe der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich meine stilistische Analyse der frühen Herbeck-Gedichte in einer Schweizer medizinischen Zeitschrift auszugsweise wiedergegeben und auf Herbecks Dichtkunst aufmerksam gemacht.
Ernst Herbeck hatte sich für Lyrik eigentlich nie interessiert. Es fehlten ihm auch alle äußeren Anregungen. Er war doppelt isoliert, in der psychotischen Innerlichkeit und seiner äußeren Unterbringung. Das war sein Leben:
Der Ablauf des gestrigen Tages
Ein Erlebnisbericht.
Ich stand in der Früh auf – um sechs Uhr
kam die Dienstübernahme. Dann gingen
wir zu Tisch. Der Herr Oberpfleger teilte
die Pulver für die Patienten aus.
Ich bekam – ein Decentan und ein
Discipal. Als ich aufstand, ging ich mich
waschen. Das wasser war kalt. Um halb-
sieben kam der Kaffee; dazu bekamen
wir je ein Stück Brot. Dann bin ich nicht
zur Arbeit gegangen, weil ich gewartet habe −
bis der Herr Primar kommt. Und er kam
aber nicht. Dann ging ich am Gang −
spazieren. Um zwölf Uhr kam das Mittag-
essen. Es gab Krautfleckerl und Rindsuppe.
Vor halb sieben holte ich mir 10 Austria
Zigaretten. Um ein Uhr gingen wir zur Arbeit.
Wir hatten Kartoffel ausgeklaubt. Bis
fünf Uhr. Dann gingen wir Nachhause. −
Die Kartoffel hatten wir in Säcke eingefüllt
und abgewogen. Dann rauchte ich ein
paar Zigaretten. Um fünf kam
das Nachtmahl, es gab Bohnensuppe
mit Nudeln darin. Um sechs Uhr gingen wir
schlafen. Dann kam die Dienstübernahme
und der Nachtdienst. (7h)
(15.11.63)
Im Vergleich zu den ersten Krankheitsjahren hatte sich Herbecks Befinden sehr gebessert. Aber er konnte sich mit dem, der er war, immer noch nicht abfinden und wünschte durchgreifende Änderungen. Im Frühjahr 1965 überreichte er mir den folgenden Brief:
Sehr geehrter Herr Doktor und Professor.
Ich, Ihr ergebener Ernst Herbeck möchte, daß ich endgültig operiert werde.
Holen Sie mich, durch drei Ihrer Beamten ab. Ich wohne am Haschhof
(Abteilung 12). Kierling-Gugging
Und am folgenden Tag äußerte er auch noch den folgenden Wunsch:
Ich, Ernst Herbeck, möchte, daß der Magistrat mir den bisherigen Namen abändert – auf die tschechische Art – unter Wegnahme des ersten E und des C, sodaß der Name HRBEK ist.
Ernst Herbeck wurde vom Haschhof in eine Abteilung innerhalb des Krankenhauses verlegt. Ein Arbeitsplatz als Einzelarbeiter in der Bäckerei wurde ihm angeboten. Herbeck ergriff diese Möglichkeit und war in den Jahren 1966/67 in der Bäckerei fleißig tätig. Er befand sich zu dieser Zeit in einer anderen Phase seiner Erkrankung: schien er während seines Aufenthaltes auf dem Haschhof eher gedrückt und gehemmt, so war er jetzt freier, weniger gespannt, zugänglicher. Das wirkte sich auch in seinen Schriften aus.
Im Jahre 1967 war es mir eine Zeitlang nicht möglich, mit Herbeck zum Schreiben zusammenzukommen. Ich vereinbarte daher mit ihm, daß er täglich im Dienstzimmer des Oberpflegers zu einem von mir angegebenen und dort aufliegenden Thema ein Gedicht schreibe.
Herbeck war auf seine Tätigkeit in der Bäckerei sehr stolz (vgl. die beiden Gedichte „Der Bäcker“ und „Die Bäckerei“); auch die Selbständigkeit des Schreibens mag zur Stärkung seines Selbstbewußtseins und Verbesserung seiner Stimmung beigetragen haben. Seine Produktivität war damals jedenfalls erstaunlich groß.
Wie mir berichtet wurde, stellte sich Herbeck jeden Tag pünktlich im Zimmer des Oberpflegers ein, bat um seinen Zigaretteneinkauf und fragte nach dem heutigen Thema. Er setzte sich dann an den Schreibtisch, bekam ein Blatt Papier, rauchte eine Zigarette, eventuell eine zweite, und fing dann zu schreiben an. Er saß eine bis eineinhalb Stunden an seinem Tisch und redete kein Wort; nur wenn eine Frage an ihn gestellt wurde, gab er Antwort; sobald das Gedicht fertig war, gab er das Blatt ab und ging.
Herbeck fühlte sich nun bereits als Dichter. Er las sein Gedicht „Weihnacht 1967“ bei unserer Weihnachtsfeier. Er las bei anderen Gelegenheiten aus seinen Schriften vor. In Büchern und Literaturzeitschriften wurden einzelne Gedichte publiziert, zunächst noch unter dem Pseudonym Alexander, vorübergehend unter dem von Herbeck selbst gewählten Pseudonym „Alexander Herbrich“.
Im Jahre 1968 hatte ich die Möglichkeit, Herbeck in jener Station unterzubringen, in der sich mein eigenes Arbeitszimmer befand; dadurch sind wir einander wieder nähergekommen. Infolge einer Umstellung in der Bäckerei wurde Herbeck beschäftigungslos. Er wurde nun von jeder manuellen Arbeit befreit, konnte tagsüber spazieren gehen oder sich in der Bastelstube aufhalten. Die Atmosphäre in der Bastelstube im Winter 1970 kommt in seinem „Brief“ zum Ausdruck.
Herbeck war nun ruhiger, zufriedener geworden, er nahm abends regelmäßig am Fernsehen teil, hörte die Abendnachrichten und eventuell noch die folgende Sendung, wenn es etwas Heiteres gab. Gerne ging Herbeck mit dem ebenfalls sehr schweigsamen Oswald Tschirtner im Gelände der Anstalt spazieren. Gefragt, ob sie sich ein wenig unterhalten hätten, meinte er: „Einer, der weniger redet, wär’ mir lieber.“
Es kam allerdings auch vor, daß Herbeck plötzlich erklärte, der Pfleger F. sei in seinem Körper, oder, eine große Ratte sei in seinem Bauch. Er kam zum Nachtdienstpfleger und sagte, die Sekretärin sie in ihm und wolle ihn umbringen; sie hasse ihn; er schlug sich mehrmals ins Gesicht und meinte, ein anderer habe seine Hand gelenkt.
Von einem Nachmittagsspaziergang mit Oswald Tschirtner und Johann Hauser kehrten die drei zum Abendessen nicht zurück. Sie wurden spät abends in einem Nachbarort von der Gendarmerie aufgegriffen und in die Anstalt zurückgebracht. Herbeck gab an, sie hätten gleich nach dem Mittagessen die Abteilung verlassen, wären aber nicht im Anstaltsbereich geblieben, sondern seien in den Wald gegangen. Sie seien in Richtung Hadersfeld marschiert, von dort auf die Straße nach Langenlebarn. Er wisse nicht, warum er mitgegangen sei. Johann Hauser habe sie angeführt. In Langenlebarn seien sie schon sehr müde gewesen, seien in ein Gasthaus gegangen und hätten eine Limonade bestellt. Da sie aber nicht zahlen konnten, habe der Wirt die Gendarmerie verständigt.
Im Jahre 1970 fand die erste Ausstellung der Gugginger Künstler in der Wiener Galerie nächst St. Stephan statt. Nun erhielten unsere Zeichner von Reportern, Künstlern und Kunstinteressierten häufig Besuch. Dazu war immer auch Ernst Herbeck eingeladen. Er wurde gebeten, einige seiner Gedichte vorzulesen. In dem Film Mitteilungen aus der Isolation, den ich gemeinsam mit Ferry Radax hergestellt hatte, wirkte er mit.
Als ich Herbeck so nebenbei einmal fragte, ob er einverstanden sei, daß wir seine Gedichte als Buch herausgeben, bejahte er meine Frage. Ich sprach hierauf längere Zeit nicht mehr über dieses Thema. Eines Tages sprach Herbeck etwas von einem Buch. Ich kann mich an den genauen Wortlaut nicht mehr erinnern, seiner Bemerkung war jedoch zu entnehmen, daß er das Buch erwarte. Er schrieb auch folgendes:
Der Psychiater
Der Psychiater ist der Sorge des
aaaaaaaaaaaaaaaaaaPatienten.
Der Psychiater dankt und denkt über
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaden Patienten.
Der Psychiater denkt und schützt die
aaaaaaaaaaaaaaWorte des Patienten.
Im Jahre 1977 erschien das Buch Alexanders poetische Texte, welches eine umfangreiche Auswahl aus dem bis dahin entstandenen Gesamtwerk Herbecks enthielt. Der Name „Alexander“ war durch die Erstveröffentlichung und verschiedene kleinere Publikationen bereits bekannt geworden. In einer Vorbemerkung zum Buch durften wir jetzt jedoch (im Einvernehmen mit dem Kurator und mit dem Pflegschaftsrichter) schreiben: „Der Autor wünscht, daß sein richtiger Name nun genannt wird: Ernst Herbeck, geboren 1920 in Stockerau. Seit 1946 lebt er als Patient im Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg.“ Otto Breicha, Roger Cardinal, André Heller, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Reinhardt Priessnitz und Gerhard Roth haben in einem Anhang zu den Texten Herbecks einen Beitrag geleistet.
Als das Buch erschienen war, veranstalteten wir eine kleine Feier, wobei Herbeck zahlreiche Bücher signierte und überreichte. Er las trotz seiner Sprechbehinderung daraus vor. Im Rundfunk, Fernsehen und in der Presse wurden seine Gedichte zitiert und sein Werk besprochen. Heinar Kipphardt hat Herbecks Person zum Vorbild für einen Roman, ein Theaterstück und einen Fernsehfilm genommen und seine Texte dabei – ohne sie als Herbecks geistiges Eigentum zu kennzeichnen – verwendet.
Ernst Herbeck wurde 1978 zum Mitglied der Grazer Autorenversammlung gewählt. Im Jahre 1979 erschien das Buch Bebende Herzen im Leibe der Hunde, dessen Autoren Ernst Herbeck und Oswald Tschirtner sind.
Seinem Wunsch entsprechend wurde Herbeck im Februar 1980 aus dem Krankenhaus entlassen. Er fand im Landespensionistenheim Klosterneuburg, dem sogenannten Agnesheim, Aufnahme. Auf Grund seiner Entlassung aus der Anstalt wurde unserem mehrfachen Antrag stattgegeben und Herbecks Entmündigung am 8. April 1981 aufgehoben. Im Gerichtsbeschluß wurde auf seine erfolgreiche literarische Tätigkeit hingewiesen.
Während seines Aufenthaltes im Pensionistenheim unternahm Herbeck in Klosterneuburg seine Spaziergänge. Im Heim traf er seinen ehemaligen Mitpatienten Aurel und suchte mit ihm den Stiftskeller auf. Dazu eingeladen, nahm er auch am Chorgesang der Alten teil, was ihm aber sichtlich nicht behagte; es dürfte überhaupt alles sehr ungewohnt und nicht leicht für ihn gewesen sein. In dieser Zeit entstand Heinz Bütlers Film über die Gugginger Künstler, der einer Idee Herbecks folgend den Titel Zur Besserung der Person erhielt.
Im Oktober bekam Herbeck Besuch von dem aus dem Allgäu stammenden, in Norwich lebenden Germanisten W.G. Sebald, der über Herbecks Werk geschrieben hatte und ihn persönlich bereits gut kannte. In seinem Buch Schwindel. Gefühle. beschreibt Sebald einen Ausflug mit Herbeck auf die Burg Greifenstein.
Am Schluß heißt es:
Beim Abschiednehmen lüftete Ernst Herbeck seinen Hut und machte, auf den Fußspitzen stehend und leicht vornübergebeugt, eine gezirkelte Bewegung, um im Abgang den Hut wieder aufzusetzen, das Ganze ein Kinderspiel und schweres Kunststück in einem.
Mit seinem Taschengeld kam Herbeck nicht gut aus. Er erschien wöchentlich im Krankenhaus, wo ihm ein gewisser Betrag ausgefolgt wurde. Ich legte ihm nahe, ein kleines Kassabuch zu führen; als er auch damit nicht zurechtkam, schrieb er in das Büchlein, welches er mir zurückgab: „leider Leo“.
Im Grunde fühlte sich Herbeck im Pensionistenheim einsamer als zuvor in der Anstalt. Er entschloß sich deshalb im August 1981, wieder in unser Krankenhaus zurückzukehren. Wir konnten ihn im „Haus der Künstler“ aufnehmen, das im gleichen Jahr gegründet worden war.
Das Buch Alexanders poetische Texte war in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt worden und war seit längerer Zeit vergriffen. Im Jahre 1982 konnte Herbeck im Residenz Verlag eine Auswahl aus seinem dichterischen Werk selbst herausgeben. Als Nicht-mehr-Entmündigter konnte er den Verlagsvertrag unterschreiben und sein Autorenhonorar in Empfang nehmen. Er besaß nun nicht nur das Selbstbewußtsein eines Dichters, sondern hatte auch – obwohl immer noch krank und unter medikamentöser Behandlung – alle Rechte eines freien Menschen zurückerhalten.
Nach Herbecks Rückkehr aus dem Pensionistenheim fiel es uns schwer, das alte Schreibritual wieder aufzunehmen. Herbeck bemerkte, daß ich im Künstlerhaus stets von allen Seiten in Anspruch genommen war; und das mißfiel ihm. Er kam öfters in mein Zimmer, setzte sich, rauchte eine Zigarette, während andere Patienten im gleichen Raum zeichneten. Die Frage, ob er etwas schreiben wolle, verneinte er. Es falle ihm nichts mehr ein, er könne es nicht mehr. Als ich ihn einmal dazu drängte, schrieb er:
ich kann heute leider nicht
weil mir eher das Herz zerbricht
sag zum Schreiben lieber nein
sonst ist alles allgemein.
Ich habe Herbeck hierauf zum Schreiben nicht mehr genötigt, habe ihn aber, wie auch schon früher, stets gebeten, im Kreise von Besuchern, die wir nun immer häufiger empfingen, aus seinen Büchern vorzulesen. Und Herbeck hat dieser Bitte immer entsprochen – auch wenn es ihm schlecht ging, wenn er depressiv war und an Halluzinationen litt. Es schien mir oft wie ein Ersatz für das frühere gemeinsame Schreiben, denn meine Bitte wurde nie von ihm abgelehnt, obwohl er keineswegs immer vorlas, wenn er von anderer Seite darum ersucht wurde. Als Herbeck einmal von einem Besucher gefragt wurde, ob ihn seine Gedichte glücklich machen, sagte er – nach einer langen Pause −: „Sie machen alle Menschen glücklich“.
Viele Besucher waren von Herbecks Lesungen tief beeindruckt; so heißt es in seinem Gästebuch:
Nachdem ich lange so viele schöne Texte von Ihnen gelesen habe, freue ich mich ganz besonders, Sie einmal kennenlernen zu dürfen und Ihnen zuzuhören, wenn Sie selbst vorlesen. Das ist nämlich noch viel schöner als mit einem Buch in der Hand zu sitzen, ohne Sie zu sehen.
Wie schön waren die Gedichte, die wir hören durften. Ich werde immer wieder daran denken. Herzlichen Dank dafür, daß Sie uns vorgelesen haben.
Ihre Gedichte begleiten mich schon viele Jahre, sie vorgetragen zu hören, war das Schönste. Ich war noch nie von einer Dichterlesung mehr beeindruckt.
viel in mir antwortet auf die Sprache, aber mehr noch antwortet auf die Stimme.
Wie war es möglich, daß Herbecks kurze Lesungen trotz seiner Sprechbehinderung die Menschen so sehr berührten? Es war wohl seine ganze Erscheinung, alles in allem; aber auch seine Art des Vortrages, der andere Interpreten, die ihn nicht selbst gehört hatten, nie nahegekommen sind.
Anläßlich seines Besuches im Künstlerhaus schrieb der Schweizer Schriftsteller Hansjörg Schertenleib über Herbeck:
Mit weicher, fast zarter Stimme liest er schüchtern Zeilen von doppelbödiger, melancholischer Poesie. Nie habe ich neben einem Menschen gesessen, der eine derart abgrundtiefe Trauer ausstrahlte.
In einem der Texte Herbecks heißt es: „Es ist alles viel zu sehr umsonst“, und ein anderesmal: „Der Dichter will die Lyrik nicht / umsonst der Mut und das Geschick“.
War auch das Leben im Haus der Künstler oft etwas turbulent, so brachte es doch viele Vorteile für die dort wohnenden Patienten. Es war zwar immer noch eine Station des Krankenhauses, mit Ärzten, Schwestern, Pflegern, hatte sozusagen alle Vorteile, die eine solche Institution bietet; aber es fehlte der Krankenhauscharakter. Unsere Künstler hatten die Außenwände des etwas abseits, in freundlicher Landschaft gelegenen Pavillons bemalt, alle Wände im Inneren des Hauses waren mit sorgfältig gerahmten Originalen und Ausstellungsplakaten geschmückt. Das Wesentliche war jedoch die familiäre Atmosphäre in diesem Haus, die dessen Bewohner erlebten, die aber auch unsere Besucher sehr positiv empfanden. Es wurden die Geburtstage aller Mitglieder der Wohngemeinschaft und deren Betreuer gefeiert; dabei wurden Geschenke überreicht und Ansprachen, auch von den Künstlern selbst, gehalten; natürlich auch alle Jahresfeste – vom Nikolaus über Weihnachten bis zum Fasching; es wurde viel photographiert. Es wurden gemeinsame Ausflüge und Urlaubsreisen gemacht. Herbeck war in die ihm vertraute Gemeinschaft wieder eingefügt und hat die Annehmlichkeiten, die ihm der Aufenthalt im Krankenhaus jetzt bot, sehr genossen. Er hatte immer schon gerne an Unternehmungen teilgenommen, die die Monotonie des Anstaltslebens unterbrachen, wie eine Bootsfahrt am Gänsehäufel, ein Urlaubsaufenthalt am Lunzer See oder ein Besuch in Triest. In letzter Zeit wurde sogar eine zehntägige Autobusreise durch Süddeutschland unternommen.
Herbeck war besonders kooperativ, wenn sich Frauen um ihn bemühten. Er war dann stets zu gemeinsamen Ausgängen und Kaffeehausbesuchen bereit. Ich habe solche Unternehmungen angeregt und gefördert. Zu unserer Mitarbeiterin Schwester Johanna Ducho empfand Herbeck besondere Zuneigung; sie bat ihn eines Tages, er möge ihr etwas ins Stammbuch schreiben. Herbeck schrieb:
Zweiunddreißig Jahre
sind es her, eine lange
aaaaaaaaaaaaZeit,
wenn ich früher gratu-
lieren könnte, hätte
ich mich sehr gefreut.
aaaaaaaaa7. September 1984
aaaaaaaaaaaaErnst Herbeck
Einen Monat später hatte Herbeck Geburtstag. Auf die Bitte der Schwester Johanna schrieb er:
Zum Geburtstagsfest:
Heute in einer Woche ist der 9.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaOktober.
Da habe ich meinen Geburtstag.
Ich werde 64 Jahre alt. Ich fühle mich
aber nicht so alt wie ich bin.
Nun ermutigte ich Schwester Johanna, Herbeck in das Schwesternzimmer zum Kaffee einzuladen und ihm weitere Anregungen zum Schreiben zu geben. Wenige Tage später lag auf meinem Schreibtisch ein seltsames Gedicht:
Das Empyrum.
Heil unserer Mutter! Ein werdendes
Kind im Leibe der Mutter. Als ich
ein Empyrum war, hat sie mich
operiert. Ich kann meine Nase
nicht vergessen. Armes Empyrum. −
Die Zeit des Lebens. Die Zeit der
Vernunft. Die Zeit des Wiedersehens
auf Erden.
Ich fragte, wie Herbeck zu dem ungewöhnlichen Thema gekommen sei, und Schwester Johanna sagte mir, sie habe Herbeck gebeten, über das werdende Kind, das Kind im Mutterleibe etwas zu schreiben. Das Thema sei ihr eingefallen, weil ihre Tochter ein Kind erwarte. Herbeck habe offenbar das Wort Embryo gesucht und anstelle dieses Wortes „Das Empyrum“ geschrieben. Dem Gedicht ist zu entnehmen, daß Herbeck immer noch an der Fehlbildung in seinem Gesicht leidet, sich entstellt vorkommt und seine Mutter dafür verantwortlich macht.
Seit meiner Pensionierung im Frühjahr 1986 sah ich Ernst Herbeck nur mehr bei meinen gelegentlichen Besuchen im Künstlerhaus. Wenn wir dann in kleinerem oder größerem Kreis Kaffee tranken, bat ich ihn immer, einige Gedichte vorzulesen. Herbeck erwartete meine Bitte. Wie auch früher schon durfte ich die Texte aussuchen, die er las, ihm manchmal auch meine Brille borgen. Manche Zuhörer lasen in den Büchern mit, weil Herbecks Aussprache mitunter zu wünschen übrigließ. Nach jedem Gedicht folgte ein Applaus, und Ernst Herbeck verneigte sich.
Zum Schreiben wurde Herbeck zunächst weiter von Schwester Johanna und später von meinem Nachfolger im Haus der Künstler Herrn Dr. Johann Feilacher, angeregt. Er hat die entstandenen Texte weiter gesammelt und mir für diese Publikation in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt.
Im Jahre 1989 machte ich Herbeck den Vorschlag, seine sämtlichen Schriften der Österreichischen Nationalbibliothek zu übergeben. Er war dazu bereit, und seine Schenkung wurde angenommen.
Am 11. September 1991 erreichte mich während eines Urlaubsaufenthaltes in Osttirol die Nachricht, daß Ernst Herbeck an einem Schlaganfall plötzlich gestorben ist.
Ernst Herbeck wurde am 19. September 1991, um 15 Uhr, bei schönem Wetter, im Beisein seiner Angehörigen, seiner Mitpatienten aus dem Hause der Künstler und einer kleinen Schar von Freunden am Städtischen Friedhof Stockerau begraben. Seine Angehörigen hatten auf die Trauernachricht das von ihm verfaßte Gedicht gesetzt:
Der Tod kam einst einhergeschlichen
und raubte den Toten das Leben
so ist der Tod wie einst verblichen
und schenkte den Toten wieder das
Leben.
Leo Navratil, Nachwort
eine umfangreiche Auswahl bereits publizierter und noch unveröffentlichter Texte Herbecks aus den Jahren 1960 bis 1991 und ein Nachwort des Herausgebers.
Ein junger Arzt des psychiatrischen Krankenhauses hat Ernst Herbeck angeregt, zu einem angegebenen Titel ein Gedicht zu schreiben. Er tat es in der Absicht, mit dem sehr in sich gekehrten schizophrenen Patienten, der außerdem wegen einer Fehlbildung des Gaumens im Sprechen behindert war, eine Beziehung herzustellen. Die Texte, die auf diese Weise entstanden sind, frappierten ihn. Sie schienen ihm ebenso lyrisch wie schizophren zu sein. Er publizierte 83 dieser kleinen Gedichte unter dem Pseudonym „Alexander“; sie fanden literarische Würdigung.
Im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte wurde das stumme „Gespräch“ zwischen dem Arzt und dem Patienten fortgesetzt. Aus der Beziehung zwischen den beiden entstand eine Freundschaft und aus den Schriften Ernst Herbecks ein dichterisches Werk, das bald im gesamten deutschen Sprachraum Interesse und Anerkennung fand.
Residenz Verlag, Klappentext, 1992
An einem Spätsommervormittag des Jahres 1960 legte ich einen Zeichenkarton von der Größe einer Postkarte vor ihn hin, reichte ihm meinen Kugelschreiber und sagte: „Bitte, Herr Herbeck, schreiben Sie ein kurzes Gedicht mit dem Titel ,Der Morgen‘.“ Herbeck besann sich kurz und schrieb:
Der Morgen
der Feenwind
da sich im Schnee
die Mähnen treffen
Amseln pfeifen heer
im Wind und fressen.
Von nun an bat ich Herbeck immer wieder – viele Jahre hindurch −, ein Gedicht zu schreiben. Alles spielte sich genau in der gleichen Weise wie beim erstenmal ab. Es war wie ein Gespräch, wobei ich durch die Angabe eines Titels eine Art Frage stellte und Herbeck mit seinem Gedicht die Antwort darauf gab. Ernst Herbeck ist 1991 gestorben. Mehr als tausend seiner Handschriften befinden sich in der Österreichischen Nationalbibliothek. Herbeck hat erreicht, was viele Autoren dieses Jahrhunderts nicht erreicht haben, nämlich völlige Unabhängigkeit von Normen und Konventionen der Sprache und der Poesie. Diese Freiheit ermöglichte ihm sprachliche Äußerungen von größter Eigenwilligkeit und höchster Originalität: „Das Eichkätzchen hatte ein semi-Fell von braunem Zar“. „gebt mir das Brot / ich bin der Bar“. Herbeck liebte die Sprache: „a + b leuchten im Klee. / Blumen am Rande des Feldes. / Die Sprache. –“
Gleichzeitig hatte er eine ungeheure Distanz zur Sprache und zu seinem Schreiben. Er korrigierte nicht, bearbeitete seine Texte nicht, bewahrte sie nicht selber auf, bestimmte nicht, was publiziert werden soll. Als er einmal gefragt wurde: „Was halten Sie von der Dichtkunst?“, antwortete er: „Ist nur vorübergehend beim Menschen.“ Er sagte auch: „Das war ein Zufall, daß ich verleitet wurde zum Dichten.“ Herbeck hat immer geschrieben, wenn er darum gebeten wurde; dennoch schrieb er: „Der Dichter will die Lyrik nicht / umsonst der Mut und das Geschick.“ Und er schrieb ein Gedicht über das Hochwasser, das sich als Gedicht selbst verneint: „Dies ist zwar kein Gedicht, aber der Schaden ist enorm und müßte ersetzt werden.“ Eine solche Liebe und eine solche Distanz zur Sprache hat ihn vor Banalität und Sentimentalität bewahrt, hat ihn daran gehindert, den Tonfall bekannter Dichter zu übernehmen, und hat ihn erfinderisch gemacht. Nachdem Herbeck einmal behauptet hatte, daß er das Grüßen und das Danken nicht mag, schrieb er am nächsten Tag spontan das folgende Gedicht:
Guten Tag, grüßt ein
Herr, eine Dame
Überm Weg besonders schön.
Dankend bekam der
Herr die Antwort
Guten Tag sagte sie
in den kühlen Abend
hinein.
Und der stille Ernst Herbeck, der auch ein starker Raucher war, fand zu dem Titel „Wie ein Adler“ die Worte:
Wie ein Adler flieht der Rauch der Zigarette.
Wohl der Kopf und ganz allein das Auge.
Wie ein Adler ist der Ruf davon.
Gern zu heben von der Adlerin.
Wie ein Adler sieht der Wolf vorbei.
Und denkt sich seine Litanei.
Wie ein Adler möchte ich gerne sein.
Da ist die Welt für
mich allein.
− Über den schizophrenen Dichter Ernst Herbeck. −
Befragt nach dem Sinn des Lebens, erklärte Ernst Herbeck:
Der Sinn des Lebens? Weiterzuleben! Nach dem Tode auch noch weiterzuleben. […] In der Gestalt eines Königs… einer anderen Welt… im Altertum zum Beispiel oder in der Steinzeit.
Das war im Jahr 1977. Herbeck war 57 Jahre alt und seit über 30 Jahren in psychiatrischen Anstalten hospitalisiert. Die vernichtende Diagnose, die ihm im Alter von 20 Jahren gestellt wurde, lautete auf Schizophrenie. Ein soziales Todesurteil. Herbeck war ein Verrückter, der wie seine Leidensgenossen weggesperrt wurde. Unsere Gesellschaft handelt so nicht nur fürsorglich im Interesse der Kranken, sondern auch um deren irritierenden Anblick nicht ertragen zu müssen. Denn er könnte uns an das Unterdrückte, Verleugnete, Wunderliche in uns selbst erinnern, das wir nicht wahrhaben wollen. Gewaltfantasien, sexuelle Begierden, quälende Albträume, Liebe zu einem anderen Menschen, fester Glaube an ein transzendentes Wesen oder an Utopien wie den Sozialismus – der Keim der Schizophrenie steckt in jedem Menschen.
Der Einzelgänger
Deshalb ist Herbeck einer von uns. Sein Leben fing auch durchaus normal an: 1920 in Stockerau (NÖ) als Beamtensohn auf die Welt gekommen, besuchte er die Volks- und Hauptschule, ging danach für ein Jahr auf eine Handelsschule. Doch ein Geburtsfehler überschattete sein Schicksal: eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte erschwerte Herbeck das Sprechen. Die aus mehreren missglückten Operationen resultierende Hasenscharte stempelte ihn zum Außenseiter. „Tiernamen haben sie mir gegeben. ,Bleda Hund‘, haben sie gesagt, „schiache Sau.‘“ Herbeck wurde ein Einzelgänger. Er spielte die Mandoline, zeichnete gerne und unternahm Bootstouren. Am liebsten war er allein in der Natur, fern den Menschen, die ihn ablehnten.
Als er am 9. Oktober 1938 volljährig wurde, war in Österreich schon seit einem halben Jahr der kollektive Wahnsinn der Geschichte ausgebrochen. Ein Jahr später kam der Krieg. Herbeck war Hilfsarbeiter in einer Rüstungsfabrik, als er im August 1940 im Wiener Universitätsklinikum erstmals psychiatrisch behandelt wurde. Mit sechzig Insulinschocks versuchte man ihm seine unkontrollierten Lach- und Weinkrämpfe auszutreiben, seine hartnäckige Behauptung, dass er von einem Mädchen hypnotisiert worden sei und per Morsezeichen mit ihr in Kontakt stehe. Die Schocktherapie wirkte. Zumindest zeitweilig. Wieder entlassen, lebte Herbeck noch rund ein Jahr zu Hause und arbeitete als Speditionsgehilfe. Im Jänner 1942 – Hitlers Krieg hatte mit der gescheiterten Winteroffensive im Osten seinen katastrophalen Höhepunkt erreicht – wurde Herbeck aufgrund seiner paranoiden Stimmhalluzinationen einer weiteren Schockbehandlung unterzogen. Nach der Entlassung arbeitete er erneut in einer Munitionsfabrik. Im Oktober 1944 musste er dann in die Naziarmee einrücken, wurde aber nach fünf Monaten als wehruntauglich entlassen. Weder als Kanonenfutter noch als williger Befehlsausführer taugte Herbeck. „Der Tod, der Tod, der Tod! Deshalb wird Krieg geführt!“ schrieb er viele Jahre später.
Im Mai 1945 war der Spuk dann vorbei. Herbecks Leiden aber ging weiter. Nachdem er seinen Vater tätlich angegriffen hatte, wurden ihm zehn Elektroschocks versetzt. Seine Erregungszustände beseitigte dies wieder nur vorübergehend. Als Herbeck im Mai 1946 von der Wiener Polizei eines Nachts ziellos in Floridsdorf umherirrend aufgegriffen wurde, überwies man ihn in die Heil- und Pflegeanstalt Gugging. Die Endstation war erreicht. Herbeck sollte, mit einer kurzen Ausnahme, den Rest seines Lebens in Gugging verbringen.
Zum selben Zeitpunkt trat ein frisch promovierter Psychiater seinen ersten Job in der Nervenheilanstalt an: Leo Navratil. Eine ungewöhnliche Beziehung, ja sogar Freundschaft sollte die beiden, Arzt und Patient, für die nächsten 45 Jahre verbinden. Herbeck war dem jungen Arzt bereits bei der ersten Visite aufgefallen. Auf Navratils Frage, was er am liebsten machen würde, antwortete er:
Bootsfahren und Märchenbücher von der Seerose lesen.
Der Psychiater verstand solch eine exzentrische Antwort zwangsläufig als Symptom der schizophrenen Störung. Die poetische Schönheit der psychopathologisch derangierten Sprache Herbecks erkannte er erst später. 1960 bat Navratil seinen Patienten, ein Gedicht mit dem Titel „Der Morgen“ zu verfassen. Herbeck kam der Aufforderung umgehend nach, schrieb in seiner feinen Kurrentschrift stockend die Verse nieder:
Im Herbst da reiht der Feenwind
da sich im Schnee die
Mähnen treffen.
Amseln pfeifen heer
im Wind und fressen.
Solch einen Text auch als Literatur und nicht nur als klinisches Dokument aufzufassen, war ein wichtiger, ein mutiger Schritt Navratils. Ohne der damals modischen Anti-Psychiatrie mit ihren oft absurden Auswüchsen anzuhängen, war Navratil vorurteilsfrei genug, die künstlerisch Begabten unter seinen Patienten zu fördern. Damit gelang es ihm, therapeutische Erfolge zu erzielen und die konkrete Lage der Hospitalisierten zu verbessern, aber auch die im deutschen Sprachraum entscheidende Kehrtwende in der Anerkennung von Kunst aus Irrenanstalten einzuleiten. Für Navratil war dabei zentral, den ursächlichen Konnex zwischen psychischer Erkrankung und künstlerischer Produktion nicht zu leugnen oder aufzulösen. Seine Schützlinge waren ernst zu nehmende Künstler, vor allem aber hilfsbedürftige Patienten. Unter dem von Jean Dubuffet geprägten Ausdruck „art brut“ fanden die zumeist bildnerischen Zeugnisse der „zustandsgebundenen Kunst“ entmündigter Langzeitpatienten wie Johann Hauser, August Walla, Oswald Tschirtner und anderen bald Eingang in bedeutende internationale Museen und Kunstsammlungen.
1981 war in einem am Rande der Anstalt liegenden Pavillon das „Haus der Künstler“ gegründet worden, in dem die Patienten in einer wohngemeinschaftlichen Atmosphäre lebten. Das Gebäude war außen wie innen mit der Kunst der Bewohner verziert. Gugging war zum Synonym für das Gelingen eines weltweit einmaligen Experiments geworden. Ein Modell für die Psychiatrie, eine Provokation für gesellschaftliche Vorurteile gegen Geisteskrankheit. Mit diesem Erfolg einher ging allerdings eine zunehmende Kommerzialisierung der Patientenkunst. Die sich in Gugging an manchen Tagen die Klinke in die Hand gebenden Galeristen und Kunstsammler waren an den kommerziell uninteressanten Gedichten von Herbeck und seinem (literarisch unbedeutenderen) Mitpatienten Edmund Mach freilich nicht interessiert. Auch für die Verleger lockte kein großes Geschäft. Unter dem selbstgewählten Pseudonym „Alexander“ erschienen einzelne Gedichte Herbecks zunächst im Hanser Verlag und bei dtv, Navratil gab 1992 rund 400 Gedichte als eine Art Werkausgabe im Residenz Verlag heraus. Auf Anklang stießen die lyrischen Texte beim allgemeinen Lesepublikum kaum, dafür aber umso mehr unter Schriftstellern und Künstlern. Gerhard Roth, Ernst Jandl, Elfriede Mayröcker, André Heller und Elfriede Jelinek, längst aber nicht nur sie, gehörten zu den Bewunderern Herbecks unter den österreichischen Autoren. Besonders hervorzuheben ist der deutsche Schriftsteller und Germanist W.G. Sebald, der kürzlich auf tragische Weise ums Leben kam. Er verfasste zwei bedeutende Essays über Herbeck und schilderte in seinem Roman Schwindel. Gefühle einen gemeinsam mit Herbeck unternommenen Ausflug.
Ein eindringliches Bild
Es steht zu hoffen, dass die umfangreiche Ausstellung zu Leben und Werk Ernst Herbecks, die derzeit in der Kunsthalle Krems zu sehen ist, ihm die allgemeine Anerkennung bringt, die bildnerisch tätige Mitpatienten wie August Walla oder Johann Hauser schon seit langem genießen. Als Kurator der Ausstellung fungierte Leo Navratil, der auch in Zusammenarbeit mit Carl Aigner den im Brandstätter Verlag erschienenen Katalog herausgegeben hat. Der reich illustrierte Band versammelt praktisch alle wichtigen Artikel und Aufsätze zu Herbeck. Beiträge wie die von Fritz Rumler oder Heinz Bütler vermitteln ein eindringliches Bild von Herbecks Auftreten und geben uns „Normalen“ wenigstens in Ansätzen einen Eindruck davon, wie das Leben in der Anstalt für den Langzeitpatienten ausgesehen hat. Der Spiegel-Autor Rumler besuchte Gugging 1977, vor der Gründung des Hauses der Künstler, als Herbeck noch in einem trostlosen Schlafsaal seine Existenz fristen musste. Der schmächtige Mann im grauen Anzug […] wird sein Leben lang hospitalisiert bleiben, im Elf-Betten-Saal schlafen, seine geringe Habe – Armbanduhr, Kaffeemaschine, Rasierapparat – in einem alten Spind verschließen und stumm umherspazieren. „Das Leben ist schön“, heißt sein bitterstes Gedicht, es schließt:
So (schön) schwer ist das es auch.
Wie der Beitrag des Schweizer Filmemachers Bütler zeigt, ist die Neigung zum Schweigen das auffälligste Charaktermerkmal Herbecks gewesen. Ein Schweigen, das nicht als bewusste Kommunikationsverweigerung missverstanden werden sollte, sondern Ausdruck der sozialen Isolation Herbecks war. Mit Menschen, die sich für ihn interessierten, als „Normale“ aber eben nicht seine Mitmenschen waren, konnte er Gemeinschaft nur über stumme soziale Rituale herstellen. Bütler schildert etwa sehr bildkräftig sein gemeinsames Zigarrettenrauchen mit Herbeck. Der Nikotingenuss stellte für Herbeck, wie für seine Patientenkollegen, einen passioniert genutzten Freiraum dar und inspirierte ihn zu den sehr eindrücklichen Versen:
Die Zigarette: ist ein Monopol und muss
geraucht werden. Auf Dassie
in Flammen aufgeht.
Von rätselhafter Schönheit ist auch der Kommentar, den Herbeck einmal zum Begriff „Selbstbewusstsein“ abgegeben hat:
Wenn man raucht erübrigt
es sich.
Michel Foucault hat in seiner fulminanten Studie Wahnsinn und Gesellschaft materialreich dargelegt, wie die Stimme des Wahnsinns, die noch im späten Mittelalter als Weg zu gemeinhin unzugänglichen Bereichen ernst genommen wurde, von der Aufklärung als krankhaft diffamiert und ausgegrenzt wurde. Indem man den einstmals heiligen Wahnsinn zur Geisteskrankheit stigmatisierte, wurde der Jahrtausende alte Dialog zwischen Vernünftigen und Verrückten gewaltsam zum Schweigen gebracht. „Die Sprache der Psychiatrie“, so Foucault, „die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen gründen können.“ Die wundersamen, in ihrer bizarren Schönheit so anrührenden Gedichte Herbecks überbrücken den Abgrund dieses Schweigens. Sie sind wie unverhofft angelangte Flaschenpost aus unbekannter Ferne. Enigmatische Botschaften, die durch ihre widersinnigen Feststellungen die Konventionen unseres Denkens in Frage stellen oder gerade durch übereifrige Affirmation des Selbstverständlichen just dieses unterminieren. Schreibt Herbeck etwa ein Gedicht zum Thema „Vaterland“, so ist sein Patriotismus ein durchaus ironischer:
Wenn das Vaterland nicht wär,
wären wir arm. Das Vaterland ist
gut.
Ein Sinn für das Humoristische geht seinen Texten genauso wenig ab, wie das „Freudenhaus“ betitelte Gedicht zeigt: „Das Freudenhaus ist gut und gross. / Ist für die Musik gebaut, und / steht allen Menschen offen.“
Seine trostlose Lage vermochte der Schizophrene durchaus genau zu erkennen, die „Patient und Dichter“ übertitelte Selbstdiagnose ist von schneidender Schärfe:
Je größer das Leid
desto kleiner der Dichter
Umso härter die Arbeit
Umso tiefer der Sinn
Je größer das Unheil
desto härter der Kampf
Umso ärger der Verlust
desto irrsinniger die Verdammten.
Mit Selbstmitleid hat das wenig zu tun. Stattdessen vielmehr mit einer besonderen Gabe zur Empathie.
Die Tiere
Herbecks Empathie gilt insbesondere der anderen, vernunftunbegabten Spezies, die wir rücksichtslos unserer Verfügungsgewalt unterordnen – den Tieren. Von den zahlreichen Tiergedichten, die Herbeck geschrieben hat, ist der Text über das „Nashorn“ eines der schönsten:
Das Nashorn ist im Wald ganz stumm.
Die Nase in der Höh und tut auch gar so weh.
Die immer so weh tat und tut sonst gar nicht weh.
mehr als das Tier so groß ist sie auch
das Nashorn ist ein großes Tier.
Das Nashorn ist im Wald.
so zackig ist das Nashorn
und doch so schön.
Von allen Gedichten Herbecks erscheint mir eines mehr Scharfsicht und Erkenntnistiefe zu beinhalten, als wir womöglich zuzugeben bereit sind. Es trägt den Titel „Depression“:
Die Depression ist ein Augenleid
kommt vom vielen Leid der
Tiere Schwein und Tiger.
Traurigkeit. Mehr essen.
Was in diesen vier einfachen Versen wie selbstverständlich postuliert wird, ist die verdrängte Einheit zwischen uns und all dem, was um uns herum ist. Ein großer Zusammenhang zwischen Mensch und Welt, dessen Wahrnehmungsfähigkeit uns im Prozess der Zivilisierung notwendigerweise abtrainiert wird. Herbeck leidet, weil er um das Leid anderer Lebewesen, einschließlich unserer tierischen Brüder, weiß. Zugleich denunziert sein Gedicht unser vermessenes Kalkül, die durch rücksichtsloses Handeln aus dem Gleichgewicht gebrachte Welt mit gewaltsamen Maßnahmen wieder zurechtrücken zu wollen, also etwa die vom Industrialisierungsprozess verursachten Naturzerstörungen mit technischen Mitteln zu beseitigen oder auf zunehmende soziale Ungerechtigkeit mit einer Forcierung neoliberaler Politik zu reagieren. Wie Herbeck erkannt hat, ist der triviale Akt des Schnitzelessens als Trost bei Traurigkeit nur ein privates Analogon zu dem, was die Menschheit ansonsten im großen Maßstab anrichtet.
Ernst Herbeck starb am 11. September 1991 in Gugging. Auf Leo Navratils Frage, was nach dem Tod einmal aus ihm werden könnte, mutmaßte er: „Vielleicht eine Legende.“
Isabella Marboe: Reine Poesie. Die Kunsthalle Krems zeigt eine Gesamtschau zu Ernst Herbeck.
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