– Zu Durs Grünbeins Gedicht „Memorandum“ aus dem Lyrikband Durs Grünbein: Nach den Satiren. –
DURS GRÜNBEIN
Memorandum
Alles geht weiter, nicht erst seit heute, vor allem der Krieg,
Das Anziehn täglich, das Ausziehn. Der schmerzhaften Nähe
Der beiden Körperhälften, der Ferne von Ich zu Gesicht,
Zu entfliehen hilft nichts. Und getötet, gezeugt,
Wird hier nicht nur aus Armut, zum Zeitvertreib auch.
Doch die Dichter, man weiß es, sind schwierige Leute,
Die nichts mehr stiften. Selbst das Gelächter
Klingt ohne sie schärfer. Es gilt ihnen kaum.
Nachdem er das Böse verherrlicht hatte und die Gewalt,
Sechs Gesänge lang, kehrte er um, Lautréamont der Skorpion.
Sein Epos vom Guten blieb ein frommer Entwurf.
Baudelaire, mit stumpfer Klinge zum Selbstmord bereit
Beim Erscheinen der ersten großformatigen Zeitung,
Glaubte das Ende der Dichtung nah, nicht zum letzten Mal.
Das Gedicht „Memorandum“ steht in dem 1999 erschienenen Band Nach den Satiren, in dem Durs Grünbein (geb. 1962 in Dresden) seine Gedichte aus den Jahren 1994 bis 1999 versammelt hat. Es besteht aus Versen, die optisch von annähernd gleicher Länge sind, faktisch aber erheblich voneinander differieren, denn sie umfassen zwischen neun und siebzehn Silben. Es handelt sich also um freie Verse ohne durchgehende metrische Bindung. Das Gedicht weist demgemäß auch keine Reimbindung auf. Dem Verzicht auf den Reim entspricht der Verzicht auf die anderen Möglichkeiten klanglicher Bindung des Verses wie Alliteration oder Assonanz; beide Stilmittel spielen in dem Gedicht eine so geringe Rolle, daß sich der Eindruck aufdrängt, sie seien geradezu bewußt vermieden worden.
Das Gedicht ist strophisch gegliedert. Auf eine erste Strophe von fünf Versen Umfang folgen drei Strophen von jeweils drei Versen Umfang. Diese Strophengliederung bezeichnet keinen gängigen Formtypus. Grünbein greift also nicht ein vorgegebenes formales Muster auf und paßt es seinen Zwecken an; vielmehr wird die strophische Gliederung allein nach den internen Sinneinschnitten im Text selbst vorgenommen. Ich erwähne das deshalb, weil jede Übernahme vorgegebener formaler Muster eine Stellungnahme zu der damit zitierten literarischen Tradition impliziert; dies wird hier aber offenbar ganz bewußt ausgeschlossen. Die Form sagt also zunächst nicht viel mehr, als daß es sich um ein Gedicht handelt, das sich nicht einer bestimmten Tradition poetischer Rede verpflichtet weiß. Damit steht es allenfalls in der Tradition poetischer Rede schlechthin, in der Tradition aller Poesie, die es in sich selbst fortsetzt, und das paßt nicht schlecht zu den Anfangsworten: „Alles geht weiter“. Die Frage ist freilich, wie es weiter geht.
Aber bevor ich auf den Gehalt des Textes zu sprechen komme, muß ich noch einige Bemerkungen zur Form nachreichen, wobei ich schon mit der vorangegangenen Bemerkung deutlich gemacht habe, daß jede Bemerkung zur Form eine Aussage zum Inhalt des Textes impliziert. Das Gedicht umfaßt vierzehn Verse, die in vier Strophen gegliedert sind: ein Quintett und drei Terzette. Formal erinnert es damit entschieden an die Bauform des Sonetts; würde man den fünften Vers der zweiten Strophe hinzufügen, entstünde die Bauform eines reimlosen Sonetts. Die strophische Gliederung von Sonetten bildet Reflexionsstrukturen ab, die sich in den unterschiedlichen Phasen der Geschichte des Sonetts erheblich voneinander unterscheiden, auf jeden Fall aber im Verhältnis von Quartetten und Terzetten argumentative Schritte bezeichnen, etwa nach dem Muster eines Syllogismus (die Quartette exponieren zwei Prämissen, und in den Terzetten wird dann der Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere gezogen) oder nach dem Muster der Dialektik: These, Antithese, in den Terzetten dann die Synthese. Wie auch immer: die Form des Sonetts bezeichnet eine reflexive Struktur. Und es ist nun leicht, auch in dieser Grünbeinschen Variation auf das Sonett eine Reflexionsstruktur zu erkennen. Das Quintett exponiert generalisierend eine These: „Alles geht weiter“; das erste Terzett stellt ihr eine Antithese entgegen: „Doch die Dichter“. In den beiden folgenden Strophen erfolgt dann der Sprung vom Allgemeinen zum Besonderen, zu zwei exemplarischen Beispielen, die freilich mehr als nur illustrativen Charakter haben.
Wenn man in dem Gedicht eine Variation der Sonettstruktur erkennen will, dann muß man freilich auch sagen, warum der Dichter das Sonett variiert und dessen Form nicht beibehalten, also die Quartette durch ein Quintett und ein Terzett ersetzt hat. Zwei Antworten bieten sich an, und beide sind notgedrungen vorläufig, weil wir den Inhalt des Textes ja noch nicht in den Blick genommen haben. Die erste: Das Verhältnis zwischen den Dichtern und ihrer Zeit ist disproportional; die objektiven Bedingungen, unter denen sie leben und schreiben (V. 1: „Alles geht weiter“), sind übermächtig und jedenfalls stärker als die Dichter selbst, so „schwierig“ (V. 6) diese selbst auch sein mögen. Sie lasten auf den Dichtern wie das Quintett auf dem Terzett, und sich ihnen zu entziehen ist unmöglich geworden. Die zweite Antwort: Eine ungebrochene Fortsetzung von Traditionen ist unter den Bedingungen, unter denen Poesie in der Moderne entsteht, nicht mehr möglich; deshalb zitiert das Gedicht die Tradition, indem es sie bricht. „Alles geht weiter“: so sagt das Gedicht. Indem es aber den Bruch mit der Formtradition inszeniert, sagt es zugleich, daß nicht alles so weitergeht wie bisher. Die künstlerische Form steht damit in einem Spannungsverhältnis zur Ausgangsthese. Dies wird im folgenden zu beachten sein. Wie zu sehen ist, schließen die beiden Antworten einander nicht aus, sondern sie ergänzen sich.
Das Gedicht trägt den Titel „Memorandum“. Daß Gedichte Titel haben, erscheint uns selbstverständlich, ist es aber keineswegs; die Lyrik der Antike zum Beispiel kennt keine Titel, und auch die Lyrik des Mittelalters ist weitgehend titellos. Die Titel werden in der Regel in der Schlußphase der Textgenese dem Gedicht hinzugefügt. Dennoch bietet es sich in diesem Fall an, vom Titel auszugehen. Denn der Titel bietet hier einen besonderen Zugang zum Text, weil er sich nicht auf dessen Inhalt bezieht, sondern eine Textgattung bezeichnet, die einen dezidiert nicht-lyrischen Charakter besitzt. Ein Memorandum ist eine Denkschrift: eine Schrift also, die eine bestimmte Situation in ihrer Problemstruktur charakterisiert, um daraus praktische Schlüsse ziehen zu können. Ein Memorandum ist damit, seiner Funktion entsprechend, ein Prosatext; es macht keinen Sinn, ein Memorandum in Versen vorzulegen.
Der Titel des Gedichtes entspricht nun den Beobachtungen zur Form, die wir bisher zusammengetragen haben, auf signifikante Weise. Wenn ich auf die fehlende Reimbindung und den Verzicht auf andere klangliche Stilmittel hingewiesen habe, so ist dies ganz dem nüchternen Stil eines Memorandums gemäß, das argumentativ begründen und überzeugen, nicht aber seine Wirkungen durch ästhetische Stilmittel erreichen will. So erklärt sich auch die durchgängige Prosanähe des gesamten Textes. Von Prosanähe spreche ich nur deshalb, weil der Text in Verse gegliedert ist; ansonsten sind sämtliche Sätze des Gedichtes wie Prosasätze konstruiert. Würde man die Versstruktur auflösen, so müßte kein einziger Satz des Textes umformuliert werden, um einen reinen Prosatext zu erhalten. Dem entspricht der fast vollständige Verzicht auf Metaphern und Vergleiche, ja auf alle Formen uneigentlicher Rede. Wie es einem Memorandum gemäß ist, redet das Gedicht Klartext; es verzichtet auf metaphorische Verschlüsselungen, deren Effekt ja Vieldeutigkeit wäre, während ein Memorandum auf Eindeutigkeit angelegt ist. Und wenn oben festgestellt wurde, daß die Form des Gedichtes eine Reflexionsstruktur abbildet, die sich nach argumentativen Schritten gliedert, so entspricht dies wiederum genau der Funktion eines Memorandums, in dem im Anschluß an eine Analyse der Lage („Alles geht weiter“) die argumentativen Konsequenzen gezogen werden. Form und Stil des Gedichts entsprechen also der Textsorte, die der Titel bezeichnet.
Memorandum freilich wozu? Wessen Lage wird hier analysiert? Ich schlage versuchsweise eine Antwort vor, die sich aus dem verbleibenden Widerspruch ergibt, der zwischen der Textsorte Memorandum und der Tatsache besteht, daß dieser Text in Versen geschrieben ist: Die Tatsache, daß dieses Memorandum in Form eines Gedichtes verfaßt ist, macht nur dann einen Sinn, wenn es ein Memorandum zur Lage der Dichtung selbst ist. Zur objektiven Lage der Dichtung wohlgemerkt, nicht etwa zur besonderen Situation dieses Dichters. Denn die Textsorte Memorandum zielt auf eine objektive Situationsanalyse, und dementsprechend kommt ein poetisches Ich in dem Text auch nicht vor – schon gar nicht eines, das irgendwelche Rückschlüsse auf das empirische Autor-Subjekt Durs Grünbein zuließe. Subjektive Befindlichkeiten, Stimmungen und Lagebeurteilungen gehören in ein Memorandum nicht hinein – und so sind sie denn auch in diesem Memorandum zur Lage der Dichtung nicht zu finden. Wenn dieses Gedicht ein Memorandum zur Situation der Poesie im Zeichen der geschichtlichen Erfahrungen ist, so deshalb, weil es über die Möglichkeit von Poesie in der geschichtlichen Situation der Entstehung des Textes nachdenkt. Dies ist an sich nichts Besonderes und schon gar nicht etwas für Grünbein Spezifisches, im Gegenteil: Es charakterisiert geradezu die Situation der Poesie in der Moderne, daß sie sich stets aufs neue in ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit gegenüber den geschichtlichen Bedingungen ihrer Epoche zu legitimieren und zu begründen hat. Insofern ist jedes Gedicht in der Moderne ein Memorandum zur Lage der Poesie; es reflektiert in sich selbst die Bedingungen der Möglichkeit von Poesie in ihrer Zeit: einer Zeit, an deren Abläufen das Gedicht nichts ändern kann („Alles geht weiter, nicht erst seit heute, vor allem der Krieg“) und der gegenüber das Gedicht sich selbst dennoch in seiner Notwendigkeit zu behaupten hat. (Denn ein Kunstwerk, das nicht notwendig ist, ist überflüssig.) Wenn das Gedicht ein Memorandum zur Lage der Poesie ist, ist damit das Gedicht zugleich sein eigener Gegenstand. Dies kennzeichnet die Selbstreflexivität der Dichtung in der Moderne; sie reflektiert ihre eigene Möglichkeit und Notwendigkeit und grenzt sich gerade damit von der außerpoetischen Wirklichkeit des „Alles geht weiter“ ab.
Das Gedicht „Memorandum“ weiß natürlich, daß es mit seiner selbstreflexiven Struktur in einer großen dichterischen Tradition der Moderne steht, und es benennt diese Tradition deshalb auch ausdrücklich: etwa indem es in der Schlußstrophe Charles Baudelaire zitiert, den großen Heros der literarischen Moderne, und in der Strophe davor den Comte de Lautréamont. Damit wird bereits eine sehr lange Tradition der kritischen Selbstbefragung der Poesie in der Moderne aufgerufen, die mehr als hundertfünfzig Jahre währt und das nun verleiht wiederum den Anfangsworten des Gedichtes „Alles geht weiter“ einen ganz besonderen, nämlich dichtungstheoretischen Sinn. Seit mehr als 150 Jahren hat man bereits die Möglichkeit von Dichtung in der Moderne in Frage gestellt, und dennoch geht alles weiter – genauer gesagt: es geht alles gerade deshalb weiter, weil die Dichter selbst die Möglichkeit der Poesie beständig in Frage stellen. Sie ist dasjenige, was am allerwenigstem selbstverständlich, ja was im Grunde längst unmöglich geworden ist, und gerade darin gründet ihre Notwendigkeit. Das Gedicht inszeniert die selbstreflexive Struktur der Poesie in der Moderne auf (gefährlich) virtuose Weise: Baudelaire, so sagt der Schlußvers, „Glaubte das Ende der Dichtung nah, nicht zum letzten Mal“. Dies „nicht zum letzten Mal“ weist wieder zurück auf die Anfangsworte des Gedichts „Alles geht weiter“. Und warum geht es weiter, auch mit der Kunst, auch mit der Poesie? Nur deshalb, weil der Kunst, weil dem Gedicht der entschiedene Zweifel an ihrer bzw. seiner Möglichkeit und Notwendigkeit eingeschrieben ist. Dies kennzeichnet präzise die paradoxe Situation des Gedichts: Sicher geht alles so weiter, „vor allem der Krieg“, und den Glauben, daran etwas ändern zu können, haben die Dichter längst aufgegeben; und dennoch entstehen weiter Gedichte, die sich außerhalb dieses „Alles geht weiter“ stellen, denn jedes Kunstwerk ist ja etwas Einmaliges, Besonderes, Inkommensurables und hält damit die Erinnerung daran fest, daß es ein Jenseits von diesem Kollektivschicksal des „Alles“ geben könnte – und indem es auf dieser seiner Notwendigkeit beharrt, sorgt das Gedicht dafür, daß auch in der Kunst alles weitergeht, daß das oft verkündete „Ende der Dichtung“ (V. 14) nicht eintritt.
Ein Memorandum, so wurde gesagt, setzt ein mit einer Situationsanalyse. So auch dieses; sie umfaßt die erste, mit fünf Versen längste Strophe:
Alles geht weiter, nicht erst seit heute, vor allem der Krieg,
Das Anziehn täglich, das Ausziehn. Der schmerzhaften Nähe
Der beiden Körperhälften, der Ferne von Ich zu Gesicht,
Zu entfliehen hilft nichts. Und getötet, gezeugt,
Wird hier nicht nur aus Armut, zum Zeitvertreib auch.
Das Gedicht nimmt gleich mit dem ersten Vers die Totalität einer menschlichen Lebenssituation in den Blick, in der es keine Ausnahmen und aus der es damit auch kein Entrinnen mehr gibt: „Alles“. Die totalisierende Perspektive dieser Situationsanalyse gelangt in der schockartigen Kombination des Allerentsetzlichsten mit dem Alleralltäglichsten zum Ausdruck:
vor allem der Krieg,
Das Anziehn täglich, das Ausziehn.
Diese Kombination erzielt den Effekt, daß der Ausnahmezustand des Krieges auf die Ebene des Alltäglichen gehoben wird und damit die Selbstverständlichkeit der natürlichen Lebensabläufe von Schlafen und Wachen gewinnt. Der Ausnahmezustand erscheint als der Normalzustand, er unterbricht den geschichtlichen Normalverlauf gerade nicht, sondern charakterisiert ihn in seiner Alltäglichkeit, womit die Eingangsthese „Alles geht weiter“ ihre Bestätigung findet. Deshalb wird die Tatsache des Krieges auch mit der selben Gleichgültigkeit, ja Langeweile registriert, mit der das tägliche An- und Ausziehen absolviert wird. Dies ist eine Situationsanalyse von kompletter Illusionslosigkeit. Das ist aber noch nicht das Entscheidende. Entscheidend ist vielmehr, daß diese Illusionslosigkeit im Hinblick auf die Geschichte des Menschen und auf die Unmöglichkeit, der ewigen Wiederkehr der immer gleichen Muster von Zeugen und Töten, von Sexualität und Zerstörung zu entkommen, eine keineswegs neue Einsicht darstellt. Deshalb verwendet Grünbein an dieser Stelle ein Zitat: „Das Anziehn täglich, das Ausziehn.“ Das verweist auf Georg Büchners Danton, der sich zu Beginn des zweiten Akts von Dantons Tod ankleidet und dabei sagt:
Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und daß Millionen es schon so gemacht haben, und daß Millionen es wieder so machen werden, und daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so daß alles doppelt geschieht – das ist sehr traurig.
Die Rede Dantons über das An- und Ausziehen ist eine große Konfession geschichtsphilosophischer Illusionslosigkeit, die sich in den drei Wörtern „Alles geht weiter“ zusammenziehen ließe; übrigens finden wir in ihr auch schon die beiden Körperhälften in ihrer „schmerzhaften Nähe“ (V. 2), die diese Illusionslosigkeit vollends in der condition humaine verankern. Zitate wie dieses machen im Gedicht aber nur dann einen Sinn, wenn sie im intertextuellen Verweis die Bedeutung des Ausgangstextes aufgreifen und im Gedichttext zur Entfaltung bringen. Man muß sich deshalb daran erinnern, daß diese Worte ein ehemaliger Revolutionär spricht, der sich gleich darauf als einen „Sterbenden“ charakterisiert: ein Desillusionierter, der die universalen Glücksversprechen der Revolution verabschiedet und damit auf Veränderung durch politisches Handeln Verzicht leistet; die illusionslose Erkenntnis der sinnlosen Immergleichheit des Lebens liefert hierfür die Begründung, und eben diese Begründung spricht Danton in der Ankleideszene aus. Diese radikal anti-idealistische, skeptische Geschichtsauffassung macht sich Grünbeins Text zu eigen; er zitiert sie also nicht allein, sondern er bringt sie im Quintett in totalisierender Perspektive zu voller Entfaltung, wobei die im Text hergestellte Parallele zu Büchners Danton auf noch etwas Grundsätzlicheres zielt: auf die Ausbildung eines postutopischen Geschichtsbewußtseins. Büchners Danton ist ein Revolutionär, der alle Utopien hinter sich gelassen hat – und Grünbeins Gedicht entsteht am Ende eines Jahrhunderts der Revolutionen, die immer wieder im Zeichen eines Willens zur Utopie in die historische Katastrophe geführt haben. Durs Grünbein, der bis 1989 in der DDR gelebt hat, hat diese Geschichte in ihren Konsequenzen an sich selbst hinreichend erfahren können. Büchners Dantons Tod und Grünbeins „Memorandum“ formulieren ihre Lagebeurteilung also jeweils im Zeichen eines postrevolutionären, postutopischen Bewußtseins, das sich von allen Träumen universaler Menschheitsbeglückung losgesagt hat:
Und getötet, gezeugt,
Wird hier nicht nur aus Armut, zum Zeitvertreib auch.
Man wird diesen Befund schwerlich falsch nennen können. Man muß dann freilich auch zugestehen, daß er ein nicht sehr optimistisches Menschenbild impliziert, sich von der Vorstellung der Verbesserungsfähigkeit des Menschen befreit und alle Fortschrittskonzepte verabschiedet hat. Den gedanklichen Kern der Strophe markiert also eine ziemlich finstere Anthropologie: Der Mensch, eine heillose Mixtur aus Libido und Aggression, wird keineswegs besser, wenn es ihm besser geht; tötet er nicht aus Armut, so eben zum Zeitvertreib. Die „Ferne von Ich zu Gesicht“: das bezeichnet die dünne Decke der Zivilisation („Gesicht“) über dem Bündel aus Wünschen und Trieben und Aggressionen, die das Handeln des Ich bestimmen, und sich der Einsicht in diese Verfaßtheit des Menschen zu entziehen bzw. ihr zu „entfliehen hilft nichts“. (V. 4) So also nimmt das Gedicht seine historische Positionsbestimmung vor: ein Gedicht nach den Utopien, nach dem Fortschrittsdenken. nach der Abdankung des Glaubens an die Verbesserungsfähigkeit des Menschen. Warum dann aber noch Dichtung? Wie ist Poesie dann noch denkbar und möglich, wenn ihr die Statthalterschaft für Utopie nicht mehr zukommt, wenn sie also nach einem radikalen geschichtsphilosophischen Desillusionierungsprozeß nicht mehr die großen überzeitlichen Menschheitsideale zu repräsentieren vermag, die sich als trügerische Illusionen erwiesen haben? Diese Frage wirft das erste Terzett auf – und zwar nicht, indem es eine Frage stellt, sondern einfach dadurch, daß es nun „die Dichter“ durch das adversative „doch“ in einen Gegensatz zu der im Quintett vorgenommenen Situationsanalyse setzt. Die Dichter sind „schwierige Leute“ (V. 6); das heißt, sie stehen quer zu ihrer, zu jeder Zeit, wie es auch das einleitende „doch“ hervorhebt. Was aber macht sie „schwierig“? Schwierig macht sie allein dies, daß sie die Utopien und damit die Illusion und den geschichtsphilosophischen Trost verweigern. Schwierig sind sie, weil sie „nichts mehr stiften“ (V. 7). Damit zitiert das Gedicht die große Tradition des deutschen Idealismus in der Poesie, um sich im gleichen Atemzug von ihr abzugrenzen. Im Jahre 1804 dichtete Friedrich Hölderlin das hymnische Gedicht „Andenken“, das mit den Versen endet:
Es nehmet aber
Und giebt Gedächtniß die See,
Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Der Schlußvers ist im 20. Jahrhundert zu einem geflügelten Wort geworden, tausendfach zitiert von jenen, die in einem Jahrhundert des kollektiven Mordens arn idealistischen Dichtungsprogramm festhielten, demzufolge der Dichtung die Aufgabe obliegt, die überzeitlichen Menschheitsideale auszusprechen, den Traum von der Idealität, vom Reich der Freiheit, von der vollendeten Humanität:
Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Dieser Traum ist offenbar ausgeträumt, die Dichter haben nichts Bleibendes gestiftet, was Grünbein dadurch grell hervorhebt, daß er das Wort „bleiben“ durch das Wort „nichts“ ersetzt; schon zwei Jahre, nachdem er diesen Vers geschrieben hatte, brach Hölderlin endgültig psychisch zusammen: auch er, wie Danton, jemand, der den Traum von der Revolution geträumt hatte. Positive Menschheitsvisionen von überzeitlicher Gültigkeit, so sagt dieser Vers, sind nicht mehr die Aufgabe der Dichtung. Im Gegensatz zu den Vorstellungen des deutschen Idealismus kann in der Moderne die Kunst nicht die Utopie repräsentieren:
Selbst das Gelächter
Klingt ohne sie schärfer. (V. 7f.)
Nach den Utopien: das heißt zugleich auch: Nach den Satiren; das ist der Titel von Grünbeins Gedichtband, in dem der Text „Memorandum“ steht. Denn die Satire als kritische Wider-Rede gegen den Zustand der Welt bedarf eines positiven Gegenbildes, von dem aus sie Kritik übt. Grünbeins Gedichte kennen solche Gegenbilder nicht und gebärden sich auch darin utopieresistent. „Mag sein, daß die Utopien mit der Seele gesucht werden“, so sagte er 1995 in der Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises, „ausgetragen werden sie auf den Knochen zerschundener Körper, bezahlt mit den Biographien derer, die mitgeschleift werden ins jeweils nächste häßliche Paradies.“ Mit dem Utopieverlust tritt also auch die Satire, die kritische Gegenrede gegen die Fehler der Welt, in der Kunst in das Stadium ihrer historischen Unmöglichkeit:
Selbst das Gelächter
Klingt ohne sie schärfer.
Mit beidem aber, dem Verzicht auf die Utopie wie dem Verzicht auf die Satire, tritt die Dichtung so sehr aus dem gesellschaftlichen Alltag heraus und marginalisiert sich, daß sie kaum noch wahrgenommen wird; die Dichter werden nicht einmal mehr verlacht:
Es [das Gelächter] gilt ihnen kaum. (V. 8)
Noch einmal: Worin bestehen dann die Möglichkeit und Notwendigkeit der Poesie?
Grünbeins Gedicht entdeckt sie in den letzten beiden Terzetten im Vorbild der Dichter der Anti-Utopie, einer absoluten Illusionslosigkeit und Negativität. Zunächst in Les Chants de Maldoror, den Gesängen des Maldoror, deren Verfasser Isidore Ducasse (1846–1870), über den wir fast nichts wissen, sich das Pseudonym Comte de Lautréamont zugelegt hatte. Die Gesänge des Maldoror wurden 1869 gedruckt, aber vom Verleger nicht ausgeliefert, weil er, wohl zu Recht, den Staatsanwalt fürchtete. Das Ich dieser sechs großen Prosagesänge ist Maldoror, was vermutlich auf „l’aurore du mal“ zurückgeht, den „Sonnenaufgang des Bösen“. Er ist die Verkörperung des absolut Bösen und damit negatives Gegenbild des Schöpfers; Maldorors Haß auf den Menschen entlädt sich in einer Flut archaischer Bilder von quälender Präzision, deren Aggressivität alle literarischen Konventionen des 19. Jahrhunderts sprengt:
Meine Dichtkunst wird nur darin bestehen, den Menschen, dieses Raubtier, mit allen Mitteln anzugreifen und mit ihm den Schöpfer, der ein solches Ungeziefer nicht hätte erzeugen sollen.
Nach Abschluß dieses Hymnus auf das Böse begann Lautréamont mit der Arbeit an den Poésies, die das entgegengesetzte Programm verfolgten:
Ich ersetze die Schwermut durch den Mut, den Zweifel durch die Gewißheit, die Verzweiflung durch die Hoffnung, die Bosheit durch das Gute.
Der Hymnus auf das Gute aber blieb aufgrund von Lautréamonts frühem Tod ein Fragment, „ein frommer Entwurf“ (V. 11). Und eben damit repräsentiert Lautréamont für Grünbein die Situation der modernen Poesie: ihren radikal anti-utopischen Charakter, ihre Verweigerung aller Positivität. Weil ihm der Hymnus auf das Gute unmöglich blieb, bleibt Lautréamont ein „Skorpion“ (V. 10): der Dichter mit dem vergifteten Stachel, dessen Dichtung fernerhin schmerzt, weil er die Situation des Menschen in der Moderne unverstellt und illusionslos in ihrer Negativität aussprach. Mit dem (dichterisch nicht zur Entfaltung gelangten) vermittlungslosen Gegenüber von Böse und Gut ist Lautréamont im übrigen zugleich ein Repräsentant des entwicklungslosen Manichäismus, der im entschiedenen Widerspruch steht zu allem bürgerlichen Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts.
Dessen größter Verächter in der Geschichte der Dichtung des 19. Jahrhunderts ist Charles Baudelaire, dessen finstere Gestalt Grünbeins Gedicht abschließend zitiert. Wie Lautréamont die aufgehende Sonne des Bösen, so hatte vor ihm Baudelaire die Blumen des Bösen besungen, in seinem 1857 erschienenen Gedichtband, der wie kein anderes Werk die Entwicklung der modernen Lyrik bestimmt hat. Baudelaire vertritt wie Lautréamont eine negative Anthropologie, für die der Mensch ein von seinen Trieben und Bedürfnissen gesteuertes Raubtier bleibt; dies verweist zurück auf die Anfangsstrophe des „Memorandum“. Er war also wie Lautréamont ein illusionsloser Anti-Utopist – und hierin gründeten die Verzweiflung, die Melancholie, der Spleen dieses Archetyps des poète maudit in der Moderne. Die Duellsituation im Verhältnis des Dichters zur Wirklichkeit, in der er jederzeit unterliegen kann, der Gedanke an Selbstmord, die Vorstellung vom Ende der Poesie: dies sind deshalb nicht seltene Motive in Baudelaires Schriften. Daß er in der universalen Kommerzialisierung einen wesentlichen Faktor in jenem Prozeß gesehen hat, der den Untergang der Kunst herbeiführt, daran erinnert das Gedicht mit dem Hinweis auf das „Erscheinen der ersten großformatigen Zeitung“ (V. 13), womit wohl La Presse gemeint ist, die Zeitung des fortschrittsorientierten liberalen Bürgertums zur Zeit Louis Philippes.
Warum aber ruft das Gedicht an seinem Ende die Gestalt Baudelaires herbei? Weil er wie niemand sonst die paradoxe Situation der Poesie in der Moderne repräsentiert. Baudelaire hat gerade seiner illusionslosen Einsicht in die Negativität seiner Epoche und in die Bestialität des Menschen, die ihn bis an die Grenzen des Selbstmords und bis zur Verzweiflung an der Möglichkeit von Dichtung überhaupt führte, große Dichtung von einzigartigem Rang abgewonnen, die aller späteren Poesie die Bahn gewiesen hat. Fortan entsteht alle große Dichtung aus dem Zweifel an ihrer eigenen Möglichkeit, der in der Illusionslosigkeit über die Verfaßtheit der Welt und des Menschen gründet. Fortan kann es Dichtung nur dort noch geben, wo auf utopische Versöhnungsangebote, die über die Lage der Dinge hinwegtäuschen, verzichtet wird. So entsteht Dichtung allein aus dem Bewußtsein der Negativität; wo sie sich der Welt, wie sie ist, stellt, in „schmerzhafter Nähe“ (V. 2), da bleibt Dichtung, im Zweifel an ihrer Möglichkeit, weiterhin möglich: „nicht zum letzten Mal“ (V. 14). Wo sie sich vom Willen zum Positiven – zur Ideologie – erfassen läßt, da stirbt sie wie Lautréamont, als er seinen Hymnus auf das Gute und auf die Hoffnung anzustimmen begann.
Und ebendies läßt Grünbeins Gedicht zu einem Memorandum über die prekäre Situation des Gedichts in der Moderne werden, das die Möglichkeil des Gedichts im vollen Bewußtsein seiner Gefährdung erweist: „nicht zum letzten Mal“.
Ernst Osterkamp, aus Olaf Hildebrand (Hrsg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein, Böhlau Verlag, 2003
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