das wort
das anfangswort
das grosse wort
das kleine wort
das wort
das zwischenwort
das nebenwort
das bindewort
das einzelwort
das wort
das fragewort
das zeigewort
das schlüsselwort
das lösungswort
das wort
das redewort
das massenwort
das ohnewort
das wort
das herkunftswort
das zukunftswort
das schreibewort
das flügelwort
das wort
das morgenwort
das abendwort
das schweigewort
das überwort
das wort
das liebeswort
das todeswort
das rote wort
das schwarze wort
das wort
das nehmewort
das gebewort
das einfaltswort
das endewort
das wort
die frage – im bereich der literatur-fragen –, die in den letzten jahren am meisten an mich gestellt wurde, war:
ist die konkrete poesie am ende?
ich habe mich selbst schon wiederholt dahin geäussert, dass die konkrete poesie als kind der fünfziger Jahre ein abgeschlossenes kapitel der internationalen nachkriegsliteratur sei. ich beziehe diese aussage auf die herstellung von konkreter poesie, so wie sie sich zu beginn, heute kann man sagen: in der klassischen periode, selbst verstanden hat. in diesem sinne sind z.b. die im vorliegenden band versammelten konstellationen ein nachtrag. wo vielleicht veränderungen festgestellt werden, dürften diese weniger in der form und der spiel-weise als in der thematik zu erkennen sein.
doch ist die konkrete poesie ein sehr weites feld geworden. sie ist bis zu den sublimsten möglichkeiten des gerade-nochexistierens, zu magischen zeichen vorgestossen, denen gegenüber die frühesten konstellationen und ideogramme als naiv-kräftige bauklötze erscheinen. sie ist aber anderseits auch zu vielseitigen intermedialen experimenten ausgefranst, welche neuer definitionen dringend bedürfen. mit bedenken wäre da zu beachten, wie oft versucht wird, von einem vermeintlichen „gruppen-hermetismus“ – einer der nicht ausdiskutierten irrtümer um die konkrete poesie! – wegzukommen und den heutigen menschen realistischer anzusprechen. das ende solcher versuche ist nicht selten, wie immer wieder feststellbar, ein subjektiver hermetismus, eine individuelle mythologie, dilettantische grafik, verlust an sprachlicher substanz, soweit man gewillt ist, auch manieristische entwicklungen der konkreten poesie anzuhängen, ist diese sicherlich noch lange nicht am ende angelangt.
auf absehbare zeit nicht auszuschöpfen ist jedoch die rezeptive beschäftigung mit der konkreten poesie. in dieser hinsicht glaubt man heute oft wieder am beginn der bewegung zu stehen. erst jetzt wird ihre eignung als aktuelles didaktisches material, ja ihre herstellung als didaktische methode erkannt. nicht ausgewertet worden sind bisher auch die auswirkungen der konkreten poesie auf nachbargebiete, in denen sie sich oft erstaunlich ansteckend erwies – nur wurde dort aus mangel an synoptischem überblick die wahre urheberschaft oft übersehen. man denke an beispiele, wo man mit exponiertem sprachlichem material zur kunstbefragung ansetzte oder wo auf die gebräuchlichen bildnerischen gestaltungsmittel verzichtet wurde, um dafür denkprozesse mit hilfe sprachlicher nachrichten in gang zu bringen. man denke an das bedürfnis nach meditation, das seit jeher eine der geistigen grundlagen der konkreten poesie war.
wenn es heute begreiflich ist, dass die quellen solcher wirksamkeit im raschen wandel leicht in vergessenheit geraten, so ist es jedoch unverzeihlich, dass die literarische tageskritik – die rühmlichen ausnahmen wissen sich von diesem vorwurf selbstverständlich frei – grösstenteils vor der konkreten poesie versagte. noch vor wenigen jahren, als bereits eine stattliche sekundärliteratur vorlag, war es möglich, dass der kritiker einer bedeutenden tageszeitung meine arbeit als ein „stammeln“ bezeichnete. der unverstand und die leichtfertigkeit einer solchen beurteilung, die gleichzeitig eine ignoranz weit über den gegenstand der konkreten poesie hinaus offenbaren, wären zu ertragen, wenn sich damit heute nicht wieder ein gefährlicher jubel über das neue „lyrische“ verbände. es darf wieder gedichtet werden – scheint einer der stossseufzer der erleichterung im jahr 1973 zu sein. die dürren jahre der „formalistischen spielereien“ – eine beliebte simple gedankenlosigkeit dieser kritiker – seien gottseidank vorüber. anschauungen und meinungen dürfen wieder in althergebrachter form zum ausdruck gebracht werden. hätte es solchen kritikern nicht wenigstens auffallen müssen, dass konkrete poesie nicht so von ungefähr und gleichzeitig in vielen ländern geschaffen wurde? dass viele konkrete gedichte gerade die lyrik ernsthaft beim und ins wort nahmen, die sie jetzt wieder zu hören vermeinen?
man wird besonders nach einer solchen lyrischen phase umso dankbarer wieder auf die konkrete poesie zurückkommen, denn je mehr neoliterarische lyrik verbreitet wird, desto wichtiger werden alle die versuche werden, deren ziel es ist, sinneseindrücke und kommunikationsbedürfnis möglichst ehrlich, das heisst gewiss nicht anbiedernd und irgendeiner „forderung des tages“ sich fügend, mit sprachlichen mitteln zu reflektieren, zu realisieren. deshalb wird der anstoss, der durch die konkrete poesie in den fünfziger jahren gegeben wurde, weiterwirken. wir haben erst ein paar bausteine des zukünftigen sprachsystems geschaffen und ahnen, zusammen mit den biologen, seine möglichkeiten.
Eugen Gomringer, Nachwort
– Eugen Gomringer und die Kunst. –
1. Die Geburt der Konkreten Poesie aus der Anschauung der Konkreten Kunst
Noch heute bewahrt Eugen Gomringer eine kleine Schwarz-Weiss-Fotografie auf, die die Galerie des Eaux Vives in der Seefeldstrasse 48 in Zürich Mitte der 1940er Jahre zeigt. Dort begegnete er 1944 erstmals Werken der Zürcher Konkreten Max Bill, Camille Graeser, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse, „die so ganz anders waren als alles, was man vom Gymnasium oder von der ganzen Erziehung her gewohnt war.“2 Dort entdeckte er auch das von der Galerie herausgegebene monatliche Bulletin Abstrakt Konkret, in dem theoretische und künstlerische Positionen der Konkreten Kunst erstmals gemeinsam versammelt waren. Schon im ersten Heft findet sich der Versuch einer Definition Konkreter Kunst durch Max Bill:
ein standpunkt. konkrete kunst nennen wir diejenigen kunstwerke, die auf grund ihrer ureigenen mittel und gesetzmässigkeiten, ohne äusserliche anlehnung an die naturerscheinung, also nicht durch ,abstraktion‘ entstanden sind, konkrete kunst ist die gestaltung von optisch wahrnehmbarem, zu dessen realisierung die farbe, der raum, das licht und die bewegung die voraussetzungen enthalten, durch die beziehungen dieser elemente und durch ihre formung auf grund einer rein geistigen, schöpferischen konzeption, entstehen fassbare werke, vorher nur in der vorstellung bestehende ,bilder‘ werden realisiert und in konkreter form vermittelt.3
Zwar brauchte es eine gewisse „Inkubationszeit“,4 bis Eugen Gomringer diese Maximen Konkreter Kunst auf seine eigene Kunst, die Sprachkunst, übertragen konnte. Doch kann und muss man, wie Gomringer nicht müde wird zu betonen, „in jenen frühen manifestationen der konkreten malerei eine wurzel unserer eigenen konkreten dichtung sehen.“5
Noch bis 1951 hielt er an der Form strenger Sonette fest.6 Doch dann adaptierte er in seinem Manifest „Vom Vers zur Konstellation“ (1954) den aus der Kunst stammenden Begriff des Konkreten für die Sprachkunst und begründete 1953 mit seinen ersten Konstellationen und seinem Manifest die Konkrete Poesie, in der er die Bildlösungen der Konkreten Kunst in Sprachlösungen umzusetzen suchte. Damit hatte er seine ,Bestimmung‘ gefunden:
ich sehe die verknüpfung der beiden wege, des lyrischen mit dem der konkreten kunst, als ein Charakteristikum meiner entwicklung, wenn nicht gar meiner bestimmung zum grenzgänger. die synthese ist die poesie.7
Was ihn zur Nachahmung anregte und die Konkrete Kunst zum Modell für die Sprachkunst werden liess, war in erster Linie „das analoge Verhältnis der Maler und Bildhauer der Konkreten Kunst zu meinen eigenen Intentionen. Gestalten mit Gestaltungsmitteln war auch mein Vorgehen.“8 Wie die Konkrete Kunst nahm die Konkrete Poesie „an dem grossen reinigungsprozess [teil], der da wie dort die elemente des aufbaus neu entdecken liess“.9 In dieser Rückbesinnung der Konkreten Poesie auf das ,Wort als solches‘ kam es analog zur Konkreten Kunst zu einer Abwendung von der Repräsentationsfunktion der Sprache:
jedes wort, das der dichter hinsetzt, ist! […] mit der konstellation wird etwas in die welt gesetzt, sie ist eine realität an sich und kein gedicht über…10
Darüber hinaus konstatiert Gomringer eine „Analogie des methodischen Vorgehens“11 zwischen Konkreter Kunst und Konkreter Poesie. Dem Postulat Richard Paul Lohses „Die Methode ist das Bild“12 spricht er universelle Gültigkeit zu: „Mit einer solchen Aussage konnte man quer durch die Fakultäten arbeiten“13 – also auch in der Sprachkunst. Sowohl Werke der Konkreten Kunst als auch der Konkreten Poesie lassen sich somit auf die vereinfachte Formel bringen:
Element + Methode + Durchführung = Werk.14
Typische Methoden der Konkreten Kunst und der Konkreten Poesie sind die Reduktion auf wenige Elemente, die Generierung von simplen, aber strengen Strukturen und Verfahren der Wiederholung, Kombination, Permutation, Mathematik/Geometrie zur Herstellung von Variationen und Serien.
Ein weiteres „grenzüberschreitende[s] Moment zwischen Konkreter Kunst und Konkreter Poesie besteht […] natürlich auch im Bekenntnis zur visuellen Erscheinung,15 versteht Gomringer seine Texte doch immer auch als „seh- und gebrauchsgegenstand“.16 Letzterer Begriff verweist zudem darauf, dass sich Konkrete Kunst und Konkrete Poesie in der „moderne[n] funktionale[n] auffassung vom ästhetischen gegenstand treffen.“17
2. Wege der sprachlichen Annäherung an Konkrete Kunst
Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung der Konkreten Kunst für die Entstehung und für die Theoriebildung der Konkreten Poesie kann es nicht verwundern, dass sich Eugen Gomringer immer wieder einzelnen Künstlern bzw. Kunstwerken zugewandt hat, dass etliche seiner Texte von der intensiven Rezeption bestimmter Kunstwerke zeugen und dass er bis heute ununterbrochen mit Künstlern zusammengearbeitet hat.18 Zu nahezu allen Künstlern, „die mir besonders geistesverwandt erschienen“,19 hat Gomringer im Laufe der Zeit kunstkritische Aufsätze, Katalogbeiträge, Vorträge, Essays oder dichterische Texte verfasst. Obwohl nur ein Bruchteil davon in der jüngsten vierbändigen Gesamtausgabe abgedruckt ist, ist der dritte Band Zur Sache der Konkreten. Eine Auswahl von Texten und Reden über Künstler und Gestaltungsfragen 1958–2000 in der Tetralogie der umfangreichste. Das „mag anzeigen, dass ich mich mit der kunst der konkreten mehr auseinandersetze als mit der poesie der konkreten, dies wiederum ist ein hinweis darauf, dass die konkrete poesie, wie allgemein bekannt, ihre bezeichnung der kunst entliehen hat, die ihr mit ihren ,vorbildern‘ um jahre voranging.“20
Diese ungemein hohe Produktivität ist umso erstaunlicher, als es etliche Zeugnisse von Gomringer gibt, in denen er von der Schwierigkeit spricht, seine Faszination für konkrete Kunst in Worte zu fassen. Anfangs – etwa angesichts der Aufforderung der Galerie Des Eaux Vives, zu den ausgestellten Werken doch einmal etwas zu schreiben – kapitulierte Gomringer noch, denn „es gab [damals] keine Schreibe, keinen Handgriff, über das zu schreiben, was ich gesehen hatte, über diese konkrete Kunst“.21 Bis heute bezeichnet Gomringer jede seiner sprachlichen Annäherungen an einen Künstler, an ein Kunstwerk als „Versuch“, als „Experiment“, das fehlgehen könne und manches Mal auch fehlgegangen sei.22 In etlichen Texten wird das Problem einer adäquaten sprachlichen Annäherung an die moderne Kunst explizit benannt, etwa wenn es heisst, dass sich das Werk von Günter Fruhtrunk „dem betrachter fast aggressiv anbietet, um sich jeder beschreibung, besprechung oder sonstigen fixierung ,gleichzeitig‘ zu entziehen“.23 Damit verweist Gomringer auf ein generelles Beschreibungsproblem moderner und zeitgenössischer, insbesondere abstrakter und konkreter, Kunst, denn mit den Veränderungen in der Kunst seit der Moderne war auch die Kunst der Beschreibung herausgefordert, wie Gottfried Boehm ausführt:
In der Geschichte der Malerei war es ein Schlüsselereignis, als die französischen Impressionisten die künstlerische Annäherung an die sichtbare Natur unter der Devise betrieben, dasjenige, was man am jeweiligen Motiv sah, von dem zu trennen, was man von ihm wusste. Diese Scheidung eines konstatierenden Wahrnehmens (dessen Einsichten sprach- und begriffsförmig, d.h. beschreibbar sind), von einem sich realisierenden Sehen, das sich wenig an dingliche Sachverhalte hält, sondern die freien visuellen Latenzen am Gegebenen vollzieht, bedeutet auch für die Kunst der Beschreibung einen Einschnitt.24
Angesichts dieser Verschiebungen in der Kunst – weg von den Inhalten hin zum Akt der Wahrnehmung – kann sich die Bildbeschreibung nicht mehr mit der Nacherzählung und Auslegung etwaiger Bildinhalte bescheiden. Es gilt, auch dieses neuartige ,sehende Sehen‘ 25 sprachlich zu erfassen. Doch eben hier liegt das Problem:
Das sehende Sehen ist sprachfern, weil es sich nur im Vollzug entfaltet. Es stellt nicht fest, sondern involviert den Betrachter in einen Prozess, in dem er nicht Sichtbares wahrnimmt, sondern die Sichtbarkeit […] allererst entwickelt. Das Bild wird zu einer Welt des Auges, die sich jenseits bekannter Erfahrungsräume öffnet.26
Es war diese Herausforderung, einen sprachlichen Ausdruck für das sprachferne ,sehende Sehen‘ zu finden, die auch Eugen Gomringer bei seinen Begegnungen mit Konkreter Kunst empfand und zu bewältigen suchte: als Kunsttheoretiker, als Kunstkritiker, als Essayist und als Dichter. Die Wege, die er dabei beschritt, sollen im Folgenden an zwei Beispielen, an Texten zu Josef Albers und zu Nobert Kricke, aufgezeigt werden.
2.1. Wie Konkrete Kunst beschreiben?
In der von ihm 1968 herausgegebenen Monographie zum Maler und Bauhausmeister Josef Albers verfolgt Gomringer eine deutlich kunsthistorische Zielstellung und Herangehensweise. Bereits in der Einführung der Monographie wird klar gestellt, dass es im Folgenden um eine Darstellung der künstlerischen Entwicklung Albers’ anhand von Werkgruppen gehen wird. Zugleich wird die Kunst Albers’ in den Kontext anderer Kunstströmungen eingeordnet: Gomringer grenzt sie von den subjektiven, emotionalen Aussageformen des Action Painting, Informel und der Pop Art ab und sieht sie statt dessen in einer Linie „von der konstruktivistischen Konkretion zu einer optisch-physiologischen Kunst27: Es ist offensichtlich oder dürfte in der fortschreitenden Betrachtung der folgenden Seiten zur Gewissheit werden, dass Josef Albers einer der wenigen echten Erfinder der Kunst ist, ,die uns ansieht‘, die das Sehen fördert, Rationalität mit Sensibilität verbindet, welche die Vieldeutigkeit der Wahrnehmung erleben lässt, den psychischen Effekt der autonomen Farbe lehrt.“28 Albers’ Werke sind Gomringer also faszinierendes Beispiel für eine Kunst, die „das Sehvermögen bis an seine Grenzen heraus[fordert] und so zu einer Schule des Sehens“ wird.29
Diese These wird anschliessend an den einzelnen Werkgruppen zu belegen versucht – im Folgenden sollen beispielhaft die Passagen zu der berühmten Albers-Serie Hommage to the Square betrachtet werden. Auf den Bildern dieser Serie sind bekanntlich jeweils drei oder vier ineinander geschachtelte Quadrate unterschiedlicher Farbgebung zu sehen. Verwendung finden dabei nur industriell angefertigte, ungemischte Farben, deren Artikelnummer jeweils auf der Rückseite der Werke verzeichnet ist, so dass die verwendeten Farben eindeutig bestimmbar sind. Diese faktische, rein physische Seite seiner Werke nennt Albers „factual fact“.30 Doch „der Feststellung, was ist, folgt eine starke anschauliche Irritation auf dem Fusse“31: Die Farben beginnen, miteinander zu agieren und je nach Umfeld verschieden zu wirken. Der „Schein der Farben“32 eröffnet so ein potentiell unerschöpfliches Erfahrungsfeld. Diese „energetische Resultante“,33 diesen psychischen Effekt seiner Werke, nennt Albers „actual fact“.34 Es ist die Ambivalenz von Bild (Faktum) und Bilderscheinung (Effekt), die die Faszination dieser Bilder ausmacht:
Das Bild sehen heisst, diesen Kontrast betrachtend zu vollziehen, seine Bewegungsimpulse, sein visuelles Potential zu aktivieren. Das Bild ist weder die blosse Konstruktion, noch das private Gefühl, das es auslösen mag.35
Eine adäquate sprachliche Beschreibung dieser Bilder müsste also in eine Beschreibung dieses Prozesses, dieser Interaktion hinauslaufen. In seiner Monographie geht Gomringer die Sache allerdings anders an. Das erstaunlich knapp gehaltene Kapitel zur Quadrat-Serie Albers’ beginnt ,klassisch‘ mit einer Würdigung der Serie als ,Krönung‘ des Schaffens Albers’ und als „Kulmination der Form-Farbe-Beziehung und damit der Form-Farbe-Raum-Wirkung“.36 Dem folgt – analog dem Vorgehen in der Einführung zur Monographie – eine kontextuelle Einordnung, zum einen als logische Herleitung aus früheren Werkphasen Albers’, zum anderen über die Abgrenzung von anderen ,Quadratbildern‘ der modernen Kunstgeschichte (Malevič, Mondrian, van Doesburg, Bill). Nach einer kurzen Darstellung der verschiedenen Bildtypen innerhalb der Serie, der vier entsprechende Skizzen des Künstlers zur Verdeutlichung beigesellt sind, lässt Gomringer den Künstler selbst ausführlich über die Rolle der Farbe und der Fläche zu Wort kommen.37 Etwa 2/3 des Textes zur berühmten Quadrat-Serie stammen also von Josef Albers selbst.
Etwa in dieselbe Zeit (1968/70) fällt ein Aufsatz zu Josef Albers, in dem Gomringer einen anderen Weg der sprachlichen Annäherung wählt.38 Wieder greift er dafür auf Texte des Künstlers selbst zurück, doch dieses Mal nicht theoretisch-didaktischer, sondern dichterischer Natur – in der festen Überzeugung, mit den bis dato recht unbekannten Gedichten Albers’ neue Zugänge zum bildkünstlerischen Werk und neue Ansätze zu dessen Beschreibung zu finden:
ihm in seine gedichte und ,statements‘ hinein zu folgen heisst, ihn ein zweites mal entdecken.39
Und in der Tat verhilft die vergleichende Analyse der bildkünstlerischen und dichterischen Werke Albers’ dem wahrnehmungspsychologisch geschulten Kunstkritiker Gomringer, das faszinierende Oszillieren zwischen Sein und Schein der Werke Albers’ in eigene Worte zu fassen:
je eindeutiger in der formalen methodik das werk von josef albers sich präsentiert, wie zum beispiel in den gruppen „tektonische grafik“, „variationen eines themas“, „strukturale konstellationen“ und „hommage to the square“, desto vieldeutiger und rätselhafter wird es für den postretinalen gebrauch, für das angesprochene bewusstsein eines rezipienten. klarheit und transparenz in der methode vertragen sich – auch hier ein antithetisches verhalten – mit irritierendem magischem effekt.40
Diese Beschreibung sucht „die Interdependenz, die im Kontrast von Faktum und Aktum liegt“,41 zu erfassen, indem sie jene Bilderfahrung versprachlicht, die von der Irritation angesichts des Oszillierens geprägt ist. Dieses typisch antithetische Wahrnehmungserlebnis vor Albers’ Werken kann Gomringer anschliessend sprachlich sogar noch weiter kondensieren. Mit der Formel vom „allumfassenden prozess des umschlagens ins gegenteil“42 bringt er sowohl die Essenz der Gedichte als auch den Nukleus der bildkünstlerischen Werke Albers’ auf den Punkt.
2.2. hommage aux artistes43
2.2.1. ,Verdichtung‘ in „parafrase zu josef albers“
Dieses Verfahren der sprachlichen ,Verdichtung‘ kann als grundlegendes Prinzip aller Arbeiten Gomringers bezeichnet werden und ist von besonderer Bedeutung für seine dichterischen Texte. Er selbst hat einmal geäussert, dass der Begriff ,Gedicht‘ „gerade die Konkrete Poesie gut bezeichnet“.44 Dabei beruft er sich auf Max Bill, der in seinem Text „Versuch über Material und Methode des Dichters“ (1970) unter Verweis auf die Polyvalenz des Wortes ,dichten‘ die Dichtkunst eben auf den Vorgang des ,Verdichtens‘ zurückgeführt hat. Bills Definition der Dichtkunst lautete:
die dichte der Wörter
nie zuviel ist gedicht45
Diese Konzentration auf Weniges liegt auch dem Gedicht „parafrase zu josef albers“ zugrunde. In diesem geht es Gomringer nicht mehr um die kunstwissenschaftlich exakte und analytische Beschreibung des Œuvres von Albers, sondern um das Erfassen grundlegender Charakteristika des Schaffens von Josef Albers in synthetisch verdichteter – also: poetischer – Sprache. Eben mit diesen Begriffen der ,Analyse‘ und ,Synthese‘ beschreibt Gomringer übrigens auch den Unterschied der Versprachlichung in kunstwissenschaftlichen/-kritischen und dichterischen Texten.46
PARAFRASE ZU JOSEF ALBERS
nur der schein trügt nicht
josef albers ehrt das quadrat
nur der schein ehrt das quadrat
josef albers trügt den schein
das quadrat ehrt den schein nicht
nur der schein trügt josef albers nicht
josef albers ehrt den schein
das quadrat trügt josef albers47
Das Gedicht Gomringers bezieht sich auf Albers’ Serie Hommace to the Square. Das Schlüsselwort „schein“ verweist auf die bereits ausgeführte typische antithetische Interdependenz zwischen ,factual fact‘ und ,actual fact‘ in Albers’ Werken.48 In Analogie zu der von Albers selbst bevorzugten Strophenform beruht auch Gomringers Gedicht auf zweizeiligen Satzgruppen. Diesen Zweizeilern liegt dasselbe Sprachmaterial zugrunde, ihre Aussagen werden aber formal durch die Umstellung der Elemente gegeneinander gestellt. Der semantische Gehalt der permutierten Textblöcke ist jedoch kaum noch fassbar. Damit kontrastiert der schillernde semantische Effekt der Zeilen mit dem klaren Konstruktionsprinzip des Gedichts. Der Leser des Gedichts erlebt also dieselbe Irritation zwischen exakter Konstruktion und irritierendem Wahrnehmungseffekt wie der Betrachter der Werke von Josef Albers.
Das in Albers’ Werken erkannte antithetische Prinzip von Faktum und Aktum und das ,Umschlagen‘ zwischen diesen beiden Aspekten werden demnach auch zur Grundlage, nämlich: zum strukturellen Kompositionsprinzip des Gedichts Gomringers. Dieses reagiert also auf das Œuvre Albers’, indem es sich den Bildstrukturen angleicht und die Bildwirkung mit sprachkünstlerischen Mitteln zu realisieren sucht. Da Gomringers poetischer Text damit „sprachlich [das] aufweist, was das Bild seinerseits zeigt“,49 kann er mit Gottfried Boehm als eine dem Werk Albers’ angemessene Form der Bildbeschreibung bezeichnet werden:
Jede gute Ekphrasis besitzt das Moment der Selbsttransparenz: Sie bläht sich in ihrer sprachlichen Pracht nicht auf, sondern macht sich durchsichtig im Hinblick auf das Bild. Sie hilft damit dem Blick auf die Sprünge, weist ihm die Wege, die nur er allein zu ende gehen kann. Die Beschreibung hilft dem Sehen auf […]. In diesem Sinne repräsentieren Bildbeschreibungen eine Instanz, die Erkenntnis meint. Sie sind dann optimiert, wenn sie mehr zu sehen geben. Sie sollen nicht nur das Wiedererkennbare schildern, solches, das wir schon gewusst haben. Was den Umkreis unserer Erfahrungen lediglich bestätigte, würden wir nicht Erkenntnis nennen. Denn erkennen heisst: mehr erkennen, anderes und anders erkennen.50
2.2.2. Eine Skizze und zwei Konstellationen zu Norbert Kricke
Auch im Fall des Bildhauers Norbert Kricke bildete die Faszination den Ausgangspunkt der intensiven Kunstrezeption Gomringers. Krickes ,Raumplastiken‘ aus Stäben, Drähten und Rohren scheinen – so der Konsens in der Kunstkritik – Raum ohne Volumen zu modellieren und die Unterscheidung von innen und aussen aufzuheben. Laut Kricke sind Raum und Zeit diejenigen Kategorien, die sein Werk bestimmen und auch am besten beschreiben:
Mein Problem ist nicht Masse, ist nicht Figur, sondern es ist der Raum und es ist die Bewegung – Raum und Zeit. Ich will keinen realen Raum und keine reale Bewegung (Mobile), ich will Bewegung darstellen. / Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.51
Den Texten zu Kricke ist, so berichtet Eugen Gomringer, ein längeres Ringen um Ausdruck vorausgegangen:
Das war von Anfang an eine schwierige Sache. Ich habe mich oft mit [dem Kunstwissenschaftler] Max Imdahl52 über diese Kricke-Plastiken unterhalten. Und wir haben uns gefragt: Wie kann man diese Linien in Worte fassen? Wir sind zum Schluss gekommen: Eigentlich sollte man es gar nicht versuchen.53
Ungeachtet dessen finden sich im 1975 erschienenen Katalog Norbert Kricke von Gomringer drei und von Imdahl zwei Versuche der sprachlichen Annäherung.54
wisst ihr’s noch: plötzlich war er da, norbert kricke,
ein kleinod in händen,
und dahinter war sein kopf,
bereit, euklid zu fällen
und wände zu durchstossen
für ein kleines unendliches ding,
das da ruhig etwas bildete.
es hatte zwei richtige enden,
wie es überhaupt durchaus von dieser welt war,
ein draht.
aber wie es vor augen war,
wusste keiner, wo es endete, wo es begann.
es war ein sichtbarer teil von etwas,
eine stelle vor augen,
um richtungen zu erproben –
die linie im raum.
und es war ein stück zeit,
ein kleines zeitliches geschehen,
ein unermessliches, unmessbares ding –
messt kricke nicht in metern und sekunden!
habt ihr’s erfasst? […]55
Während Imdahl in seinen klar analytischen Texten vor allem „verschiedene Modalitäten der Wahrnehmung“, insbesondere „des verstehenden Sehens“,56 von Krickes Plastiken untersucht, steht Gomringers längster Text (im Umfang von fünf Seiten) auf merkwürdige, unfertig anmutende Weise zwischen allen Gattungen. Was Gomringer bei Albers klar trennte, scheint hier in einem einzigen Text zusammenfinden zu wollen, nämlich kunstwissenschaftliche Analyse und synthetische Verdichtung der Analyse in einem dichterischen Text. Die Stillagen vermischen sich: Es finden sich Anklänge an eine Skizze, eine Glosse, einen Essay, eine analytische Deskription, eine lyrische Sentenz, eine biographische Notiz und einen philosophischen Kommentar.
Grundsätzlich folgt der Text in seinem Aufbau der künstlerischen Entwicklung Krickes, dabei steht die Beschreibung von Wahrnehmung und Wirkung der Werke im Vordergrund. Diese werden – wie schon bei Albers’ Quadratserie – als Kontrast erlebt zwischen eindeutigem Fakt („ein draht“) und irritierendem Effekt („aber wie es vor augen war, / wusste keiner, wo es endete, wo es begann“). Wie bei Albers sucht Gomringer auch hier, das Werk Krickes auf ein alles bestimmendes künstlerisches Prinzip zurückzuführen und in wenige Worte zu kondensieren: etwa „um richtungen zu erproben – / die linie im raum“.
der linie folgen
im raum bleiben
die linie verlassen
im raum bleiben
verlassen im raum
der linie folgen
den raum verlassen
der linie folgen
die linie verlassen
den punkt finden57
Diese Versuche der Erhellung und sprachlichen Verdichtung von Krickes Werk hat Gomringer in seinen anderen beiden, rein dichterischen Katalog-Beiträgen fortgeführt.58 Max Imdahl hatte in seinen Texten die Rezeption der Raumplastiken Krickes als „Erlebnis eines Verlaufs“59 beschrieben:
Der Beschauer erfährt den Raum, indem er den vom Gestänge vorschematisierten Verlauf vollzieht – ohne jedoch des Verlaufs als einer Figur, das heisst als eines selbst einheitlichen Wahrnehmungszusammenhanges inne zu werden.60
Ganz in diesem Sinn greift Gomringers Konstellation „der linie folgen“ die Schlüsselbegriffe Krickes Kunst „raum“ und „linie“ auf, um mit ihnen die sukzessive Blickbewegung des Rezipienten nachzuzeichnen: der linie der Raumplastiken im raum folgend bis hin zu einem punkt und dabei ein je verschiedenes Linien-Raum-Gefüge entdeckend.
Doch bleibt es nicht bei der Beschreibung des Rezeptionsvorgangs. Zugleich fordert die Konstellation – gewissermassen in ,Überbietung‘ der prägnanten kunstwissenschaftlichen Analyse Imdahls – den Leser heraus, die Blickbewegung des Kunstrezipienten aktiv und bewusst nachzuvollziehen und analog zu den Linien von Krickes Raumskulpturen dem Verlauf der Zeilen zu folgen. Ging es in der Konstellation „parafrase zu josef albers“ vor allem um die Transposition der Ambivalenz zwischen Sein und Schein des Bildes in die Struktur der Konstellation, so wird hier also die einem vorgegebenen Verlauf folgende Wahrnehmungsweise von der Kunst in die Sprache übertragen und dem lesenden Blick ein ähnliches ,Erlebnis des Verlaufs‘ ermöglicht wie dem betrachtenden Blick. Die dreiteilige Konstellation „kricke-konzept“ ist im Vergleich dazu eine komplexere und daher recht hermetische Konstruktion. In ihr suchte Gomringer nach eigener Aussage der zunehmenden Kompliziertheit der Linienführung in den Raumplastiken Krickes zu entsprechen. Alle drei Texte beruhen auf dem kombinierenden und permutierenden Spiel mit den schon bekannten Schlüsselbegriffen der Kunst Krickes: raum, zeit, linie, punkt, ende.
1
raumzeit
raumlinie
raumpunkt
raumend
zeitraum
linienraum
punktraum
endraum
punktzeit
punktlinie
punktend
zeitpunkt
linienpunkt
endpunkt
zeitlinie
zeitend
linienzeit
endzeit
endlinie
linienend
2
raumzeitlinie(n)punktend(e)!
raumlinie(n)punktend(e)zeit!
raumpunktend(e)zeitlinie(n)!
raumend(e)zeitlinie(n)punkt!
end(e)raumzeitlinie(n)punkt?
end(e)zeitlinie(n)punktraum?
end(e)linie(n)punktraumzeit?
end(e)punktraumzeitlinie(n)?
linie(n)raumzeitpunktend(e):
linie(n)zeitpunktend(e)raum:
linie(n)punktend(e)raumzeit:
linie(n)end(e)raumzeitpunkt:
zeitraumlinie(n)punktend(e).
zeitlinie(n)punktend(e)raum.
zeitpunktend(e)raumlinie(n).
zeitend(e)raumlinie(n)punkt.
3
raumzeitend – linienpunkt
raumzeitpunkt – linienend
raumzeitlinie – punktend
raumlinienpunkt – zeitend
raumlinienend – zeitpunkt
raumlinienzeit – endpunkt
raumpunktend – zeitlinie
raumpunktzeit – endlinie
raumpunktlinie – endzeit
raumendlinie – punktzeit
raumendpunkt – linienzeit
raumendzeit – punktlinie61
Die Konstruktion der ersten Konstellation erschliesst sich leicht: aus den fünf Schlüsselbegriffen werden zweigliedrige Komposita gebildet, die in acht ,Strophen‘ mit abnehmender Zeilenzahl permutiert werden. Immer zwei ,Strophen‘ gehören zusammen: die Permutationen gehen von einem Basiswort aus, das in der einen ,Strophe‘ Bestimmungs-, in der anderen ,Strophe‘ Grundwort der gebildeten Komposita ist.
Die Permutationen und die chiastische Verkehrung von Grund- und Bestimmungswort sind kein inhaltsleeres Sprachspiel. Bestimmt in den Komposita der ersten (Strophe) der raum als Bestimmungswort die Skulpturen in ihren Komponenten zeit, linie, punkt und end, so wird in der zweiten (Strophe) der Raum seinerseits durch diese Elemente näher bestimmt. Das eine geht aus dem anderen hervor und zugleich in dem anderen auf – ganz wie die Raumplastiken Krickes im Raum sind und diesen doch überhaupt erst als solchen hervorbringen. In diesem Sinn erscheint die sprachliche Verschmelzung der Komponenten der Raumplastiken Krickes „als geeignete sprachliche (Umschreibung) der bildnerischen Lösung.“62
Im weiteren Verlauf der Konstellation wird dieses sprachliche Ausgangsmaterial immer weiter reduziert: in den folgenden beiden dreizeiligen ,Strophen‘ entfallen die Komposita mit raum, und der punkt wird in den Mittelpunkt gestellt. Dem folgen unter Absehung vom punkt zwei zweizeilige ,Strophen‘ zur zeit. Die Konstellation endet mit zwei Einzeilern mit dem Grund- bzw. Bestimmungswort linie. So werden die komplexen Raumplastiken Krickes auf ihre elementaren Bestandteile und Zusammenhänge zurückgeführt: auf Liniengestänge im Raum, die an einem bestimmten Punkt anfangen und an einem bestimmten Punkt enden. Dazwischen – zwischen Anfang und Ende der Linie der Raumplastik und zwischen Anfang und Ende der Konstellation – entspannt sich die raumzeit.
In den anderen beiden Konstellationen des „kricke-konzepts“ führt das Spiel mit denselben fünf Schlüsselworten zu „komplizierten Gebilden“.63 Werden in der ersten Konstellation zweigliedrige Komposita gebildet, die Zeile für Zeile aneinandergereiht werden, so kommt es in der dritten Konstellation zu einer – jeweils durch einen Gedankenstrich markierten – Gegenüberstellung von zwei- und dreigliedrigen Komposita pro Zeile. In der mittleren Konstellation bestehen die Zeilen aus einem einzigen, fünfgliedrigen Kompositum. Dessen Komplexität wird noch gesteigert durch die in den Klammern versteckten Pluralformen. Die Satzzeichen am Ende der Zeilen bringen eine Verlaufsstruktur in die Konstellation ein: dem Ausrufezeichen wie zur Markierung einer These folgen das Fragezeichen als Zeichen der Infragestellung und der Doppelpunkt als Argumentation, die abgeschlossen wird vom Punkt als Fazit. Diese sprachliche Struktur könnte dem abwechslungsreichen und dialektischen Verlauf der Rezeption einer Krickeschen Raumplastik nachempfunden sein. Mit Oliver Herwig könnte man die zunehmende Kompliziertheit dieser „kricke-konzepte 1–3“ aber auch als Versuch werten, die künstlerische Entwicklung Krickes „von einfachen Lösungen im Raum hin zu komplexen, zunehmend auch Fragen aufwerfenden Skulpturen in Form einer strukturellen Analogie“64 sprachlich darzustellen.
Gomringer selbst hingegen erklärt aus heutiger Sicht seine Versuche einer adäquaten Versprachlichung von Norbert Krickes Raumplastiken für gescheitert.65 Letztlich – so zeigt sich Gomringer überzeugt – müssen alle seine dichterischen Texte zu Künstlern bzw. zu bestimmten Kunstwerken hinter den analytischen kunstkritischen und kunstessayistischen Arbeiten, allgemeiner: der ,Prosaform‘, zurückbleiben. Denn die ihnen zugrunde liegende poetische ,Verdichtung‘, also ihre ,hochsynthetische‘ sprachliche Verfasstheit erschwere häufig den Nachvollzug der Texte.66
Andererseits ist eben diese Form der sprachlichen ,Verdichtung‘ die unabdingbare Voraussetzung für das Surplus des dichterischen Beschreibungstextes gegenüber der analytischen Textsorte, denn:
Die dichterische Darstellung eines Bildes leistet, wie die kritische oder wissenschaftliche Prosa, Interpretation, darüber hinaus aber, in je verschiedenem Mischungsverhältnis, auch Transposition, Suppletion, Assoziation, Provokation und Spiel. Darin vor allem liegt das Plus, das die dichterische Konkretisation der kritischen und wissenschaftlichen voraus hat.67
Man muss nicht so weit gehen wie Gisbert Kranz, der die These vertritt, dass der Dichter der bessere „Rezipient und Interpret eines Kunstwerks“ sei. Doch unbenommen zeichnet den Dichter aus, dass er „dem Bilde gegenüber nicht nur reproduktiv, sondern im höchsten Sinne produktiv“68 ist. Der aus der Bildrezeption eines Dichters entstehende Text ist also nicht nur ein Zeugnis der Rezeption, welches das Kunstwerk auf den Punkt bringen und so – im Sinne Gottfried Boehms – Erkenntnisgewinn liefern soll, sondern zugleich ein neues, eigenständiges und selbstwertiges Produkt mit künstlerischem Mehrwert, das prinzipiell auch unabhängig von dem es hervorbringenden Kunstwerk rezipiert werden kann und soll.
3. Von der Rezeption zur Produktion
3.1. ,Anonymisierung‘ und Emanzipation der auf Kunstwerke bezogenen KONSTELLATIONEN
Dass es sich bei den Konstellationen zu konkreten Kunstwerken um „eine neue künstlerische Ganzheit“69 handelt, ist auch Gomringers implizite Überzeugung. Schliesslich hat er bei späteren Veröffentlichungen seiner ,Bildgedichte‘ häufig bewusst nicht vermerkt, dass diese aus der Anschauung konkreter Kunstwerke heraus entstanden sind. So ist beispielsweise in der Reclam-Ausgabe die dreiteilige Konstellation „kricke-konzept“ ohne ihren ursprünglichen Titel abgedruckt. Dies rechtfertigt Gomringer damit, dass die von den konkreten Kunstwerken angestossenen Erfahrungen und Überlegungen allgemeingültigen Charakter hätten: Das Kunstwerk sei ein Spezialfall für die in der Konstellation formulierten Erfahrungen und Erkenntnisse, zum Nachvollzug der Konstellation sei die Bekanntschaft mit diesem Spezialfall der Konkreten Kunst aber nicht zwingend erforderlich. Die ,Anonymisierung‘ der „Kricke-Konstellationen“ ist daher kein Einzelfall:
das habe ich öfter gemacht: dass ich von einem Spezialfall, der sich benennen lässt, plötzlich zu einer anonymen Gestalt gekommen bin.70
Dies ist ein deutlicher Hinweis auf den eigentlichen Zweck und das eigentliche Ziel der dichterischen Auseinandersetzung mit Kunst bei Gomringer: Nur in einem ersten Schritt soll der dichterische Text die Kunst und ihre jeweiligen ,Strukturereignisse‘ erfassen und versprachlichen.71 In einem zweiten Schritt soll dann der aus der Kunstrezeption heraus entstandene Text zu einem eigenständigen Sprachkunstwerk werden, das unabhängig von dem Kunstwerk existieren kann.72
Dies entspricht im Übrigen ganz der Theorie der Konkreten Poesie, wie sie Gomringer bereits in seinen frühen Manifesten entwickelt hat. Dort formulierte er:
mit der konstellation wird etwas in die welt gesetzt. sie ist eine realität an sich und kein gedicht über…73
An anderer Stelle heisst es diesen Gedanken fortführend, „dass wir es nicht als moderne künstlerische aufgabe betrachten, in der welt und ihren erscheinungen uns gegenüberstehende objekte zu sehen und diese zu beschreiben, zu besingen oder zu beschimpfen, nein, wir ahnen, spüren und glauben zu wissen, dass wir uns mit der realität nur unterhalten können, indem wir selber realität herstellen, eine eigene künstlerische realität.“74
Die Konstellationen Gomringers antworten also auf die Werke der Konkreten Kunst, indem sie auf ähnlich konkrete Art und Weise wie die sie auslösenden Bildwerke bestimmte Strukturen, Materialien und Grundelemente präsentieren: wir „zeigen strukturen, wir stellen strukturen her“.75 Strukturäquivalenzen sind demnach die Grundlage des „produktiven Dialogs“76 zwischen den Künsten, und Gomringer beweist immer wieder besonderes Talent, bildkünstlerische ,Strukturereignisse‘ in Sprache umzusetzen, das heisst „bestimmte charakteristische Eigenschaften – Strukturen und konzeptionelle Prämissen – der bildnerischen Seite in die eigene Arbeit zu integrieren und in ihr aufscheinen zu lassen.“77
frühling sommer winter frühling
frühling sommer winter winter frühling
aaaaaasommer herbst winter herbst winter
aaaaaasommer herbst winter sommer herbst winter
aaaaaaaaaaa aherbst winter sommer herbst winter
aaaaaaaaaaa aaaaaawinter frühling sommer winter
aaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaafrühling sommer winter78
So lässt sich beispielsweise ein derartiger struktureller Dialog zwischen den Glasbildern von Josef Albers und den zwei ,Jahreszeitgedichten‘ „frühling sommer“ und „flow grow show blow“ erkennen, denen an keinem ihrer verschiedenen Publikationsorte jemals ein dementsprechender Hinweis beigesellt war. Die Struktur der Glasbilder könne man sowohl „senkrecht als auch waagerecht lesen. Immer wieder wird man gestört. Wenn man sie senkrecht liest, kommen waagerechte Schübe hinein, denen man verpflichtet ist nachzugehen. Es ist also ein enges, dichtes, strukturales Gefüge entstanden. Und auch hier fragt man sich: kann der konkrete Poet darauf antworten?“79
Ja, er kann: Die genannten beiden Konstellationen suchen das Ineinander von waagerechten und senkrechten Strukturen von Albers’ nachzubilden. Dabei entstand jeweils ein ,Flächentext‘, „in den man überall eintreten kann, den man überall beginnen kann. Das muss nicht unbedingt links oben sein.“81 Da damit auch die Konstellationen waagerechte und senkrechte Strukturen enthalten und somit Brüche in der Lesebewegung erzwingen, „sind also schon Übereinstimmungen zwischen konkreter Kunst und konkreter Poesie zu erkennen. Nicht direkte, es sind keine Abbildungen. Konkrete Poesie ist unfähig, Abbildungen zu machen. Aber man lässt sich beeindrucken von solchen Strukturereignissen.“82
Diese Konzentration auf Strukturäquivalenzen impliziert eine deutliche Absage: sowohl an die mimetische sprachliche Reproduktion von Kunst als auch an das Wunschdenken, die mediale Differenz zwischen Text und Bild überwinden zu können. Oliver Herwig konkretisiert daher den Begriff des ,produktiven Dialogs‘ zwischen den Künsten folgendermassen:
Vielmehr nahmen Wort und Bild das ,Gespräch‘ auf im Bewusstsein, Gemeinsamkeiten immer dort zu ergründen, wo sie zugleich das ihnen eigene Darstellungsvermögen verwirklichen konnten. […] Gelingen konnten diese Analogien allerdings nur über die kalkulierte Differenz der Medien, ihre Unähnlichkeit, die sich in jede ,Übersetzung‘ einschrieb.83
Gomringer behielt diese ,kalkulierte Differenz‘ stets im Blick: Entscheidende Voraussetzung dafür war nicht zuletzt auch, dass er sich nie „vom sprachimmanenten denken der konkreten poesie entfernen“84 wollte. Statt dessen plädierte er immer für die ,Reinheit‘ der Künste – eine Überzeugung, die nicht nur für seine künstlerische Arbeit, sondern auch für seine Sammlertätigkeit ausschlaggebend war:
Sammeln bedeutet für mich, eigene Grenzen zu überschreiten und bei einem Gestalter mit anderen Mitteln Lösungen zu erkennen, die ich selbst nicht erreichen kann. Ich strebe nicht danach, solche Lösungen selbst herzustellen. Das würde etwas in mir verwischen. Ich liebe den reinen Fall in der Poesie wie im Bild.85
3.2. Aufkündigung des Primats des Bildes
Wenn die ,anonymisierten‘ und selbstwertigen Konstellationen demnach völlig losgelöst von ihrem Entstehungskontext abgedruckt werden können, bedeutet das allerdings mithin, dass sie prinzipiell auch in Kombination mit unterschiedlichen Kunstwerken veröffentlicht werden können, ohne dass dies eine böswillige Täuschung des Lesers implizieren würde. Dies lässt sich beispielsweise an der Konstellation „sehen trennen verbinden“ beobachten, die in Worte sind Schatten allein für sich steht, im Katalog zur Sammlung konkreter Kunst Gomringers allerdings im Anschluss an das Werk von Marcel Wyss „Progression 4 x 2“ von 1964 abgedruckt ist, was einen Zusammenhang zwischen beiden Werken suggeriert.86 Ursprünglich sei die Konstellation aber in Auseinandersetzung mit dem – im Sammlungskatalog ebenfalls abgebildeten – Werk von Friedrich Vordemberge-Gildewart „Komposition Nr. 86/1934“ entstanden.87 Gleiches gilt für alle in der Künstlerzeitschrift spirale abgedruckten Konstellationen Gomringers – keine von ihnen ist in direkter Auseinandersetzung mit den nebenstehend abgebildeten Kunstwerken entstanden, alle wurden vorher schon einmal in anderen Kontexten veröffentlicht. Bestes Beispiel ist die o.g. Konstellation „flow grow show blow“, die in spirale 4/1954 neben László Moholy-Nagys raummodulator steht.88
Es ist die oben bereits genannte Allgemeingültigkeit der in der Konstellation beschriebenen Vorgänge und ,Strukturereignisse‘, die es erlaubt, sie – völlig unabhängig vom tatsächlichen Entstehungskontext – neben ähnlich strukturierte Werke der bildenden Kunst zu stellen und dabei ein wohl durchdachtes Arrangement von Bild- und Textstruktur zu erzeugen, das zu neuen Einsichten führen kann, und zwar sowohl in die Konstellation als auch in das nebenstehende Kunstwerk.
Zugleich aber unterläuft diese wechselnde Inbezugsetzung der Konstellationen auf unorthodoxe Weise die „uralt[e] Ekphrasis-Tradition, die vom Primat des Bildes ausgeht“.89 Im Fall einer Veröffentlichung der Konstellationen Gomringers in Verbindung mit einer Abbildung eines Kunstwerks ist daher eine Relativierung der etablierten Blickrichtung angesagt: Es heisst, nicht mehr nur zu fragen, welche Konstellationen welche Abbildungen begleiten, sondern immer auch, welche Abbildung auf eine Konstellation Bezug nimmt.
4. Literatur wird Kunst
4.1. ,Seh-Texte‘: Vom Lesen und Sehen
Unabhängig von der Entstehung etlicher Texte aus der Anschauung Konkreter Kunst gibt es in der Poesie Eugen Gomringers starke Tendenzen der Annäherung seiner Dichtkunst an die Bildkunst, insbesondere was die Visualisierungsstrategien seiner Texte und die Thematisierung des Sehens – sowohl in den theoretischen Essays als auch in den dichterischen Texten selbst – betrifft. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Konzeption der Konstellation als ,sehgegenstand‘,90 der sowohl einen aktiven Leser als auch einen aktiven Betrachter voraussetzt.
Bis heute zeigt sich Gomringer zutiefst überzeugt von der im Vergleich zur traditionellen Literatur ungewöhnlich hohen Dialogizität der Konkreten Poesie.91 Schon im ersten Manifest hiess es: „die konstellation ist eine aufforderung“,92 und zwar nicht nur zum Nachvollzug, sondern auch zur Weiterentwicklung des dargebotenen Sprachmaterials nach den der Konstellation zugrunde liegenden Prinzipien:
die konstellation existiert durch den nachvollzug des lesers. sie setzt bei ihm assoziationsvermögen voraus, die assoziativen fähigkeiten erlauben dem leser, die konstellation (in analogie zum eigenen erlebnisbereich) aufzunehmen und sie weiterzuentwickeln.93
In seinem Essay zur prinzipiellen Dialogizität der Konkreten Poesie beschliesst Gomringer die Beschreibung dieser Aktivierung des Rezipienten durch die Konkrete Poesie mit dem Satz:
Der Betrachter wird also gleich in Aktion treten.94
Nicht zufällig wechselt Gomringer hier terminologisch vom Leser zum Betrachter – denn Konstellationen sind nie ausschliesslich als Sprachtexte angelegt, sondern als Flächentexte immer auch plurimediale „Seh-Texte“:95
die Wirkung des gedichts soll im augenblick liegen – im augenblick der zeit, im augenblick des schauens, es ist deshalb ein besonderer reiz – und vor allem ein reiz unserer zeit dichtung zu schaffen, deren zeitlicher ablauf reduziert, in den augenblick gebannt wird, die konstellation versucht, solche dichtung zu sein.96
Beispielhaft vorgeführt wird die Verschränkung von ,augenblickhaftem schauen‘, das die Konstellation als Ganzes in den Blick nimmt, und sukzessiver Lesebewegung, die den Text allmählich erschliesst, in dem Ideogramm „simultan sukzessiv“.97 In ihm werden die beiden Worte des Titels jeweils achtmal wiederholt. Schon dies ist Gewähr für „eine gewisse elimination des zeitablaufs“98 und fördert im Zusammenspiel mit der ineinander verschachtelten bildhaften Anordnung der 16 Worte das simultane Erfassen der Gesamtkonstellation als regelmässiges Raster mit quadratischer Kontur. Die acht Worte simultan sind genau an denjenigen Stellen angeordnet, die ,augenblicklich‘ als vier Seiten eines Quadrats erkannt werden, und zwar viermal an den Rändern der Konstellation (gewissermassen den Rahmen andeutend) und viermal in der Mitte der Konstellation (ein inneres Quadrat bildend). Die acht Worte sukzessiv hingegen ergeben keine erkennbare geometrische Figur, sondern befinden sich auf den inneren Linien hintereinander angeordnet, was der sukzessiven Lesebewegung entlang der Zeilen entspricht.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass Konstellationen einerseits der einseitigen Rezeption als Nur-Lesetext vorbeugen und diese durch ein ,sehendes Sehen‘ der Konstellation als solche ergänzen sollen. Dass sie andererseits aber auch den „Blick, der gewohnt war, sich schnell ins Bild zu setzen“, ausser Kraft setzen sollen, indem sie diesen zwingen, „am dichterischen Text, d.h. an ungewohnten Zusammenhängen, stehen [zu] bleiben“99 und in eine sukzessive Lesebewegung umzuschlagen.100 Lesen und Sehen sollen sich in dieser Kombination „zu einer neuartigen Rezeptionserfahrung entfalten“,101 weshalb die Konkrete Poesie ähnlich wie die Konkrete Kunst „als Schule des Sehens und Appell zu bewusster visueller Erfahrung“102 verstanden werden kann.
Und selbst in Konstellationen, die nicht wie simultan sukzessiv auf den ersten Blick einfache Grundformen erkennen lassen, sind der ,simultane‘ Blick und das ,augenblickliche schauen‘ gefragt. Denn die Konstellation ist ein strukturelles Beziehungsgebilde,103 dessen Syntax aus der Verteilung und Anordnung des Textmaterials auf der Seite erschlossen werden muss. Diese spatiale Syntax kompensiert den Verzicht auf konventionelle, grammatisch und syntaktisch eindeutige Beziehungen, indem sie eigene Bezüge zwischen den isolierten Lexemen aufbaut, die der Rezipient allerdings erst noch eigenständig rekonstruieren muss. Um nun nicht nur das Sprachmaterial, sondern auch diese Strukturen und Beziehungsgeflechte erfassen zu können, muss also jede sukzessive Lesebewegung notwendig von der simultanen Erfassung der Konstellation als ,Flächentext‘ begleitet werden, denn:
der ganze text zeigt auf einen blick seine struktur, gliedert sichtbar seine beziehungen aus […], tritt unmittelbar ins bild, statt sich erst in der vorstellung des lesers allmählich aus dem gelesenen erinnerten aufzubauen.104
vom rand
nach innen
im innern
zur mitte
durchs zentrum
der mitte
nach aussen
zum rand105
Dies soll abschliessend am Beispiel der Konstellation „vom rand nach innen“ ausgeführt werden. Sie ist von besonderer Bedeutung für Gomringer, bildet sie doch den Titel des Bandes mit allen Konstellationen innerhalb der Gesamtausgabe. Laut Gomringer spricht diese Konstellation „das problem der mitte“ an.106 Er führt aus:
in allgemeiner empirischer frage beschäftigt sie sich mit fragen wie: wie entsteht mitte, wozu ist mitte da, wie verhalten sich mitte und rand, was geschieht mit der mitte?107
Die Konstellation besteht aus einer Abfolge von Richtungsbestimmungen. Zugleich bezeichnen diese deiktischen Formulierungen immer auch diejenige Stelle auf dem Blatt, an der sich der Leser während der Lektüre gerade befindet. Es wird also immer auch selbstbezüglich die Lese- und Augenbewegung des Rezipienten während der Lektüre der Konstellation von oben nach unten, also von ,Rand‘ zu ,Rand‘ der Konstellation, thematisiert und dergestalt das sukzessive Lesen als Bewegung des Blicks über ein Blatt Papier bewusst gemacht:
Als Prozess soll der Leser den Text erleben, sein Entstehen und Zu-Ende-Gehen gewinnt Gestalt.108
Auffällig dabei ist, dass die eigentliche Mitte, das heisst das Zentrum dieser Konstellation, ,ausgelassen‘ wird. Die Zeile „zur mitte“ ist die Richtungsweisung hin zur noch kommenden Mitte, aber nicht die Mitte selbst. Die folgenden Zeilen „durchs zentrum / der mitte“ hingegen konstatieren den bereits erfolgten Durchgang durch die Mitte. Zwischen diesen Zeilen also liegt die eigentliche Mitte – doch bleibt sie eine Leerstelle. Die Anordnung des Sprachmaterials auf dem Blatt, der unsichtbare Intext und die weisse Fläche zwischen den Zeilen sind demnach wesentlicher Bestandteil der Gesamtkonstellation, erst mit ihrer Hilfe lassen sich die in der Konstellation thematisierten Kategorien Mitte und Rand ,aufzeigen‘.109 Doch zu dieser Erkenntnis ist nur ein Rezipient fähig, der nicht nur liest, sondern auch schaut. Beide Rezeptionsmodi also sind in den Konstellation Gomringers angelegt und werden von ihm eingefordert. Damit implizieren die Sprachkunstwerke Gomringers nicht nur einen Leser, sondern genauso einen Betrachter.
4.2. Zu lesen und zu sehen geben
Angesichts dieser Neukonzeption der dichterischen Texte als intermediale ,Seh-Texte‘ und des Rezipienten als Leser-Betrachter verwundert es nicht, dass die konventionelle Art der Gedichtpublikation in Büchern und Zeitschriften Gomringer nicht zufrieden stellen konnte. Bei all seinen Publikationen hat Gomringer, soweit es die Verleger zuliessen, die visuelle Dimension seiner Arbeiten unterstrichen, zum Beispiel durch die konsequente Nutzung der Kleinschreibung110 und durch den Verzicht auf Paginierung. Mit letzterem „soll der Unterschied zum diskursiven Lesen eines Druckwerkes, in dem jede Seite an die vorige anschliesst, sinnfällig werden; die einzelnen Blätter unterstreichen wie Drucke oder Gemäldereproduktionen ihre Autonomie.“111 Das wird unterstützt durch die wohlüberlegte Positionierung der Konstellationen auf dem Blatt112 und durch die Entscheidung zum Abdruck von jeweils nur einer Konstellation pro Seite. Dadurch sollten die Konstellationen „memorierbar und als bild einprägsam“113 sein. Zu Beginn von Gomringers literarische Tätigkeit in den 1950er Jahren stellte diese Praxis aber eine grosse Provokation dar.114 So erschien etwa die berühmte erste Konstellation „avenidas“ 1953 in der ersten Nummer der „im inhalt wie in der erscheinung aussergewöhnlichen kunstzeitschrift“115 spirale völlig „allein auf grosser Fläche“116 (35 x 50 cm). Auf die Vorwürfe antwortet Gomringer selbstbewusst unter Verweis eben auf die Konzeption seiner Konstellation als ,sehgegenstand‘:
Das für die damaligen Verhältnisse wirklich grosse Format hatte u.a. jedoch den Grund, mein erstes konkretes Gedicht, die Konstellation „avenidas“, seine wenigen Wörter so gross, so im Blick lastend wie möglich zu drucken.117
Später, ab Nummer 5/1955, gingen die Herausgeber der Künstlerzeitschrift übrigens zu einem quadratischen Format (35 x 35 cm) über. Sie wählten damit ein Format, auf das Gomringer bereits in seinen frühesten eigenständigen Publikationen, etwa konstellationen – constellations – constelaciones von 1953, zurückgegriffen hatte – für ein Textbuch ein absolut ungewöhnliches Format, weshalb diese Publikation nach Meinung Gomringers „vom inhalt wie von der erscheinung her wohl als erstes buch der konkreten poesie gelten darf.“118 Reinhard Krüger stellt anlässlich des Neudrucks der Erstausgabe von 1953 fest:
Mit der Wahl der quadratischen Form wendet sich sein Produzent in jedem Fall gegen die ,Naturformen des Buches‘, die sich aus der Grösse des aus Tierhäuten hergestellten Pergaments – und des davon hergeleiteten römischen Folioformats – sowie der Möglichkeiten seiner Faltung ergeben. Nicht mehr das naturgegebene Folioformat oder Fraktionen davon sind gültig, nachdem das Quadrat einmal als Paradigma der Produktionsregeln gewählt war, sondern die Konstruktion nach einem geistigen Modell, welches jenseits der Naturformen angesiedelt ist. Mit dem Quadrat als Konstruktionsprinzip des Buches wird auf der Ebene der Gestaltung des Mediums Buch die Preisgabe des alten Verfahrens nicht geistig vorbedachter Prinzipien der Gestaltung realisiert, die Theo van Doesburg schon für die konkrete Malerei gefordert hatte.119
Noch in anderer Hinsicht sagt sich Gomringer vom alten Medium Buch los:
echte moderne dichter-individuen werden sich nicht abhalten lassen, an modernen bücher-individuen zu arbeiten.120
Was besagt, dass das Buch auch in seiner objekthaften form121 konsequent seinen Inhalten anzupassen sei. Ein Schritt in diese Richtung war das von Gomringer erst theoretisch entwickelte, dann aber auch realiter verwirklichte „gedicht in buchform, das in seiner gesamtheit die reale erscheinung eines einzigen gedichtes ist“.122 Im Gegensatz zu traditionellen Gedichten auf einer Seite kann hier das Gedicht so ,konstruiert‘ werden, „dass das buchblatt und entsprechend die bewegung des umblätterns, als zäsur, als blickwechsel, eine ganz bestimmte, kalkulierbare rolle spielt, ein gedicht kann aufgefächert dargestellt werden, inhaltlichen Zäsuren entsprechen reale, objekthafte – der inneren zeit eines gedichtes entspricht ein gewisser zeitablauf körperlicher bewegung.“123 Diese Beschreibung der zusätzlichen Wirkpotentiale eines ,gedichts in buchform‘ zeigt erneut, dass Gomringer auch hier auf einen Rezipienten abzielt, der sowohl liest als auch sieht als auch aktiv handelt, auf einen Rezeptionsvorgang also, der bewusst gleichermassen Lesebewegung, Blickwechsel und körperliche Handlung des Umblätterns beinhaltet.
Letztlich aber stellen auch diese Publikationen in den Augen Gomringers immer nur einen Kompromiss dar. „Das Gedichtbuch ist nicht unser Medium“, konstatiert er heute für die Konkrete Poesie allgemein.124 Immer mehr hat er daher im Laufe der Zeit von „Papier und Buch weggedacht“.125 In den letzten Jahren ist Gomringer dazu übergegangen, seine Konstellationen im Grossformat (meist 120 x 90 cm) auf unkonventionelle Materialien wie Leinen und Kunstleder zu drucken und als ,Bild‘ an der Wand eines Ausstellungsraumes zu präsentieren, was ihre Rezeption als ,Seh-Text‘ geradezu erzwingt. Die damit gefundene neue Präsentationsform manifestiert ein weiteres Mal die Nähe Konkreter Poesie zur bildenden Kunst.
Konkrete Poesie verstand sich von Anfang an als aus dem Rahmen fallend.126
Nun findet sie also in den Rahmen zurück, jedoch nicht in den Rahmen der Literatur, sondern in den Rahmen der Kunst, in deren System sie bestens bestehen kann. In diesem Sinn versteht Gomringer nur seine kunstkritischen, essayistischen und prosaischen Texte als Schriftstellerei, seine Dichtung, seine Konstellationen hingegen als Kunst:
Ich nenne auch mich Schriftsteller, verstehe darunter aber mehr meine Kunstschriftstellerei. Die Konkrete Poesie ist vielmehr eine Kunst als eine Literatur, und zwar im wesentlichen eine visuelle Kunst.127
Annette Gilbert, in Sylwia Werner (Hrsg.): Der Betrachter ist im Text. Bildrezeption in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, trafo Wissenschaftsverlag, Berlin 2012
Nora Gomringer: Gedichtanalyse 2.0
Nora Gomringer: Ich werde etwas mit der Sprache machen, Verlag Voland & Quist, 2011
Katharina Kohm: „mein thema sei im wandel das was bleibt“
signaturen-magazin.de
Dirk Kruse: Eugen Gomringer wird 90
br.de, 20.1.2015
Rehau: Eugen Gomringer feiert 90. Geburtstag
tvo.de, 21.1.2015
Thomas Morawitzky: „Ich könnte jeden Tag ein Sonett schreiben“
Stuttgarter Nachrichten, 9.2.2015
Lisa Berins: Vom Vers zur Konstellation – und zurück
Thüringische Landeszeitung, 26.9.2015
Ingrid Isermann: „Eugen Gomringer: Der Wortzauberer“
Literatur & Kunst, Heft 76, 03/2015
Michael Lentz: Die Rede ist vom Schweigen
Neue Rundschau, Heft 2 / 2015
Klaus Peter Dencker: Laudatio für Eugen Gomringer zum 90. Geburtstag
manuskripte, Heft 208, Juni 2015
Ralf Sziegoleit: Lebende Legende
Kurier, 20.1.2020
Katrin Fehr, Suzanne Schattenhofer: Ein Leben voller Kunst und Kultur
Donaukurier, 19.1.2020
Eugen Gomringer feiert 95. Geburtstag
Stadt Rehau
Eugen Gomringer: kein fehler im system.
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