der fehler im system
das system im fehler
die beiden hier präsentierten sprachspiele stellen methoden dar, wie aussagen bzw. denkkombinationen visualisiert werden können. wie der titel sagt, sind sie grundsätzlich konträren charakters.
als visuelle sinnfigur steht vor dem ersten spiel das chinesische t’ai-chi: die geschlossene kreisfigur bestehend aus der vereinigung zweier kontrapunktischer figuren in fischblasenform. das zweite spiel hat als sinnfigur ein auf der spitze stehendes quadrat, dessen eine seite offe
n bzw. unbesetzt bleibt. die besetzten drei seiten werden aus einem oder zwei wörtern gebildet.
auf die form der gegenläufigen aussagen kam ich anläßlich der aufgabe, welche das buch identitäten, das ich mit dem bildhauer günter prager 1981 herausgab, mir stellte. als vorgabe gestaltete prager eine reihe von 81 vierecken, die sich im gleichen quadratischen rahmen durch veränderung der eckpunkte auf den quadratseiten ergaben. dem gegebenen quadratrahmen entsprach meinerseits der immer gleiche zweisatz. der veränderung entsprach die veränderte inhaltliche aussage.
dem t’ai-chi als inversionsfigur folgen eine reihe von sprachlichen beispielen ähnlicher bauart, das heißt formen gekreuzter sätze. ihre gleiche form läßt auf die gleichgewichtige aussage schließen. es mag indessen semantisch immer wieder ungewöhnlich erscheinen, das eine im anderen und umgekehrt das andere im einen zu finden. andererseits wird damit versucht, grenzen aufzuheben, welche unser kausales denken aufbaut. in einer vorform dieser beispiele setzte ich die bei den gegenläufigen sätze jeweils noch durch das wort „ist“ gleich, was mir aber nicht mehr notwendig scheint. obwohl die inversion in der bildung meiner konstellationen schon seit beginn eine rolle spielte – damals mit der begründung der in-frage-stellung einer aussage überhaupt –, wird sie jetzt durch das beziehungswort „im“ unausweichlich auf den punkt gebracht. die umkehrformen sollen heute weniger der analytischen prüfung einer aussage dienen, sondern im gegenteil der komplettierung und der herstellung eines ganzen, das sich aus zwei gegensätzen aufbaut.
im moment der niederschrift dieser zeilen geht der blick oft von den begrenzten und, wie mir scheint, inversiven formen des mondänen santa monica heraus in die für meinen blick und meine empfindung offenen und unbegrenzten weiten des pazifik. „begrenzt-unbegrenzt“ erscheint mir als weitere gegensätzliche formulierung des problems der darstellung ordnender formen, die erst in der zusammenschau ergeben, was sich dialektisch weiter entwickelt.
das jüngere sprachspiel entwickelte sich nicht aus der nachfolge der konstellationen, sondern aus der nachfolge des ideogramms, das im gegensatz zur ersteren form der visuellen konkretion bedarf. es ist leicht, zwischen den bekannten ideogrammen wie „schweigen“ oder „du blau“ (das eine zwischenform zwischen konstellation und ideogramm ist) eine beziehung zu sehen. die aus dem schweigen geborene provokative „leere“ stelle erforderte eine besondere typografische darstellung: die „leere“ mußte sichtbar sein. dies war z.b. im ideogramm „schweigen“ möglich durch die rahmenfigur, in deren innerem genau der platz des wortes „schweigen“ einmal ausgespart blieb.
als sich 1983 die aufgabe stellte, zum jubiläum der 1953 in bern gegründeten zeitschrift spirale, dem ersten organ der konkreten poesie, einen erinnernden beitrag zu leisten, stellte sich bei mir – ähnlich wie bei der ersten konstellation der neuen konkreten poesie, der konstellation „avenidas“ in spanischer sprache – das wort „memorias“ ein. um der übernationalen bedeutung der spirale-zeitschrift und der konkreten poesie adäquat zu antworten, bot sich die dreiergruppe „memorias, memoires, memories“ an. da jedoch die erinnerung ein offenes feld ist und beliebig zu schweifen beginnt, sobald das stichwort fällt, wollte ich wieder eine freie, unbesetzte stelle schaffen, die nun jedoch, im gegensatz zur eingeschlossenen leeren stelle des ideogramms „schweigen“, eine in gedanken beliebig zu besetzende offene stelle aufweisen sollte. es bot sich die quadratfigur an. vielleicht ist diese auch ein fernes nachbild der wortfolge und des wortsinnes, die mallarmé mit „un coup dé de jamais n’abolira le hasard“ in die welt gesetzt hat, also selbst eine erinnerung. es besteht die möglichkeit, die öffnung des quadrats beliebig anzusetzen, als hätte ein würfelwurf dazu geführt. als sinn-figur steht deshalb das offene quadrat „memorias“ am anfang des zweiten sprachspiels.
Eugen Gomringer, Vorwort, Herbst 1987
Die Gedichte von Eugen-Gomringer in den fünfziger und sechziger Jahren, 1953 die Konstellationen constellations constelaciones, 1960 die 33 Konstellationen und 5 mal 1 Konstellation, veränderten subtil und zugleich schockierend Voraussetzungen und Situation der Lyrik. Der Einfluß seines Werkes beschränkte sich nicht auf die deutschsprachige Literatur, sondern erfaßte die gesamte europäische experimentelle Dichtung. Seine Texte stellten die konventionellen literarischen Formen in Frage. Schon von Beginn an zeichnete sich in Gomringers Gedichten Interdisziplinäres, die Literatur Überschreitendes ab. Es wäre verfehlt, Beziehungen zwischen seinem Werk und dem Dadaismus oder Lettrismus herstellen zu wollen. Durch Unterscheidung, nicht durch Vergleiche wird das epochale innovative Konzept seiner Texte sichtbar.
Gomringers Begriff des Konkreten kommt aus der bildenden Kunst. Konkret ist bei De Stijl und den Zürcher Konkreten die Intransitivität des Wahrnehmbaren. Die Bilder verweisen nicht auf etwas außerhalb ihrer selbst, sondern präsentieren sich als das, was sie sind. Übertragen auf die konkrete Dichtung bedeutet dies eine Reduktion der Sprache auf ihre eigene Realität. Die Sprache ist im alltäglichen Gebrauch ein Mittel der Kommunikation. Auch in der Dichtung besteht eine Abhängigkeit zwischen dem Text und einer oft fiktiven Gegenständlichkeit. Die Relativierung dieser selbstverständlichen Orientierung der Sprache an etwas, von dem sie sich absetzt, ist konstitutiv und signifikant für Gomringers Gedichte. Impliziert ist dabei eine weitgehende Aufhebung der tradierten literarischen Inhalte und eine Thematisierung des Begrifflichen. Schon frühe Texte wie „fliege strömt entgegen…“ aus den 1953 in der Spiral Press, Bern, erschienenen Konstellationen sind ohne Subjekt.
Es bleibt offen, auf welchen Gegenstand sich dieses Gedicht bezieht. Hervortritt die Eigenständigkeit der Begriffe. Deutlicher noch wird die Konkretheit des Gedachten in dem Gedicht „gleichmäßig gleich…“ aus den 33 Konstellationen von 1960. Gleichheit ist ein Kategoriebegriff, der alle Wahrnehmungsobjekte und Vorstellungen umfaßt. Auch dieser Text zielt nicht auf einen bestimmten einzelnen Gegenstand. Die Abstraktheit der Sprache ist das Konkrete. Das gilt für alle Gedichte von Gomringer, auch dort, wo er naturlyrische Begriffe verwendet. Der Insistenz auf die Selbständigkeit der Sprache entspricht die grammatikalische Struktur der Texte. Statt Subjekt-Prädikat-Sätze bevorzugt Gomringer die Vereinzelung der Wörter. Diese korrespondiert mit der komprimierten Information in der Werbung, ein für Gomringer inspiratives Phänomen.
Der Raum als semantisches Element spielt bei seinen Ideogrammen eine entscheidende Rolle. Das Gedicht „wind“ ist Modell einer Flächensyntax, die auch die Struktur der 13 variationen eines themas aus dem Jahre 1963 bestimmt. Nicht nur die Position der Zeichen, sondern ebenso die durch die Leserichtung wechselnde Verbindung der einzelnen Buchstaben sind Aspekte einer Geometrie, die als Parallele zur Konkreten Kunst betrachtet werden kann. Dazu gehört die permutative Reihung der Wörter in den Gedichten Gomringers. Die Permutation der Texte bildet Strukturen, die das Selbständige der Begriffe betonen Modifikationen dieses Prinzips sind die inversionen. Im Austausch der Substantive erscheint ein oft überraschender, aber schlüssiger und konziser Sinngehalt, der sich nicht kontinuierlich von den vorgegebenen Formen ableitet, sondern etwas völlig Neues ist. Daß mehrere Gedichte Gomringers einer Realisierung in größeren räumlichen Dimens ionen entgegenkommen, wird besonders deutlich bei Texten wie „schweigen“, „grow flow blow show frühling sommer…“ oder bei dem im Band inversion und öffnung zusammengefaßten Ideogrammen „memorias…“, „ekstase“, „askese“, „chaos“.
Der interdisziplinäre Ansatz im Werk Eugen Gomringers nahm die Entwicklung einer gegenseitigen Durchdringung von Sprache und bildender Kunst vorweg, die auch in Zukunft aktuell bleiben wird.
Heinz Gappmayr, aus Eugen Gomringer: konkrete poesie, Galerie im Stadttheater Ingolstadt, 5. Juni – 5. Juli 1992
Nora Gomringer: Gedichtanalyse 2.0
Nora Gomringer: Ich werde etwas mit der Sprache machen, Verlag Voland & Quist, 2011
Katharina Kohm: „mein thema sei im wandel das was bleibt“
signaturen-magazin.de
Dirk Kruse: Eugen Gomringer wird 90
br.de, 20.1.2015
Rehau: Eugen Gomringer feiert 90. Geburtstag
tvo.de, 21.1.2015
Thomas Morawitzky: „Ich könnte jeden Tag ein Sonett schreiben“
Stuttgarter Nachrichten, 9.2.2015
Lisa Berins: Vom Vers zur Konstellation – und zurück
Thüringische Landeszeitung, 26.9.2015
Ingrid Isermann: „Eugen Gomringer: Der Wortzauberer“
Literatur & Kunst, Heft 76, 03/2015
Michael Lentz: Die Rede ist vom Schweigen
Neue Rundschau, Heft 2 / 2015
Klaus Peter Dencker: Laudatio für Eugen Gomringer zum 90. Geburtstag
manuskripte, Heft 208, Juni 2015
Ralf Sziegoleit: Lebende Legende
Kurier, 20.1.2020
Katrin Fehr, Suzanne Schattenhofer: Ein Leben voller Kunst und Kultur
Donaukurier, 19.1.2020
Eugen Gomringer feiert 95. Geburtstag
Stadt Rehau
Eugen Gomringer: kein fehler im system.
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