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un admirador
alleen
alleen und blumen
blumen
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alleen
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alleen und blumen und frauen und
ein bewunderer
In den letzten Jahren vor seinem Tod (er starb Anfang 1963 gut vierundsiebzig Jahre alt) besuchte mich von Zeit zu Zeit der expressionistische Schriftsteller und Verfechter einer Sozialisierung der Literatur Franz Jung. Bereits in den zwanziger Jahren war er dafür eingetreten, daß Literatur etwas sein solle, das nichts voraussetzte außer dem Lesenkönnen. Er wollte populäre Literatur, nicht populär dadurch, daß die vorhandenen gängigen literarischen Muster popularisiert wurden, sondern von Grund aus, von der Einstellung des Schriftstellers aus. Er kam zu mir wie aus einer anderen Zeit, und ich habe in den Gesprächen mit ihm manches gelernt, das heute, sechs bis acht Jahre später, zum gängigen Schlagwort geworden ist. Er gab dabei zu, daß er keinen Rat wußte, der methodisch praktikabel war. Er hatte eigene literarische Pläne, aber er wußte nicht, ob sie nicht vielleicht nur Rückfälle bedeuteten. Er sprach mit großem Lob von Raoul Hausmann, mit dem er seit der Anfangszeit Dadas befreundet war und den er damals manchmal besuchte. Er machte sich Gedanken über die jüngere Generation, über das, was kommen würde. Er war skeptisch und sagte, und das war das einzige, was in den verschiedenen Varianten, in denen er es anzuwenden und zu formulieren versuchte, immer gleichblieb: was er den Jüngeren wünschen könne, was er für sie praktikabel fände, sei ein gemäßigter, aber unbeirrbarer Anarchismus, ein Anarchismus sozusagen des täglichen Lebens, der nicht die Welt verändern oder verbessern will, sondern sich einfach nicht zufrieden gibt mit dem, was so ist, wie es ist, der die mögliche Offenheit nicht nur in der Literatur und Kunst, sondern überhaupt, stillschweigend, weiter offenhält.
Das hat mich damals sehr beeindruckt. Ich habe es daher behalten. Daß es mich beeindruckt hat und daß ich es behalten habe, hat nichts mit dem schriftstellerischen Werk Eugen Gomringers zu tun. (Es könnte, auch von außen gesehen, mit dem Werk etwa Diter Rots zu tun haben, mit dem und Marcel Wyss zusammen ja Gomringer 1952 die Zeitschrift Spirale begründete.) Dennoch erscheint mir die Erinnerung an Franz Jung und an die Gespräche mit ihm wichtig, um zu erläutern, welche Bedeutung für mich der Kontakt mit dem, was Gomringer gemacht hat, besaß und besitzt. Was mir an dem ersten Heft der Konstellationen Gomringers die Augen öffnete; wenn ich so sagen kann, erscheint mir besser verständlich vor dem Hintergrund der Gespräche mit Jung, obwohl (oder gerade weil) diese wesentlich später stattfanden als die erste Bekanntschaft mit Gomringer.
Jenes erste Heft, Format 25 mal 25 cm, Titel: eugen gomringer konstellationen constellations constellaciones, Verlagsangabe: „copyright 1953 by spiral press berne printed in switzerland by graf-lehmann berne cover and design marcel wyss“, schickte mir Kurt Leonhard, damals Lektor im Bechtle Verlag in Eßlingen, im Sommer oder Herbst 1954 (es kann auch sein, daß ich es mitnahm, als ich Anfang September 54 in Eßlingen war). Was mich an diesem Heft mit seinen sechzehn Gedichten in vier verschiedenen Sprachen beeindruckte, beeindruckte wie sonst kein Werk eines zur gleichen Generation gehörigen Autors (auch nicht das Bändchen poesie von Klaus Bremer, das mir, gut ein Jahr später, etwas anderes und für mich sehr Wichtiges zeigte), hatte zunächst nichts zu tun mit dem, was heute etwa mit dem Begriff der Konkreten Poesie in Zusammenhang gebracht wird. Es war eine Erfahrung, die ich nur so, am unvermittelt erkannten Beispiel machen konnte.
Kritiker der Moderne, von welcher Seite auch immer, bringen häufig das Argument des Stilzwangs gegen das vor, was sie an Neuerungen nicht verstehen. Sie kritisieren etwas als künstlich ausgedacht und sprechen ihm jede unvermittelte Wirkung ab, nur weil sie selber die Erfahrung dieser unvermittelten Wirkung nie gemacht haben. Gerade dieser, man könnte sagen, sinnliche Reiz, ja diese nicht nur sinnliche, sondern vielleicht sogar halluzinative Reizfunktion spielt aber in der Aufnahme der literarischen und künstlerischen Produkte der letzten Jahrzehnte eine viel größere Rolle als in früheren Epochen. Diese Kunst wendet sich, und das ist tatsächlich eines ihrer Kriterien, an nicht oder wenig sozialisierte Aufnahmemechanismen (wobei diese dann vorerst immer noch, und manchmal in grotesker Verzerrung, positiv und negativ wieder gesellschaftlich uminterpretiert werden).
Etwas davon spielte für mich auch bei der Bekanntschaft mit Gomringers Konstellationen eine Rolle. Ihr sozusagen sinnlicher Reiz war für mich stärker als alles andere, was ich zu der Zeit an Literatur kannte. (Ich spürte ihn in vergleichbarer Weise vorher bei Brecht, später bei Gertrude Stein, bei deren Werk er sich übrigens bis heute nicht verloren hat.) Dieser unmittelbare Reiz ging nicht von Assoziationen oder Bildern aus, so wie es etwa noch bei Stefan George oder Georg Trakl geschehen konnte. Das Bezeichnende lag gerade darin, daß das wegfiel. Die Reizfunktion ging aus gleichsam von Sprache selbst, von Wörtern, die aus der Fähigkeit, Metaphern zu bilden (symbolisch für etwas einzutreten, das sie nicht wortwörtlich sagten), herausgenommen waren. Wörter selber hatten plötzlich so etwas wie sinnliche Ausstrahlung bekommen. Statt der Metapher wurde etwas sichtbar, was man den Bedeutungshof, den jede Vokabel besitzt, nennen könnte.
Indem ich das erkläre, gehe ich jedoch bereits über das hinaus, was ich im ersten Kontakt erfuhr. Ich entwickle aus der Interpretation des ersten Kontakts bereits wieder etwas, das sich auf eine Theorie der Konkreten Poesie zu bewegt. Gerade das aber würde nur verdecken, was tatsächlich Eindruck auf mich machte. Das Reizmoment, das Gomringers Konstellationen ausstrahlten, wurde nicht nur als es selbst wichtig (es wurde mir nicht als es selbst durchsichtig). So hatte für mich übrigens auch der Titel Konstellationen nicht den gattungsmäßigen Beiklang, den er mit der Zeit angenommen hat. Was ich las, waren einfach Gedichte, neue Gedichte, Gedichte, die nicht nur zu lesen, sondern auch zu machen einen Reiz hatte, im Gegensatz zu den Gedichten, die zu machen keinen Reiz mehr hatte. Was mich beeindruckte, war auch eine Methode, die mir bis dahin unbekannt war, nicht nur unbekannt, deren Möglichkeit ich nicht gesehen hatte.
Bis etwa zum Frühjahr 1953 hatte ich mich an traditionelle Muster gehalten, auch immer mehr Schwierigkeiten damit gehabt. Was ich an Auflösungen kennenlernte in dieser Zeit, etwa bei Eliot oder Pound, war historisch und änderte nicht wirklich etwas. Was ich bis dahin vom Dadaismus (das erste Bändchen mit Gedichten von Arp erschien 1953, ich kaufte es sofort) und Surrealismus kannte, faszinierte mich zwar, aber es war nicht nur historisch, mir fehlte jede Brücke, es für das, was ich selber zu praktizieren versuchte, benutzbar zu machen. Und eben da erkannte ich nun an den Konstellationen Gomringers, was man machen konnte, nicht unbedingt ich selber, aber jemand, der etwa gleich alt war, der jetzt lebte und schrieb, der bei allen möglichen Unterschieden unter denselben zeitgeschichtlichen Voraussetzungen groß geworden war.
Diese Generationszugehörigkeit spielte bei dem, was ich in den Gedichten Gomringers als einen Akt der Befreiung empfand, einer plötzlichen und unverhofften Befreiung, eine bestimmende Rolle. Ich würde heute sagen, in der Unterbrechung der Kontinuität durch die NS-Kulturdiktatur waren für mich wie für andere einfach bestimmte Verbindungsstränge abgerissen worden. Ich würde heute aber auch sagen, daß das, was in Deutschland geschah, lediglich die äußerste Zuspitzung einer Tendenz war, die auch außerhalb Deutschlands wirksam wurde, eine Art Reaktion auf die erste Welle der Moderne, ein Erschlaffen des Impulses, eine Rückwendung, so als ob es tatsächlich eine Rückkehr geben könne. Darin lagen und liegen für mich (und für andere) die Schwierigkeiten für den neuen Ansatz.
Was ich als Befreiung empfand, läßt sich einfach auch so sagen: man konnte hinschreiben:
ping pong
aaaaping pong ping
aaaapong ping pong
aaaaaaaaaaaaping pong
und das als Gedicht bezeichnen, beziehungsweise als etwas, das dem entsprach, was bis dahin Gedicht geheißen hatte. Eine Abfolge rhythmisch geordneter Silben, kein Lautgedicht, kein Typogramm, einfach diese Silben, die inhaltlich bezogen sein mochten auf das Tischtennisspiel und den Rhythmus, den die aufschlagenden Bälle bei diesem Spiel machten, aber ohne jede symbolische Hintergründigkeit, ohne erläuternden, verinnerlichenden Hinweis, nackt, kahl, sie selbst.
Der Akt der Befreiung, der für mich in den Konstellationen Gomringers erkennbar wurde, bedeutete, daß ich machen konnte, was ich wollte. Ich konnte alles ausprobieren und zusehen, ob es den gleichen Reiz auszuüben vermochte, den ich hier erfahren hatte. Es handelte sich nicht um Nachahmung (ich habe das versucht, aber wenig Erfolg damit gehabt), nicht um Beeinflussung im gewohnten Sinn. Es handelte sich darum, daß eine Sperre aufgebrochen war, daß ich demonstriert fand, in welcher Richtung man operieren konnte, um die Sperre zu durchbrechen, und daß ich dazu fähig war, wenn ich mich nur erinnerte, auf welche Weise es demonstriert worden war.
Befreiung – was bedeutete das, wenn es mehr sein sollte als ein biographisches Ereignis, als die Bezeichnung eines Kontakts, den ich zum Werk eines anderen Autors fand? Ist es nicht genug, wenn es das war? Setzt sich der Fortgang literarischer und künstlerischer Produktion nicht aus einer Vielzahl solcher vereinzelter Begebenheiten, Begegnungen, Anknüpfungen zusammen wie aus lauter Facetten, und ist es nicht instruktiv in sich, dem einmal bis in die Details zu folgen? Durchbrechen einer Sperre – heißt das nicht einfach Beseitigung einer Produktionsschwierigkeit durch die Anregung, die ein anderer gibt, nicht als Rezept, sondern als Einstellung zum Metier, in dem beide tätig sind?
Es ist, so meine ich, noch etwas anderes. Befreiung ist ein oft mißbrauchtes Wort mit pathetischem Klang. Einstellung hat weniger Pathos und wirkt sachlicher. Welches war die Einstellung, die ich bei Gomringer demonstriert fand? Was heißt es, ich kann machen, was ich will? Bedeutet es die Autonomie des Autors gegenüber den Voraussetzungen, in denen er sich befindet wie jeder andere Mensch, Vorbedingungen gesellschaftlicher, kultureller, wirtschaftlicher, psychologischer Art? Sind diese Vorbedingungen nicht die Basis, auf der er sich allein betätigen kann, hat er nicht in den Voraussetzungen seinen Stoff, besteht nicht seine Arbeit einzig und allein darin, diese Voraussetzungen in einem bestimmten Verwandlungsprozeß durchsichtig zu machen, etwas mitzuteilen von dem, was sie so sein läßt, wie sie sind?
,Autonomie des Schriftstellers‘ meint im herkömmlichen Sinn Autonomie des Geistes, der geistigen Fähigkeit, sich außerhalb der konkreten Situation, der materiellen Bedingtheit aufzuhalten und von dort vielleicht als neutraler Schiedsrichter Sprüche der Weisheit und der Schönheit zu formulieren. Eine der entscheidenden Erkenntnisse der marxistischen Theorie hat gelehrt, daß gerade diese vermeintliche Autonomie des Geistes nichts ist als eine gesellschaftliche Funktion. In dieser fingierten Autonomie fand die bürgerliche Gesellschaft das Forum der Rechtfertigung, das die bezweifelbar gewordene Rechtfertigung der Theologie ersetzen konnte. Literarisch wurde diese Rechtfertigung ausgesprochen dadurch, daß die Literatur das Konkrete und Materielle der Welt sinnbildlich nahm. Sinnbildlich redete sie die unwiderlegbare Wahrheit. Ins Medium der Sprache brachte die Literatur die Wahrheit als Gehalt. Der Inhalt, eben das, was der Autor an Vorbedingungen vorfand, das Ungerechtfertigte, wurde in die Einmaligkeit (und oft Exklusivität) der Form gebracht dadurch, daß Form und Inhalt ideell zur Deckung gebracht wurden, durch Gehalt, durch Rechtfertigung. Umgekehrt war Form, als sprachliche Absonderung an sich, als sogenannte bloße Artistik, nicht vorstellbar ohne Gehalt, ohne Sinnbildlichkeit, ohne das Rechtfertigende des Sinnbilds.
Eben das ließ sich, historisch gesehen, nicht aufrechterhalten. Der erste Impuls der Moderne wurzelte in der Durchbrechung der symbolischen Redeweise als einer Rechtfertigung. Alles, was neu gemacht wurde, denunzierte und diffamierte eben die gesellschaftliche Funktion der geistigen und literarischen Autonomie. (Und die reaktionäre Restauration etwa Stefan Georges oder Rudolf Borchardts ist nur deshalb zur Moderne zu zählen, weil sich auch in ihr ungewollt und von innen heraus diese Autonomie auflöste und die sinnbildliche Verfahrensweise sich entleerte, ja es ist gerade hier auf äußerst instruktive Weise zu erkennen, wo das sinnblinde, rätselhafte, anonyme Reden anzusetzen und wie es sich zu entfalten vermag.)
In diese Situation sind wir, wenn ich wir sagen darf, hineingeboren. Das, was unmöglich geworden ist, was sich inzwischen selbst entlarvt und diffamiert hat, ist uns bewußt, ehe wir es uns erklären können. Der Impuls der Moderne schwächte sich ab, weil die ursprüngliche Kontroverse nicht mehr erfahren wurde. Die Kontroverse verlor ihre unmittelbare Aktualität. An ihre Stelle schoben sich Einzelmeinungen, Einzellösungen, gekennzeichnet durch einen bestimmten Wechsel von künstlerischen und literarischen Richtungen, schob sich aber auch ein bestimmter Zwang zur Alternative, der sich teils politisch (engagiert oder nicht), teils kunstkritisch (informell oder konstruktiv, Op oder Pop usw.) ausdrückte. Hier haben wir unsere spezifische Unsicherheit. Hier sind wir, selbst da, wo Erfahrung dessen, was außerhalb der Alternative haltbar ist, uns relative Sicherheit gibt, immer in Gefahr, von einem Augenblick zum andern einzuschwenken auf etwas, dem wir nicht länger Widerstand leisten können.
Nicht die Autonomie des Geistes, der Kunst, der Poesie verlockt uns, sondern die scheinbare Sicherheit der vorläufigen Lösung. Hier hilft nur das eine, aus dem Entscheidungszwang herauszutreten. Das aber gelingt nur unter der Voraussetzung, daß alles erlaubt ist, daß es keine Regeln, keine Grenzen und keine Verpflichtungen gibt. Wo die Rechtfertigung durch letzte Wahrheiten fehlt und ebenso die Kritik daran (die in ihrer kritischen Funktion ebenso letzte Gegenwahrheiten besitzt), da wimmelt es von Spielregeln. Unsere Welt, die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist erfüllt von einer Vielzahl von Systemen von Spielregeln, die alle einander vage ähnlich sind, aber nirgendwo auf einen Nenner zu bringen.
Was mir an den Konstellationen Gomringers zum erstenmal deutlich geworden ist, das ist dies Heraustreten aus den Spielregeln und aus dem Zwang zu vorläufigen Alternativen. Diese Gedichte, und ich nenne sie auch jetzt noch Gedichte, haben mir gezeigt, auf welche Weise es gelingen kann, Spielregeln auszuweichen, indifferent ihnen gegenüber zu bleiben, ohne nun dies Ausweichen, diese Indifferenz gleich wieder zu einem Programm zu machen. (Gerade die neuesten Richtungen der Freiheit von allem, sei es der amerikanische Underground mit seiner Freiheit von Tabus, sei es die politische Opposition mit ihrer Befreiung von allem Bürgerlichen, sind am ehesten in Gefahr, unmittelbar in neue und immer rigorosere Spielregeln umzukippen, doktrinär gegen alles, was diese nicht anerkennen mag.) Hier nun kann ich an den Hintergrund erinnern, den ich anfangs in der Erzählung von meinen Gesprächen mit dem siebzigjährigen Franz Jung aufgebaut habe. Meine erste Erfahrung mit den Gedichten Gomringers, das Freiwerden zu etwas, was ich dann selber praktizieren konnte, hat seine spezielle Bedeutung für mich erst vor den Ratschlägen Jungs. Beides ist ineinander zu sehen. Bedeutung dadurch, daß die Erfahrung mit Gomringers Konstellationen mir, unreflektiert, hinweisend, etwas klarmachte, das mir erst Jahre danach in seiner Reichweite ganz bewußt wurde. Erst von da aus hat sich andererseits die weitere Kenntnis des Gomringerschen Werks zu einem Dialog entwickelt, der, manchmal ausgesprochen, öfter unausgesprochen, bis heute anhält und der schließlich allein mich berechtigt, hier, an dieser Stelle, etwas zu diesem Werk zu sagen.
Seit den Anfängen, die in dem 1953 publizierten Heft gesammelt waren, hat Gomringer bis heute diese Anfänge stetig erweitert und ausgebaut. Ich lernte ihn persönlich kennen 1955, als ich ihn in Ulm in der Hochschule für Gestaltung besuchte, wo er Sekretär von Max Bill war. Etwa zur gleichen Zeit, im Kontakt mit dem Brasilianer Decio Pignatari, entstand der Begriff der Konkreten Poesie, zur gleichen Zeit fand Gomringer Kontakt mit Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner. Konkrete Poesie hat sich seitdem über weite Gebiete verbreitet, sie hat ihrerseits ein Programm entwickelt und ist eine Richtung geworden. Vor allem in den anfänglichen programmatischen theoretischen Texten erscheint Gomringer als ihr strikter Wortführer, der dieses Programm mit betonter Positivität vorträgt. Ich selber, obwohl immer wieder dazugerechnet (allerdings eher aus meiner freundschaftlichen Verbundenheit mit Max Bense heraus als im Kontakt mit Gomringer), habe mich nie damit identisch gefühlt und passe auch im strengen Sinne, so meine ich, nicht dahinein. Was mich daran interessiert, wirkt sich anders aus.
Wenn ich mich im Dialog mit Gomringer und seinem Werk fühle, so setzt das auch voraus, daß es in diesem Dialog zwei Stimmen gibt, daß ein Wechsel in der Rede stattfindet. Die Konstellation, die Gomringer bis heute als das Grundmuster, man könnte fast sagen, das Modell seiner literarischen Arbeit ansieht, verdankt sich einmal einer Reduktion. In dieser Reduktion wird die Metapher auf das Wort zurückgeführt. In der äußersten Konsequenz, über die Gomringer gelegentlich gesprochen hat, die er aber nie praktizierte, bestünde das Gedicht aus dem einen isolierten Wort, literarische Minimal art. Das Aufschließen dieses Worts wäre dann ein Akt, der ähnlich wie bei den Ready-mades von Marcel Duchamps allein in der Isolierung des Worts aus dem übrigen Wortvorrat ansetzen könnte. Bis zu diesem Akt ist Gomringer nie zurückgegangen. Die Reduktion, die in der Konstellation vollzogen wird, bedeutet zugleich eine Kombinatorik mit einem übersichtlichen Wortmaterial. Die Erschließung der Konstellation muß sich an die Zusammenstellung der Wörter, an die Gleichklänge oder Kontraste, an die Wiederholungen, an die typoqraphische und graphische Anordnung, an die, vor allem in den Konstellationen in Schweizer Mundart benutzten, akustischen Kombinationsmöglichkeiten halten. Das heißt, die Rückführung der Metapher auf die Vokabel wird zugleich benutzt, um neue Zusammenhänge zwischen den Wörtern herzustellen.
Zeitweise neigte Gomringer zu symmetrischen Mustern, viele Konstellationen gleichen Entwicklungsreihen, andere wieder bewegen sich in rondoartigen Rückläufen. Auf dem begrenzten Raum dieser vokabulären Kombinatorik (eben der, wortwörtlich, Konstellation der Wörter, wie Gomringer sie schon bei Mallarmé vorgebildet fand) ist eine große Anzahl von Varianten möglich. (Der Anklang an den mathematischen Gebrauch des Begriffs der Kombination ist hier deutlich.) Nun sind Wortwahl und Wortzusammenstellung natürlich nicht frei. Sie zeigen bei Gomringer bis heute so etwas wie ein Echo auf die konkreten Lebensumstände, die konkreten Erfahrungen Gomringers. Mit Vorbehalt könnte man noch von dichterischer Individualität sprechen. Dennoch verweisen sie nicht auf etwas hinter ihnen, sind sie nicht symbolisch aufzuschlüsseln, sondern gleichsam verdinglichte Sprache. Was an Subjektivität allenfalls in ihnen steckt, ist etwas für sich geworden. Nicht durch Identifikation mit sinnbildlich Gemeintem läßt sich diese Konstellation erfahren, sondern nur in der Aneignung, im Nachdenken über das, was überhaupt in dieser Wortkette angesprochen sein kann, und in der Auffüllung mit dem, was der Leser nun dieser Konstellation an eigener Erfahrung anpassen kann.
Wenn Gomringer bis heute bei diesem Konzept geblieben ist, so ist das völlig richtig, was sein Werk betrifft, denn nur in ihm hat es sich entfalten können. Dieses Konzept ist jedoch keine Doktrin, die man befolgen kann oder muß. In der Ausweitung aber auf so etwas wie das Programm der Konkreten Poesie findet eine Verengung statt. Die spezielle Methode (die Methode der Reduktion aus dem metaphorischen Sprachgebrauch und die Kombinatorik mit den Unbestimmtheitshöfen der Bedeutung, der Typographie und der Lautgestalt), die Machart, könnte man zur Unterscheidung sagen, kann nicht einfach für eine neue Form von dichterischer Verfahrensweise gesetzt werden. Verallgemeinerung (und damit Vermittlung von Machart) ist, so meine ich, nur dann möglich, wenn man die spezielle Methode auf ihre Voraussetzungen zurückbezieht, wenn man eben jene Befreiung aus der metaphorischen Redeweise und aus dem Alternativzwang, von der ich ausging, als grundlegende Fragestellung und damit als eigentliches Kriterium einsetzt. So kann man zum Beispiel auch vollständige Sätze in dem Sinne verwenden, in dem Gomringer Vokabeln benutzt; es gibt andere Macharten, etwa die der Artikulation und die der Querstellung, die Franz Mon entwickelt und demonstriert hat; es gibt die Machart des Zitats und der Collage, die gerade in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen praktiziert worden ist. Wenn man beurteilen will, was vorgeht, muß man, so scheint mir, das alles zusammennehmen und nach dem suchen, was diese sehr verschiedenen Macharten gemeinsam haben. Und was sie gemeinsam haben, das stellt sich bald heraus, ist immer dasselbe, nämlich der Versuch, den Zwängen, die von außen kommen oder die einlaufen, zu entgehen, freien Raum zu schaffen ins noch Unartikulierte hinein.
Ich sehe überall dort, wo die Konkrete Poesie zur Doktrin wird (und als Doktrin natürlich automatisch auch so etwas wie ein Rezept liefert, an das man sich ein für allemal halten kann), die Gefahr der Erstarrung, den Umschlag eben jener Befreiung in neuen Alternativzwang. Dem entspricht dann auf der anderen Seite die Forderung der neomarxistischen Schrifsteller, die in der Zeitschrift Kursbuch vertreten wird, nach dem Ende aller Literatur, begründet damit, daß eben diese Gedichte nichts zur Lösung praktischer Notstände beitragen, nur von einer Clique verstanden und für sie verfaßt werden, nichts liefernd als die Zustimmung zur herrschenden und für alles Übel verantwortlichen Bourgeoisie.
So einfach, scheint mir, lassen sich die Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft im 20. Jahrhundert nicht auflösen, weder von der einen wie von der anderen Seite. Gomringer hat früh einen gesellschaftlichen Bezug gesehen und betont. Er ging von der Vorstellung des Gedichts als Gebrauchsgegenstand aus, die Bill und Bense für die Kunst allgemein entwickelt hatten. Ich bin in diesem Punkt skeptisch, meine aber, daß Gomringer etwas angesprochen hat, was zu diskutieren ist. In der Reduktion auf das Wort und in der Kombinatorik von Wörtern wird die der Sprache eingeschriebene Stufenordnung von Rängen (Über-, Unter- und Beiordnungen) durchbrochen, in der bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen der Sprache ihren Stempel aufgedrückt haben und ohne die wir bis heute nicht in der Lage sind, uns differenziert zu verständigen (wie eben dies, was ich hier schreibe, bezeugt, und ich schreibe in dieser Differenzierung nicht, um mich selbst ad absurdum zu führen oder weil ich gedankenlos einfach so weitermache, sondern weil ich in der Klemme, in der ich mich befinde, pragmatisch abschätze, was praktikabel ist). Die Brechung des Abdrucks gesellschaftlicher Herrschaft aber, wenn man es so ausdrücken will, bedeutet so etwas wie eine Einebnung der Sprache. In dieser Einebnung wird sie nicht zur exklusiven Schlüsselsprache für Eingeweihte (nach Diktatur lüsterne Bösewichter vielleicht), sie wird zugänglich für jedermann; genauer, der Zustand, aus dem heraus Literatur produziert wird, ist in dieser Einebnung ein für jedermann gedachter. Nicht für den jetzt vorhandenen konkreten Jedermann allerdings verständlicher, als was er sonst liest. Denn das, was heute als allgemein verständlich gilt (einfache Sätze, wenig Abstrakta, keine Fremdwörter, simple Inhalte, möglichst häufiger Gebrauch von eingefahrenen Formeln, vorsichtige, aber stilisierte Annäherung an den mündlichen Sprachgebrauch usw.), ist ja seinerseits nichts als ein Produkt des gesellschaftlich bestimmten Sprachgebrauchs. Nur daß dessen Reduktionen nicht der freien Kombinatorik zu verdanken sind, sondern dem unausweichlichen Zwang der anonymen öffentlichen Kommunikation.
Gomringer betreibt also, so gesehen, so etwas wie eine Sozialisierung der Sprache, und er geht darin weiter als die politisch engagierten Poeten der anderen Seite, die bei aller verbalen und physisch tätigen Kritik an den herrschenden Zuständen doch der metaphorischen Redeweise der bürgerlichen Rechtfertigungspoetik verhaftet bleiben. Der Einebnung von innersprachlichen Rangstufen (die allerdings niemals bis in das neueste Stadium, etwa der amerikanischen Undergroundlyrik, vordringt, in dem, durch Umkehrung, dem Bereich der Tabuwörter höhere Rangstufe zuerkannt wird als etwa den Abstrakta) entspricht bei Gomringer eine konsequente Mehrsprachigkeit für die Sprachen, die er selbst beherrscht, einschließlich des Schweizerdeutsch.
Was Gomringer allerdings weithin ausschließt, ist Problematik, Kritik, Verzweiflung, Konflikt usw. Was gesagt werden kann, ist positiv. Erscheint alles, was nach Konfliktsituation oder Kritik aussieht, verbunden mit der metaphorischen Redeweise, die gebrochen ist? Hat die Positivität, die jenseits herrscht, Leerstellen, wie manche Kritiker meinen? Entspricht sie nicht vielmehr dem, was die bildende Kunst an Konkretem vorstellt? Nicht eine neue Schönheit, Tabuierung dessen, was schmutzig, verworren und ungelöst ist (mit allem, was eine solche Ausweisung an Gegenströmung hervorruft), sondern eine Folge einfach der Reduktion, die für Differenzierung keinen Platz hat? Die einebnen kann nur um den Preis der dinglichen Glätte und Plastizität? Und treten dagegen nicht nun wieder neue Untergangspropheten auf?
Ich lasse diese Fragen stehen. Sie hängen mit dem Werk zusammen, aber sie stören nicht die Faszination, die dieses Werk noch immer auf mich ausübt. Gomringer vertraut dem Spiel und der Heiterkeit, die dem Spiel entspringt. Das tun die Mobiles und die kinetischen Objekte der bildenden Kunst ebenso. Kann man den Vergleich ziehen? Mit Einschränkung und soweit, wie man gehen muß, um zu sehen, wo es nicht möglich ist zu diskutieren oder wo, auf der anderen Seite, Diskussion einsetzen müßte. Eins scheint mir sicher: die Positivität dieser Kunst schließt nicht stillschweigendes Einverständnis ein mit wer weiß was immer. Sie hat weit eher utopische Züge, in denen sie vorwegnimmt, was noch nicht eintreten kann. Hinter ihr lauert nicht, um es einfach zu sagen, ein Orwellscher oder Huxleyscher Zukunftsschrecken, nicht einmal der Albtraum der gängigen Science-fiction. Was sie anspricht, ist unvermittelte Faszination, Aufhellung des Neuen, des überraschenden, ohne das ich nicht leben möchte, dem ich, meinetwegen fahrlässig, verfallen bin, dem ich nachsuche, wo immer ich es vermute.
Nun gut. Was immer an objektiven Beobachtungen und theoretisch Stichhaltigem in diese ein wenig meandernde Vorrede eingeschlossen ist, ich habe nicht vermeiden können daß sie in bestimmtem Umfang auch eine Selbstdarstellung geworden ist. Möge es als ein Zeichen meiner Verbundenheit mit dem Werk und der Person Eugen Gomringers genommen werden, ohne die diese Vorrede, so hoffe ich, keinen Wert hätte.
Helmut Heißenbüttel, Vorwort
Der Titel Stundenbuch ist ein literarischer, weist aber darüber hinaus durch seine Herkunft aus der liturgischen Sprache wie der der Andacht ins Geistliche. Beides, sowohl das Literarische wie das Geistliche, dürfte in dem Stundenbuch Eugen Gomringers zum Ausdruck kommen. Die sprachlichen Mittel sind ganz und gar der modernen Lyrik verpflichtet, der von Gomringer begründeten „konkreten Poesie“. Der Sprachton ist sammelnd, beruhigend, verwesentlichend. Nimmt man die Technik des Schreibens oder Lesens hinzu, so könnte man von meditativen Konstellationen sprechen. Vielleicht ist sogar die alte sakrale Form des litaneihaften Sprechens nicht allzu fern. Auf jeden Fall werden durch den Begriff des Stundenbuches die vorliegenden Texte hinübergeführt aus der reinen Vorstellungswelt der Lyrik in einen gewissen Gebrauchswert für das tägliche Leben.
Dieser Gebrauchswert soll aber auch nicht überbeansprucht werden, so daß dichterische Aussage gleichsam geistlich strapaziert würde, ähnlich wie es manchmal auf Ausstellungen christlicher Kunst geschieht, wo ein Kunstwerk mit einem profanen Titel ins Religiöse uminterpretiert wird. Man würde den Texten des Stundenbuches nicht gerecht, wollte man sie nur als reine Lyrik verstehen oder schon im vollen Sinne als geistliche Dichtung. Sie benennen vielmehr einen Zwischenraum, für den sich das Wort „meditativ“ am besten eignet. Es ist so weit und so umfassend, daß auch dasjenige mit benannt sein kann, was wir uns heute von der zenbuddhistischen Meditation oder auch von anderen Religionen angeeignet haben können.
Das Stundenbuch im herkömmlichen Sinne geht von der Voraussetzung aus, daß die Zeit mit allen ihren Stunden zum immerwährenden Gebet drängt. Der Tageslauf und die Nacht bringen einen Rhythmus immer wiederkehrender Gedanken und Formulierungen mit sich. Stundenbücher dieser Art sind deshalb in gewisser Hinsicht dem klösterlichen Leben nahe. Eugen Gomringer kennt diese Tradition, wandelt aber die alte Thematik um ein Vielfaches ab. In Übereinstimmung mit der vollen Zahl der Tagesstunden beschränkt er sich auf 24 Worte, die er durch Vorsetzen von „mein“ und „dein“ variiert. So ist das ganze Stundenbuch eine groß angelegte Variation. Die einzelnen Worte werden wie der Pendelschlag einer alten Uhr hörbar:
dein geist – mein geist
dein wort – mein wort
So ist dasselbe Wort einmal wie der Ton selbst und einmal wie dessen Nachklang. Wir werden hineingenommen in den Ablauf der Zeit, und das Wort ist es, das sie benennt. Damit dürfte genügend aufgezeigt sein, in welchem Sinne diese Texte den Titel des Stundenbuches rechtfertigen.
Schauen wir uns das Wortfeld der 24 Worte näher an, so geben uns darüber die vier ersten Texte, die zusammen die erste Reihung bilden, näheren Aufschluß. Der erste Text ruft das Wort „Geist“ auf. Als sinngerechter Zusammenhang von Geist ergeben sich: Wort – Frage – Antwort – Lied – Gedicht. Theologisch oder philosophisch könnte man von einer logoshaften Grundstruktur sprechen. Der zweite Text in der ersten Reihung geht von dem Wort „Leib“ aus, das hier sicher etwas zu tun hat mit der ursprünglichen mittelhochdeutschen Bedeutung von „lip“, das den ganzen Menschen meint, und somit sind auch die weiteren Benennungen etwas vorzüglich Menschliches: Blick – Kraft – Freude – Trauer – Schweigen. Der dritte Text nimmt seinen Ausgang von dem Wort „Herkunft“ und entwickelt Vorstellungen der Zeit und der menschlichen Geschichtlichkeit: Anfang – Weg – Ziel – Tod – Traum. „Traum“ dürfte dasjenige Wort sein, das über die Endlichkeit des Todes hinausweist. Der letzte Text der ersten Reihung ist vielleicht nicht so eindeutig zu benennen, aber die sechs Worte: Baum – Blühen – Gabe – Haus – Jahr – Stunde, dürften insgesamt für die menschliche Lebenswelt stehen, die sich im Jahreszyklus und im sinnvoll erlebten Dasein anmeldet.
Es sind also nur wenige Worte, die aber alle zusammen das Ganze wachrufen. Sie sind alle ein- oder zweisilbig, es gibt keine modernen Substantivierungen, selbst der Infinitiv „Blühen“ fügt sich in die nominale Reihung ein. Alle Worte haben eine konkrete Bedeutung, obgleich sie zuweilen der sprachlichen Form nach Abstrakta sind. Sie sind nicht emotional, sondern eher visuell und von ihrer sprachlichen Lautung her zu verstehen. Sprechend sollte man sie hören.
Wenn man dieses und noch manches andere bedenkt, so könnte man das Stilmittel dieser Stundenbuchtexte als Reduktion bezeichnen, als eine Rückführung auf das Wesentliche also. In unserer heutigen Welt, in der laufend die Sprache mit ihren neu aufkommenden Begriffen konsumiert wird, ist eine Textgestalt erforderlich, in der wenige Worte in einer Weise verwandt werden, daß sie vor dem Konsumieren abgesichert sind, daß sie in Formzusammenhängen auftreten, die ihnen eine Beständigkeit und Inständigkeit geben.
Gomringer bleibt in gewisser Hinsicht noch zurückhaltend, da seine Reduktionen nur bis zum Wort gehen, vor dem Wort als solchen haltmachen und nicht mehr bis zum Buchstaben, zur Silbe, zum Laut weiter vortreiben. Die Reduktion geschieht so, daß der Sprache ein Dienst geleistet wird; es wird zwar auf die große grammatische Fügung verzichtet, aber dennoch kann das Wort wieder zum Satz zurückfinden.
Damit drängt sich die Frage nach der Bedeutung der Variation in den verschiedenen Textreihungen des Stundenbuches auf. Geschieht sie mathematisch-mechanisch, liegt ihr ein bestimmtes Formprinzip zugrunde, nach dem die Fülle der Beziehungen und Relationen aufgedeckt wird? Es gibt zunächst einmal diese Relationen und Beziehungen. Alle konkreten Worte stehen in einem Bedeutungszusammenhang, der sich durch die Variationen, Kombinationen oder Konstellationen verdeutlicht. So entstehen immer neue Sternbilder aus diesen Worten, je nachdem, wie die Beziehungen gesetzt werden. Zu diesem Formprinzip gehört es, daß das konkrete Wort nicht für sich steht, sondern in ein Verhältnis tritt, ja in Besitz genommen wird durch die personalen Bestimmungen „mein“ oder „dein“. So wird in einem erhöhten Sinne etwas Menschliches bezeichnet. Jede Zeile besteht aus dem besitzanzeigenden Fürwort und dem Wort selbst, und jeweils schließen sich zwei Zeilen zu einer Verseinheit zusammen. Es ergibt sich also eine durchgehende Doppelstruktur: Zweiwort und Doppelzeile, und es liegt in der Weiterführung dieses Prinzips, daß an einer ganz bestimmten Stelle des Stundenbuches auch das Dreiwort auftritt:
dein – mein – geist
dein – mein – wort
Das Wort wird also von beiden verschiedenen Fürwörtern in Besitz genommen. So entsteht ein vielschichtiger Dialog, eine Zwiesprache mit den Dingen beziehungsweise der Dinge untereinander – oder die Dinge sind in die menschliche Zwiesprache hineingenommen, in die Dualität von Mann und Frau. Aber nicht nur. Es ist eine allgemeine Zwiesprache. Und hier kommt dem litaneiartigen Sprechen Gomringers eine bestimmte Eigenart der deutschen Sprache entgegen, daß nämlich das Masculinum und das Neutrum für „mein“ und „dein“ die gleiche Form haben, so daß es nur die Zweiheit gibt: mein – meine, dein – deine. Das Stilmittel ist sicher die Kombination. Der innere und erstaunend wahrzunehmende Aussagewert ist die über das Assoziative hinausgehende Korrespondenz im Ganzen, die es also noch gibt.
„Traum“ und „Stunde“ dürften sicher die beiden Worte sein, bei deren Miteinander und Ineinander jene Dimension offenbar wird, die das Stundenbuch Gomringers eigentlich meint. So wird etwas Ähnliches erreicht wie das, was Annette von Droste-Hülshoff mit dem Begriff des Festhaltens ausdrückt; daß im Fliehen der Stunden „der köstliche Moment, der gottgesandte“, nicht fällt „in die Charybdis deiner toten Stunden“.
Wilhelm Gössmann, Vorwort
Seit seinen Anfängen in den fünfziger Jahren ist Eugen Gomringer, der konservative Avantgardist, kompromißlos sich selbst treu geblieben. „an der absicht, konstellationen für sprachgestaltung einzusetzen, hat sich nichts geändert“, hält er in einer knappen Vorbemerkung zu seiner mehrbändigen Werkausgabe fest. „ich sehe in ihnen“, so fährt er, umständlich definierend, fort, „kommunikationsmodelle für frühfasen wie für endfasen wortsprachlicher gestaltung.“ Entscheidend ist hier, daß sein Interesse… wie das Interesse der „Konkreten“ generell… dem einzelnen, kontextfrei gesetzten Wort als solchem gilt, und nicht der syntaktischen Wortverbindung, nicht dem Satz, der eine bestimmbare Aussage oder gar eine bestimmte Wahrheit zu vertreten hätte. Weder läßt Gomringer von „äußern Dingen“ sich anregen, noch hat er es darauf abgesehen, dem Leser etwas mitzuteilen, das als seine Erfahrung oder Erkenntnis hinter den Wörtern stünde, von diesen also lediglich „bedeutet“ würde.
Was für Gomringer schon 1944 richtig war, gilt im Hinblick auf „die sache der konkreten“ nach wie vor:
sie strebt nach gesetz, vorbild und harmonie. sie strebt zu absoluter klarheit, zur gesetzmäßigkeit, und damit zur realität selber.
Verschiedentlich ist der „konkreten Poesie“, zu deren wortführenden Protagonisten Gomringer… neben Heißenbüttel, Garnier und den Brüdern de Campos… seit Jahrzehnten anerkanntermaßen gehört, immer wieder ihr „kunstgewerblicher“ Charakter und ihre Nähe zu den „Gebrauchstexten“ der kommerziellen Werbung vorgeworfen worden. Auch wenn dieser Vorwurf heute aus verschiedenen Gründen differenziert werden müßte, verweist er auf eine tatsächliche Schwäche konkret-poetischer Texte, nämlich auf deren ideelle und strukturelle Dürftigkeit, welche einhergeht mit allzu widerstandsloser Verständlichkeit bei gleichzeitig forcierter theoretischer Komplexität.
Doch eben dieser besonderen Verbindung von „guter Form“ und intellektuellem Anspruch mit spielerischer Leichtigkeit und populärem Aha!-Effekt hat die „konkrete Poesie“ ihre bemerkenswerte Langlebigkeit zu verdanken… ihre Fähigkeit, auch diesseits der Literatur auf immer wieder neue Weise „aktuell“ zu werden, sich als „brauchbar“, „positiv“, „angenehm“, ja sogar als „notwendig“ zu behaupten. Unangefochten vom Stilpluralismus und Stoffsynkretismus der Postmoderne bleibt Gomringers Schreibarbeit weiterhin an Kriterien wie Disziplin und Kontrolle orientiert, und sie lebt sich noch immer aus in der strengen Form von Variationen, Permutationen und diversen andern kombinatorischen oder seriellen Verfahren.
„Eigentlich sind es“, wie Gomringer in asketischer Selbstbescheidung einst zu Protokoll gab, „ein paar Wörter und die Angabe einer Gestaltungsmethode.“ Und:
… ich werde fast selbst überrascht, wenn plötzlich etwas dasteht, ein bißchen Form, ein paar Formeln dastehen. Das Gestalten hingegen, das geht dann konstruktiv vor sich, da kommen diese Mechanismen zum Vorschein, mit denen man etwas anbietet, das Konstruktive, zu dem man steht.
Konkret zu schreiben hieße demnach, die plötzliche und unabwendbare Präsenz eines Worts zuzulassen, hieße den Zufall zu akzeptieren, ihn dann aber so zu lenken, daß daraus ein konstruktives Prinzip, ein mechanisches Gesetz werden kann. Was dann bleibt, ist „der anspruch an den leser, mit seiner subjektiven assoziationsfähigkeit und seiner poetischen fantasie die vorgaben des autors für sich selbst zu erfüllen“. Mit andern… dichterischen… Worten:
nimmt vom bestand und
teilt
nimmt vom bestand und
formt
nimmt vom bestand
sich selbst
gibt zum bestand
sich selbst
*
Zweifellos ist Eugen Gomringer der international bekannteste und einflußreichste Schweizer Dichter der Nachkriegszeit… kein andrer ist zwischen Südamerika und Rußland so oft übersetzt und gedruckt worden, kein andrer ist weltweit in so vielen Zeitschriften und Anthologien vertreten wie er; kein andrer kann auf so zahlreiche Buchauflagen und -ausgaben verweisen, und kaum einem andern zeitgenössischen Autor ist es gelungen, Texte wie „schweigen“ oder „wind“ oder „worte sind schatten“ hervorzubringen, die in ihrer Simplizität an „Ein Gleiches“ erinnern, Texte, die von jedem Leser memoriert und dem Verfasser zugeordnet werden können.
Was bei Gomringer letztlich aber doch irritiert, ist seine stets gleichbleibende poetische Perfektion, seine Geheimnislosigkeit, die biedere Gediegenheit, die auch dort zutiefst „schweizerisch“ bleibt, wo sie universal sein will; was ihm fehlt, ist der Humor, bei dem man trotzdem lacht… der „schmutzige Daumen“, ohne den es keine Vollkommenheit gibt.
Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Freie Hand, Carl Hanser Verlag, 1996
Ein kleiner Zuwachs an Weniger, ein winziges Mehr an Verlust, und wir stehen vor dem Ziegelwandmuster der Avantgarde.
Die trat bereits im Jahre 1954 in Erscheinung und äußerte sich gleichzeitig in zwei programmatischen Buchtiteln: Kombinationen von Helmut Heißenbüttel und Konstellationen des Eugen Gomringer. Hier wurde von vornherein die Methode zum Thema, das Verfahren zum Inhalt erklärt, und wenn die dargebotenen Texte das Versprechen auch nicht immer in bar einlösten, und insbesondere Heißenbüttel zwar methodische Einseitigkeit, aber vorerst noch nicht Methodennudismus praktizierte, so krankten doch die Resultate meist an einer gewissen Holzigkeit, die ohne weiteres aus dem eingeschlagenen Holzweg herzuleiten war.
Ich will dabei gar nicht bestreiten, daß man dem ernsthaften Struktur-Methodologen Heißenbüttel seine Zweifel an der herkömmlichen Syntax, am überkommenen Beziehungsgeflecht der Sprache und seine Skepsis gegenüber den formalen Konventionen von Strophe, Reim, rhythmischer Gliederung abnehmen kann, ich möchte nur einwenden, daß seine poetischen „Demonstrationen“ am ehesten dort zu überzeugen vermögen, wo der Prinzipienreiter nicht aufs Ganze, sondern, vielleicht, aufs Halbe geht. Das heißt, wo er noch zwischen Bild und Gedanken zu vermitteln sucht, wo er den konventionell syntaktischen Zusammenhang wenigstens noch in einer Schrumpfzone, „einfache Sätze“ genannt, aufrechterhält und wo die nackte Reihentechnik noch nicht in aller Kargheit triumphiert:
EINFACHE SÄTZE
während ich stehe fällt mein Schatten hin
Morgensonne entwirft die erste Zeichnung
Blühn ist ein tödliches Geschäft
ich habe mich einverstanden erklärt
ich lebe
Aber mag solch ein Text auch noch über die Ausdruckskrise und ihre Opfer hinwegtäuschen, ein Gebilde wie das folgende macht dann vollends deutlich, wohin es mit dem Traum von einer Wiedergeburt der Schöpferunschuld aus dem Geiste der „Wortmechanik“ geraten kann und bis zu welcher Dürftigkeit der Reduktions- und Reinigungszwang am Ende führt: zur öden Addition und ins kalte Räsonnement.
das Sagbare sagen
das Erfahrbare erfahren
das Entscheidbare entscheiden
das Wiederholbare wiederholen
das Beendbare beenden
das nicht Sagbare
das nicht Erfahrbare
das nicht Erreichbare
das nicht Wiederholbare
das nicht Beendbare
das nicht Beendbare beenden
Sicher, da haben wir eine Aufzählung imperativischer Thesen, eine Abfolge von antithetisch gesetzten Negationen und am Schluß sogar eine Art von Pointe im crossing over von Aufforderung und Verneinung, aber wenn das auch alles seine Ordnung haben mag, seine Domino- und Kreuzworträtselordnung, so will es doch im Vergleich mit Dingen, die wir vordem als Kunst zu bezeichnen neigten, nicht mehr recht satisfaktionsfähig erscheinen.
Obwohl gewärtig, daß Heißenbüttel an dieser Stelle einwenden wird, es handele sich ja auch gar nicht mehr um Kunst im alten, sondern um Kombination im neuen Sinne, möchte ich dennoch zu bezweifeln geben, ob die Methode Nick Knatterton die alten Verbund- und Gliederungssysteme zu ersetzen fähig ist. Nein, ich denke also gar nicht daran, hier in das Loblied auf die schlimme Ausschließlichkeit mit einzufallen und das, was stur und gesetzestreu, strukturgesetzestreu ins immer Ärmere sich entwickelt, als konsequent zu preisen – viel lieber möchte ich mein Veto anmelden, wo alles-alles und letzthin sogar Walter Jens von Reduktion schwärmt, als läge da ein apriorisches Verdienst. Als ob Reduktion von vornherein Gewinn hieße und nicht zuerst einmal: Wegnahme, Entzug, Abtrag.
Es muß an dieser Stelle eingeblendet werden, daß die Lehre von der Machbarkeit der Kunst, die all den Reduktionsversuchen unserer Zeit zugrunde liegt, ganz gleich, ob sie sich Kombinationen, Konstellationen, Konkretionen oder Artikulationen nennen mögen, weder von heute, noch von gestern, sondern von langzuvor kommt. Der Traum, auf den sich all das beziehen darf, von einem künstlichen Arkadien, ist ja bis in die deutsche Romantik zurückzuverfolgen, und er war von Anfang an gekoppelt mit jenem Individuationstrauma, das sich als Einsamkeitsgefühl, Beziehungsangst, Erschöpfungsschauder leitmotivisch durch die ganze moderne Poesie zieht. Das Machenwollen und die Furcht vor der Leere, die Fabrikationstheorien und die Sucht nach der verloren geglaubten Schaffenseinfalt, die Erkenntnis einer progressiven Emanzipation des Bewußtseins und stärkste Regressionstendenzen, die Trauer über die Unnatur des Intellekts und der hoffnungsvoll verzweifelte Glaube an die Übernatur des formschaffenden Geistes, das war der unveräußerliche Antagonismus der modernen Dichtkunst und der modernen Kunsttheorie von Novalis über Mallarmé bis zu Gottfried Benn. Ein Antagonismus, dessen vollkommene Entfaltung und dessen vollkommene Balance dort gesichert schienen, wohin das freigesetzte, glaubenslose, keiner Gesellschaftsklasse mehr verpflichtete Dichterindividuum seine letzte Hoffnung projizierte: im absoluten Gedicht. Im Kunstwerk, das in ganzer Freiheit und zu keinem anderen Zweck geschaffen worden war, als daß es sei: rein, ungetrübt, hart und beziehungslos, ein lauteres Fürsich.
Bei solcher Reduktion hat es denn doch den Anschein, als ob ein über lange Jahrzehnte hin fruchtbares Prinzip nur bis zu einer bestimmten Wendemarke hin Erträge bescheren und weitere Radikalisierung nur mehr die Quellen des Versiegens erschließen konnte. Als dann nämlich unsere zeitgenössischen Laboranten sich anschickten, nicht nur mehr das Absolute zu machen, sondern das Machen zu verabsolutieren, als sie die Mittel für unmittelbar erklärten und die Methode zum Ziel, da setzte die Selbstverdauung der Sprache ein, und der Dichter wurde zum Fortnehmer und Auslasser. Die Produktion, des äußeren Gegen- und Widerstandes beraubt, verkehrte sich zur Reduktion. Das aber war ein recht gefräßiger Gast, den man sich da zu Tisch geladen hatte, denn je mehr man ihm vorwarf, desto mehr wollte er. Zuerst schien es zwar, als ob er es nur auf die herkömmlichen Gliederungsprinzipien, auf die leeren Formalitäten der Sprachkunst abgesehen habe, dann auf die Metaphorik, dann auf die Syntax, und schließlich wußte man es ganz genau, er hatte all das nur fortgetilgt und abgetragen, um zu dem Einenletzten vorzudringen, zum Elementarbaustein, zum Radikal, dem Wort, dem ja der Chefideologe des Rezesses, ich meine Max Bense, „direkte Existenzmitteilung“ zuschrieb. Da stand es nun, stocksteif-statisch und autonom, unwillens, sich zu binden und mit der alleinigen Absicht, sich selbst auszudrücken – ein Unterfangen, das folgerichtig nur zum Leerlaufen führen konnte:
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
Eugen Gomringer
Das war sich, nebenbei gesagt, auch schon selbst darüber klargeworden, daß es im Vergleich mit allem, was früher Kunst hieß, nicht mehr recht bestehen konnte, und es proklamierte folgerichtig Gedichte abgesetzt und aufgehoben zugunsten von: Text. Das verwahrte sich schlauerdings gegen alles Maßnehmen und Vergleichswerten und betonte, daß es hier gar nicht um Stil gehe, sondern um: Struktur. Das wollte unangefochten über die Runden kommen und alles machen dürfen, und es erklärte wertende Literaturkritik für inkompetent, dafür aber geneigte Strukturanalyse für recht am Platze. Ach, soviel bemühtes Strukturenlesen und kein Verlaß! Soviel statistische Ästhetik und soviel unausmeßbare Freistatt fürs Nurausdörrende, Nurknöcherne, Nurlederne, Nurpapierene! Wie denn und wo scheidet sich hier der genuine Vereinfacher vom bloßen Pflasterer, der Experimentalmann vom Verhackstücker, der Könner vom Kastelhuber? Was darf ich als mißlungen bezeichnen, was als geraten? Was ist schon ein Titan und was nur ein Wechselbalg? Was eine runde Sache, was ein Windei?
Peter Rühmkorf, aus Susanne Fischer und Stephan Opitz (Hrsg.): Peter Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen, Wallstein Verlag, 2012
Der Text ist ein Auszug aus „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“, ED im Sammelband Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962, S. 447ff. Das Typoskript für den Erstdruck ist Grundlage des vorliegenden Textes (Titel von den Hg.)
Radikalismus sagt dem Schweizer wenig zu, am allerwenigsten poetischer Radikalismus. Zweifellos birgt die Vorliebe für das Ausgeglichene und Solide weniger Gefahren als eine notorische Anfälligkeit für jedes überraschende Geflunker. Wie aber, wenn der verwirrende Fall eintritt, dass der Wille zu solider Nüchternheit unerwartet einen poetischen Radikalismus hervorbringt?
Wer Eugen Gomringers KONSTELLATIONEN / CONSTELLATIONS / CONSTELACIONES zur Hand nimmt, zunächst entzückt über die tadellose graphische Gestaltung des Gedichtheftes, wird bei einem ersten Blick auf die Gedichte selber einen Schock erfahren. Wie sollte uns ein Gedicht wie das folgende nicht wahrhaft „spanisch“ vorkommen?
avenidas
avenidas y flores
flores
flores y mujeres
avenidas
avenidas y mujeres
avenias y flores y mujeres y
un admirador
Neben spanischen finden sich französische, englische Konstellationen ähnlicher Art. Und selbstverständlich auch deutsche:
sticht
aaaaspannt sich
sticht
aaaalöst sich
sticht
aaaazuckt
sticht durch
Kann man solche Wortübungen ernsthaft als Poesie bezeichnen? Es hat nicht an Kritikern gefehlt, die hinter ihrem Verfasser einen existentialistischen Tagedieb vermuteten, der seine Zeit in Cafés und Bars vertrödelt und sich gelegentlich mit dadaistischem Nonsens ein künstlerisches Alibi verschaffen will. Doch weit gefehlt! Gomringer gehört zum Mitarbeiterstab Max Bills, der im Auftrag der Geschwister-Scholl-Stiftung die Hochschule für Gestaltung in Ulm aufbaute und nunmehr als Rektor leitet. In Weiterführung der Arbeit des Bauhauses wird in Ulm versucht, den Gegenständen des täglichen Gebrauchs die je zweckmäßigste und schönste Form und der visuellen Umwelt, in der wir leben, ein neues, menschlicheres Gesicht zu geben. Von diesen Bestrebungen her ist Gomringers Experiment zu verstehen. Von ihnen her erklärt sich auch der überraschende Ansatz der Gomringerschen Poetik, die er in einem Aufsatz skizziert hat (erschienen in den Zeitschriften AUGENBLICK Nr. 2 und SPIRALE Nr. 5). Gomringer postuliert nämlich das Gedicht als einen Gebrauchsgegenstand. Seine Konstellationen wollen brauchbare Verse sein. Doch brauchbar wozu? Das ist die Frage, die Gomringer an alle Dichtung stellt: Wozu sind Gedichte brauchbar?
Die Frage richtet sich nicht an den Dichter, sondern an den Leser. Die Auskunft genügt nicht, das Gedicht sei ein Mittel zur Selbstverwirklichung des Dichters. Es geht um den Leser. Wozu taugt ihm ein Gedicht? Gomringer antwortet:
die konstellation ist eine aufforderung.
Wenn ich recht interpretiere, soll damit gesagt sein: das als Konstellation konzipierte Gedicht ist ein Gegenstand, welcher den Leser in geistige Selbsttätigkeit versetzen, mit einem Wortspiel zu weiteren Wortspielen, mit einem Denkspiel zu weiteren Denkspielen gleichsam die Initialzündung geben kann. Die Konstellation ist mithin nicht Darstellung von etwas oder Aussage über etwas, sondern ein aus Worten gebildeter Seh- und Denkgegenstand, der entweder zum Spiel oder zur Meditation gebraucht, nicht nur genossen und nachempfunden, sondern wirklich gebraucht werden kann. Soll man sagen: Die Konstellation möchte letztendlich den Leser zum zweiten Dichter machen, ihn in das Geschäft des Dichtens einbeziehen? Der Dichter, so scheint mir, wird hier seiner ,Priesterwürde‘ entkleidet und zu einem primus inter pares im allgemeinen Priestertum der Wort- und Denkspieler gemacht.
Wie steht es nun aber in praxi: Ist die Konstellation als Spiel- und Denkgegenstand wirklich brauchbar? Erste Bedingung wird sein, dass der Gegenstand so „handlich“ wie möglich ist. Darum beschränken sich die Konstellationen auf wenige Worte. Sie prägen sich sofort ein. Die Aneignung wird dem Leser auch durch die visuelle Präsentation leicht gemacht. So kann es geschehen, dass der provozierte Leser, der die Worte und Wortfügungen ratlos hin und her wendet, um hinter ihnen verzweifelt nach einem Inhalt zu suchen, mit einem Mal merkt, wie er selbst bereits im Wort- und Denkspiel begriffen ist und das Gedicht unversehens auswendig kann, so sehr, dass ihn die simplen Wortfügungen – trotz allem Protest – hartnäckig zu verfolgen beginnen. Die Provokation, die den Leser zum Mitspiel überlistet, ist von Gomringer wahrscheinlich bewusst herbeigeführt. Die Konstellation soll sich uns zum Spiel aufdrängen. Sie will unsre spielerische oder meditative Selbsttätigkeit hervor-rufen, pro-vozieren.
Allein: Ist ein Gedicht ohne Inhalt, ein Gedicht, verstanden als Gebrauchsgegenstand, notwenig? Gomringer stellt sich in diametralen Gegensatz zu allen Auffassungen, welche die Dichtung als Apokalypse, d.h. Enthüllung der Einzel- oder Kollektivseele, verstehen wollen. Der Dichter hat nichts zu verkünden, auch nicht sich selbst, er nennt „die ,allzumenschlichen‘ sozialen und erotischen probleme nicht. wenn diese probleme nicht weitgehend im leben gelöst werden können, gehören sie vielleicht in die fachliteratur“. In der Gesellschaft des technischen Zeitalters wird dem Dichter also ein Platz zugewiesen, an dem er weder mit den Philosophen noch mit den Psychologen, Soziologen oder Theologen in Konflikt gerät. Der Dichter bescheidet sich damit, Spiel-Raum zu schaffen, im homo faber den homo ludens zu erwecken, im zweckgerichteten, technischen Kosmos mit einer Art poetischen Glasperlenspiels die Spontaneität geistiger, zweckgebundener Freiheit zu provozieren. Gomringer sieht demnach den Dichter als einen Menschen von fast asketischer Bescheidenheit. Keine Anklage wird mehr erhoben gegen die Gesellschaft, die ihre Dichter nicht akzeptieren will und sie zu Außenseitern stempelt.
Im Gegenteil: an den Dichter ergeht der Ruf, sich in die Gesellschaft bescheiden einzufügen. Seine gesellschaftliche Funktion ist es, Spieler, Spielmeister, ludi magister zu sein – nicht Weltverbesserer, Priester oder Prophet. Sieht er seinen Auftrag in der letzteren Richtung, so rüste er sich, statt dichtend zu dilettieren, mit der nötigen Sachkenntnis aus, um als Politiker, Nationalökonom, Architekt, Philosoph oder Theologe kompetent wirken zu können. Der Verzicht auf den traditionellen Gedicht-,Inhalt‘ hängt also bei Gomringer aufs engste zusammen mit seiner Auffassung von der gesellschaftlichen Funktion des Dichters. Wir haben es hier nicht mit der Abgründelei irgendeines Irrationalismus zu tun, sondern mit einer Konzeption von Dichter und Gedicht, die durch ihre bestürzend nüchterne Rationalität hervorsticht. Es empfiehlt sich auch nicht, nur darum, weil diese Gedichte nichts aussagen wollen, von Nihilismus zu reden. So wenig ein nackter Raum nichts ist, so wenig ist die Konstellation nichts. Sie will vielmehr der vom Dichter abgesteckte Spiel-Raum sein, den mit seinen eigenen Denk- und Assoziationsspielen inhaltlich zu füllen der Leser provoziert wird. Programmatisch schon in der äußeren Struktur scheint mir das eine Konstellation anzuzeigen, die vielleicht nicht zufällig in der Mitte des Gomringerschen Gedichtheftes sich findet:
das schwarze geheimnis
ist hier
hier ist
das schwarze geheimnis
Was wir sehen, ist ein Rahmen. Was wir vernehmen, ist die Beschwörung eines schwarzen Geheimnisses. Aber nicht das schwarze Geheimnis des Dichters soll beschworen werden, sondern dasjenige des Lesers. Diese Konstellation ist erst fertig, wenn der Leser, als zweiter Dichter, sie weiter spielt und vollendet, wenn der weiße Binnenraum der Konstellation das schwarze Geheimnis des Lesers empfängt. Bis dahin bleibt das Gedicht unfertig und auf den Leser hin offen.
Vieles bliebe noch zu erörtern. Etwa die Reduktion der Sprache auf das Wort. Doch gingen hier andere (A. Stramm, E.E. Cummings u.a.) schon voran. Gomringer führt die Versuche seiner Vorgänger nur insofern weiter, als er nicht mehr nur fremdsprachige Vokabeln einstreut, sondern mit ihnen ganze Gedichte baut. Auch die sorgsame Pflege des Gedichtbildes hat seit Appollinaire und Arno Holz bereits ihre Tradition. Dasselbe lässt sich vom Gedicht „ohne Inhalt“ sagen (Dadaismus!), um das sich neben Gomringer auch andere junge Dichter wieder neu bemühen, zum Beispiel H. Heißenbüttel und A. A. Scholl („Poesie beginnt, wo die Inhalte aufhören“). Elemente der KONSTELLATIONEN finden sich auch bereits in den poetischen Versuchen Kandinskys.
Wesentlich scheint mir, dass dem poetischen Experiment Gomringers eine sehr klare Konzeption von der Funktion der Dichtung und des Dichters in der modernen Gesellschaft zugrunde gelegt ist. Die Parole „l’art pour l’art“ wird wieder aufgenommen. Aber es ist nicht mehr die Fluchtparole des sich in Elfenbeintürme zurückziehenden Dichters, sondern die Werkparole desjenigen Dichters, der sich mitten in die Gesellschaft unseres technischen Zeitalters gestellt und mit einem konkreten Auftrag ausgerüstet weiß, nämlich mit dem Auftrag, Spielmeister des Wortes, Provokateur selbsttätiger Freiheit, Erzieher zum homo ludens zu sein. Die Gesellschaft selber hat an diesem Werk des Dichters ein Interesse, weil ihr daran liegen muss, dass sie sich nicht nur aus funktionierenden Partikeln, sondern aus funktionierenden Menschen zusammensetzt.
Wer sich mit Gomringer auseinandersetzen will – und das wäre wünschenswert, dass das geschieht –, muss sich mit seiner Gesamtkonzeption auseinandersetzen und darf nicht bei dieser oder jener Eigenwilligkeit, die ihm ge- oder missfällt, stehen bleiben.
Kurt Marti, Die Tat, 17.3.1956
Nora Gomringer: Gedichtanalyse 2.0
Nora Gomringer: Ich werde etwas mit der Sprache machen, Verlag Voland & Quist, 2011
Katharina Kohm: „mein thema sei im wandel das was bleibt“
signaturen-magazin.de
Dirk Kruse: Eugen Gomringer wird 90
br.de, 20.1.2015
Rehau: Eugen Gomringer feiert 90. Geburtstag
tvo.de, 21.1.2015
Thomas Morawitzky: „Ich könnte jeden Tag ein Sonett schreiben“
Stuttgarter Nachrichten, 9.2.2015
Lisa Berins: Vom Vers zur Konstellation – und zurück
Thüringische Landeszeitung, 26.9.2015
Ingrid Isermann: „Eugen Gomringer: Der Wortzauberer“
Literatur & Kunst, Heft 76, 03/2015
Michael Lentz: Die Rede ist vom Schweigen
Neue Rundschau, Heft 2 / 2015
Klaus Peter Dencker: Laudatio für Eugen Gomringer zum 90. Geburtstag
manuskripte, Heft 208, Juni 2015
Ralf Sziegoleit: Lebende Legende
Kurier, 20.1.2020
Katrin Fehr, Suzanne Schattenhofer: Ein Leben voller Kunst und Kultur
Donaukurier, 19.1.2020
Eugen Gomringer feiert 95. Geburtstag
Stadt Rehau
Eugen Gomringer: kein fehler im system.
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