ZU EUGEN GOMRINGER
Es lebe der Versuch! Es lebe das Verhackstücken der Sprache, die Zerlegung in ihre einzelnen Teile und die sturköpfige Wiederholung ebenjener Teile, auch der verlorene Einzelbuchstabe auf weiter weißer Seitenflur, das Ausscheren der Silben aus der schnurgeraden Reihe und das Auf-den-Kopf-Stellen der Wörter, gepriesen seien die hupflustigen Tänze, die sie aufführen, auch die Klammern, die ein Wort umhüllen, als handele es sich um eine zerbrechliche Preziose.
Wie fade, würde alle Welt nur wohlgeordnete Romane schreiben, einer Erzähllogik verpflichtet, die es in den Hirnen der Menschen ohnehin nicht gibt. Assoziationschaos, Wortchaos produziert das Hirn am laufenden Band. Und unsere Hirnlein alle, sie lieben auch die Wiederholung, kleben an ihr fest wie Mücken, die sich an einem von der Decke herabhängenden Leimbändel verfangen haben, oder sie tun sich damit dicke wie Kinder, die nicht von einem Wort lassen können und dies eine Wort zur Verzweiflung der Erwachsenen unablässig wiederholen.
Eugen Gomringer (oder muß hier gesagt werden: égé?), er liefert sich solchen Hirnmanövern hingebungsvoll aus, allerdings ist der Mann auch ein Strukturfex. Wild im Sinne des Unkontrollierten geht es bei ihm nicht zu. Da ist ein nobler und zugleich akkurater Schaffner am Werk, der die Sprachfahrkarten gründlich prüft und überlegt, ob er sie für rechtens hält, diese knipst oder zurückweist. Wörter werden auch nach ihrer Bewegungsdynamik oder ihrem intrikaten Beharrungsvermögen ins Wechselspiel gebracht. Wenn es heißt: Worte sind Schatten gilt sogleich das Umkehrprinzip – Schatten werden Worte. Dann kommen Spiele ins Spiel, und aus Schatten werden schlußendlich wieder Worte. Das Hin und Her zwischen aufgerufener Realsubstanz und Wortschwindel wird in einem lockeren Spaziergang vorgetragen. Daß das Wörtlein schweigen in den Verschwindibusstufen von allmählich lichter werdenden Grautönen aufgeführt wird, ist hochvernünftig. So langsam sollte dieser Text auch ins lichter werdende Grau diffundieren.
Doch halt! Da wär’ noch was. Jawohl oder jawollo, wie’s der schnöde Berliner ausdrückt: man sieht das Wort Mensch auch gern mal auf den Kopf gestellt. Und daß aus dem kleingeschriebenen ,mensch‘ ein hcsnem werden kann, eine Art Schluckaufgeschöpf, vernimmt man ebenfalls gern.
Es muß hier allerdings gezögert werden, das Wort ,ich‘ auf den Plan zu rufen. In Bezug auf die Gomringerschen Wortsaltimortali klingt es zu intrusiv, salopp gesagt: ranschmeißerisch. Aber jetzt muß ich das Prinzip fahrenlassen. Denn in Bezug auf die Kapriolen, die sich in den Kehlen abspielen, wird von mir nur eines in Eugen Gomringers Werk vermißt: ein Schluckaufgedicht auf den am Glucksi, am Heckser, am Hickser, am Schnacksi verstorbenen Papst Pius XII. Werter Herr Gomringer, bittebitte, fassen Sie das als kleines doofes Ansinnen von einer unmaß .. hicks! .. geblichen .. hicks! .. Ro .. roroman .. hicks! .. schwätzerin auf. (((((Dem Sie keinesfalls Folge leisten sollen, wollen, müssen.)))))
Sibylle Lewitscharoff
„poema“ ist die spanische bezeichnung für dichtung und gedicht. im rahmen des instituts für konstruktive kunst und konkrete poesie ikkp (institut für konstruktive kunst und konkrete poesie) im kunsthaus rehau ist das poema ein in sich geschlossener raum, wo die begegnung mit den wichtigsten gedichten meiner konkreten poesie – verstanden als wortkonstellationen – in einladend visuellem grossformat stattfindet. die spanische bezeichnung wurde gewählt, weil das spanische als meine muttersprache bei der gründung der konkreten poesie ebenso eine rolle spielte wie deutsch, französisch und englisch.
eingerichtet wurde das poema ehemals als „kapelle“ im museum modern art in hünfeld durch dessen verdienten gründer und leiter jürgen blum. er war durch die bekanntschaft mit meinen gedichten von der neuen poesie früh eingenommen worden und widmete ihr die konzentrierte wahrnehmung in einem abgegrenzten raum, der „kapelle“. er machte mir diese später zum geschenk. bei gelegenheit meines 80. geburtstags übernahm die stadt rehau die idee der „kapelle“ und richtete gegenüber dem eingang zum kunsthaus, in dem ich seit dem jahr 2000 als spiritus rector leitend tätig bin, den raum der poesie ein, der seither als lebendiger bestandteil des ikkp eine bedeutende literaturgeschichtliche funktion erfüllt. der stadt rehau ist es zu danken, dass sie nicht nur dem pionier der konkreten poesie ein geschenk machte, sondern selbst als anziehungspunkt dieser einmaligen einrichtung einen gewinn verzeichnen kann.
der inhalt des poema, das weiterhin etwas von der atmosphäre der „kapelle“ bewahrt, beinhaltet 14–20 der berühmtesten konstellationen – es werden hin und wieder auswechslungen vorgenommen –, die als leicht lesbare sehobjekte, gedruckt auf hölzerne paneele, unmittelbare wirkung ausüben. zugänglich werden geschichte und bedeutung der konkreten poesie jeweils durch die führungen meiner frau, der germanistin dr. nortrud gomringer. für nicht wenige besucher ist das poema deshalb ein „sesam öffne dich“ zur poesie überhaupt.
zweck des vorliegenden bandes ist es, den zugang zur poesie der konstellationen und zur konkreten poesie insgesamt vorzubereiten mit hilfe von kommentaren, die teils meinen eigenen zugang zur entstehung verraten, teils von bedeutenden verehrern stammen. vielleicht wird man gerade in diesem fall von „sprachkürze – denkweite“ authentisch erfahren, wie sprachwelt der poesie und realwelt sich gegenseitig beeinflussen.
diese einmalige sammlung von interpretationen ergibt ein bild der subjektiven vorlieben und der wahl von objekten. autoren und autorinnen hatten sich schon längere zeit mit den konstellationen beschäftigt, sich zum teil auch schon dazu geäussert. dass sie sich letztlich bereit erklärten mitzuwirken, dafür danke ich ihnen sehr herzlich.
doch oblag das zustandekommen, konzipieren und fertigen zwei instanzen: dem verleger des nimbus verlags, bernhard echte, und seiner mitarbeiterin, julia knapp, sowie nortrud gomringer, meiner frau, die sich mit ihrer lebenslangen motivation für konkrete poesie und damit auch für meine mannigfaltigen aktivitäten unermüdlich als förderin einsetzt. ihnen gehört das schlusswort: ich danke ihnen, ich danke dir.
nicht die worte eines literatuwissenschaftlers oder eines geneigten kenners meiner poesie werden der sammlung POEMA vorangestellt, sondern die lapidaren formulierungen, mit denen max bill sich mir zuliebe einmal zur dichtung im allgemeinen und im besonderen befasste – er war ansonsten kein freund von dichterlesungen usw., wie er mir anvertraute. trotzdem ist der zusammenhang gegeben, gehört max bill doch zu den ersten künstlern, die mir 1944 begegneten und deren kunst half, meiner poetischen vorstellung einen radikalen impuls zu verleihen. sein name und seine kunst werden deshalb wiederholt in diesem band erwähnt.
Eugen Gomringer, Vorwort
erschien Eugen Gomringers Gedicht „avenidas“ in der Zeitschrift spirale. Es war ein erstes Beispiel jener „Konstellationen“, die in der Folge eine wesentliche Grundform der Konreten Poesie bilden sollte. Auf unvermutete Weise hat dieses Gedicht in jüngster Vergangenheit für Zündstoff gesorgt und eine umstrittene Aktualität gewonnen – Anlass genug, das dichterische Werk des Begründers der Konkreten Poesie neu zu betrachten. Eugen Gomringer hat dazu eine Anzahl seiner wesentlichen Gedichte versammelt, sie selber kommentiert und ihnen Essays bekannter Autorenkollegen beigegeben. Er hält damit Rückschau auf die Entwicklung einer literarischen Bewegung, deren minimalistischer Reduktionismus zunächst als belanglose Spielerei belächelt wurde, deren kreatives Potential sich unterdessen jedoch in einer weltweiten Rezeption und Verbreitung erwiesen hat. Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes stehen sechzehn Texte, die ebenso sinnfällig wie schlagend vor Augen führen, dass nicht nur inhaltliche, sondern auch streng formale Verdichtung poetische Wirkungen hervorbringen kann. Die vielen Facetten dieses Verfahrens zeigen die Gedichte „schwiizer“, „ode an züri“, „fünf vokale“, „schweigen“, „kosmos chaos extase“, „chumm“, „wind“, „häuser des i ging“, „sie wirken zusammen“, „avenidas y flores“, „kein fehler im system“, „konstellationen“, „ping pong“, „möv möv“, „das schwarze geheimnis“, „gleichmässig gleich“ und „vokale“. Mit Beiträgen von Maria v. Assel, Heike Baeskow, Max Bill, Mark E. Coray, Florian Cramer, Zsuzsanna Gahse, Annette Gilbert, Nora Gomringer, Nortrud Gomringer, Ingrid Isermann, Walter Jens, Robert Kudielka, Michael Lentz, Sybille Lewitscharoff, Kurt Marti, Peter von Matt, Franz Mon, Oskar Pastior, Ilma Rakusa, Wulf Segebrecht
Nimbus, Ankündigung
– Frauen, Alleen, Blicke: In Berlin wird über ein Gedicht Eugen Gomringers gestritten. Sein Gesamtwerk nimmt jetzt der Band „Poema“ in den Blick. –
Es gab jüngst in Berlin eine gewisse Aufregung um das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer. Viele Worte wurden darüber verloren, welcher Art die Blicke sein mochten, die darin ein admirador, ein Bewunderer, auf blumen und frauen (flores y mujeres) wirft. Demnächst soll das Gedicht von der Fassade einer Hochschule entfernt werden.
Sehr willkommen ist in dieser Lage der Band Poema mit Essays von und über Eugen Gomringer, der auch zahlreiche Gedichte von ihm enthält. Wer die „konkrete Poesie“, für die Gomringer steht, nur vom Hörensagen kennt, kann hier erfahren, woher sie kommt. Und er lernt en passant viele Geschwister der Frauen, der Blumen und der Alleen kennen, und außerdem Gomringer-Bewunderer, darunter Peter von Matt. Er wird hineingezogen in die Nachkriegszeit in Deutschland und der Schweiz, folgt Gomringer und Max Bill an die Hochschule für Gestaltung in Ulm, erkennt dahinter in Gestalt von Josef Albers das Bauhaus der Weimarer Republik.
Und wenn dann die acht Zeilen des avenidas-Gedichtes auftauchen, wundert er sich nicht mehr über die Kleinschreibung, das Fehlen aller Interpunktionszeichen und die Positionswechsel der Worte im Reigen der Wiederholungen. Und auch nicht darüber, dass das Gedicht auf einer Hauswand landete. Schon als es 1953 in der Zeitschrift Spirale erstmals erschien, wollte es heraus aus der Bücherwelt. Allein, mit viel Weißraum um sich, strebte es im Format 35 mal 50 cm Richtung Plakat. In seiner Einfachheit und Knappheit suchte es die Nähe zur damaligen Avantgarde in Design, Grafik und Architektur , und die Zeit, die es brauchte, um gelesen zu werden, wollte von einer von Max Bill gestalteten Uhr abgelesen werden.
Aber was heißt schon gelesen? Die Buchstaben der konkreten Poesie wollen ebensosehr Gegenstände der Betrachtung wie der Lektüre sein. „Konstellationen“ nennen sich die Gedichte und legen Wert darauf, dass darin „stella“ steckt, der Stern und das Sternbild. An die Stelle der Metapher, der sie die kalte Schulter zeigen, setzen sie die visuelle Pointe, wie die Figurengedichte des Barock.
Sibylle Lewitscharoff singt das Loblied Gomringers so:
Es lebe das Verhackstücken der Sprache, die Zerlegung in ihre einzelnen Teile und die sturköpfige Wiederholung ebenjener Teile, auch der verlorene Buchstabe auf weiter weißer Seitenflur, das Ausscheren der Silben aus der schnurgeraden Reihe und das Auf-den-Kopf-Stellern der Wörter.
Gomringers wohl berühmtestem Gedicht „schweigen“ bilden 14 Exemplare der Buchstabenfolge „schweigen“ im Blocksatz aus fünf Zeilen ein Rechteck, in dessen Mitte sich eine Leerstelle auftut, die nicht einfach nur leer ist. Ihr scheint die Buchstabenfolge „schweigen“, die exakt in sie hineinpassen würde, abhanden gekommen zu sein.
Der eindringlichste Kommentar hierzu stammt von Oskar Pastior, der 2001 den Paradoxien der konkreten Poesie nachspürte und Gomringers Leerstelle mit seinen Obsessionen füllte, einschließlich seiner Lagererinnerungen, im Blick auf „das Nierentisch-Design der knappen Machbarkeit und Nüchternheit von materialer Poesie“.
Die konkrete Poesie war immer auch Markenzeichen, spielte mit der Nähe zu Industrieprodukten. Von 1967 bis 1985 leitete Gomringer die Kulturabteilung der Porzellanfirma Philipp Rosenthals. Am Ufer von Gomringers mit Wind und See spielendem Gedicht „möv möw luv lee“ steht eines der gerade gegründeten Mövenpick-Restaurants. Auch das eine Schweizer Erfindung, und dazu passt, das Gomringers Texte nicht nur das Spanische, Englische, Französische, Hochdeutsche verwenden, sondern auch – wie in „chumm“ („komm“) – die Mundart, das „züritütsch“. So schlägt er Brücken vom visuellen Gedicht zum Lautgedicht.
– Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“ hat für viele feministische Debatten gesorgt, sein neuer Gedichtband kommt zur rechten Zeit. –
Dank der Studentinnen und Studenten der Berliner Alice-Salomon-Hochschule wissen mittlerweile auch kunstferne Menschen, wer Eugen Gomringer ist: der Begründer der einstmals belächelten, mittlerweile kanonisierten konkreten Poesie. Sein Gedicht „Avenidas“ (dessen Text rund um Blumen, Frauen und einen Bewunderer sich, wie Die Welt bemerkte, mittlerweile wohl in deutschen Fußgängerzonen abfragen ließe) muss von der Hauswand besagter Hochschule entfernt werden, nachdem die dortigen Studierenden in ihm eine potenziell sexistische Atmosphäre witterten. Man muss es so schwammig sagen, denn selbst den Studierenden war klar, dass das Gedicht nicht sexistisch ist oder von einem Übergriff erzählt. Man könne aber „unangenehm“ daran erinnert werden, dass es derlei gäbe.
Es ist vor diesem Hintergrund ein Segen, dass ein neues Buch von und über Eugen Gomringer erschienen ist. poema versammelt bereits erschienene oder neu entstandene Essays von und über Gomringer, dazu zahlreiche Gedichte. Man sollte dieses Büchlein lesen, jedoch nicht auf einmal. Es wäre schade drum. Denn es gibt hier mehr als einen Gedankenanstoß, der es wert ist, in Ruhe verfolgt zu werden. poema führt den Leser, die Leserin zurück in eine im zeitgenössischen Empfinden fast schon vergessene Gefühlswelt, die eigentlich nur noch in Form von „Event“-Serien präsent ist: jene der Nachkriegszeit. Damals entstand Gomringers konkrete Poesie, aus Bewunderung für und in Anlehnung an die bereits weit entwickelte konkrete Kunst. Es ging, was in der Diskussion um „Avenidas“ bisweilen angedeutet wurde, um eine Wiederentdeckung von Schönheit und Leichtigkeit nach dem erlebten Schrecken. Es ging um eine Neubesinnung, einen Neubeginn nach den Jahren der Diktatur und des Krieges. Gomringer selbst formulierte das als „grossen reinigungsprozess“, der in der konkreten Kunst wie der konkreten Poesie „die elemente des aufbaus neu entdecken liess.“ Die Literaturwissenschafterin Annette Gilbert schreibt in einem Beitrag von einer „Abwendung von der Repräsentationsfunktion der Sprache“ – und, möchte man ergänzen, damit auch von einer Abkehr vom totalitären, gewaltsamen, manipulativen Potenzial, das Sprache eben immer auch hat. Nicht als Sprache an sich, sondern durch die Möglichkeiten ihrer Verwendung.
Gomringer, das macht vor allem der Text des Schweizer Pfarrers und Schriftstellers Kurt Marti deutlich, ging es dagegen um das offene Spiel, das sich mit der Sprache ebenso treiben lässt. Die Gedichte sind für ihn zur Verfügung gestelltes Sprachmaterial, das die Leserinnen und Leser selbst zu Dichtern werden lässt, die mitdenken, -schreiben, -spielen. Gomringer sah seine Texte als Gebrauchstexte, zur Verwendung bestimmt. Die zahlreichen Texte in diesem Band zeigen in beeindruckender Fülle, wozu das führen kann. Es ist verblüffend, was sich aus diesen oft nur aus wenigen Worten bestehenden Gedichten (am berühmtesten das 1960 entstandene „schweigen“, das 14-mal das Wort „schweigen“ um eine Leerstelle herum ordnet) schöpfen lässt, wie produktiv diese Gedichte noch immer sind. In poema versammeln sich unterschiedliche Beiträge von Walter Jens, Peter von Matt oder Sibylle Lewitscharoff – am sprachlich wie gedanklich eindrucksvollsten unter all den Texten dabei sicherlich jener von Oskar Pastior: „Mit dem Fleisch des Schweigens“.
Man ist nach der Lektüre dieses Bandes in vielerlei Hinsicht erschrocken über das, was in Berlin geschehen ist. Darüber, wie wenig sich die Studierenden (und auch das Gros der Kommentare) mit der konkreten Poesie auseinandergesetzt haben. Damit, dass es hier in erster Linie um das Materielle der Sprache geht, dass die Konstellationen, wie Gomringers Gedichte heißen, „eine realität an sich und kein gedicht über…“ sein sollen.
Wurde überhaupt einmal nach der Perspektive in dem Gedicht des Anstoßes gefragt, danach, wer hier eigentlich spricht und in welcher Absicht? Wurde auch nur einmal in Betracht gezogen, dass sich dieses Gedicht in seiner Offenheit doch auch von seinen Kritikern verwenden und weiterschreiben ließe? Man erschrickt, wie wenig hier eine Auseinandersetzung erfolgte, wie respektlos mit einem anderen Menschen und seinem Tun umgegangen wurde, wie wenig man sich interessiert hat für das „Andere“, das einen befremdet oder missfällt.
Gomringer wird einem in diesem Buch immer wieder als ein Mensch von großer Offenheit vorgestellt, als jemand, der sich für andere und ihr Schaffen interessiert. Dass ausgerechnet einem wie ihm so etwas widerfahren muss, macht traurig. Stellt man sich doch, unabhängig von jeder konkreten Bewertung oder Parteinahme, die Frage: Was ist aus uns geworden, dass wir uns Meinungen und Kategorien bilden, während das betreffende Gegenüber dabei unversehens aus dem Blickfeld gerät? Plötzlich scheinen die Vorkommnisse an der Alice-Salomon-Hochschule nur wie ein weiteres Symptom einer gesellschaftlichen Entfremdung.
– Der Dichter ist seit seinem Gedicht „avenidas“ in aller Munde. Nun gibt es einen schönen Sammelband seiner Sprachkunstwerke. –
Selbst unter Literaturinteressierten kommt es selten vor, dass ein Gedicht in aller Munde ist, vergangenen Herbst und Winter aber war das der Fall. Eugen Gomringers Achtzeiler „avenidas“ war zum Tagesgespräch geworden, weil eine Berliner Hochschule, auf deren Fassade das Gedicht seit Jahren prangte, plötzlich erkannt haben wollte, dass die Verse Sexismus befördern. Die Unterstellung rückte den Dichter, keinen Geringeren als den Erfinder der Konkreten Poesie und trotz seiner inzwischen 93 Jahre noch bewundernswert aktiv, nachhaltig ins Rampenlicht – und bescherte der literarischen Öffentlichkeit die Erkenntnis, dass von Gomringer eigentlich nichts auf dem Buchmarkt zu haben war.
Dem Notstand hat der kleine Schweizer Nimbus Verlag jetzt Abhilfe verschafft, noch dazu mit einem Buch, das gelungener nicht sein könnte. Denn der Band mit dem Titel poema versammelt nicht nur etwa 30 Gedichte Gomringers, ganzseitig gedruckt in weißer Schrift auf grauem Grund, was die grafische Qualität der konkreten Poeme unterstreicht. Beigegeben wurden auch zahlreiche Essays, die als weiterführende Interpretationen ebenso taugen wie als Einstiegshilfen in diese besondere Kunstform, auf deren Vertreter, wie es der Germanist Peter von Matt in seinem Beitrag plastisch formuliert, leicht der Schatten fällt, sie seien „phantasiearme Bastler, die mit den Wörtern umgehen wie Buben mit ihrem Baukasten“. Gomringer selbst hat für den Band die Auswahl besorgt, was erklärt, dass gerade sein essayistischer Teil nicht zum trockenen Interpretationshandbuch geraten ist.
Aufschlussreich ist besonders, was der Dichter selbst zu seinen Gedichten zu sagen hat – er äußert sich zu fast allen und natürlich in der für ihn typischen Kleinschreibung. Wie könnte es anders sein, steht „avenidas“, dieses 1953 entstandene, in spanischer Sprache geschriebene Initialgedicht der Konkreten Poesie, am Beginn. Gomringer verliert kein Wort über die Berliner Streiterei, ihm geht es nicht um die Wirkung, sondern um das Sprachereignis, das er mit dem Begriff der „konstellation“ umfasst und das keineswegs nur die Semantik der Wörter bedenkt, sondern auch deren grafische Qualität. So verweist Gomringer etwa auf das Detail, dass das mehrfach wiederkehrende „y“ (das deutsche „und“) mit seinen beiden Buchstabenschenkeln „auf das zusammenführen von einer vokabel links zur vokabel rechts“ aufmerksam mache – „eine visuelle Information“, typisch für die Konkrete Poesie.
Nora Gomringer, Tochter und selber Dichterin, findet in einem eigenen Beitrag zu „avenidas“ dann doch ein paar Worte zu der Farce in Berlin, die bekanntlich auf das Übertünchen des Gedichts ihres Vaters hinauslief. Ihr Kommentar zu den Vorgängen:
Ironischerweise hat der vermeintliche Einsatz für mehr Frauenrechte einige Menschen zum Ausdruck perfider Misogynie angeregt; auf einmal klopfen mir, der Feministin Gomringer, AfD-Fraktionsmitglieder auf die Schulter, augenzwinkernd quasi, ein „diesen Feministinnen muss man doch einen Strich durch die Rechnung machen“ mitgebend.
Einer der originellsten Beiträge des Buches stammt von der Sprachwissenschaftlerin Heike Baeskow. Er bezieht sich auf „schweigen“, dem neben „avenidas“ wohl bekanntesten Gedicht Eugen Gomringers. Baeskow verfasste eine kleine Erzählung: Vier Schüler sollen eine Interpretation des Gedichts abliefern, sehen sich aber überfordert und wenden sich an einen in solchen Fragen kundigen älteren Herrn. Der kennt „schweigen“ nicht, sodass ihm das Quartett die Struktur des Gedichts erst nahebringen muss, diese 14 bedachtsam angeordneten Wiederholungen des einen Wortes „schweigen“: „… das ist wie ein kleiner Kasten aus Wörtern“, sagt eine, ein anderer: „… und in der Mitte steht nichts“. Eben darauf kommt es an, und so erkennt der lyrikkundige ältere Herr am Ende:
Die wahre Schweigsamkeit entspringt der Lücke, denn Schweigen lässt sich nicht in Worte kleiden.
Gut gesagt, die Schüler sind begeistert – der Leser kaum weniger –, und eine der Belehrten zitiert zu guter Letzt die Lehrerin, die immer sage, „wir sollen nicht überinterpretieren, also wir sollen uns hauptsächlich an das halten, was da steht“.
Dieses Maßhalten des Interpretierens ohne Überanstrengung gelingt auch diesem schönen Buch. Wirft es den Leser doch immer wieder zurück auf das, „was da steht“, auf Eugen Gomringers Gedichte.
Dirk Kruse: poema – Gedichte und Essays
BR24, 18.7.2018
Andreas Kohm: „Eugen Gomringer: poema“
literatur&kunst.net, Nr. 86, 05/2018
Magnus Wieland: Kurzkritik Eugen Gomringer: poema
literarischer monat, Ausgabe 34, Oktober 2018
Nicola Bardola: Lyrik-Revue – Folge 4: Politik und Poesie
dasgedichtblog.de, 20.8.2018
Miranda Gilgore: Gedichte als Antwort auf den 2. Weltkrieg: Gomringers und Jandls konkrete Poesie in der Nachkriegszeit
Nora Gomringer: Gedichtanalyse 2.0
Nora Gomringer: Ich werde etwas mit der Sprache machen, Verlag Voland & Quist, 2011
Katharina Kohm: „mein thema sei im wandel das was bleibt“
signaturen-magazin.de
Dirk Kruse: Eugen Gomringer wird 90
br.de, 20.1.2015
Rehau: Eugen Gomringer feiert 90. Geburtstag
tvo.de, 21.1.2015
Thomas Morawitzky: „Ich könnte jeden Tag ein Sonett schreiben“
Stuttgarter Nachrichten, 9.2.2015
Lisa Berins: Vom Vers zur Konstellation – und zurück
Thüringische Landeszeitung, 26.9.2015
Ingrid Isermann: „Eugen Gomringer: Der Wortzauberer“
Literatur & Kunst, Heft 76, 03/2015
Michael Lentz: Die Rede ist vom Schweigen
Neue Rundschau, Heft 2 / 2015
Klaus Peter Dencker: Laudatio für Eugen Gomringer zum 90. Geburtstag
manuskripte, Heft 208, Juni 2015
Ralf Sziegoleit: Lebende Legende
Kurier, 20.1.2020
Katrin Fehr, Suzanne Schattenhofer: Ein Leben voller Kunst und Kultur
Donaukurier, 19.1.2020
Eugen Gomringer feiert 95. Geburtstag
Stadt Rehau
Eugen Gomringer: kein fehler im system.
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