– Zu Eugen Gomringers Konstellation „möv“. –
EUGEN GOMRINGER
möv
möv möv
möv möv möv
möv
möv luv
möv lee
möv möv möv
luv möv möw
lee
möv möv möw
möv möv
möv
diese konstellation in drei gruppen lässt das wart möv als hauptelement erkennen. es ist die abkürzung von möwe. weil das lee für windschatten in der mittleren gruppe hinzu kommt, würde die dauernde wiederholung des endvokals von „möwe“ ablenken von der großen bedeutung des windschatten-lee. ihm und dem gegen begriff luv für windseitig gebührt die aufmerksamkeit im spiel der möwen – denn als ein solches hat es sich mittlerweile der betrachtung mitgeteilt. es handelt sich um das spiel der möwen, wie ich es als kind auf den spaziergängen am zürichsee erlebte, als die winter noch streng genug und viele seevögel zu beobachten, ja aufdringlich waren. so oft wie möglich wirft man den lebhaften seglern im wind auch brotbrocken zu, damit das waghalsigste flugmanöver entstehen kann. dabei ist der unterschied von windabgewandt und windseitig von vogel zu vogel, von einem moment auf den anderen schön zu beobachten. dass zweimal das wort mit einem ,w‘ statt mit dem ,v‘ endet, kann man sprachlautlich verstehen. hin und wieder wird das wart möw wie möv ausgesprochen. es spielt hier die vielfalt im möwenschwarm eine rolle, der man mit aufschreiben kaum gerecht werden könnte. hin und wieder habe ich auch zugefügt, dass die möwe mit ,w‘ eben ein besonders großer vogel sein könnte, vielleicht ein albatros.
das spiel der möwen hat einen interessanten rückhalt in der realität des wirtschaftslebens, wie das bei mehreren meiner gedichte der fall ist, indem im gleichen zeitraum seiner entstehung der zürcher ueli prager (1916–2011) eine völlig neue trendgastronomie ins leben rief, die als „mövenpick“ internationale berühmtheit erfuhr. viele meiner leser sind der meinung, erst durch diese gründung sei ich auf meine konstellation gekommen. das stimmt nicht im sinn eines direkten vorbilds, wohl aber passt das fast gleichzeitige geschehen sehr gut zusammen. meine möven – seine möven.
das einbeziehen der umwelt und des wirtschaftslebens ins poetische ruft noch das theoretische befassen ins bewusstsein. ist die konstellation mit möv ein konkretes oder ein abstraktes gedicht? mit einer solchen frage ist die konkrete kunst, welche der entstehung der konkreten poesie voran ging und sie durch ihre theorie grundsätzlich in den vierziger jahren des 20. jahrhunderts beeinflusst hatte, oft konfrontiert worden. als „abstrakt“ wird ein kunstwerk bezeichnet, das durch reduktion der mehrdimensionalen realität auf die zweidimensionale fläche gebracht wird. indem die konkrete kunst sich der abbildung der umweltrealität enthält, sucht sie als gegensatz zur abstraktion die konkretion, d.h. die herstellung einer zweiten realität. auf die dichtung bezogen heisst das, ein wort an sich als ausgangspunkt zu betrachten und – anstelle der bezeichnung eines realen objekts das material der buchstaben zur herstellung konkreten gebildet zu verwenden. mit der reduktion des wortes „möve“ auf möv findet eine abstraktion statt, gleichzeitig aber eine neuschöpfung durch die bis anhin nicht gebräuchliche dreiletternform möv. dies ist ein vorgang der konkreten gestaltung. einem solchen ambivalenten prozess begegnet man wiederholt in der konkreten poesie, da der minimalste laut, das einfachste zeichen stets mit einer bedeutung aufgeladen ist. andererseits kann davon auch abgesehen werden, wenn die künstlerische strukturordnung das formale verfahren selektioniert. die umwelt wird zwar reflektiert, durch gestaltung aber wird aus „möwe“ möv, dank auch luv und lee.
Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018
Luv und lee – Landratten kennen die Bedeutung dieser beiden Wörter nur aus dem Kreuzworträtsel. Windabgewandt, windzugewandt mit drei Buchstaben – das hat man irgendwann raus. Aber was will das konkret heißen, wo ich weder fliegen kann noch segeln? Das wär’s noch, wenn ich mich durch das Wissen um zwei mal drei Buchstaben leicht und elegant in die Lüfte erheben könnte! Möwen halten es nicht mit den Wörtern, vielleicht wissen sie deshalb, wie sie mit luv und lee umzugehen haben. Allerdings kennen Möven weder Kreuzworträtsel noch Gedichte. Brauchen sie vermutlich auch nicht. Wir bodenverhafteten Zweibeiner im Grunde ebenfalls nicht. Dennoch gibt es unter uns welche, die Kreuzworträtsel lösen können, unabhängig davon, ob sie wissen, was luv ist und was lee. Und andere lieben Gedichte vor allem dann, wenn sie nicht verstehen, was sie bedeuten. Bei Wind besehen sind Kreuzworträtsel und Gedichte eigentlich so ziemlich das gleiche. Im einen Fall sucht man die Wörter, ohne sie wirklich zu verstehen, im anderen Fall hat man sie, ist aber auch nicht viel schlauer. Ach, wenn die Wörter doch immer nur ganz konkret mit ihrer Bedeutung identisch wären, nicht mehr und nicht weniger. Wie allzeit korrekt und keusch wären sie dann! Halten wir uns einstweilen an die Möven und freuen uns, dass wenigstens sie ganz mit sich identisch sind, ob wir sie nun mit ,v‘ schreiben oder mit ,w‘. Aber kreischen sie vielleicht deshalb so schrill, weil wir die Leichtigkeit ihres eleganten Fluges, die uns so schmerzlich abgeht, mit unseren Worten bewundern? Eins immerhin weiß ich: Wenn die Möwen, die in großer Höhe kreisen über dem Wörtersee, plötzlich an Land kommen, dann gibts Schnee, egal ob bei luv oder lee. Und unversehens stehen wir wieder – ganz ohne Worte – mitten drin im flirrenden Geheimnis.
Bernhard Echte, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018
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