– Zu Eugen Gomringers Gedicht „chumm“. –
EUGEN GOMRINGER
chumm
chumm chumm
chumm nu
chumm ume
chumm numenume
chumm nu ume
chasch cho
chum chasch cho
chunsch
chumm gang
gang gang
gang nu
gang nume
chumm nüme
chumm nümenume
haus
nicht lange nach der gründung meiner konkreten poesie und der publikation des ersten gedichtbandes der KONSTELLATIONEN 1953 im eigenverlag der spirale ergab sich eine neue interessenrichtung. ausgelöst wurde sie durch die freundschaft mit den dichtern gleicher gesinnung in wien: friedrich achleitner, h.c. artmann und gerhard rühm. es war die wiener dialektpoesie, die als nachkriegspoesie im deutschsprachigen raum einen festen platz und rang gewonnen hatte. wer kannte nicht den band hosn rosn baa von 1959? dialektpoesie und mundartlyrik gehörten zur entdeckung in mehreren sprachen und wurden untersucht. für die schweiz steht der name von kurt marti (1921–2017), für schwäbische und hessische mundart konrad balder schäuffelen (1929–2012). die wiener poeten artmann und rühm sowie marti und schäuffelen haben ihre plätze in der von mir herausgegebenen anthologie konkreter poesie im reclam verlag.
es war verlockend, die im täglichen umgang gesprochene mundart von klang und sinn her umzusetzen in gedruckte dichtung. bis zum heutigen tag finde ich es zum beispiel erfrischend, in einer belebten strasse in wien echten wienern zuzuhören, was und wie sie miteinander beim gehen und stehen verhandeln. es ist für mich unmittelbare konkrete dialektpoesie.
ich hatte durch meine grosseltern, die zuerst in herrliberg am zürichsee, dann ab meinem 5. lebensjahr in zürich ihre ganze aufmerksamkeit meiner entwicklung widmeten, gutes altes „züritütsch“ gelernt bzw. mitbekommen. mein grossvater war geborener stadtzürcher, der intime kenntnisse von geschichte – sein vater war rechtsanwalt und zürcher offizier –, menschen und stadtleben besass und mir in unzähligen frage- und antwortgesprächen sein wissen mitteilte, sodass ich später selbst wieder über das alte zürich auskunft zu geben vermochte. ich war also ein geeigneter mundart sprechender zürcher. irgendeinmal gelang es mir, meine umgangssprache so aufzuschreiben, wie ich sie hörte und selbst redete, und sie in der form von konstellationen wiederzugeben. ich versuchte damit nicht, in dichterische konkurrenz mit den wiener freunden zu treten, die für mich ein für alle male unvergleichliche vorzüge besassen. ich begann einfach aufzuschreiben, wie ich mich selbst hörte und wie ich meine mitmenschen vernahm. ich entdeckte meine umgangssprache und freute mich an der seltsamen erscheinung der wortbilder. Und doch wollte ich bewusst von anfang an meinen neuen lyrikzweig auf wenige beispiele begrenzen. die erfindung der konkreten poesie, als poesie weniger auf das einzelwort bezogene dichtung, konnte nicht wortreich das mundartgespräch wiederholen. es galt also, einzelne spezielle wortlaute gedruckt zu konkretisieren.
eines der meist gehörten und gebrauchten wörter war „chumm“, zu deutsch „komm“. man rief oder wurde gerufen „chumm“ und meist blieb es nicht bei dem einen wort. man wiederholte es „chumm chumm“, falls es ein hindernis gab, besänftigte man mit „chumm nu“ gleich „komm nur“. war eine schwierigkeit vorhanden, konnte man stärker auffordern mit „chumm nume“ gleich „komm nur mal“. dieses kleine anhängsel von „me“ war also bedeutend für die entscheidung, endlich doch zu kommen. sollte das gegenteil, nämlich das zurückkommen bewirkt werden, wurde das mit dem wort „ume“ erreicht. gab es da schwierigkeiten, hemmungen z.b., wurde die schon bekannte besänftigung mit „nume“ erreicht, also „numenume“, was man auch durch getrennte wortbildung erreichen konnte, vielleicht sogar als stärkere aufforderung: „chumm nu um“. das waren alles finessen, das kommen den umständen anzupassen.
nun gab es natürlich auch die freundliche frageform der aufforderung zu kommen, nämlich „chasch cho“ gleich „kannst du kommen“. oder wenn die luft rein war, konnte man fragend auffordern: „chumm chasch cho“, diese form lässt bekanntlich auch als „komm, kannst jetzt kommen“ oder „komm, kannst du kommen“ verwenden. schliesslich wird einfach gefragt: „chunsch“ gleich „kommst du“. dazu nahm ich mir die auch im deutschen seltsame form der aufforderung zum kommen und zu gehen in einem atemzug vor. die psychologie dieser seltsamen verbindung von zwei der grössten gegensätzlichen aufforderungen, ist eine bleibende irritationsquelle. ich benützte sie als „chumm gang“ gleich „komm geh“. das nun erworbene „gang“ für „geh“ wird in den folgenden zeilen genüsslich ausgespielt und zwar mit dem bereits erworbenen „nu“ und „nume“, wozu schliesslich noch das „nüme“ gleich „nie mehr“ herangezogen wird. das sind abbreviationsleistungen der mundart, statt „nie mehr-zu sagen „nüme“, gebildet charakteristischerweise mit dem umlaut „ü“, der von „züri“ (zürich) herzukommen scheint, im „züritütsch“ viel vorhanden ist und das türkische geradezu vertraut macht. die längste form lautet: „chumm nümenume“, was nur den letzten abgang bedeuten kann, nämlich ein „haus“, was nicht ein gebäude bedeutet, sondern ein „hau ab“, auch im deutschen das ende einer beziehung.
ich bin überzeugt, mit meinem „chumm“ und den feinheiten, die es ermöglicht (die auch grobheiten sein können), eine exegese auf kleinem raum geschaffen zu haben, die womöglich wieder andere poeten zu animieren vermochte.
Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: Poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 2018
Selbst prägende Erlebnisse scheinen manchmal unauffindbar im Gedächtnis verschwunden, bis eines Tages ein meist beiläufiger Anlass sie unerwartet in Erinnerung ruft. Es war Anfang März 1990, als mich eine Frau Binder, damals Geschäftsführerin des Deutschen Künstlerbundes, anrief und mit fast flehentlicher Stimme bat:
Könnten Sie nicht das Referat „Bildhauerei“ in unserem Kolloquium Nach 40 Jahren: Kunst in der Bundesrepublik übernehmen? Der vorgesehene Referent hat wegen Krankheit kurzfristig abgesagt. Das Kolloquium in Berlin ist für uns sehr wichtig, wir haben für alle Sparten bedeutende Referenten gewonnen…
Ach herrje, dachte ich, nein, nicht schon wieder eine Einladung als Springer!
… und Eugen Gomringer von der Akademie wird die Veranstaltung moderieren.
Da war’s geschehen. Ich hatte plötzlich eine andere Stimme im Ohr:
chumm
chumm nu
chumm nume.
Der dunkel brummelnde Lockruf, der mir vor dreißig Jahren, als ich das Gedicht zum ersten Mal hörte, den Sinn für das gesprochene Wort geweckt hatte. Sälletwäge, tönte es aus längst vergangenen Tagen, kommscht jetz riber.
Zugegeben, das ist nicht ganz die gleiche Mundart. Ich lebte in jenen frühen Jahren an der Grenzlinie zwischen den nordwestlichen Ausläufern des sogenannten Bodensee-Alemannischen und dem Hoheitsgebiet der Schwäbisch-Schwätzer. „Rauhe Baar“ lautet der geographische Name der Gegend. Doch in Rottweil, wohin ich täglich zur Schule fuhr, hat die jahrhundertelange Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft in der Umgangssprache auch Spuren des Hochalemannischen hinterlassen. Vor allem aber lebte am Rande der alten Reichsstadt, auf der anderen Seite der Neckarbrücke, der Bildhauer Franz Bucher, ein gebürtiger Schweizer, bei dem sich Künstlerfreunde der Umgebung gerne trafen, um sich über den Stand ihrer Arbeit und die Kunst überhaupt auszutauschen: Kurt Frank, Emil Kiess, Romuald Hengstler, Felix Schlenker u.a. – und unter ihnen gelegentlich, als freundlich zugelassener Zuhörer, ein der Schule und des ordentlichen Elternhauses überdrüssiger Primaner, der in der Lokalzeitung Kunstkritiken zu schreiben begonnen hatte. Eines Tages nun, es muss um 1963 gewesen sein, überraschte uns der sonst eher zurückhaltende Hausherr mit dem wiederholten enthusiastischen Vortrag eines Textes, der von einem mir unbekannten, angeblich in Frauenfeld lebenden Dichter stammen sollte. Wir waren verblüfft und fasziniert, wie sich aus einer echten Schweizer Kehle in St. Galler Intonation ein festgefügter Bogen erhob, ein perfekter Laut- und Sinnzusammenhang, und lauschten mit Vergnügen der Erläuterung raffinierter Details wie z.B. der Rolle des schweizerdeutschen Verbindungs-,n‘, das keinerlei grammatikalische oder semantische Funktion besitzt. Der mundartliche Einschub dient allein der Vermeidung des Hiatus zwischen zwei ungleichen Vokalen: chumm nume-n-ume, „komm nur herüber“.
Doch CHUMM ist nicht nur ein Lautgedicht. Ich weiß nicht mehr, in welcher Schrift ich den Text zuerst zu Gesicht bekam, ob in der schmucklosen Helvetica, in einer Serifenschrift oder kursiv gesetzt. Gleichviel, der unmittelbare graphische Zauber der Anfangszeilen des Gedichts entfaltet sich in jeder Typographie: diese flachen, dicht gedrängten Buchstabenmäander – ein Bild von einem Gedicht! Die Grundformen von Gomringers Variationstechnik werden sozusagen im graphischen Kleinstformat vorgeführt und fast nahtlos miteinander verknüpft: die Umkehrung in der Drehung des Buchstaben ,u‘ ins ,n‘ – nu; die Wiederholung und Vervielfachung des ,n‘ im ,m‘ und ,mm‘; und schließlich der gleichbleibende Anschlag, die Hebelwirkung des ,n‘ mit dem langen Hals, des ,h‘ im ,ch‘ das die Textmasse wellenförmig vor sich herschiebt – chumm / chumm chumm / chumm nu / chumm nume / chumm numenume.
Umso auffälliger ist das Aufbrechen dieser geschlossenen Formationen im Mittelteil, sowohl phonetisch als auch im Schriftbild. Die Vokale ,a‘ und ,o‘ platzen in das monotone Murmeln, dem gutturalen Kratzen antwortet ein vollmundiges Zischen, und der vorherrschende Imperativ weicht der Anrede in der zweiten Person: chumm chasch cho. Der so vorbereitete Umschlag der Tonart gipfelt in einer überraschend zögerlichen, schwankenden Note, die eindeutig als Frage zu hören ist: chunsch, „kommst (du)?“
Ja, aber wohin denn nun, ist der schon ziemlich genervte Interpret geneigt zu fragen: Wohin sollen wir, die auskunftsbegierigen Leser, eigentlich kommen? Das ist der kritische Punkt des Gedichts. Wer hier irre zu werden und nach einer Antwort zu verlangen beginnt, hat die nachdrückliche Einladung chumm / chumm chumm / chumm nu womöglich bereits verwirkt. Der schroffe Einsatz des Schlussteils ist unmissverständlich: chumm gang / gang gang / gang nu, „komm geh – geh geh – geh jetzt!“ Denn der aufmerksame Leser ist im Mittelteil des Gedichts eigentlich längst angekommen in der KONSTELLATION, die Gomringer poetisch eingerichtet hat. CHUMM ist kein Schweizer Mundartgedicht und auch kein bloß abstraktes Spiel mit der visuellen Umschrift phonetischer Eigentümlichkeiten. Der typographische Reiz hilft lediglich, den Abstand zum Genre der Mundart sichtbar zu machen. CHUMM ist ein Poem, das mit den konkreten Mitteln des Schriftbilds und der Lautmalerei eine vitale Kondition des menschlichen Daseins ins Bewusstseins hebt: die Gegenseitigkeit.
Anders als das approbierte Hochdeutsche – die „sächsische Kanzleisprache“, wie die Gegner Gottscheds im 18. Jahrhundert lästerten – wurzeln Dialekte im Gehör ihrer Sprecher, das seinerseits wiederum durch das Gespräch geprägt und gepflegt wird. Der „Schriftsprachler“, der sich Gomringers Gedicht vornimmt, kann gar nicht anders, als sich den Text immer wieder stückweise vorzusprechen und in den Klang hineinzuhören, um so über den verborgenen Anklang herauszufinden, um welche Worte und Wendungen es sich handelt. Es geht nicht um die beneidenswerte Nennkraft des Dialekts, sondern um ein spezielles Sprachspiel. Auf die bare hochdeutsche Übersetzung reduziert, fällt das Gedicht zusammen wie eine chinesische Wunderblume, die man aus ihrem Element, dem Wasser, gezogen hat. Die Aufspaltung des Lesens in ein Sprechen und Vernehmen ist für das Verständnis entscheidend. Statt eine Aussage über etwas zu machen, spricht das Gedicht vielmehr mit uns, seinen Lesern, indem es uns zum Hinhören – Hineinhören in die Stimme, die wir ihm leihen – zwingt. Diese dialogische Konstellation ist schon nach wenigen Zeilen so überzeugend, dass man nicht einmal mehr stutzt, wenn die anfangs unbestimmte Aufforderung im Mittelteil in die direkte Anrede übergeht, ohne dass der Adressat eigens genannt wird: chumm chasch cho / chunsch, „komm, kannst kommen / kommst?“ Das „Du“ ist in der Umgangsform des Dialekts geschenkt, weil der Bezug auf einen Hörer bereits im Verlauten der Mundart angelegt ist.
Genau an diesem Punkt freilich, wo der Ton fast zutraulich zu werden beginnt, schlägt die Stimmung abrupt um: chumm gang. Der Zungenschlag springt vokalisch von ,u‘ nach ,a‘, im vollen Bogen von hinten oben nach vorne unten; und die mehrfache Wiederholung des neuen Grundtons – gang gang / gang nu / gang nume – wirkt in ihrer Insistenz fast emphatisch, als wäre ein Geduldsfaden gerissen. Alle Zeichen stehen auf Abweisung, phonetisch wie semantisch. Und doch ist diese Umkehrung nicht einfach ein Abbruch. Vom konkreten Wortlaut her betrachtet ist der Rauswurf nur um einen Umlaut, sozusagen um Haaresbreite von der vorangegangenen Einladung geschieden: chumm numenume / chumm nümenume, „komm nur herüber / komm nicht mehr herüber.“ Der Grat zwischen Anziehung und Abweisung ist im Spannungsverhältnis leibhafter Gegenseitigkeit sehr schmal.
Vor gut 50 Jahren, als ich dem Gedicht nachhaltig verfiel, hat mich vor allem dieser Umschlag, den ich nicht recht zu deuten wusste, gefesselt. Vielleicht war es anfangs nur die heimliche Genugtuung des Gymnasiasten, endlich eine Gegenstimme gefunden zu haben zu dem gestelzten Dialogstil Platons und der pädagogischen Instrumentalisierung der damals modischen christlichen Existenzphilosophie eines Martin Buber und Gabriel Marcel. Die wohlgemeinte Betonung des Miteinander und der „Ich-Du Beziehung“ empfand ich als übertrieben, unangenehm erbaulich. Erst später an der Universität, als die Auseinandersetzung mit der philosophischen Hermeneutik die Seminare bestimmte, ist mir der Grund des Missvergnügens deutlicher geworden. Der berühmte Hölderlinvers „Seit ein Gespräch wir sind…“ ist sicher allen Nachdenkens wert. Aber ist „Horizontverschmelzung“ (Hans-Georg Gadamer) wirklich des Gesprächs einziger, gar höchster Sinn? Ist nicht die Zurückweisung, das Sich-Verschließen unter Umständen ebenso fruchtbar und wegweisend wie das Sich-Öffnen und Entgegenkommen?
Vermutlich versagt hier die Weisheit der Philosophen. Die Ambivalenz lässt sich nicht in dieser oder jener Richtung schlichten, ohne ihr die Spitze zu brechen: die tatsächliche Ungewissheit im praktischen Umgang. Aber die prekäre Balance ist sehr wohl darstellbar. „Kein Axiom, sondern gestaltendes Prinzip“, lautete die Maxime, unter der Piet Mondrian sein großes Thema, die Gleichgewichtigkeit des Ungleichartigen, ins Bild gesetzt hat. Eugen Gomringers Gedicht CHUMM ist in diesem Sinne eine vollkommen schlüssige Initiation in das reale „gegespil“ von Einladung und Abweisung, Anziehung und Verweigerung; umso mehr, als das letzte Wort – haus – auch dem Interpreten die gehörige Grenze zieht. Ohne erkennbares Korrelat in der Hochsprache, ist diese barsche Abfuhr gleichwohl unmissverständlich: „Hau ab, zieh’ Leine!“ Kunstwerke wollen ab einem bestimmten Punkt allein gelassen werden, damit sie neu gefunden werden können: eigenständig – und aus dem eigenen Vermögen von Anderen.
Robert Kudielka, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 2018
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