– Zu Eugen Gomringers Gedicht „schwiizer“. –
EUGEN GOMRINGER
schwiizer
luege
aaluege
zueluege
nöd rede
sicher sii
nu luege
nüd znäch
nu vu wiitem
ruig bliibe
schwiizer sii
schwizer bliibe
nu luege
es gibt ein gedicht in schweizer mundart, von dem gesagt wird, dass darin die schweizer eigenart so treffend zum ausdruck kommt, dass selbst der ehemalige deutsche bundesminister otto schily, der seinerzeit, im jahr 1988, ja auch einmal gastreferent in der hfg war, dass dieser bundesminister also bei einer feier in der schweizer botschaft in berlin dieses gedicht vorgetragen hat, um die schweizer sozusagen im mark zu treffen. der titel des gedichts lautet SCHWIIZER. es mag wirklich sein, dass die eigenschaften des genauen anschauens und zuschauens, bevor der mund aufgemacht wird, und auch die des abstandhaltens, distanzwahrens sowie – damit verbunden – die eigenschaft des ruhigbleibens, um letztlich das teuerste zu bewahren, nämlich schweizer zu sein und schweizer zu bleiben, in der bündelung wirklich das wesen des schweizers ausmachen.
es ist ein glücksfall, dass ich dieser allgemeinverbindlichen auslegung meines gedichts eine solche von walter jens nachfolgen lassen kann.
Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 2018
Ein frühes Gedicht Eugen Gomringers, das exercitium spirituale im schweizerdeutschen Dialekt. Konzentration auf ein Wort, luege, das leitmotivisch voransteht, abgeklopft und durch Weiterungen konkretisiert, dann scheinbar fallengelassen und am Ende, in der Form einer ringkompositorischen Schliessung, emphatisch wiederholt wird.
luege: denunziert als eine schweizerische Passion – Abwarten, das auf Distanz und Neutralität verweist? Nur nicht sich einmischen, wenn Gefahr droht, nur nicht auf die Strasse eilen, sondern ruhig abwarten, von der Loge (oder dem reduit) aus zuschauen, wie die andern sich streiten? Schweigen, wo bramabarsiert wird? Ja, man kann den Text so lesen – als Persiflage auf mundfaule Schweizer Behäbigkeit. luege, der Weisheit letzter Schluss.
Aber bei wiederholtem Lesen des Poems: dann, wenn die statarische Lektüre der kursorischen folgt – und auf dieses Wechselspiel von entzücktem und meditierendem Lesen haben alle Arbeiten Gomringers Anspruch – kommen plötzlich die Zweifel. Die „Lösung“ ist zu simpel, zu eindimensional, auf Dialektik verzichtend. Kurzum, der Kontext von luege will neu bedacht, das Wort, in der Fülle seiner Bedeutungen, abgehorcht werden – und das nicht aufs Gratewohl, sondern mit Hilfe eines der interessantesten Wörterbücher, das in Bibliotheken zu finden ist – jenes schweizerdeutschen Idiotikons, das zu studieren bedeutet, künstlerisches Raffinement in einer Sprache zu entdecken, die eher auf Artistik als auf gemütliches Sich-Verständigen in mundartlicher Verlautbarung hindeutet.
luege: das ist nicht nur zuschauen, sondern erwägen, bedächtig (will heissen: vernünftig) aufmerken, das Tun überwachen (wer zu siner sach lueget, sorgt für die Wohlfahrt häuslicher Geschäfte); luege steht aber auch für staunen, meint kein dumpfes und selbstgerechtes von fernher Zuschauen, sondern ein von Verwunderung und Begeisterung geprägtes Hingucken: der hät g’lueget – mein Gott, hat der Kerl Augen gemacht!
Und dann aaluege: Das heisst nicht einfach anschauen, sondern ins Herz hinein sehen, jemanden, nach genauer Betrachtung, durchschauen und ihn so von sich abrücken: lueg mer au de aal Schliesslich – gepriesen sei mein Idiotikon! – zueluege: Dieses Verb scheint in der Tat das erste flüchtige Verstehens-Muster des Gomringer’schen Texts zu bestätigen: zueluege – Inbegriff konservativer Beharrlichkeit (zueluege macht nüd neus).
Aber es scheint eben nur so – in welchem Ausmaß, das beweist ein Satz aus einem Puppenspiel, „Politischer Jahrmarkt“ heisst es, ein Satz, den Gomringers Text exegisieren könnte: „Ich bin ein Schweizer und luege zu, es ist gar g’spässig anzuschauen.“ Das heisst: Der Schweizer, mit seinem vieldeutigen luege, der Hellsicht des Schauens, hat Spass an solcher Weltsicht, er reflektiert sie, macht sich Gedanken über die rechte Distanz, spricht also, während er schweigt und ruhig den Posten bezieht, nicht in tumber Übernahme vertrauter Muster, sondern höchst eigenwillig – als ein Schwiizer, der sich zum Schwizer entwickelt hat (und es bleibt): genau in der Mitte zwischen Verwurzelung in der Heimat (dem Gegenteil von Provinzialität) und Weltoffenheit. Fazit: Nicht Schwiizer, nicht Schweizer, sondern Schwizer.
Die scheinbar eingängige Meditation über luege, die Gomringer vorführt, ist ein Musterbeispiel für seine hohe Kunst des Infragestellens vermeintlicher Selbstverständlichkeiten sowie die durch winzige Nuancierungen (nöd und nüd, Schwiizer und Schwizer) bewerkstelligte Technik, Polysemien glaubhaft ins Bild zu setzen und auf den Begriff zu bringen.
Roma locuta causa finita? Gewiss nicht. Bei einer dritten Interpretation, die auch den Titel mitbedenkt – Motto: „Bleibst halt doch ein Schwiizer, mein Schwizer“ – liesse sich die erste Deutung auf höherer Ebene evaluieren: dank des Rätsel-Zaubers eines vollkommenen Gedichts, das, sehr früh, schon die Machart der konkreten Poesie aufweist. Keine Gesellenarbeit, sondern ein Meisterstück.
Walter Jens, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018
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