ZUR ÖKOLOGISCHEN FRAGE
mein ökologisches gleichgewicht ist gestört
das klima erwärmt sich meistens laue tage
und kühle nächte aber das genügt die gletscher
schmelzen auf den kant-hegel-leningipfeln
mit bloßem auge nicht zu sehen
bricht man im sommer in die berge auf
sind die gipfel schneebedeckt die felsen wie immer
alles an seinem platz ergo in auflösung
auch die niederungen lassen zeichen erkennen
der fluß schwillt öfter an verstopft die
erinnerungskanäle überschwemmt
die felder kein pfad mehr keine wiese
ich wate bis zu den knien im wasser einen
kirschzweig aus gojiškis einen
mineralwasserautomaten äpfel aus dem
garten von dalvevka mumija aus dem altai
das erste präservativ leere bierflaschen
stromabwärts erkenne ich ohne
jede freude des wiedersehens alles
treibt vorbei kein bedauern kein gar nichts
immer öfter erfahr ich den treibhauseffekt
will nirgends mehr hingehen die
populationen seltener lebewesen schwinden
rare arten sterben aus
worte vibrationen küsse briefe
wo sich undurchdringliche wälder erstreckten
voller sinn voller geheimnis
mehren sich flüchtige phantasie sandwüsten
dehnt sich ein knochiges relief aus
niedriggewächse dorniges gestrüpp
überwuchert die träume
mein gleichgewicht ist gestört
das eine bein tritt ins leere
das andere sucht den boden
– Eugenijus Ališankas poetische Expedition. –
Es war, als hätte man auf diesen Band gewartet. Die ungeschriebenen geschichten, 2002 in Vilnius erschienen und hier erstmals vollständig dem deutschen Leser zugänglich gemacht, haben jedenfalls sogleich Beachtung gefunden. Die Literaturkritiker konstatierten eine neue Qualität, innerhalb des Œuvres des Autors, aber auch in der litauischen Gegenwartslyrik insgesamt. Dem ist zuzustimmen. Worin besteht nun aber diese neue Qualität? So etwas ist leichter zu behaupten, als das Neue auch zu benennen. Ich sehe es so: Während der Autor in seinen vorangegangenen Gedichtbänden stadt aus asche und gottes gebein, beide in den neunziger Jahren entstanden, zuweilen etwas angestrengt auf der Suche zu sein schien, manch Dunkel-Hermetisches findet sich dort, lässt sich der Grundgestus dessen, was wir hier vor uns haben, am besten mit dem angelsächsischen relaxed umschreiben. Hier scheint einer bei sich selbst angekommen zu sein. Ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass er wesentlich von einem Loslassen gekennzeichnet ist. Wer will, kann dafür Belege in den Gedichten finden, die eben von diesem Vorgang handeln. Eines, mit dem Titel „braingame“, scheint mir geradezu ein Schlüsseltext zu sein. Es beschreibt ein Spiel, das nur funktioniert, wenn der Spieler keine willentlichen Anstrengungen unternimmt. Eine meditative Haltung ist angesagt: sitzen wie li bo die beine gekreuzt. Es wird empfohlen, noch andere Dinge aufzugeben: stereotype Verhaltensmuster, eingefahrene Denk-und Sehgewohnheiten, die Routine der Wahrnehmung. Wem das gelingt, der bricht auf zu neuen Ufern. langsam rollt die kugel ins tor des himmels. Auch fremden Autoritäten wird die Gefolgschaft aufgekündigt. Das Gedicht „zur ökologischen frage“ vermeldet, dass einst unzugängliche Bergregionen abschmelzen, jene kant-hegel-leninmassive. Tauwetter. Es ist dies die Absage des Dichters, sich den, mit Derrida zu reden, „Großen Erzählungen“ zu synchronisieren, welche immer auch die Geburtsstunde von Ideologien waren. „Ideologie“ ist hier natürlich nicht vordergründig politisch zu verstehen, sondern als Tendenz überhaupt, als überlieferte, meist oktroyierte, Weltsicht, die ganz von selbst Ordnungs- und Bedeutungshierarchien erzwingt. Dem widersetzt sich Ališankas poetische Imagination.
Im spezifisch litauischen Kontext heißt „Loslassen“ noch etwas anderes. Ballast abwerfen, historischen Ballast. Da spricht einer für sich selbst, er will nicht in Anspruch genommen werden von den literarischen Erbeverwaltern. So etwas ruft hier den Widerstand der Traditionalisten auf den Plan, die diesem Autor so etwas wie Fahnenflucht vorwerfen vor dem, was sie „das Litauische“ nennen. Wer die Baltenrepublik kennt, versteht, wie solche Urteile zustandekommen. Da ist die oft tragische Geschichte eines kleinen Landes, dessen Bewohner stets befürchten mussten, nicht nur von der politischen Landkarte getilgt zu werden von den mächtigen Nachbarn (was nur allzuoft geschah), sondern als Ethnos überhaupt zu verschwinden. Wie im 16. Jahrhundert die Prussen, das baltische Schwestervolk. Die Verhältnisse waren nie „normal“. Der Geburtsort Ališankas, das sibirische Barnaul, ist da beredt genug. Das Verständnis vom „Amt des Dichters“, der mit seinen Gedichten Widerstand leistete gegen nationale Überfremdung, Sprachrohr zugleich eines kollektiven Unterbewussten, und dem Volk in Zeiten der politischen Zensur kassiberhafte „Botschaften“ übermittelte, scheint mir noch immer tief verankert. Noch in der späten Stalinzeit konnte man für ein Gedicht mit subversivem Inhalt zehn Jahre hinter Gitter kommen. Und nun, so argwöhnt man, huldige die jüngere Generation dem Zeitgeist, gebe sich ästhetischer Unverbindlichkeit und artistischer Spielerei hin. Eine Generation, das ist der schwerste Vorwurf, die im Grunde „nichts zu sagen“ habe.
Natürlich sind die hier angedeuteten Frontstellungen längst nicht mehr so ausgeprägt, ich spitze bewusst zu. Litauen hat gerade in den letzten Jahren staunenswerte Entwicklungen durchgemacht, die Literatur- und Geisteswissenschaften bewegen sich in einem neuen Paradigma. Eine veränderte Sichtweise auf viele Dinge und Erscheinungen ist längst im Gange. Aber Irritationen gab es und gibt es auch weiterhin. Auch das litauische Lesevolk sortiert die Autoren noch immer gerne in solche, die „zu uns gehören“ und andere, denen man eher distanziert gegenübersteht. Das hat es natürlich schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegeben, als die litauische Poesie formale Einflüsse von Westeuropa erfuhr, vor allem aus Frankreich und Deutschland gingen damals Impulse aus, und ist insofern nichts Neues.
Es versteht sich, dass die Poetengeneration, der Ališanka angehört, nicht mehr jenem im Grunde tragisch-pathetischen Grundmuster poetischer Selbstverständigung folgen kann und will. Ihr Verhältnis zur Kultur und zur kulturellen Überlieferung ist ein ganz und gar persönliches und individuelles. Oft erst im Nachhinein wurde in Osteuropa begriffen, dass nach 1990 weit mehr zu Ende ging als der Kalte Krieg und die Ost-West-Konfrontation. Was wir Kultur nennen, erfährt unter dem Einfluss technologischer und massenkommunikativer Prozesse radikale Umwälzungen. Es ändern sich Wahrnehmungsweisen, die kulturellen Codes überhaupt. Das weiter auszuführen erübrigt sich. Es hieße heute (kulturphilosophische) Eulen nach Athen zu tragen. Der Terminus Postmodernismus, wiewohl inflationär verwendet, um mittlerweise alles und jedes auf diesen Nenner zu bringen, hier ist er nicht zu umgehen. Kein Zweifel: Ališankas Lyrik eignen gewisse postmoderne Züge. Er hätte sicher nichts dagegen, wenn man seine Gedichte „Texte“ nennen würde, wenngleich wir es mit einem disziplinierten, formbewussten, auch sehr belesenen Autor zu tun haben. Tradition ist ihm kein Fremdwort, obwohl er literarische Vorbilder vor allem außerhalb des Landes fand. So hat ihn das Werk des Polen Zbigniew Herbert beeinflusst, den er übersetzte und der ihn inspirierte, wohl auch auf der Suche nach einer tragfähigen poetischen Konzeption.
Falls man sich eine Poetik überhaupt aussuchen kann. Da hat sich „etwas“ dieses Autors bemächtigt, was über ihn hinausreicht. Das positive Echo, das er bisher in Deutschland hatte, ebenso in Polen oder Skandinavien, kann kein Zufall sein und hat wohl damit zu tun. Es widerlegt zudem die Behauptung, Autoren wie Ališanka hätten „nichts zu sagen“. Ich würde es anders formulieren: Sie haben nichts zu verkünden. Und vielleicht gerade deshalb etwas zu sagen. Das Reservoir an Formen und Ausdrucksmitteln, über das dieser Autor gebietet, scheint jedenfalls so individuell-authentisch, wie es in einem komplexen Sinne universal ist. Die Chiffren und Symbole kennen längst keine Ländergrenzen mehr. Was einer in Vilnius im Užupė-Café zu Papier bringt, wird in Stockholm, Warschau oder Berlin „verstanden“. Wohl auch in New York und sonst wo. Was nicht heißt, dass es gleichgültig wäre, wo der Autor seinen Schreibtisch hat. Eugenijus Ališanka ist ein litauischer Dichter, auch wenn das manch einer hierzulande nicht so recht wahrhaben möchte. Es kann dies jedoch als ein weiterer Beweis dafür gelten, dass die vielbeschworene postmoderne Konstellation, die Ališanka auch in seinen kulturologischen Essays reflektiert, mehr ist als eine Attitüde oder kurzlebige Modeerscheinung. Sie bündelt die Erfahrungen von Menschen rund um den Globus, für die das Mosaikhafte, Unstete, Polyphone einer Welt, das sich zu keinem Ganzen mehr fügen will (die Zeit der schönen Überblicke ist endgültig vorbei), eine Grundgegebenheit darstellt. Was die Älteren nicht selten als Verlust und Krise erleben und deuten, bedeutet ihnen auch ein Stück Freiheit und die Chance neuer ästhetischer Entwürfe.
Sobald in Litauen von Ališankas Lyrik die Rede ist, fehlt selten das Epitheton „intellektuell“ (zuweilen fällt auch das Wort „elitär“), ohne dass näher ausgeführt wird, was man darunter zu verstehen hat. Vielleicht einfach deshalb, weil das, was er einbringt, sich, ähnlich wie auch das Werk des Exilpoeten Tomas Venclova, nicht der eher liedhaften litauischen Tradition zuordnen lässt, die hier noch immer einflussreich ist. Aber gemeint ist wohl etwas anderes. Dieser Autor nutzt seit jeher ein Arsenal kultureller Reminiszenzen, auch das verbindet ihn mit Venclova. Auf der vertikalen Ebene wird der europäische Raum poetisch kartographiert, von Lissabon bis Sankt Petersburg, von London bis zu den Städten am Adriatischen Meer. Ališanka reist viel und gerne, er ist ein Poet on the road. Wobei kokette Pointen nicht fehlen, die europäische „Randlage“ betreffend, von der aus er seine Expeditionen, die poetischen und die realen, startet. Es gehe nun zurück in den wald heißt es, wenn er wieder mal in einer der Metropolen unterwegs war, um den Heimweg anzutreten. Obwohl, wie man hier nicht müde wird zu betonen, französische Geographen den Mittelpunkt Europas unweit von Vilnius ermittelt haben! Eine etwas verwirrende Situation, mit der sich trefflich jonglieren lässt.
Wobei man den Autor nicht ohne weiteres mit dem Ich seiner poetischen Hervorbringungen gleichsetzen sollte. Bekenntnishaftes, Autobiographisches findet sich hier auch, wie überhaupt die ungeschriebenen geschichten auskunftsfreudiger, persönlicher wirken als die vorangegangenen Gedichtbände. Andererseits wird das, was da als Eugenijus fungiert, auch wieder weggerückt von der Person des Autors und in spöttisch-ironischer Distanz gehalten. Fiktionales und Faktisches, Wirkliches und Mögliches sind hier kunstvoll ausbalanciert und miteinander verwoben.
Auf der vertikalen Ebene kommt Historie ins Blickfeld, als Anspielung, Zitat, Montage, es verleiht den Gedichten dieses Bandes eine zusätzliche Tiefendimension. Das metaphorische Inventar ist vielgestaltig, es reicht von der griechisch-römischen Antike bis nach Tschernobyl und den schneefeldern der kolahalbinsel, einst Teil des Archipels Gulag, wo der Vater des Poeten, vom „Vater der Völker“ nach Sibirien verbannt, seine Jugend verbrachte. Kein Zweifel, da gibt es auch Abgründiges, in und zwischen den Verszeilen. Dennoch scheint das Verhältnis des Individuums zu dem, was man „Geschichte“ zu nennen sich angewöhnt hat, bei Ališanka ein eher komisches, genauer: tragikomisches zu sein. Eingespannt in das Räderwerk namens „historischer Prozess“, bewegen sich seine Protagonisten wie Hamster in einem Laufrad. Oft genug geht es um Kopf und Kragen. Da hat einer bei den thermopylen seinen Schild verloren („aus der geschichte eines narren“), der andere kann sich vor dem frommen Gemetzel der Bartholomäusnacht gerade noch in einem Heuhaufen verstecken. Kafkaeske Konfigurationen. Geschichte, das ist, was „die anderen“ mit einem veranstalten, vor dem man sich allenfalls seitwärts in die Büsche schlagen kann. Er sei ein verhältnismäßig guter soldat der befehle ausführt, weiß ein weitere zu berichten, Rekrut einer Armee, die gerade vergeblich versuchte, anderen die neue Lebensweise aufzuzwingen. Am liebsten sei ihm ein Platz etwas abseits der militärischen Hierarchie, in der Schreibstube etwa:
kondolenzbrieft schreiben für soldatenmütter
gesundheitszeugnisse ausstellen.
Dieses Bekenntnis, ebenso das Gedicht „aus der geschichte eines schriftstellers“ kann man verschieden lesen, sicher auch als Persiflage auf überhöhende Vorstellungen von der Wirkungsmöglichkeit von Poesie.
Und Intellekt? Wenn man Ališanka Lyrik „intellektuell“ nennen will, ist der Einwand angebracht, ob hier dem „Großprojekt Geist“, auf das sich der Homo sapiens so viel zugute hält, nicht eine ironische Abfuhr erteilt wird. Allzu oft schon wird in diesen Gedichten mit dem körper gedacht. Da will ein biederer Tourist die kommunion des wahnsinns annehmen, tanzen und schreien. Es ist das dionysische oder auch chtonische Paradigma, so würde der Autor selbst es nennen, das sich immer wieder Gehör verschafft. „Barbaren“ ist ein wiederkehrendes Signalwort und die rauchzeichen, die sie hinterlassen. Vorzivilisatorisches, Antizivilisatorisches scheint auf und wird lustvoll zelebriert. Wir erfahren, dass der Autor aus einer Gegend kommt, wo einst tamerlans pferd die erde düngte. Es ist Litauen, dieses sonderbare und widerspenstige „Land der letzten Heiden“, das sich, wie man weiß, am längsten in Europa der Christianisierung und damit abendländischer Zivilisierung und „Zähmung“ widersetzte. Denkfiguren dieser Art, eingebettet in die Schilderung banal-alltäglicher Verrichtungen, sind Teil der spielerischen Ironie, die uns hier durchgängig begegnet. Ein eher leiser Humor kommt hinzu. Statt die blutige Streitaxt des Barbaren zu schwingen, fotografiert der Neu-Europäer in Brüssel und Paris. Oder er schreibt Gedichte, letzte metaphysische Tätigkeit in einer entgötterten Welt.
Hauptsache, dass es gute Gedichte sind. Was sind gute Gedichte? Darauf kann es viele Antworten geben. Denen, die gerne von postmoderner Beliebigkeit sprechen, muss, im Hinblick auf diesen Autor zumindest, widersprochen werden. Dessen subtile Gebilde sind, das sollte nach dem bisher Ausgeführten deutlich geworden sein, keineswegs ins Blaue hinein improvisiert, eher schon Resultat eines beharrlichen Gestaltungswillens. Was mit scheinbarer Leichtigkeit daherkommt, erweist sich denn auch als überaus vielschichtig, bringt Existentielles zur Sprache.
Übrigens: Eine Möglichkeit, Gedichte auf ihre Substanz und Qualität hin zu testen, besteht darin, immer wieder und von allen Seiten gegen sie anzulesen. Um zu sehen, ob sie standhalten. Diese hier halten stand. Das ist meine Erfahrung als Übersetzer. Ich wünschte, es wäre auch die Erfahrung des Lesers.
Klaus Berthel, Nachwort
– Der litauische Dichter Eugenijus Ališanka und seine Idee von Europa. –
Bei Europa denkt man derzeit sofort an Krise. Das Scheitern der europäischen Verfassung gilt als Scheitern der europäischen Idee, die Wirtschafts- und Währungsunion belastet den Arbeitsmarkt. Dennoch gibt es inzwischen ein europäisches Lebensgefühl, eine europäische Wirklichkeitserfahrung, die in Lissabon, Prag und Riga ebenso geteilt und verstanden wird wie in Paris, Berlin oder Rosenheim. Das spiegelt sich auch in der Literatur.
Der litauische Lyriker Eugenijus Ališanka lebt in Vilnius. In seinen Gedichten findet er so etwas wie einen neueuropäischen Ton. Ališankas vierter Gedichtband, aus ungeschriebenen geschichten, ist der erste, der jetzt ins Deutsche übertragen worden ist. In Litauen hat er sich damit nicht nur Freunde gemacht, wie sein Übersetzer Klaus Berthel im Nachwort berichtet. Traditionalisten werfen Ališanka vor, sich zu weit von etwas entfernt zu haben, was sie „das Litauische“ nennen.
In der Tat löst sich der Dichter von einem literarischen Erbe, in dem die litauische Sprache allein schon Widerständigkeit signalisierte, zuletzt gegen die sowjetische Einverleibung. Er zählt sich nicht zu denjenigen, die weiter „an die ersten jahre der kollektivierung“ erinnern, an „unschuldiges gerangel in einer scheune“ und „die entblößten waden junger kolchosebäuerinnen“. Er gehört zu den Kindern, die das Radio einschalteten, „es knattert freiheitswelle“, um „nichtexistierende frequenzen“ zu suchen. Mit dem EU-Beitritt der baltischen Staaten aber scheint eine Ära der Befreiung beendet. Nun spielt sich das Leben ab unter veränderten Rahmenbedingungen – für Ališanka Anlass, diese Bedingungen zu erkunden, den Stand der Dinge zu ermitteln, seine Ästhetik und seine Rolle als Dichter zu überdenken.
Denn freilich stellt sich schnell heraus, dass auch den litauischen Autor jene „identitätskrise“ plagt, die sich überall in Europa eingestellt hat, seit die berüchtigten „Großen Erzählungen“ abhanden gekommen und die ideologischen Raster erschöpft sind:
nach vierzig jahren am rand des imperiums
hier vor dem spiegel im hotel
schaffe ich nicht mehr zu beenden
was ich begonnen habe
Stattdessen begibt sich Ališanka auf die Reise. Der Zyklus aus „zuggeschichten“ ist Ergebnis einer Erkundungsfahrt durch Europa.
In zwölf Gedichten geht sie von Lissabon über Paris und Brüssel bis St. Petersburg und Moskau. Sie hebt an mit einem Gruß an Fernando Pessoa:
beide schweigen wir über dasselbe
dein anfang des jahrhunderts mein ende
Ališanka zitiert aus Pessoas langem Gedicht Der Tabakladen. Darin finden sich die berühmten Zeilen:
Ich zünde mir eine Zigarette an, während ich über diese Verse nachdenke,
Und genieße die Zigarette als Befreiung von meinen Gedanken.
Den lyrischen Blick auf dieser Reise durch die europäische Gegenwart von allem Ideologischen freizuhalten, das bildet den Ausgangspunkt für Ališankas Poetologie: „automatisch laienhaft“ knipst der Dichter „mit der grauen pupille“, mit der „idiotenkamera“ die europäischen Wirklichkeiten. Aber dies bedeutet keineswegs mehr nur reinen Genuss. Vielmehr erscheint der sanft ironische Tonfall, der in Ališankas Gedichten vorherrscht und immerzu einbricht, als ein letzter tragender Grund, denn „das eine bein tritt ins leere / das andere sucht den boden“.
wie viele jahre hast du auf dem buckel eugenijus
und auf einmal kommt dir verstand abhanden
und irrt als gespenst durch europa
In Brüssel, am Sitz der EU, im Jahr der Fußball-EM, begegnet dem irrenden Gespenst der europäische Geist in Gestalt von Fußball-Fans. Das lyrische Ich möchte teilhaben, sich auflösen und mittanzen in dieser „kommunion des wahnsinns“, doch es gelingt ihm nicht. Stattdessen fotografiert er weiter, „von einer stadt in die andere und sieh / wie der tod mit immer schönerem gesicht / die lebenslust an seiner brust nährt“.
Bis dieses Ich schließlich heimkehrt nach Vilnius. Dort aber, „bis ich auferstand nachdem ich das bewußtsein wiedererlangt hatte“, erkennt es nichts wieder. Die Heimat Litauen ist ihm unter neueuropäischem Blickwinkel fremd, ist zur Randregion der Europäischen Union geworden.
Der zweite Teil von aus ungeschriebenen geschichten ist ein Versuch, sich der unmittelbaren Lebenswelt wieder anzunähern. Dabei ist es Ališanka wichtig, „keinerlei illusionen“ aufkommen zu lassen. Er weiß, dass der bis vor kurzem unentbehrlichen nationalen Identität heute erneut der Boden entzogen wird, dass Dichter und Dichtung durch das überzogene Marktdenken als „geschädigte“ aus der Globalisierung entlassen werden, dass man heute „weniger über sich mehr über geld“ nachdenkt.
Als Lyriker und als Chefredakteur des Literaturmagazins Vilnius Review, das litauische Literatur in englischer Übersetzung vorstellt, ist er sich aber auch der Chancen bewusst, die gerade einer kleinen, „meist unsichtbaren Literatur auf der Landkarte der Weltliteratur“ daraus erwachsen, dass sie aus der nationalen Abschottung ausbricht. Vielleicht, so schreibt er in einem der Vorworte des Magazins, liegt das Potenzial Europas sowohl in der Vielfalt als auch im Austausch seiner Kulturen, vielleicht kommt es darauf an, Europäer zu werden und trotzdem Litauer zu bleiben. Die Gedichte von Eugenijus Ališanka sind beides, litauisch und europäisch. Sie sind auf der Höhe unserer Zeit.
Norbert Niemann, Die Zeit, 10.11.2005
– Der Dichter Eugenijus Alisanka erfindet Europa neu. –
Im Sommer 2000 durchquerte ein Zug ganz Europa in West-Ost- und Süd-Nord-Richtung, von Lissabon via Madrid, Paris, Brüssel, Hannover, Königsberg, durch das Baltikum bis Sankt Petersburg und dann über Moskau und Warschau nach Berlin. Es war kein gewöhnlicher Zug, sondern eine Art fahrende Großmetapher: Mit diesem „Literaturexpreß“ reisten über hundert Schriftsteller aus 43 europäischen Ländern, die die grenzüberschreitende Kraft der Literatur verkörperten. Dichter als völkerverbindende Zugbegleiter, als Boten zwischen den Kulturen – eine schöne, leider ganz unrealistische Vorstellung. Jeder Exportkaufmann und jede Stewardeß bewirken wohl mehr für die Begegnung fremder Kulturen als ein Schriftsteller, ein Lyriker zumal, dessen Wirkung meist an der Sprachgrenze endet. Auch die bedeutendste Gegenwartsliteratur aus den neuen Mitgliedsländern der EU wird, selbst wenn sie übersetzt wird, kaum gelesen.
Der litauische Dichter Eugenijus Ališanka, ebenfalls Literaturexpreßreisender, hat seine Reiseeindrücke in einem Zyklus „aus zuggeschichten“ verarbeitet: „josé saramagos worten zufolge haben die portugiesen erfahrung im erobern neuer territorien“ ist das erste Gedicht überschrieben, und darin imaginiert sich der Dichter als „nachfahre von barbaren mit langen vom / wind zerzausten haaren europa erobernd“. Völkerwanderungen, einfallende Nomadenstämme, zusammenbrechende Imperien – Alisankas Kontinent hat nichts mit der idealistisch-gemütlichen Sonntagsrede vom „Haus Europa“ gemeinsam. Im zweiten Stück verwandelt sich das lyrische Ich, mit Don Quixote Jerez trinkend, in einen Stier, der auf seinem Rücken ein spanisches Mädchen „ans Kurische Haff“ entführt:
die tochter eines toreros mutter meiner verse
volk um volk wird sie gebären mein blut
in den venen der weichsel und der memel fließen.
Der Europa-Mythos aus Ovids Metamorphosen wird hier abgewandelt zur dichterischen Allmachtsphantasie: Im Tagtraum wird das Ich zum Stammvater eines neuen, baltischen Menschengeschlechts. “„Ein Schriftsteller, das ist einer, der es nicht zum Tyrannen gebracht hat“, wird an anderer Stelle Viktor Kriwulin zitiert.
Daß Europa für Ališanka vor allem eine tabula rasa ist, auf der die Reiche und Mächte mit Blut die Spuren ihrer Herrschaft eingezeichnet haben, wird aus seiner Biographie verständlich. Eugenijus Ališanka wurde 1960 im sibirischen Barnaul geboren, wohin seine Eltern verbannt worden waren. Die Erfahrung der sowjetischen Herrschaft hat sich dem in Vilnius aufgewachsenen Schriftsteller und Übersetzer tief eingeprägt:
wohlan hier beginnen die weiten, die unermeßlichen räume
wo selbst der tod außer reichweite des todes ist
wie passen sie in einen mandelstamreim wohl nicht ganz
beginnt sein Petersburg-Gedicht, das sarkastisch „fenster nach europa“ überschrieben ist. Von einer – freilich fatalen – Randlage ist das Baltikum in eine neue geraten; die einen mitunter gefährlichen Sog ausübenden Gravitationszentren der Geschichte sind immer anderswo.
aus ungeschriebenen geschichten heißt der im Original 2002 erschienene, zweisprachige Band, der nicht Ališankas erster ist, aber, wenn man dem Nachwort des Übersetzers Klaus Berthel folgt, eine neue Reifestufe in seinem Werk bedeutet. Der Band ist in vier Teile gegliedert; den exoterischen, weit in Geographie und Geschichte ausgreifenden „zuggeschichten“ geht eine Sammlung von Texten voran, die man Heimatgedichte nennen könnte. Die Stoffwahl wird von Ališanka selbst ironisch kommentiert:
lange habe ich darüber nachgedacht
ob das leben in snipiskes
für ein gutes gedicht taugt.
Ein litauischer Spätsommer zwischen Volksbräuchen, Kartoffelernte und Sommerfrischen wird hier beschworen; Alltagsbeobachtungen kreuzen sich mit Selbsterforschungen; amouröser Kummer läßt die etwas träge, melancholische Ferienidylle freilich bis in Todesgedanken umschlagen.
Aber auch hier hat schon im Schilf Pan mit seiner Flöte Platz genommen, der, als Abgesandter des Weingottes Dionysos, so etwas wie die unorthodoxe göttliche Inspirationsquelle vieler, mitunter auch sehr konkret um Forderungen der Triebe kreisender Gedichte ist:
ganz nordeuropa würde ich hingeben
für ein wüstes gelage im hotel rossija.
In „aus der geschichte des weins“ wird das Ich selbst zu einem „aus guten beeren nicht trauben“ gekelterten heimischen Tropfen, stets bedroht, sich im litauischen Klima in Essig zu verwandeln:
was werd ich sagen am jüngsten tag des gelages
wenn dionysos kommt
und fragt wer ich denn sei.
Dieses Gedicht findet sich im dritten, stärker ans Poetologisch-Eingemachte gehenden Teil. „meine welt ist klein“ heißt es dort auf einmal, etwas überraschend nach vielen mythische und historische Weite atmenden Versen:
von einem wort zum nächsten
gehe ich zu fuß betäubende
ohrenbetäubende stille.
Vielleicht sind solche Rückzugsbewegungen der notwendige kontemplative Gegenpol zu der am Ende wieder stärker betonten Welthaltigkeit und Geselligkeit, die mit Dante und Homer am Cafétisch über alte Zeiten schwätzt und einen Hang zum Exzeß nicht verbergen kann.
„null grad celsius“ ist dieser winterliche Zyklus überschrieben, und tatsächlich läßt sich hier vieles als Dokument einer Krise, eines Lebens am Gefrierpunkt lesen: Künstlerische Selbstzweifel, Trauer um einen geliebten, vielleicht gestorbenen, vielleicht gegangenen Menschen drohen überhandzunehmen:
meistens erblicke ich eine lichtung
zwischen deinem leben und meinem tod
auf der platz ist für uns beide
vor allem im januar wenn nichts weiter
nötig ist als sitzen und schwarzen
tee trinken mit den schwarzen augen
eines blinden weißen schnee sehen
ein weißes blatt papier einen weißen körper.
Zu diesen fast in völliger Katatonie erstarrenden Grübeleien tritt dann, vor allem im abschließenden, thematisch vielfältigeren Teil, das Gespräch mit lebenden und toten Schriftstellergefährten. Das hat nichts Anbiedernd-Kumpelhaftes und schon gar nichts Eitles, im Gegenteil ist hinter dem lockeren, lakonischen Plauderton die Ernsthaftigkeit poetologischer Auseinandersetzung zu spüren. (Nebenbei ist Ališanka als Übersetzer, Essayist und Herausgeber der ambitionierten, mehrsprachig erscheinenden Literaturzeitschrift The Vilnius Review ohnehin ein engagierter Vermittler auch jenseits seines eigenen Werks.)
Mit diesem Band nun ist ein europäischer Dichter ersten Ranges auch in Deutschland zu entdecken. Eugenijus Ališanka reiht sich damit ganz selbstverständlich in die große Tradition litauischer Lyrik ein, deren bekannteste ältere Vertreter der in Amerika lehrende Tomas Venclova und Kornelijus Platelis sind. Seine immer wieder ins Körperliche reichende Gedankenlyrik läßt auch an Wislawa Szymborska (die er ins Litauische übersetzte) oder den 1998 verstorbenen Zbigniew Herbert denken. Dem ist er zwar nie begegnet, doch widmet er ihm eine bewegende Hommage, die wohl programmatisch zu lesen ist:
also haben wir uns tatsächlich getroffen
es gibt nicht so viele orte auf dieser welt
es ist geradezu unmöglich sich nicht zu treffen
ich glaube mich zu erinnern es war
ein festival der einbildungskraft.
Daran können auch wir jetzt teilnehmen, Dionysos, dem alten Sponsor, (und Dumont) sei Dank.
Jan Wagner: Europas trübe Wasser
lyrikkritik.de
Eugenijus Ališanka – Poetisch musikalische Lesung mit Saulius Petreikis am 17.5.2012.
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